101 Fragen für eine Inquisition unter Freunden

Ausgangspunkt unseres gemeinsamen Romanprojektes, das 2017 noch den Titel „Rumänien – oder: Wie wir leben wollten“ trug, war eben diese Frage: wie wir leben wollten, wenn wir unsere Zukunft frei gestalten könnten. Den Anstoß für den Fragenkatalog gab Aleksander. Wir alle sollten uns Fragen überlegen, die möglichst weh tun, Fragen, die man einander sonst eher nicht stellt. Damit wir als Autoren mehr voneinander erfuhren und die Tabus aus dem Weg räumen könnten, die uns daran hindern würden, unsere Figuren in genau die Konfliktzonen zu führen, die wir selbst zu meiden gelernt hätten. Aleksanders Credo: Wenn vier Autoren gemeinsam einen Roman schreiben wollen, dann müssen sie alles übereinander wissen, noch das Intimste und Abgründigste. Aleksander hat schon immer diesen Hang zum Voyeurismus gehabt (Widersprich mir, wenn Du das anders siehst, Al!). Innerhalb weniger Tage hatte er einen beachtlichen Katalog beisammen. Wir übrigen trugen nach und nach weitere Fragen bei, weil uns Aleksanders Fragen teils zu tendenziös erschienen. Es seien die Fragen, die wir unseren Figuren zu stellen hätten, rechtfertigte sich Aleksander, sie seien auf Justus, Sarah, Donata und Thomas abgestimmt. Es gebe weitere tausend Fragen, die man ihnen und dem Rest der Menschheit stellen könne. Und an erster Stelle uns selbst. Am Ende hatten wir die 101 Fragen zusammen. Wir hatten eine Zeitlang wirklich geglaubt, daraus könne sich eine Art Leitfaden für den Roman ergeben. Der kritischen Leserin dürfte jedoch auffallen, dass die Fragen nur die saturierten Westeuropäer, weiße Amerikaner usw. betreffen. Es geht um Luxusprobleme. Die intensivste Diskussion entbrannte allerdings zu Frage 11, in der es um neue Lebenskonzepte geht, wenn sich das menschliche Leben um hundert oder zweihundert Jahre verlängern ließe. Wissenschaftliche Untersuchungen legen diese Möglichkeit als zukünftig realisierbar nahe. Das rüttelte unser Projekt tüchtig durcheinander. Die Frage überforderte uns, je mehr wir darüber diskutierten. Würden wir diese Möglichkeit wahrnehmen? Gäbe es nicht sogar eine moralische Pflicht dazu? Eine Lust? Welche neuen Ängste würden entstehen? Welche neuen Lebenskonzepte? Was würde man im Leben noch weiter aufschieben? Stiegen Wissen und Weisheit in gleichem Maße an? Oder wäre das Gegenteil der Fall?

Frage 11 überforderte uns, aber auch die Fülle der weiteren Fragen. Wir sind damit zu keinem Ende gekommen, wir haben uns einfach in die Arbeit an unseren Kapitelentwürfen und Figurenkonstellationen gestürzt.

Die Vereinbarung zu absoluter Offenheit unter uns Autoren vernachlässigten wir nach wenigen Wochen, übertrugen das Gebot jedoch auf unsere Figuren. Das Beichtprinzip, das Justus einführt, stellt nun ein Machtinstrument dar, das er voll auskostet. Reste davon sind im aktuellen Manuskript von Liquid Love noch enthalten.

Die Fragen sind nach wie vor ungeordnet. Sie folgen keiner heimlichen Strategie. Dennoch rate ich zu Vorsicht: Sie sind nicht universell, sie transportieren unterschwellig eine Ideologie, die unsere Zeit und Gesellschaft in vieler Hinsicht kennzeichnet. Interessant und aufschlussreich sind daher auch die Fragen, die hier nicht gestellt werden.

Der Fragenkatalog:

