Nina hat seit ein paar Monaten eine neue Freundin. Sie hat Leyla beim Pilates-Mann neben Edeka kennengelernt. Und weil Nina ein grundehrlicher Mensch ist, hat sie nach allerlei Schwärmereien mit einem Augenzwinkern gestanden, sie habe sich in Leyla geradezu fast ein wenig verliebt. Wenn Nina Sätze sagt, in denen ein Tatbestand mehrfach relativiert wird, deutet das in der Regel darauf hin, dass die Sache ernster als geschildert ist. „Geradezu fast ein wenig“ lässt sich demnach in einem Wort wie „heftig“ oder „extrem“ zusammenfassen. Ich bin nicht eifersüchtig, wenn meine Frau sich in eine Frau verliebt. Im Gegenteil, es facht meine Fantasie an, oder besser: Es bläst reinen Sauerstoff in die rote Glut meiner erotischen Spiegelwelt. Ich bin mir sicher, dass Nina nichts „Körperliches“ mit Leyla teilt, und doch scheint Nina in letzter Zeit mich betreffende Intimitäten eher zu meiden, sie hat sogar angefangen, sich im Bad einzuschließen, wenn sie sich wäscht. Okay, sie hat sich EINMAL eingeschlossen. Aber ich erinnere mich an mehrere Gespräche und Situationen, in denen sie behauptet hat, ich würde Sex überbewerten. Ich finde hingegen, dass Sex gar nicht hoch genug bewertet werden kann. Ginge es nach mir, sollte Sex neben Ballspielen, Leichtathletik oder Wintersport zu einer der wesentlichen olympischen Sparten erkoren werden, innerhalb derer sich die vielfältigsten Disziplinen etablieren ließen, von weit, hoch, tief über lang, schnell, langsam bis hin zu elegant, artistisch und gelenkig – nicht zu vergessen die Mehrkampf-Disziplinen in Anlehnung an den Triathlon oder die diversen Teamsportarten. Nein, Sex ist kein Sport, aber angesichts der emotionalen Aufladung der weltumspannenden Spiele ist Sex dann eben doch das Höchste der Gefühle und würde weit höhere Einschaltquoten bringen als die Turnerinnen, Tischtennis oder Tanzmäuse auf Kunsteis zusammen.

Nun hat sich Nina zwei Wochen der Urlaubszeit, die wir gewöhnlich gemeinsam verbringen, für eine Reise mit Leyla reserviert. Ich muss ob der überraschenden Nachricht wohl recht bedröppelt dreingeschaut haben, jedenfalls meinte Nina mich mit dem Angebot trösten zu können, ich dürfe mich zum Ausgleich zwei Wochen ungehemmt mit meiner Porno-Sammlung beschäftigen. „Scherz!“
Scherz? Ich war tief ins Mark getroffen. Aber warum eigentlich? Weil sie unvermittelt das Thema Sex im Zusammenhang mit ihrer Reise erwähnt hatte? Das ungefähr war der Beginn unseres Disputs über die Frage, von welcher Art die Menschheit wäre, wenn es keinerlei sexuelle Anziehung zwischen uns Menschen gäbe. Wenn es sie ganz plötzlich – vielleicht wegen eines Virus – nicht mehr gäbe. Und in diesem Disput kommt fast zum Schluss sogar auch Leyla zu Wort. Ich muss sagen, es sind rettende Worte gewesen.