  1. Welches war dein größtes und spannendstes Abenteuer in deinem bisherigen Leben? Auf welche neuen Abenteuer bereitest du dich innerlich vor?
  2. Welchen deiner Freunde möchtest du noch viel näher kommen als bislang? Bei welchen bist du dir sicher, dass dieses Unterfangen aussichtslos wäre? Bei welchen könnte es gelingen? Auf welche deiner Freunde könntest du auch verzichten?
  3. Welche eher beiläufige Berührung eines anderen Menschen war dir besonders angenehm? Was hat sich danach verändert?
  4. Wegen einer so unerwarteten wie unwahrscheinlichen Störung des Raum-Zeit-Kontinuums ist es dir möglich, mit deinem gegenwärtigen Bewusstsein in deine Vergangenheit zu reisen. Welche Momente oder Szenen deiner Kindheit würdest du aufsuchen? In welche Abschnitte deiner Vergangenheit würdest du reisen, die weniger weit zurückliegen?
  5. Wenn du könntest: Welche Personen und Erlebnisse aus deiner Vergangenheit würdest du streichen? Was würde sich für dich ändern?
  6. In Prozent: Wie viele der Bücher, die du besitzt, wirst du voraussichtlich nie mehr lesen – auch wenn du sie noch gar nicht gelesen hast?
  7. Welche Bücher (oder auch Filme, Theaterstücke, Opern, Ballettaufführungen usw.) sind dir heilig? Nenne bis zu zehn Titel (oder Autorennamen, wenn du die Titel vergessen haben solltest)!
  8. Welche Kleidungsstücke, die du (oder dir nahestehende Personen) nicht mehr trägst, hast du in deinem Kleiderschrank, weil du positive Erinnerungen damit verbindest? Was machen diese Erinnerungen aus?
  9. Welche fiktionalen Figuren aus Literatur oder Film haben dich nachhaltig (oder jedenfalls für längere Zeit) geprägt?
  10. Von welchen Menschen hast du Verhaltens- oder Sprechweisen übernommen? In welchen Fällen geschah das aus Sympathie bzw. Zuneigung?
  11. Nachdem es möglich geworden ist, menschliches Leben um mehrere hundert Jahre zu verlängern und zugleich deinen jugendlichen Körper zu erhalten oder (wenn du bereits älter bist) zurückzugewinnen: Wie denkst du über einen oder mehrere Wechsel deines Lebenspartners, deines Berufes, Wohnortes und Besitzes?
  12. (Zusatz zu 11: Die Wissenschaft hat die Ektogenese von Menschen ermöglicht. Willst du weiterhin auf natürlichem Weg gebären, bzw. willst du, dass deine Partnerin die neue Technik nutzt? Warum?)
  13. Welche Eigenschaften müsste dein Partner/Partnerin besitzen, an dessen Seite du alt werden wolltest?
  14. Wie viele Lebenspartner, mit denen du gleichzeitig zusammenlebst, wären für dich (unter den günstigsten Bedingungen) denkbar?
  15. Du bist, wenn du willst, unsichtbar und unhörbar: Wen würdest du sporadisch oder für längere Zeit heimlich beobachten und belauschen?
  16. Mit welchen Personen würdest du gerne Sex haben, wenn dein Tun absolut keine Konsequenzen hätte, weil du die Macht hättest, die Zeit um vierundzwanzig Stunden zurückzudrehen? Wenn du keine Macht über die Zeit hättest: Mit welchen Folgen deines Handelns könntest du dich leicht abfinden? Mit welchen nicht?
  17. Mit wem, den du nur flüchtig kennst, hättest du gern – wenn du dich zu wünschen trautest – eine tiefe und innige Freundschaft?
  18. Was kennzeichnet für dich die Grenze zwischen Freundschaft und Liebschaft?
  19. Spende einen Liebeszauber: Welche Person sollte sich unsterblich in dich verlieben, auch wenn du nicht mit ihr zusammenleben wolltest?
  20. Welche Sorgen machst du dir, von denen du weißt, dass sie unnötig oder nicht hilfreich sind?
  21. Welche Süchte hast du? Welche davon sind dir lieb und teuer? Und welche wärest du gerne los? Was hat nicht geholfen bei den Versuchen, sie loszuwerden?
  22. Welche Gegenstände in deiner Wohnung könntest du auch in einen Karton packen und in einer Abstellkammer, im Keller oder auf dem Dachboden verwahren? Von welchen Gegenständen könntest du dich auch ganz trennen?
  23. Welche Eigenschaften und Gewohnheiten magst du an deinem Lebenspartner (bzw. an den dir am nächsten stehenden Mitmenschen)?
  24. Welche glücklichsten Momente in deinem bisherigen Leben fallen dir ein? Wie kamen sie zustande?
  25. Was ist oder wäre dir besonders peinlich? Welche äußerst peinlichen Situationen sind dir besonders im Gedächtnis geblieben? Wie hast du in diesen Situationen reagiert? Welchen anderen und souveränen Umgang damit kannst du dir vorstellen?
  26. Über welche deiner Ängste ärgerst du dich am meisten? Welche positiven Erfahrungen hast du gemacht, wenn du diese Ängste einmal überwunden hast?
  27. Unter welchen materiellen und sozialen Bedingungen könntest du dich am besten entfalten? Was wäre das Resultat deiner Selbstentfaltung?
  28. Absolute Freiheit kann es für niemanden geben. Welche erstrebenswerte relative Freiheit hieltest du für realisierbar und erfüllend?
  29. Welcher Mensch wäre für dich unentbehrlich? Welcher Mensch mit welchen Persönlichkeitsmerkmalen könnte ihn ersetzen? Oder: Welches erstrebenswerte Lebenskonzept könntest du auch mit einem anderen Partner verwirklichen?
  30. In Prozent: Wie wandelbar und entwicklungsfähig bist du oder könntest du sein? Für wie wandelbar hältst du deinen Lebenspartner?
  31. Welche Veränderungen deiner Persönlichkeit, deines Verhaltens oder deiner Gewohnheiten würde dein Partner noch akzeptieren oder sogar gutheißen? Welche deiner (aus deiner Sicht erstrebenswerten) Veränderungen oder Kurskorrekturen würden deiner Meinung nach zum Bruch führen? Welche Veränderungen deines Partners würdest du dagegen begrüßen oder zumindest akzeptieren? Wer von euch wäre toleranter und offener für Veränderungen?
  32. Welche gesellschaftlichen Normen (ausgesprochene und von vielen Menschen geteilte wie auch unausgesprochene und eher unbewusste) strukturieren maßgeblich dein Leben? Welche davon erleichtern dir und deinen Mitmenschen das Leben? Welche belasten dich eher?
  33. Welche Formen magischen Denkens hast du an dir beobachtet? Welche wichtigen Funktionen erfüllt magisches Denken für dich? Welche sinnvollen und wichtigen Entscheidungen hast du durch magisches Denken vermieden?
  34. Welche deiner Träume und Wunschvorstellungen sind mit der Zeit verblasst?
  35. Du stehst unerwartet am Ende deines Lebens: Wie fällt deine Bilanz aus? Womit kannst du zufrieden und glücklich sein? Was hast du zu tun versäumt? (Du bist der Meinung, du seiest bereits wunschlos glücklich, vom Leben reich beschenkt? Was tust du, wenn dein Leben nun weitergeht?)
  36. Vor welchen Veränderungen in deinem Leben, die du in der Hand hättest, hast du die meiste Angst? Welche wünschbaren Veränderungen liegen nicht in deiner Macht?
  37. Kennst du die tiefsten Wünsche und Träume deiner Freunde? Hast du sie danach gefragt?
  38. Welchen Tätigkeiten, die du früher genossen hast, gehst du heute nicht mehr nach?
  39. Schätze dich realistisch ein (gerne in Prozent): Mehr Tier oder mehr Mensch? Mehr Geist oder mehr Körper?
  40. Selbstliebe: Wie zärtlich und fürsorglich gehst du mit deinem eigenen Körper um? Welche deiner Sinne, Bedürfnisse und Lüste kommen zu kurz?
  41. Welche Menschen oder Beziehungen zu Menschen belasten dich sehr? Was kannst du an dir selbst ändern, wenn sich diese Menschen nicht ändern?
  42. Welche deiner Fantasien erfüllen dich mit Schuldgefühlen?
  43. Welche deiner Handlungen, Gewohnheiten und Verhaltensweisen erfüllen dich mit Schuldgefühlen? Was würde sich für dich und dir nahestehende Personen ändern, wenn die Schuldgefühle wie durch einen Zauber verschwänden?
  44. Welche deiner heimlichen Fantasien sind schon einmal zur Obsession geworden (oder sind es immer noch)? Was würde deiner Meinung nach geschehen, wenn du sie denjenigen mitteiltest, vor denen du sie verheimlichst?
  45. Welche Wertvorstellungen haben dich und deine Lebensführung begleitet und geprägt? Welche Werte haben keine so große Rolle gespielt, könnten aber eine größere Rolle spielen?
  46. Was in deinem Beruf bereitet dir Freude und bringt dir Anerkennung?
  47. Du kannst in die Köpfe der anderen nicht hineinsehen. Was jeweils veranlasst dich, den guten Worten anderer zu misstrauen, dass sie dich mögen, deine Leistungen anerkennen oder dass sie sich freuen, dich zu sehen?
  48. Wann hast du das letzte Mal ehrlich auf die Frage geantwortet, wie es dir geht? Hast du erzählt, was dich bewegt, beglückt, beunruhigt? Was würdest du jetzt gerade von dir erzählen, wenn du gefragt würdest?
  49. Auf welche deiner Fähigkeiten, auf die du dich relativ sicher verlassen kannst, bist du stolz?
  50. Welche deiner Ziele und Bemühungen haben sich im Laufe der Jahre für dich als sinn- oder aussichtslos erwiesen? Von welchen dieser Ziele und Bemühungen hast du daher abgelassen? Welche neuen Ziele hast du dir stattdessen gesetzt?
  51. Welche größeren und kleineren Probleme hast du in der Vergangenheit lösen können? Was war das Gemeinsame dieser Lösungen?
  52. Lachen soll gesund sein. Wann hast du das letzte Mal herzlich gelacht? Was war der Anlass? Wie könntest du häufiger dafür sorgen, dass du etwas zu lachen hast?
  53. Mit welchen deiner Gefühle möchtest du andere lieber nicht belasten? Welche Gefühle sollten die anderen dir gegenüber lieber nicht zum Ausdruck bringen?
  54. Welches Verhalten Anderer dir gegenüber hältst du für übergriffig? Wo siehst du die Grenze zwischen angemessen und unangemessen? Welche Form von Übergriffigkeit Anderer wünschst du dir heimlich?
  55. Welche Wünsche Anderer bemühst du dich zu erfüllen, weil du glaubst, sie hätten Anspruch auf ihre Erfüllung?
  56. Welche Forderungen Anderer erfüllst du in der Regel, weil du ihre Zurückweisung peinlich fändest oder du dadurch negative Folgen für dich erwarten würdest?
  57. Wahrheit oder doch lieber Selbstverpflichtung?
  58. Welcher Peinlichkeit, welchem Verlust von Ehre, Würde oder Lebensqualität würdest du den eigenen Tod oder den Anderer vorziehen?
  59. Was wäre für dich ein guter Grund für einen Mord?
  60. Was wäre für dich ein guter Grund für einen Selbstmord?
  61. Was findest du schön? Was ist Schönheit für dich? Welche Rolle spielt alles Schöne in deinem Leben? Wem erzählst du, was du schön findest? Was sagst du, wenn du gerade von Schönheit überwältigt wirst?
  62. Wenn du steuern könntest, was du im Schlaf träumst – was würdest du träumen?
  63. Welche Erfahrungen hast du gemacht, wenn du einem anderen Menschen gegeben hast, was du selbst gern hättest? Wenn du jemanden verwöhnt hast, wie du selbst gern verwöhnt werden würdest? Wann hast du das letzte Mal von einem anderen Menschen um etwas gebeten, was du gern von ihm bekommen würdest? Wie war seine Reaktion? Und wie hast du dich dabei gefühlt? Wann hast du vermieden, danach zu fragen? Warum?
  64. Welche Erfahrungen haben dich positiv überrascht, obwohl du sie zuvor nicht machen wolltest, bzw. nie darüber nachgedacht hast?
  65. Woran glaubst du, das aus deiner Sicht überirdisch oder göttlich ist? Wie ziehst du aus diesem Glauben Kraft und Nutzen?
  66. Welcher Selbstbetrug ist dir besonders gut im Gedächtnis geblieben? Welche Vorteile haben sich für dich daraus ergeben? Und welche Nachteile? Was hast du geändert? Und mit welchem Erfolg?
  67. Wann hast du dich das letzte Mal mit Freude richtig schmutzig gemacht? Was genau hat deine Freude daran vor allem ausgemacht?
  68. Was geht dir durch den Kopf, wenn du vor oder mit anderen auf einer Party tanzt? Wie tanzt du, oder würdest du tanzen, wenn du unbeobachtet bist oder wärest?
  69. Wann hast du zuletzt das Bedürfnis gespürt, aus vollen Leibeskräften zu singen? Hast du es getan?
  70. Hast du sexuelle Fantasien? Traust du dich, davon zu erzählen? Welche sexuellen Fantasien würdest du gern verwirklichen? Mit wem? Hast du der betreffenden Person (oder im Plural: den betreffenden Personen) davon erzählt? Was spräche dagegen? Was dafür?
  71. Welche Rolle spielen Kinder in deinem Leben? Was spricht dafür, Kinder zu haben oder zu bekommen? Welche Einschränkungen nimmst du dafür gerne in Kauf? Welche nicht oder ungern? (Alternativ: Setze ins Präteritum!)
  72. Du verarmst unerwartet (und unverschuldet): Wie gestaltest du dein Leben? Wie gestaltest du mit deiner Familie oder mit deinem Partner das gemeinsame Leben?
  73. Was ist absolut notwendig für dein Glück? Was nicht, obwohl es dir wichtig ist?
  74. Welche deiner Erinnerungen waren oder sind immer noch schön? Was ist ihnen gemeinsam? Was unternimmst du, um neue Erlebnisse zu haben, an die du dich genauso gern erinnern wirst, wie an die älteren?
  75. Welche Beobachtungen im Alltag haben dich irgendwie glücklich gemacht? Wie oft erwartest du, solche Beobachtungen zu machen?
  76. Wellness: Was gehörte alles dazu, damit du dich einmal rundum gut und entspannt fühltest? Wie kannst du das realisieren (lassen)?
  77. Wofür bräuchtest du sehr viel Mut, für den du reichlich belohnt werden würdest, wenn du ihn aufbrächtest?
  78. Checkliste: Was in deinem Leben könnte prinzipiell schiefgehen? Wie viel und was davon ist bereits eingetroffen?
  79. Du hast einen Tag frei, an dem du dich einmal so richtig danebenbenehmen darfst (Alle anderen hätten ebenfalls jedes Jahr so einen freien Tag. Der gehörte zu den menschlichen Grundrechten). Was würdest du alles tun?
  80. Welche Menschen findest du ausgesprochen schön, attraktiv und begehrenswert – denen du das auch gesagt hast?
  81. Sag: Welche Pflanze wärest du? Wie würdest du in den Himmel wachsen? Wie tief und breit sich deine Wurzeln im Boden ausbreiten? Und wie dicht, hoch und tief dürften andere Pflanzen neben dir wachsen?
  82. Welche Menschen dienen dir oder haben dir als Vorbilder gedient? Was hast du von ihnen übernommen?
  83. Was tust du nur anderen zuliebe? Wissen die betroffenen Personen darüber Bescheid? Wie stehen sie dazu?
  84. Welche Konflikte sprichst du lieber nicht an, um deine Ruhe zu haben? Hast du Ruhe?
  85. Was tust du gegen zu großen Stress? Was davon ist am wirksamsten?
  86. Was sollten die dir nachfolgenden Generationen besser machen, was du selbst nicht verbessern kannst oder willst?
  87. Welcher Glücksfall würde dein Leben entscheidend verbessern?
  88. Welche Krise würde dein Leben entscheidend verbessern?
  89. Welcher Glücksfall und/oder welche Krise hat dein Leben schon einmal entscheidend verbessert?
  90. Welche Erkenntnis hat dein Leben entscheidend verändert und verbessert?
  91. Welcher gesellschaftliche Wandel würde dein Leben entscheidend verbessern?
  92. Worin besteht für dich der Unterschied zwischen einem besseren und einem richtigen Leben?
  93. Gäbe es für dich ein richtiges Leben inmitten des falschen Lebens der anderen?
  94. Zu welchen Opfern wärst du bereit, um das Leben Anderer zu verbessern?
  95. Wie gehst du mit deinen Irrtümern um, oder damit, anderen Unrecht getan zu haben? Fällt es dir leicht, dich zu korrigieren und zu entschuldigen?
  96. Wie gehst du mit der Unfähigkeit anderer um, Irrtümer und Fehlverhalten zuzugeben?
  97. Die Kraft der Worte: In welchem Maße vertraust du auf die Sprache als Mittel der Verständigung?
  98. Literatur, Film, Theater, Kunst, Musik: Vorbild, Abschreckung, Läuterung oder Mittel der Selbst- und Welterkenntnis? Haben die Künste dein Leben bereichert, vorangebracht, verbessert? Nenne Beispiele! Taugen die Künste zu mehr als Unterhaltung? Können sie die Welt verändern?
  99. Mythen: Ewiges Schicksal oder Herausforderung?
  100. Werden und Vergehen – oder Ewigkeit?
  101. Glaubst du, dass du deinen Mitmenschen mehr Glück oder mehr Leid gebracht hast? Konkreter: Denke dabei einmal an einen oder mehrere dir sehr nahestehende Menschen.

Der liquide Roman

„Die Sache ist doch so“, sage ich zu Pjotr, „wenn Disney oder Warner einen neuen Blockbuster raushauen, verdienen die ihr Geld vor allem mit Merchandising-Produkten, T-Shirts, Plastikfiguren und dem ganzen Scheiß. Bands und Leute wie Helene Fischer verdienen ihr Geld nicht mit CDs oder Spotify, sondern mit den Konzerten – und eben mit Merchandising.“ Na und, fragt Pjotr. „Na, ist doch vielleicht so auch mit der Literatur, die verlagert ihren Schwerpunkt allmählich auch in andere Bereiche. Du schreibst ein Buch, aber es geht gar nicht mehr um das Buch, oder jedenfalls nicht nur. Es geht um die Illusionen, die um den Autor oder die Autorin gestrickt werden. Das Buch ist bloß noch der Anlass, um sich mit der Autorin zu beschäftigen. Oder mit irgendeinem angesagten Thema.“ Das war nie anders, meint Aleksander, Goethe, Schiller, Brecht, Grass, irgendwann ging’s immer nur noch um die Autoren, um ihre politischen Überzeugungen, ihre kluggeschissenen Kommentare zum Weltgeschehen, ich meine jetzt nicht Schiller oder Goethe, du weißt schon, wie ich zu Grass stehe.401.jpg

Ja, weiß ich. Komisch, dass ihm wieder mal nur Männer als Beispiele eingefallen sind. Sei’s drum. „Ich meine, scheiß auf die Autorinnen! Die Romane fangen an, zwischen den Buchdeckeln hervorzuwachsen, sie fließen in die sozialen Medien hinein und beginnen da eine Art Eigenleben. Du weißt schon, dieses blöde Gerede davon, dass Autoren irgendwann hilflos vor ihren selbstgeschaffenen Figuren stehen und mit ansehen müssen, wie die ihre Geschicke selbst zu bestimmen beginnen; wenn Autorinnen begeistert von der Eigendynamik der Story erzählen und behaupten, sie seien irgendwann nur noch Zuschauer oder Chronisten gewesen, weil sich alles von allein ergeben hat. Die Sachzwänge der Fiktion. Aber wenn der Roman anfängt, vor allem in den sozialen Medien zu existieren, da ein Eigenleben entwickelt …“ Fan-Fiktion, unterbricht Al. Aleksander hasst es, wenn ich ihn Al nenne. „Nee, Al, nicht diese Nachahmungsscheiße, sondern: Der Roman geht im Internet weiter, er hört einfach nicht auf, oder er verändert sich. Das Buch ist fertig, aber dann findet so eine Art Zellteilung im Internet statt, und Mutationen. Die Figuren und die Geschichte verwandeln sich weiter, obwohl das Buch schon fertig ist. Der liquide Roman – ist das nicht die logische Konsequenz für die Literatur in der liquiden Moderne? Dass sich nicht nur die Menschen und die Identitäten verflüssigen, sondern auch die Romane? So wie die Serien? Die Leute wollen ohnehin kaum noch was Ausgedachtes lesen, die wollen was aus dem Leben der Autorinnen lesen und es soll möglichst authentisch sein. Und so ein Leben geht ja auch immer weiter. Ich glaube, Serie ist das richtige Stichwort.“ So von Staffel zu Staffel, sagt Pjotr, da steckt aber auch Kontinuität drin, das entwickelt sich vielleicht immer weiter, aber das Ganze hat Konsistenz. Bei einer guten Serie jedenfalls. „Eben. Da muss eine andere Art von Konsistenz her. Stell dir einen Roman vor, der sich permanent verändert, der nach und nach seine eigenen Varianten ausspuckt, bis er sich einerseits nicht mehr ähnlichsieht, aber andererseits sich immer mehr seinem Kern annähert, wenn’s den überhaupt gibt. Eine Phänomenologie der Fiktionen, wenn du so willst, oder eine fiktionale Hermeneutik.“ Du meinst, sagt Pjotr, du schreibst einen Roman wie „Liquid Love“ einfach weiter? „Wir beide?“ Oder du, ich, Uta und André? Hermeneutik – ganz schön hochgestochen. Schreibst du da nicht besser einen Aufsatz für eine literaturwissenschaftliche Zeitschrift?

„Nee, gerade nicht. Es müsste schon Literatur sein. Wir schreiben an unserem Lebensroman doch auch immer weiter, wir hören nie auf damit. Und wir erzählen unsere Geschichte immer wieder neu, interpretieren sie neu, vergessen, konstruieren. Und deshalb wissen wir in keinem Moment, ob wir unser Leben endlich verstanden haben, uns selbst verstanden haben. Wir müssen uns immer wieder selbst auf die Probe und unsere Überzeugungen in Frage stellen. Klar muss ein Roman irgendwann zu Ende sein, wenn er gedruckt werden soll. Aber de facto ist er dann immer noch als ein anderer möglich. So wie mein Leben auch mit einem anderen Mann möglich wäre, oder mit einer Frau. Oder wenn du dich zum Beispiel entscheiden würdest, eine Frau zu werden.“

Willst du das? Ist das eine deiner Fantasien? Dass ich mir den Schwanz aboperieren lasse?

„Wieso das? Wäre das deiner Meinung nach nötig, um eine Frau zu werden?“ Aleksander zieht sich verzweifelt die Decke über den Kopf. „Ich mag deinen Schwanz, wie du weißt, du sollst ihn ja gar nicht abschneiden. Aber wenn du es wollen würdest und es tun würdest, dann würde sich ja zweifellos etwas ändern zwischen uns. Es war auch nur ein Beispiel. Aber wenn du es wirklich tun würdest, dann wäre es doch selbstverständlich, dass ich anfange, meine Geschichte mit dir noch einmal aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Das Ereignis würde meine und deine Geschichte nachhaltig verändern. Hast du dir immer schon gewünscht eine Frau zu sein? War der Sex, den wir hatten, irgendwie immer schon lesbischer Sex? Aber mir geht es im Moment gar nicht um unser Leben, sondern um Literatur. Wer sagt, dass ein Roman ein Ende haben muss? Und dass ein Roman sich nicht verändern darf? Dass eine Autorin nicht sagen darf, Leute, es ist 2020 und am 21. Januar hat ich endlich das erste Kapitel des Romans mit dem Titel soundso verändert. Es ist nicht nur besser geworden, sondern es ist eine weitere interessante Figur dazugekommen. Seit gespannt, denn diese neue Figur wird sich möglicherweise in unseren Protagonisten verlieben, was eine ganze Menge infragestellt, das wir für unumstößlich gehalten haben. Undsoweiter. Dieser Werkgedanke – der löst sich immer mehr auf. Das Werk löst sich auf. Das ist das Schicksal der Moderne: In dem Moment, wo etwas fertig zu sein scheint, hat sich die Welt, in die dieses Etwas gestellt wird, schon wieder so sehr verändert, dass sich dieses Etwas diesem Wandel sofort anpassen möchte und seine Gestalt verändert. Denk einfach an den Berliner Flughafen! Neue Bauvorschriften, neue Baustelle, Eröffnung zum siebten Mal verschoben. Der Online-Roman der Zukunft verändert sich laufend, ist unfassbar und formlos wie eine Amöbe im Heuaufguss. Oder so.“

Und wird nie fertig. So wie der Berliner Flughafen. Aber dein Geld musst du dann immer noch mit dem Buch, ich meine, mit dem gedruckten, fertigen Buch, verdienen, sagt Aleksander. Aber das ist ja jetzt schon fast unmöglich. Internet ist noch kein Merchandising. Wenn klar ist, dass dein Buch noch gar nicht fertig ist, wenn es erscheint – aus welchem Grund sollte es dann jemand kaufen? Die Leute leben ein unfertiges und oft genug unbefriedigendes Leben – warum sollten sie sich dann auch noch ein unfertiges Buch kaufen? Wenigstens der Roman sollte ein Ende haben, am besten ein Happy End, ein Ende, das sein Licht auf die zurückliegende Geschichte wirft und ihr Sinn verleiht. Also: warum ein unfertiges Buch?