„Du blickst drein, als hätte ich dir gerade den bevorstehenden Weltuntergang verkündet. Du wirst die zwei Wochen auch ohne mich überleben. Und stell Dir vor: Du wirst dir jeden Tag so viele Eier braten dürfen, wie du willst. Und Steaks und Bratwürste, halbe Hähnchen vom Hähnchen-Mann.“ Aber es ist Sommer. Und im Sommer trägt Nina diese leichten, kurzen Kleider und Röcke. Wenn Sie sich lesend im Liegestuhl rekelt, kann ich mich an dem Anblick ihrer Beine, der Unterhose und dem schönen Haargekräusel ergötzen, das an den Seiten des Slips hervorlugt. Das ist wie ein Versprechen des ewigen Paradieses. Manchmal frage ich mich, ob lesbische Frauen dieses vermeintlich nur Männern eignende Gefühl teilen, oder zumindest nachvollziehen können. Werden Lesben vom Blick auf Vulven bzw. auf von Slips notdürftig bedeckte Vulven sexuell erregt? Ganz so wie ich? Wäre ich so hemmungslos, wie ich mir manchmal wünsche, hätte ich bereits mehrere Strafverfahren am Hals, weil ich Frauen unter ihre Röcke fotografiert hätte. Ich bin kurz davor, als Bedingung für Ninas Reise einen Deal zu vereinbaren, nach dem ich alle die mir entgehenden Blicke auf und zwischen ihre Beine vorab fotografisch festhalten darf, und zwar mit und ohne Slip – als Nina fragt, ob ich irgendwas Interessantes zwischen ihren Beinen gefunden hätte.
„Ich nehme intensiv Abschied.“

„Es ist Ende Mai. Wir werden erst Mitte Juli fahren. Außerdem haben wir zwei beide bald danach unsere zwei Wochen im Trentino. Da können wir kompensieren, was uns zuvor an Intimität entgangen ist, sofern du nicht beabsichtigst, täglich zwölf Stunden auf Bärenjagd zu gehen.“
„Ihr werdet an FKK-Stränden liegen, ein französisches Bett im Hotelzimmer teilen, Leyla wird dich spätestens nach drei Tagen und Nächten erfolgreich animiert haben, Details unseres kaum noch stattfindenden Sexlebens auszuplaudern, vor allem die Highlights der Lächerlichkeit. Apropos animieren…“
„Mein lieber Pjotr, vielleicht bist du ja geistig ein wenig umnachtet gewesen, aber gestern Abend erst haben wir miteinander geschlafen.“
„Schon, aber du schienst die Sache so schnell wie möglich hinter dich bringen zu wollen.“
„Du verwechselst Leidenschaft mit Eile. Bist du eifersüchtig? Auf Leyla? Das ist ja mal eine ganz neue und überraschende Regung. Da wird es mir ein noch viel größeres Vergnügen sein, Leyla im gemeinsamen französischen Bett zu vernaschen. Mal ganz im Ernst: Leyla ist eine Freundin, ich verbringe gern Zeit mit ihr, wir haben tolle Gespräche, andere Gespräche als die, die ich mit dir habe. Und falls es so etwas wirklich geben sollte: Frauengespräche. Aber auch Politik, Gesellschaft, Feminismus. Leyla ist eine der überzeugendsten Feministinnen, die ich kenne. Ich meine: die ich persönlich kenne. Und es geht uns nicht im Mindesten um Sex. Überhaupt: Sex wird überbewertet, insbesondere von Männern.“
Da haben wir es! Das Leitmotiv unserer Beziehung. Ich möchte fast sagen: Leidmotiv. Meine Meinung dazu: Sex wird massiv unterbewertet. In dem Film Perfect Sense raubt eine Epidemie den Menschen einen Sinn nach dem anderen, angefangen mit dem Geruchssinn, über den Geschmackssinn bis hin zu Gehör und Augenlicht. Nun, es geht darum zu zeigen, was im Leben wirklich wichtig ist, nämlich die Liebe, die auch dann noch weiter existiert, wenn alle Sinne verloren gingen. Ein irgendwie rührender, romantischer Film. Das Menschengeschlecht geht unter, aber die Liebe bleibt. Jedenfalls bis zu dem Moment, wo wirklich Schluss ist. Interessanter – übrigens auch aus einer soziologischen Perspektive – fände ich das Szenario eines epidemischen Libidoverlustes. Keine körperliche, erotische, sexuelle Anziehung zwischen den Menschen mehr. Meine These (Nina würde das Wort Prämisse bevorzugen): Auch Gefühle der Sympathie sind unterschwellig erotische Regungen. Auch Mythen von der Art, man fühle sich zu einem Menschen wegen seines Intellektes und Witzes (im Sinne von Esprit) hingezogen, lasse ich nicht gelten. Geht es um Geist und Intellekt, kann es niemand mit einer guten philosophischen Abhandlung aufnehmen. Wenn Nina behauptet, einen Kerl wegen seines Intellekts anziehend zu finden und sie angeblich nichts weiter will, als ein anregendes Gespräch mit ihm zu führen, dann verdrängt sie nur den Gedanken – oder besser: das Gefühl –, der intellektuell gelesene Schönling wäre vermutlich fast ein wenig auch ein einigermaßen akzeptabler Liebhaber im Bett, oder kurz gesagt: ein mega-geiler Hengst.