„Einfach weil es eine geile Idee ist und es nicht mehr diesen Moment gibt, wo du dir sagst: Ich habe nur noch drei Seiten zu lesen, dann ist der Roman zu Ende, aber ich möchte weiterlesen, weiter, immer weiter. Die Leute wollen vielleicht ein richtiges Ende haben, aber im nächsten Moment wollen sie, dass es sofort weitergeht, also eben noch nicht zu Ende ist. Und ja, geil ist auch, wenn die Figuren nicht dieselben bleiben. Denn ich möchte auch nicht immer dieselbe bleiben.“

André Kertész

Du möchtest vielleicht auch noch irgendwann mal ein Mann sein. Und einen Gummipenis in der Hose tragen.

„Oder unterm Rock.“

Woher weißt du, dass du damit nicht einer fatalen Ideologie aufsitzt, die dich langfristig total aushöhlt? Mit dieser Idee der liquiden Persönlichkeit und dem liquiden Roman, das ist ja bloß die Fortsetzung oder Steigerung dessen, was bislang die Moderne war. Der Begriff der Moderne kommt, wie du weißt, von Mode. Als die Menschen im Neunzehnten Jahrhundert bemerkten, dass sich ihre Lebensverhältnisse spürbar veränderten, Moden einander abwechselten, in den Großstädten die Kanalisation eingeführt wurde, Gaslampen, Elektrifizierung, Maschinen, neue Anschauungen usw., als die Menschen nicht mehr umhin konnten zu sehen, dass alles das, was Jahrhunderte zuvor gegolten hatte, nun innerhalb weniger Jahrzehnte oder Jahre stürzen konnte, durch Neues ersetzt wurde, entstand die Moderne, das Zeitalter der Innovationen. Es hält bis heute an. Postmoderne? Zweite Moderne? Papperlapapp! Wir sind innovationssüchtig wie keine Generation vor uns. Und jetzt wird es nur immer schneller, so schnell, dass es zu fließen scheint. Keine Statik mehr, alles fließt.

„Stimmt, und weil sich alles immer schneller verändert, wollen wir uns nicht bloß an die Veränderungen anpassen, sondern immer schon am Ziel sein, bevor das Neue wirklich da ist, wie bei der Fabel vom Hasen und dem Igel. Ich bin jetzt die eine, aber in Zukunft werde ich schon immer die andere gewesen sein. Ich will ja gar nicht sagen, dass ich das gut finde. Aber ich gehöre bereits zu dieser Generation. Ich kann gar nicht anders. Das hat nämlich alles einen langen Vorlauf gehabt. Als Sechzehnjährige habe ich Sartre gelesen und bin fasziniert von der Vorstellung gewesen, dass ich mein Sein durch meine Entscheidungen, also durch mein Handeln erst erschaffe. Und heute ist diese Idee ins kollektive Unbewusste herabgesunken. Es ist absolut selbstverständlich geworden, das eigene Sein, die eigene Persönlichkeit, die eigene Geschichte zu erschaffen, jedenfalls davon überzeugt zu sein, dass man es kann und in begrenztem Rahmen auch tut. Mit einem wesentlichen Unterschied zu Sartres Theorie: dass ich meine Geschichte nicht mehr zu sein habe. Ich kann jederzeit eine andere sein und meine Geschichte hinter mir lassen. Und sagen: Diese Geschichte, das war ich mal, aber die bin ich nicht mehr, die hat mit mir nicht mehr viel zu tun. Ist natürlich Quatsch. Ich kann meine Geschichte nicht verändern. Ich kann sie vielleicht neu interpretieren, aber ich kann sie nicht ändern. Genauso wenig kann ich sie selbst erschaffen, es sind wahrscheinlich nur Spurenelemente von Selbsterschaffenem in meinem Ich. Aber es gibt diese neue Idee vom Menschen, der sich selbst erschafft, sich optimiert und sich vollständig verwandeln kann. Vom Fettkloß zum super tiny Model, vom Alkoholiker zum Abstinenzler, vom Anwalt zum Schriftsteller, vom Museumsdirektor zum Busfahrer. Mir fallen gerade nicht so geile Beispiele ein. Aber du verstehst schon. Du kannst durch Ratgeberliteratur, Therapie, Bildung, Tutorials auf Youtube, durch implantierte Chips in deinem Gehirn, durch Crispr oder was auch immer ein anderer Mensch werden. Scheiße! Das will ich gar nicht. Ich will das gar nicht für mich. Ich kann das auch gar nicht. Aber ein Roman, mein lieber Al, der kann das. Der Roman unserer Zeit muss das vielleicht sogar.“

Das ökonomische Problem hast du damit aber noch nicht gelöst.

„Warum sollte das ein Problem sein? Der Roman wird wie ein E-Book vertrieben, aber du kaufst auch die Updates dazu, jedenfalls für eine gewisse Dauer. Du kannst auch nur das fertige Buch kaufen. Aber es ist doch viel spannender ein Buch durchzulesen, um dann wieder vorne anzufangen und festzustellen, dass der Anfang jetzt ganz anders aussieht, oder ein wenig anders. Und! Ganz wichtig! Damit das wirklich schnell genug funktioniert, brauchst du Autorenkollektive, die das permanent neu schreiben, so wie bei den Computerspielen oder den Netflix-Serien. Da sind auch meistens mehrere Autoren am Werk. Oder Drehbuchschreiber, Regisseurinnen, Kameraleute, Dramaturgen usw. Das kann keiner mehr allein.“

Und das richtige Geld mit den Merchandising-Produkten verdienen.

Liquid Love Archive II

Wovon Donata die Nase voll hat (wenn sie genauer darüber nachdenkt) … und wie die Geschichte auch ganz anders konstruiert sein könnte

Zunächst einmal die gemeinsamen Fernsehrituale mit Thomas. Mehrmals die Woche. Sie hat sich so sehr daran gewöhnt, dass sie sich auch dann vor die Glotze setzt, wenn Thomas nicht dabei ist. Die Nachrichten (Tagesschau), diese komprimierte Welt, abgestimmt auf eine anonyme Mehrheit, die glaubt und glauben möchte, dass nichts sonst in und mit der Welt geschieht, nur das, was dort verhandelt wird, aufgeblasen, für wichtig erklärt. Das ist doch auch nur eine Blase, eine ziemlich mickrige Blase. Wir werden eingelullt und gleichgeschaltet. Wirtschaft ist wichtig, das, was die Reichen bewegt, die Profite der großen Unternehmen, die „to big to fail“ sind. „Dauernd werden Gesichter von Leuten gezeigt, deren Namen ich mir zu merken habe, weil sie angeblich so furchtbar wichtig sind. Das geht immer mehr an mir vorbei.“

„Lügenpresse“ – das wäre zu radikal und maßlos, es so zu nennen. Komfort-Presse wäre das bessere Wort. Die Tagesschau ist die Komfortzone der Information. Tut nie richtig weh. Und dann der Krimi um 20:15 – der tut auch nicht richtig weh. Wir wollen ja nicht so sehr schockiert werden, dass wir danach nicht mehr schlafen können. Oder die gepflegten Dramen, die nicht weniger vorhersehbar gestrickt sind als die Krimis. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich die Erfahrungen, die die Autoren und Regisseure in ihren Filmen verarbeiten, vor allem aus anderen Filmen speisen. Das sieht man unter anderem an den Sexszenen, denn heutzutage müssen die Darsteller für wenigstens eine Minute im Bett landen. Gespielte Leidenschaft, die wohl ganz besonders groß sein muss, wenn die Frau auf dem Mann reitet und den Kopf in den Nacken wirft, damit der Busen straffer sitzt. Vergleichbar mit der Standardszene, wenn ein Darsteller aus einem Alptraum aufschreckt und sich ruckartig im Bett aufrichtet. Ich bin noch nie auf diese Weise aus einem Alptraum aufgewacht. Totaler Schwachsinn. Überhaupt: Alpträume! Die vermeintlich tiefsten und komplexesten Charaktere sind immer die mit ner Macke, einer schweren Kindheit, oder sie sind einsame Wölfe, die jahrelang mit einer Trennung nicht zurechtkommen. Am besten, sie haben Partner und Kinder bei einem Mord verloren und halten sich trotzdem tapfer aufrecht, schauen aber die ganze Zeit sehr melancholisch drein oder sind zu sympathischen Zynikern mutiert. Ich kann mittlerweile innerhalb der ersten zwei Minuten eines Films erkennen, in welche Richtung die Chose geht und mit welchen Klischees ich zu rechnen habe. Ich habe noch nie einen Darsteller heimlich in der Nase popeln gesehen, oder wie sich jemand unter der Dusche die Schamhaare rasiert und dabei in Kauderwelsch vor sich hin singt. Es gibt im wirklichen Leben so oft völlig irrsinnige Situationen und Handlungen, die eigentlich für einen außenstehenden Beobachter überhaupt nicht nachvollziehbar sind und an sich auch gar keine Bedeutung haben, aber eben eine Persönlichkeit ausmachen. Wenn ich zum Beispiel morgens im Bad stehe, nur mit BH bekleidet und mit Cedric über seine Hausaufgaben diskutiere, oder über Gott und die Welt. Vielleicht würde ich lieber so etwas im Fernsehen sehen wollen.

Diese Müdigkeit am Abend. Wenn du keine Energie mehr hast, auch nur irgendwas zu machen. Thomas hat mal vorgeschlagen, stattdessen Karten zu spielen. Wie bitte? Bauernskat, oder was?

Jetzt habe ich das Schreiben, wenigstens das Schreiben, endlich das Schreiben. Ich möchte gar nicht mehr damit aufhören. Aber ich will auch endlich raus! Raus aus dem Mief, aus meinem eigenen und aus Thomas‘ Mief, aus unserer Komfortzone.

Thomas hängt sich in letzter Zeit fast jeden Abend vor seine Computerspiele, WOW, LOL oder was auch immer, genau wie die Jungs. Manchmal fühle ich mich, als sei ich von lauter Autisten umringt, die so langsam mit ihren Computern verwachsen. 3-D-Brille. Sich mit der 3-D-Brille aus der Wirklichkeit herauskatapultieren. Das würde mir nicht genügen. Das ist auch nur ein Gefängnis.

Ich habe mit der Zeit die halbe Wohnung mit Pflanzen vollgestellt. Blumengießen als Hobby. Ich bin eine richtige Orchideen-Expertin geworden, habe mich aber auch eine Zeitlang in meinen Gummibaum verliebt und jedes Blatt einzeln poliert. Jetzt hab ich es satt und würde die Dinger am liebsten irgendwo aussetzen. Wie einen Hund oder eine Katze auf einem Autobahnparkplatz. Bin ich froh, dass wir den Kindern keinen Hund erlaubt haben! Thomas hätten sie sogar fast soweit gekriegt. Und wer hätte den dann immer Gassi führen dürfen? Ich weiß auch nicht, warum es ausgerechnet Hundebesitzer sind, denen ich mit größter Verachtung begegne. Vielleicht, weil mir meine Kinder manchmal zu viel werden und die Hundebesitzer sich freiwillig einen Dauerpflegefall ins Haus holen, deren Häufchen sie in schwarzen Plastiksäckchen auffangen müssen, die die Polster vollhaaren, stinken und in den Kleiderschrank pissen. Gott, war ich froh, als ich das letzte, halbverbrauchte Windelpaket der dreiundvierzigjährigen Nachbarin in die Hand drücken konnte, voller Stolz darüber, dass ich mit der Kinderkacke endlich durch war, als die erst damit anfing, obwohl ich beinahe ihre Tochter hätte sein können. Geiles Gefühl. Aber wenn ich diese aufopferungsvollen Tierhalter sehe, bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich insgeheim schon den Tag herbeisehne, an dem Luis und Cedric aus dem Haus sein werden. Ich muss wohl mehr als nur ein Tierhasser sein. Ich liebe meine Kinder, ganz bestimmt, ich liebe sie über alles, aber sie haben mir auch die wertvollste und vitalste Phase meines Lebens geraubt, oder sagen wir: eingenässt, zugebrüllt, vollgekrümelt. Wie frustriert muss man sein, wenn man sich gleich im Anschluss an die Elternzeit in die Abhängigkeit von einem schwachsinnigen, sabbernden Säugetier begibt, das nicht mal ordentlich aufs Klo gehen kann? „Es gibt nichts Beruhigenderes, als einen Hund zu haben. Nur mit einem Hund kannst du nach dem Stress des Tages wirklich runterfahren.“ Wer sich zu solchen Sätzen hinreißen lässt, wäre wohl der geeignete Kandidat, um nach der Arbeit meine multimorbide und inkontinente Oma zu pflegen. Die freut sich auch sehr über Streicheleinheiten und will gerne mit dem Rollstuhl herumgefahren werden. Der Vorteil: Mit ihr kann man bei Bedarf sogar Mühle spielen.

Einkaufen, kochen, jeden Tag die gleiche Prozedur, immer muss ich mir was ausdenken. Sarah, wie läuft das eigentlich bei euch. In der Woche bist du ja im Prinzip unterwegs. Gehst du da immer essen? Und Justus? Kocht der für sich allein? Würde ich wohl eher nicht tun. Leider bin ich nicht nur für mich allein verantwortlich.

Wäsche sortieren, waschen (macht glücklicherweise die Maschine. Welch ein Fortschritt der Menschheit!), aufhängen (immer noch manuell, der Trockner funktioniert nur für Unterwäsche und Socken, hab keine Lust die T-Shirts zu bügeln, also hänge ich sie halbtrocken auf den Wäscheständer), zusammenlegen, in die Schränke sortieren, nebenbei den Müll in den Kinderzimmern auflesen. Bin ich mit dem Mist durch, liegt schon wieder ein neuer Haufen im Wäschekorb. Mittlerweile meinen auch unsere männlichen Mitbürger, sie müssten jeden Tag die Wäsche wechseln, während ich mir angewöhnt habe, meine Hosen auch mal eine ganze Woche zu tragen, im Wechsel mit einer anderen, damit niemand denken muss, ich sei eine ungepflegte Schlampe. Ich möchte mal einen ganzen Tag lesen können – oder schreiben. Ohne irgendeinen Gedanken an etwas anderes verschwenden zu müssen. Oder fotografieren. Einfach mal wieder einen ganzen Tag raus mit der Kamera – und dann noch die ganze Nacht. Ohne hinterher schief angesehen zu werden oder mir Vorwürfe anhören zu müssen. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wo bist du denn gewesen?“ Sollte eigentlich normal sein, dass man mal für zwei, drei Tage weg ist, einfach so. Finde ich. Ich hab nicht den blassesten Schimmer, was da draußen wirklich vor sich geht. In den Clubs, bei den Tankstellen, die die ganze Nacht geöffnet haben, in den Edel-Restaurants, in die du dich quasi einkaufen musst, um sie besuchen zu dürfen, wie das ja schon lange bei den Golf-Clubs üblich ist. Absteigen, Hotels, die ihren letzten Stern vor zehn Jahren verloren oder im Gulli versenkt haben. Ich möchte Leben einatmen, das ich dann in meinen Texten wieder ausatmen kann. Ich hab davon viel zu wenig, bin abgeschottet in meinem kleinbürgerlichen Mini-Wunderland, dieser Gummizelle, in der man sich weder die Knie noch den Kopf stoßen kann. Wisst ihr, ich habe Lust, mich endlich mal wieder so richtig dreckig zu machen, nicht nur wie in Kindertagen, sondern auch im übertragenen Sinn. Wir sind alle so verdammt moralisch geworden und möchten am liebsten mit einer weißen Weste sterben. Was das Klima und die verdammte Fleischesserei betrifft, möchte ich auch lieber mit weißer Weste sterben, aber es gibt so viele Dinge im Leben, da kommt es auf eine weiße Weste überhaupt nicht an. So viele Dinge, von denen ich noch gar nicht weiß, dass sie möglich wären.

Die scheinbar so wichtigen Dinge im Leben: die Hausaufgaben der Kinder, die Fünf in Mathe, die Sechs in Religion erfüllt mich sogar ein wenig mit Stolz, Toastbrot zum Frühstück, die richtige Marmelade (ohne Stückchen), nie warmes Essen ohne Fleisch, Spülmaschine ein- und ausräumen, saugen, wischen, staubwischen, Fenster putzen. Klar, die Aufgaben ließen sich auch besser verteilen, sind ja vier Personen im Haushalt. Aber sind das überhaupt „Aufgaben“? Wessen Aufgaben? Wofür? Mein Vorschlag: Immer genug Spaghetti, Tomaten, Olivenöl, Toastbrot und Käse im Haus haben. Reicht doch eigentlich. Und Obst. Und Rotwein. Nichts geht über einen kleinen Rausch. Und spätestens ab 19 Uhr haben alle frei. Ich hab oft Lust, nur in Unterwäsche in der Wohnung rumzulaufen, vor allem im Sommer, und wenn mir kalt wird, einfach den flauschigen Mantel drüberzuziehen, irgendeine billige Kunstfaser, aber ich liebe ihn einfach. Die Rotweinflasche auch mal schon am Vormittag öffnen, verrückte Fotos machen, ihr wisst schon, wie in Rumänien, und noch ein bisschen extremer, auf dem Teppich im Wohnzimmer liegen und stundenlang an die Decke starren. Ohne so Sätze hören zu müssen wie: „Mama, geht es dir nicht gut?“ Oder: „Kannst du dir mal was Richtiges anziehen? Ich kriege gleich Besuch.“ Ich müsste auch nackt in meiner Wohnung herumlaufen können. Es ist doch meine Wohnung. Nicht mein Problem, wenn die Besucher damit nicht umgehen können. Ich krieg manchmal so einen Rappel, da würde ich mir am liebsten alle Kleider vom Leib reißen, weil mir darin zu eng wird, weil ich ersticke, Beklemmungen kriege. Ich bin schon lange nicht mehr so gewesen, wie ich eigentlich bin, so, wie ich mich fühle. Eigentlich noch nie. Wie ich mich richtig fühlen soll, versteht ihr? Das Leben kann sich richtig oder falsch anfühlen. Die meiste Zeit fühlt es sich vollkommen falsch an. Ich will produktiv sein, mich für eine Sache verausgaben – und mich dann eine Zeitlang einfach gehen lassen. Ist das ein Privileg der Promis?