„Meine liebe Ninotschka: Beste Freundin, gute Gespräche und Feminismus schön und gut, aber es wäre unwahrhaftig zu behaupten, sexuelle Anziehung spiele bei einer intensiven Freundschaft keine Rolle.“ Ich zitiere noch schnell Sartre und werfe den Begriff der mauvaise foi in den Raum, um Nina angemessen philosophisch herauszufordern, respektive zu reizen. Der Schuss geht allerdings – wie so oft – nach hinten los.
„Du und Ralf? Es gelingt dir immer wieder, mich zu überraschen.“
„Ich habe meine Worte mit Bedacht gewählt und sprach von intensiven Freundschaften. Ralf ist im engeren Sinn kein Freund. Es geht um Bier, Verbrennermotoren und Fußball. Und weil ich genau genommen wenig Interesse an Verbrennermotoren und Fußball habe, könnte ich meine Beziehung zu Ralf mit Fug auch als eine caritative bezeichnen. Mitleid eben.“
„Das heißt, im Zweifel würdest du ihm aus Mitleid auch den Schwanz lutschen. Ey, Alex, Alter, heute ma‘ kein Fußball, lass ma‘ Eier schaukeln und Schwanz lutschen.“
Den Punkt lasse ich Nina. Ausgeprägter Altruismus ist Teil meiner Lebensphilosophie. Stimmt schon, theoretisch müsste ich mich aufopfern. Letztlich bilde ich mir sogar ein, unter die hundert auserlesensten Schwanzlutscher der westlichen Welt zu gehören, käme es drauf an. Käme es drauf an, würde ich auch lebende Nacktschnecken verspeisen, langhaarige Vogelspinnen über meinen nackten Leib krauchen lassen oder die Füße meines Vaters waschen. Es kam aber noch nie drauf an und ich lasse es eher nicht darauf ankommen.
„Du meinst im Ernst, ich hätte es mehr auf Leylas Körper als auf ihren Intellekt abgesehen.“
„Lass es mich präziser fassen: beides! Intellekt ja, aber körperliche Anziehung im Besonderen. Intellekt als schönes Beiwerk und vor allem mit bildungsbürgerlichen Idealen kompatible Legitimation einer engen Beziehung, aus der alles Körperliche zugleich wieder in Intellektuelles, Sprachlich-Geistiges substituiert wird, also tragischerweise derjenige Prozess, den Freud als Sublimation sexuellen Begehrens und Genese bürgerlicher Kultur beschrieben hat.“ Ich bin ein wenig euphorisch ob der Tatsache, dass ich diesen langen Satz quasi fehlerfrei zu einem hochtrabenden Ende gebracht habe. Ich atme einmal tief ein und einmal tief aus, um den Moment zu genießen, bevor Nina mein hübsches Gedankengebäude mit Feuer, Flamme und schweren Eisenkugeln aus ehernen Kanonenrohren ruiniert und niederbrennt – Generalin und Soldatin in einem.