Mode: Jede Frau versucht ihren eigenen Stil zu entwickeln. Kann man wahnsinnig viel Energie drauf verschwenden. Aber hast du mal deinen eigenen, ganz persönlichen Stil gefunden, dann ist das eine verdammte Zwangsjacke, aus der du nicht mehr rauskommst. Ich will lieber alles ausprobieren dürfen, mich den einen Tag exzentrisch schminken, mich in ein sexy Outfit werfen, das so enganliegend und sexy ist, dass ich schon fast komme, wenn ich mich im Spiegel ansehe. Nennt man das Autoerotik? Und am nächsten Tag in Omas altem Mantel herumlaufen, der mir viel zu groß ist und aussieht, als bestünde er aus Mäusefell. Ich hoffe nicht, dass dafür wirklich 500 Mäuse dran glauben mussten. Den einen Tag mausgrau, den andren bereit zum Karneval. Lederklamotten. Ich hab immer mal wieder von einem superkurzen Lederrock geträumt, unter dem ich super sexy Wäsche trage. Ich hab mich nie getraut. Was könnte der Herr Oberlehrer denken – und seine Kollegen? Die Nachbarn im Haus? Würde ja bald heißen, ich würde mir auf dem Strich was dazuverdienen. Warum ist mir das nicht scheißegal? Dabei könnte das sogar wirklich eine spannende Erfahrung sein, wenn ich es recht bedenke, mal eine Zeitlang die Edelprostituierte zu geben. Ich möchte einfach nicht mehr festgelegt sein auf eine Rolle. Klar, ich könnte mich einfach über alle Erwartungen hinwegsetzen. Warum tue ich das nicht? Sollte ich! Aber es ist so verdammt schwer, und ich frage mich, warum das so ist. Warum wir nicht tun können, wonach uns ist. Es schadet doch niemandem, es tut doch niemandem weh, wenn ich in der Stadt unter meinem Kuschelmantel nur einen Bikini trage.

Ich hab vor einiger Zeit in einem Anfall vormittags Nacktselfies gemacht. Ich habe alle Vorhänge zugezogen und es genossen, splitterfasernackt durch die Wohnung zu springen. Ich hab Musik angemacht, richtig laut. Trotzdem habe ich die ganze Zeit Angst gehabt, jemand könnte mir zusehen. Oder jemand klingelt an der Tür, um sich wegen der Musik zu beschweren, oder ein Kind kommt vorzeitig von der Schule nachhause, weil es krank geworden ist. Was für ein Irrsinn! Oder jemand entdeckt die Fotos auf dem Apparat oder auf dem PC, Thomas zum Beispiel. Sogar das wäre mir peinlich. Und unter dieser Last, wegen dieser permanenten Unsicherheit weiß ich schon gar nicht mehr, was das für Fotos werden sollen, was ich mir überhaupt dabei gedacht habe. Am liebsten wäre mir, es gäbe jemanden, mit dem ich das zusammen machen könnte, Fotos machen, sich gegenseitig fotografieren, systematisch alle denkbaren Tabus überschreiten. So wie die großen Fotografen und Fotografinnen. Kennt ihr Bettina Rheims? Francesca Woodman? Unangepasstheit als tägliche Übung. Ich glaube, ich weiß gar nicht, wovon ich mich noch, von was allem ich mich noch befreien könnte und müsste, weil ich so wahnsinnig betriebsblind geworden bin. Wir sind doch alle betriebsblind geworden und können schon deshalb nicht mehr wissen, wie wir wirklich leben wollten. Ich jedenfalls fühle mich total berechenbar, sogar für mich selbst. Ich kann mich noch nicht mal selbst überraschen. „Jeder Mensch ist einzigartig“, heißt es immer wieder. Soll wohl ein Trost sein. Aber es stimmt einfach nicht. Ich bin nur das Abbild von den meisten anderen, eine vorprogrammierte Mischung aus vorgegebenen Zutaten, mehr nicht. Wie Curry-Pulver. Da gibt es bestimmt sehr viele unterschiedliche Mischungen, mit mehr oder weniger Knoblauch und Kurkuma, aber es bleibt doch immer Curry und schmeckt nach Curry. Aber ich möchte auch mal Chili sein und Garam Masala und Niespulver. Und Dynamit, Nitroglycerin.

Neulich im Park hat mir so ein Typ hinterhergeschaut, da kam mir der Gedanke, wie es wäre, ihm meine Titten zu zeigen, also mein T-Shirt hochzuziehen und für einen Moment meine Titten zu lüften, nur so. Ich hab eigentlich keine exhibitionistischen Neigungen, es geht auch nicht wirklich um Sex oder Erotik, aber ich fühle diese Gier, alles Einengende von mir weg zu stoßen. Und da fällt mir eben sowas ein. Ich hatte aber einen BH an und außerdem: Was wäre denn passiert, wenn ich es getan hätte? Du darfst ja gar nicht zeigen, wie schön du bist, obwohl die ja irgendwann perdu ist, die Schönheit. Verboten sogar dann, wenn dich jemand wirklich sexy findet und es einfach genießen würde, das zu sehen, für einen Augenblick. Für einen Augenblick des Glücks. Diese – wahrscheinlich sogar berechtigte – Angst, der könnte das als Aufforderung betrachten. Dabei will ich ihm nur eine kleine Freude bereiten – und mir. Diese Panik im Schwimmbad oder am Strand, dass sich vielleicht ein paar Härchen aus dem Slip herauskräuseln. Igitt, wie unanständig! Was sollen die Leute bloß denken! Lieber gleich alles komplett wegrasieren. Dabei finde ich meinen Busch wirklich schön. Was habe ich mich als Kind gefreut, als da endlich Haare zu wachsen anfingen! Und jetzt sind sie auf einmal pfui-bäh?

Die Geschichten, die wir Menschen uns erzählen, handeln fast immer vom verlorenen Paradies. Von der verlorenen Kindheit, der verlorenen Unbeschwertheit. Am Anfang der Dramen schwimmen ihre Helden noch bei Dämmerlicht und sanfter Sommerabendwärme in Seen und Flüssen. Am Ende blicken sie noch einmal wehmütig auf den Anfang zurück, bevor sie untergehen, bevor alles untergeht. Ich träume von einer Geschichte, die umgekehrt aufgebaut ist, einer Geschichte, die mit dem Untergang beginnt und mit dem Schwimmen in Seen und Flüssen endet. Gab es das schon mal? Eine Geschichte, die mit Chaos, Tod, Leid und Verzweiflung beginnt und dann immer besser und besser wird, bis alles gut ist?

[Die Umkehrung der Dramaturgie kommt der Sehnsucht nach Zerstörung des Gegenwärtigen gleich. Der darin zum Vorschein kommende Nihilismus ist ein dialektischer, weil er sich selbst zu einem neuen Sinn und zu einer neuen Fülle übersteigen will. Das geregelte, in vieler Hinsicht programmierte Mittelmaß des westlichen Durchschnittslebens kann kaum als ein zu Verbesserndes gedacht und entworfen werden. Es gibt immer nur graduelle und kaum spürbare Verbesserungen. Das selbstverschuldete oder auch schicksalhaft hereinbrechende Unglück bietet in der Phantasie die beste Kontrastfolie für das erdachte bzw. erst noch zu erdenkende Glück. Daher die Sehnsucht nach Zerstörung und Unglück, die irgendwann so überwältigend wird, dass man sich ihr dann auch handelnd unterwirft und das eigene Unglück wie das der anderen heraufbeschwört. Von dieser Art ist Donatas Sehnsucht. Sie findet eine Entsprechung in derjenigen, die Justus umtreibt. Und ist der Grund, weshalb die Autoren die Dystopie bevorzugen. Obwohl Donatas Gedankenspiele eine Lust an der Zerstörung offenbaren (sie nennt es Befreiung), folgt sie darin zugleich einer herrschenden Ideologie, für die das Neue immer besser ist als das Altbewährte. Kleidung, Autos, elektronische Geräte, Möbel, Accessoires werden mit immer höherer Frequenz ersetzt. Auch in bestehende Beziehungen hinein wirkt der Wunsch nach Erneuerung, allerdings ist der Bindungswunsch in der Regel sehr viel höher als die Sehnsucht nach einer neuen Beziehung oder nach außerehelichen Erfahrungen. Eine Beziehung aufzugeben käme dem Versuch gleich, das neue Auto selbst zu fertigen, oder ein besseres elektronisches Gerät selbst zu erfinden und zu bauen. Beziehungen sind kompliziert und stellen ein „Gut“ dar, in das bereits sehr viel „Arbeit“ investiert wurde. Der „Wert“ einer langjährigen Beziehung liegt weit über dem einer anvisierten neuen Beziehung. Bei Beziehungen stehen daher vor allem die Erneuerung bzw. Restrukturierung und die Selbstfürsorge im Fokus. Das können neue enge Freunde sein, die Entscheidung für neue Hobbies, Lektüre und Partnergespräche und das Experimentieren mit neuen sexuellen Praktiken mit dem Partner. Letzteres stellt viele Paare vor Probleme, da schon die Gespräche darüber die Bindung gefährden können. Der Partner, der ein Gespräch darüber beginnt, könnte damit zu verstehen geben, er sei unzufrieden mit dem partnerschaftlichen Sex – und sei es vielleicht schon immer gewesen. Sexuelle Phantasien können nur schwer ausgetauscht werden, weil sie im rückwärtigen Blick das bisherige Einverständnis und die Routine infrage stellen können. Phantasien könnten sich auch auf außerehelichen Sex beziehen und als Andeutung verstanden werden, die bestehende Bindung zu lockern oder gar aufzulösen.

Wenn es um Erneuerung geht, die mit Glücksgefühlen verbunden wird, geht es entweder um eine Erweiterung der häuslichen Produktpalette, um Wellness und Fitness, oder (in den letzten Jahren stark vermehrt) um die Optimierung des Sexlebens, um das herum sich ebenfalls ein großer, expandierender Markt gebildet hat. Auch wenn Donatas Befreiungsphantasien kaum auf neue sexuelle Erfahrungen bezogen sind, spielen sie doch (neben der künstlerisch-beruflichen Selbstverwirklichung) eine zunehmende Rolle, weil sie gerade in der Beglückung durch Konsum keine Lösung mehr sieht.]

Ein Chat: „Wart ihr denn schon mal in einem Pärchen-Club? Ich meine, ihr als kinderloses Ehepaar.“ „Ihr denn?“ „Ich habe mal Fotos in einem Swinger-Club gemacht.“ „Echt jetzt?“ „Sie hat nur in der Off-Zeit fotografiert, also danach, wenn die Putzkräfte die unappetitlichen Überreste beseitigen.“ „Du kannst nicht einfach bei laufendem Betrieb Fotos machen. Ihr würdet euch da ja auch nicht fotografieren lassen wollen. Ich hatte damals als junge Mutter leider keine Traute, mir das als Gast anzusehen. Ich hätte Thomas auch nicht fragen wollen, der fand’s sowieso schon komisch, dass ich diese Fotos gemacht habe.“ „Und jetzt?“ „Ich weiß nicht. Ich wäre ja vor allem an den Fotos interessiert.“ „Du würdest da nicht mitmachen wollen.“ „Erstmal eher nicht vorstellbar. Aber Marie müsste da eigentlich sehr erfahren sein. In der Zukunft könnte es normal sein, dass man mit seinem Partner in einen Swinger-Club geht.“ „Als Paar.“ „Ja, als Paar, weil du deine Partnerschaft ja nicht aufgeben willst. Wenn du einen Partner hast. Aber Marie geht auch solo in Clubs.“ „Gibt es da nicht einen unangenehmen Männerüberschuss?“ „Als Solo-Frau kommst du auch in die Pärchen-Clubs, das ist dann halbwegs überschaubar.“ „Scheinst dich ja auszukennen.“ „Nicht wirklich. Aber ich halte es für realistisch, dass es in Zukunft ein größeres Angebot geben wird und dass das auch wahrgenommen wird. Cybersex wird langfristig eine Nische für die Incels bleiben.“ „Incels?“ „Die unfreiwillig Zölibatären.“ „Und Pornografie?“ „Ich weiß nicht, wie das für Männer ist, aber für Frauen sind Pornos vor allem spannend, weil sie sehen, was möglich ist und was vielleicht für sie eine Erweiterung ihres Repertoires sein könnte. Pornos sind allenfalls Mutmacher, aber kein Ersatz für richtigen Sex, denke ich.“ „Denkst du.“ „Ja, weil ich keine Pornos gucke.“ „Solltest du aber vielleicht, wenn du glaubst, dass es für die Story von Bedeutung ist. Und vielleicht sollten wir einfach mal gemeinsam einen Pärchen-Club besuchen, damit wir wissen, wie das dort läuft. Ich meine, einfach nur zugucken. Wäre mir schon peinlich genug.“ „Das wäre endlich mal ein richtiges Abenteuer. Ich wäre dabei.“ „Ich weiß nicht.“ „Man muss ja nicht mitmachen.“ „Muss nicht?“ „Würden wir natürlich nicht.“ „Natürlich? Wer sich in Gefahr begibt, kommt bekanntlich darin um.“ „Spielverderber. Wer nichts wagt, gewinnt nichts.“ „Muss man wirklich alles hautnah kennengelernt haben, um darüber schreiben zu können?“ „Von hautnah ist ja keine Rede.“ „Aber vom Senken der Hemmschwelle. Wenn du es gesehen hast, willst du beim nächsten Mal vielleicht mitmachen, weil dir diese konkrete Erfahrung eben noch fehlt. Da kannst du das gleiche Argument bemühen wie fürs Zugucken.“ „Bist du eifersüchtig?“ „Nein.“ „Hast du Angst, du könntest selber Gefallen daran finden?“ „Bestimmt nicht.“ „Wo ist dann das Problem?“ „Du könntest Gefallen daran finden. Du hast doch schon Gefallen daran gefunden, oder nicht?“ „Also doch eifersüchtig.“ „Vermutlich. Neue Erfahrungen sind immer eine Bedrohung für ein stabiles System.“ „Was meinst du mit System? Du meinst unsere Beziehung. Die ist ein System? Ein stabiles System? Wenn da jede neue Erfahrung für dich eine Gefahr darstellt, dann sollte man wohl am besten keine neuen Erfahrungen machen, oder was?“ „Doch, schon, aber warum gerade in so einer heiklen Sache?“ „Sex ist eine heikle Sache. Du hast vollkommen recht. Aber warum ist das so? Sollte es so sein? Muss es so sein?“ „Weil an der Frage des Sex Beziehungen zerbrechen.“ „Rein theoretisch gefragt: Müssen Beziehungen daran zerbrechen, oder ist es nur eine Ideologie, die uns dazu verpflichtet, deswegen Beziehungen aufzulösen?“ „Seid ihr eigentlich noch beim Thema? Einen Club zu besuchen, um mal Mäuschen zu spielen, ist doch was ganz anderes als Fremdgehen. Finde ich jedenfalls. Das stünde doch allein unter dem Vorzeichen der Recherche. Naja, eine Portion Voyeurismus wäre auch dabei. Es gehen eine ganze Menge Paare in solche Clubs, ohne was mit anderen zu haben, oder ohne da überhaupt Sex zu haben.“ „Woher weißt du das denn jetzt? Du bist ja anscheinend auch voll auf dem Laufenden.“ „Multitasking. Ich google nebenbei.“ „Ich frage mich ehrlich, warum man sich das in natura ansehen muss. Was da passiert, können wir uns alle doch wohl ziemlich gut vorstellen. Und wir können uns ebenso gut ausmalen, wie die Club-Szene im Jahr 2050 aussehen könnte. Vermutlich sogar spannender als jeder heute existierende Club. Wir wären wohl alle sehr ernüchtert von dem Besuch so eines Clubs.“ „Also lieber kein Abenteuer.“ „Ein Abenteuer wäre es doch nur wegen des Reizes, am Ende doch mitzumachen.“ „Was würde eigentlich dagegensprechen? Nur mal so als Frage in den Raum gestellt, weil das ja offenbar eine echte Tabuzone für uns alle ist. Warum sollte Marie Tabus übertreten, denen wir selbst aus dem Weg gehen wollen?“ „Dann ist Marie eben eine Angst-Büx. Genau wie wir. Aber Marie tickt eben ganz anders als wir.“ „Und wir ticken so, wie wir ticken. Wir können nicht aus unserer Haut.“ „Das ist genau das Stichwort: Wir können nicht aus unserer Haut. Wir wollen keine neuen Erfahrungen machen, weil wir Angst vor den Konsequenzen haben. Deswegen bewegt sich auch nichts mehr in unserem Leben. Wir warten nur geduldig darauf, dass Omas, Tanten, Onkel und Eltern sterben, dass unsere Freunde Krebs kriegen, oder ihre Ehe in die Brüche geht, damit immer mal wieder was Aufregendes passiert. Hauptsache wir selbst sind nicht die Leidtragenden. Die armseligen Abenteuer, die wir noch erleben, sind nur noch die, die uns zustoßen, die wir erleiden. Selbst etwas in Bewegung zu setzen, riskieren wir nicht. Wir haben Angst zu verlieren, was wir zu besitzen glauben. Aber dieser vermeintliche Besitz schrumpft von Tag zu Tag. Wir leben von der Substanz – und den Verlusten, die andere erleiden. Ist es nicht viel sinnvoller zu investieren, was man hat, jedenfalls einen Teil davon? Wenn ich mit 90 Jahren sterbe, oder so, dann bleibt von all dem gut Gehorteten doch auch nichts übrig. Und es geht ja noch nicht mal um Geld und Wohlstand, es geht nur um Erfahrungen. Ich brauche jetzt auch nicht unbedingt die Erfahrung in einem Club, bestimmt nicht, es geht mir grundsätzlich um die Frage, welche Erfahrungen ich noch machen kann und setze dabei vielleicht etwas naiv voraus, dass Erfahrungen auf jeden Fall bereichernd sind. Wir dümpeln doch nur die ganze Zeit vor uns hin, weil wir unsere Komfortzone nicht verlassen wollen. Aber in der Komfortzone zu bleiben, bedeutet immer Stagnation, und Stagnation ist es doch, was uns unzufrieden macht.“ „Wir schreiben einen Roman.“ „Ja, aber wir sollten einen Roman schreiben, in dem die Figuren, oder jedenfalls eine der Figuren ihre Komfortzone verlässt.“ „Und scheitert?“ „Meinetwegen. Wenn sie scheitert, dann gibt man all denen Recht, die beharrlich davor warnen, die Komfortzone zu verlassen. Die erfolgreichsten Menschen haben aber immer irgendwann den Entschluss gefasst, ihre Komfortzone zu verlassen.“ „Und von den Gescheiterten erfährt man leider nichts. Wir kennen immer nur die Erfolgsgeschichten. Und das sind eher wenige.“ „Dann müssen wir in unserem Roman also beschreiben, wie es sich die Mehrheit der Menschen in ihrer schönen neuen Komfortzone bequem gemacht haben? Auch eine Lösung. Ein Roman über das Unglück in der Komfortzone zu leben. Ehrlich gesagt, fände ich das ziemlich langweilig.“ „Oder bedrückend, gruselig. Keiner traut sich mehr was.“ „Oder nur noch die, die die Macht haben. Die können sich alles erlauben.“ „Wird aber auch langweilig.“ „Also doch: Es ist langweilig. Euch geht es doch auch so. Ihr wollt doch auch lieber Geschichten von Menschen lesen, die ausbrechen, die Risiken eingehen, die etwas aufs Spiel setzen. Ist das nicht die einzige Möglichkeit in einer heillosen, rettungslosen Welt, das richtige Leben zu führen? Wir sind gierig nach Abenteuern, aber wir lassen sie nur die Schauspieler in Kino-Blockbustern erleben. Mir reicht das nicht mehr. Wenn ich von Abenteuern schreibe, dann möchte ich mir die nicht ausschließlich ausgedacht haben.“ „Die Abenteuer sind im Kopf.“ „Ich fände es schon sehr abenteuerlich, wenn wir uns gemeinsam ausdenken würden, wie die Clubs beschaffen sind, in die Marie geht, und was die Menschen dort so treiben.“ „Würden wir uns das wirklich zutrauen?“ „Du hast recht, wir sollten es lassen, das würde nur, wie du schon richtig gesagt hast, die Hemmschwelle senken. Wären wir damit durch, würden wir schließlich doch eine Ortsbegehung beschließen, uns über zwei drei Pärchen hermachen und schließlich als geschiedene Prostituierte in der Gosse landen.“ „Und? Wie sähe es denn in Maries Lieblingsclub aus? Wer fängt an?“ Schweigen. „Keine Ahnung. Ich würde doch erst mal auf einschlägigen Websites nachsehen, was heute schon angeboten wird, so als erste Orientierung.“ „Und Swinger-Videos anschauen?“ „Sind das dann nicht gestellte Szenen? Die erzeugen doch ein vollkommen falsches Bild.“ „Oder ein sehr ernüchterndes.“ „Donata, wie sollte der Schuppen denn aussehen, in den Marie wirklich gerne geht?“ „Im Moment habe ich eher sowas wie eine Disko vor Augen, eine Disko mit verschiedenen Darkrooms für unterschiedliche Bedürfnisse. Für ein Luxus-Etablissement hätte Marie doch gar nicht das Geld.“ „So mit Saunalandschaft, Pools, Cocktailbar und Himmelbetten.“ „Ich weiß es wirklich nicht.“ „Wie auch? Du bist ja nicht solo, wie Marie.“ „Was würdest du dir denn wünschen, wenn du solo wärst?“ „Ohne Ehemann und ohne Kinder?“ „Ja, lösch die spaßeshalber mal komplett aus.“ „Geht nicht, vollkommen unmöglich. Das geht nicht so spontan. Absolute Leere in meinem Kopf.“ „Dann haben wir ja eine hübsche Hausaufgabe für dich gefunden.“ „Und ihr? Warum soll das allein meine Hausaufgabe sein? Was ist denn zum Beispiel mit Birthe und Ernest? Die leben doch auch nicht zölibatär. Birthe ist genauso solo wie Marie. Die will doch auch mal ihren Spaß haben.“ „Tja, Birthe ist ja irgendwie das Ebenbild von Sarah. Die kommt ganz gut ohne Spaß aus. Die ist eines der letzten Exemplare einer vergangenen Epoche, in der Frauen Sex schmutzig fanden und für eine lästige Nebensache hielten, wenn sie einen Partner dauerhaft an sich binden wollten. Sarah, hast du nicht selbst gesagt, die Bedeutung von Sex wird massiv überschätzt?“ „Sex ist wichtig. Aber es gibt größere Probleme in der Welt als die, die du für sexuelle Probleme hältst.“ „Sex ist wichtig. Das hört sich an wie ‚Hygiene ist wichtig‘. Genau das meinte ich gerade: Sex ist für manche, haha, ‚antike‘ Menschen ein funktionaler, instrumenteller Aspekt in einer Beziehung, eine Art Steuerinstrument.“ „Da irrst du dich aber gewaltig. Es kommt eben auf die Qualität an. Im Übrigen: Ich hätte keine Probleme damit, in so einen Club zu gehen.“ „Ich nehme dich beim Wort.“ „Moment! Und wenn ich da gar nicht hin wollte? Würdet ihr dann wieder so ein Dreier-Ding daraus machen?“ „Nein Thomas, ohne dich würden wir das natürlich auf keinem Fall machen. Wenn, dann müsstest du schon mitkommen. Oder wir gehen gar nicht. Außerdem: Hatten wir nicht längst beschlossen, dass wir das im Gespräch klären?“ „Die Hausaufgabe für Donata und Thomas? Du machst einen Rückzieher.“ „Nein, ich denke nur darüber nach, was die effektivste Lösung ist. Ich glaube nicht, dass wir nach dem Besuch eines Swinger-Clubs auch nur einen Deut schlauer wären. Die Phantasie hat da sicher weit mehr zu bieten.“ „Deine Phantasie, Sarah?“ „Meinst du, ich könnte in dieser Hinsicht keine Phantasien entwickeln?“ „Keine Ahnung, jedenfalls würdest du dich schwertun, sie auch in Worte zu fassen.“ „Täusch dich nicht!“ „Das ist es! Die Schlüsselszene des Romans: Paul zieht sich eine Dosis Adrenalin oder irgendein Zeug rein und führt Marie in einen Edel-Club aus, den sie sonst niemals bezahlen könnte. Aber Paul hat ja genug Geld. Hey, wer macht noch ein Date im Restaurant? Um sich so richtig in Stimmung zu bringen, geht man in einen Sex-Club für Paare! Und wen treffen die da? Natürlich Birthe und Ernest! Eine ziemlich peinliche Begegnung für Marie und Birthe, von wegen beruflicher Hierarchie und so. Vor allem Birthe fühlt sich nicht besonders wohl. Das reizt Marie dazu, vor ihren Augen Sex mit Paul zu haben, und vielleicht macht sie sich dann auch noch an dem Ding von Ernest zu schaffen. So lernen sich die Vier erst richtig kennen. Vielleicht macht sich Marie dann auch noch an Birthe ran. Sie fesselt sie im BDSM-Raum und genießt es, Macht über ihre sonst so ungeliebte Chefin zu haben.“ „Übertreib’s mal nicht, Justus. Was wäre dann noch mit der Rolle, die Omi in Maries Leben spielt? Wenn sie so draufgängerisch ist.“ „Die hat sich halt was Enthemmendes eingeworfen. Aber das mit Omi droht ja eine festere Beziehung zu werden. Das will Marie auf keinen Fall. Omi hat sehr exklusive Ansprüche an eine Beziehung, das ahnt Marie. Darum gibt sie sich bei Omi sehr viel spröder. Die gehen alle sehr strategisch in der Frage von festen Beziehungen vor. Marie ist ja durchaus nicht lesbisch, aber sie könnte trotzdem Spaß daran haben, bei Birthe einen Orgasmus mit einem Hochleistungsvibrator zu erzwingen. Und Ernest holt sich dabei einen runter.“ „Du schaust echt zu viele Pornos, Justus.“ „Tatsächlich? Dann wärst ja eigentlich du der Kandidat dafür, sich eine Szene im Club auszudenken. Hast deine Phantasie ja schon eifrig spielen lassen.“ „Nee, das könnte vielleicht etwas zu krass werden, ehrlich. Mich interessiert weit mehr, was in euren Köpfen so vor sich geht.“ „Wow, wir sind wirklich eine hübsche Versammlung von Feiglingen. Trotzdem war das jetzt schon ein richtiges kleines Abenteuer. Findet ihr nicht? Es macht echt Spaß, mit euch hemmungslos über alles reden zu können.“ „Sollten wir unbedingt fortsetzen.“