„Als Tragödie würde ich eher den philosophischen Unfall bezeichnen, den du gerade recht leichtfertig provoziert hast. Mal ganz abgesehen von dem Vorwurf der Unwahrhaftigkeit, der mauvaise foi, den ich allenfalls retour schicken könnte, wenn ich mich auch nur ansatzweise gerechtfertigt davon angegriffen fühlen würde. Angenommen, es stimmt, dass gemäß deiner Definition alle Kultur und alles Geistige lediglich Sublimation sexueller Regungen wäre – welche Konsequenz willst du daraus ziehen? Remigration des Geistes ins Atlantis der ewigen Kopulation und genitalen Stimulation? Und was ist mit den übrigen urwüchsigen Bedürfnissen, die der Mensch mit den Tieren teilt? Essen, trinken, schlafen? Besitz, Macht, Streit, Neid, Kampf … Führe alle diese Regungen mal in einer fröhlichen Wissenschaft argumentativ auf den Fortpflanzungstrieb zurück.“
Nina lacht mich aus und ich gebe mich geschlagen. „Gut. Aber für dich würde das im Umkehrschluss heißen, ein epidemischer Libidoverlust würde im Wesentlichen nichts verändern.“
„Ein Eunuchen-Staat? So manchen Frauen käme das sicher gelegen. Und nein: Es würde sich nicht viel ändern. Vielleicht wäre es ein wenig friedlicher auf der Welt. Wir müssten vermutlich nicht einmal das Aussterben der Menschheit befürchten, manche Vernunftgründe würden für die künstliche Befruchtung sprechen. Und ist denn der Kinderwunsch auch ein sublimierter sexueller?“
„Wären die Beziehungen zwischen den Menschen ohne die unbewussten erotischen Implikationen nicht viel kälter?“
„Kälter als jetzt schon?“

Es klingelt. Nina öffnet die Wohnungstür. Herzliche Umarmung. Leyla tätschelt zur Begrüßung meine Glatze.
„Sag mal, Leyla“, hebt Nina unvermittelt an zu sprechen, „wir reden gerade über Freundschaft und Sex – verbindest du mit unserer Reise den Hintergedanken, wir beide könnten Sex miteinander haben? Entschuldige bitte diese direkte Frage, aber Pjotr ist fest davon überzeugt, dass wir ziemlich geil aufeinander sind und in unserem französischen Bett nicht die Hände voneinander lassen können.“
Leyla blickt mich eine Weile prüfend an, während ich errötend immer tiefer in meinen Sessel sinke. Aber ich kann nicht anders, als Ninas Mut zur radikalen Volte zu bewundern. Das zeichnet eine geniale Kriegsstrategin der Psychologie aus.
„Klar will ich Sex mit dir!“ Leyla lächelt Nina herausfordernd an. “Ich fände es sehr aufregend. Wirklich! Ob im französischen Bett, im Darkroom oder in der letzten U-Bahn. Ich gehe allerdings davon aus, dass es ein sehr einseitiges Interesse ist. Macht aber nix. Jedes Wort, das wir wechseln, verursacht ein angenehmes erotisches Knistern in meinem Hinterstübchen. Schwimmen Freundschaft und Liebe nicht immer auf den Wellen sexueller Anziehung?“
Innerlich triumphiere ich. Nina hat sich eine weibliche Version ihres Aleksander aus dem unendlichen Meer menschlicher Exemplare gefischt. Andererseits könnte Ninas und Leylas Reise nun ganz anders verlaufen als geplant. Sollte ich mir Sorgen machen? Will ich mir überhaupt Sorgen machen? Im Gegenteil! Möge der Wellengang gefährliche Höhen erreichen!
„Scherz!“ Leyla und Nina lachen laut. „Mit deinen kranken Männerfantasien solltest du mal einen Arzt aufsuchen.“

Ich bemühe mich, mein flachstes Lächeln aufzusetzen. Ich bin mir absolut sicher: Das ist ein schlechtes Ablenkungsmanöver von Leyla gewesen, die es sich mit Nina nicht schon vor Antritt der Reise verderben will. Mauvaise foi, Sublimation, Substitution, Leugnung, Gaslighting: alles Anzeichen dafür, dass ich mit meiner Theorie richtig liege.