*

Donata beginnt kurz nach dem Start des Projektes einen Blog, auf dem sie ihre neuesten Fotos veröffentlicht und kurze Berichte über die Entwicklung des Romans schreibt – aus ihrer Sicht. [Dadurch würden sich die Gewichte zwischen den Autoren allerdings stark verschieben. Das hätte nicht nur Nachteile, sondern vielleicht auch den großen Vorteil, dass eine Figur deutlich in den Vordergrund rücken würde, in diesem Fall Donata. Um Sarah am Ende zur Herausgeberin machen zu können, müsste Donata allerdings irgendwann aus dem Projekt aussteigen und ihr „Ich will endlich raus!“ wahr werden lassen. Vielleicht kommt Donata auf die Idee mit dem Blog auch erst, nachdem ihr Sarah von dem anonymen Blog von Krull&Krull erzählt hat. Hinter diesem Blog könnten sich allerdings auch Sarah und Justus verbergen. Damit wäre die Konstellation des kinderlosen Paares komplett auf den Kopf gestellt. Der Blog von Krull&Krull käme nur in kurzen Zitaten im Roman vor. Sarah und Justus wären dann (wieder) ein eingeschworenes Team, das Donata und Thomas für eine Art soziales Experiment an den Angelhaken genommen hat. Sie spielen dann sowohl gegenüber Thomas und Donata eine verabredete und pseudoauthentische Rolle, als auch auf ihrem Blog. Dort könnten sie auch in verschlüsselter Form über ihr soziales Experiment berichten. Wäre Sarah dann noch die Business-Frau wie zuvor? Wäre Justus dieser erfolglose Jugendbuch-Autor? Oder wären sie in Wirklichkeit glückliche Lottomillionäre, die ihre Berufe bereits vor vielen Jahren aufgegeben hätten? Vielleicht hätte Justus tatsächlich diese Romane geschrieben und wenig Erfolg gehabt. Vielleicht hat Sarah wirklich eine Weile in einem großen Unternehmen gearbeitet. Ein mögliches Szenario: Nachdem Sarah und Justus einen zweistelligen Millionenbetrag im Lotto gewonnen hatten, stellte sich die Frage, wie sie damit umgehen sollten. Ein neues Leben beginnen, nicht mehr arbeiten müssen, aber sich auch nicht langweilen. Zudem wollten sie nicht, dass jemand von ihrem plötzlichen Reichtum erfährt. Sie haben ihren ursprünglichen Wohnort verlassen und sich neue Identitäten zugelegt. Sie bewohnen mehrere Wohnungen, eine davon ist die von „Justus und Sarah“, eine andere die von „Krull&Krull“. In einem neuen Roman, den „Sarah und Justus“ gemeinsam schreiben wollten, sollten ihre erfundenen Charaktere im Zentrum stehen. Um sich mit diesen Figuren wirklich identifizieren zu können, hatten sie begonnen, in der Öffentlichkeit mit ihren erfundenen Backstories aufzutreten. Es war ein verrücktes und dekadentes Spiel, das unter anderem darin bestand, bei Begegnung mit Fremden neue Details ihrer Geschichte spontan zu erfinden und zu improvisieren. Bedingung war, die „Angebote“ des anderen immer zu akzeptieren. Das Projekt „Sarah und Justus“ sollte zunächst auf ein Jahr begrenzt werden und am Ende sollte eine Art Roman daraus entstehen. Ihren Freunden (und ihren erwachsenen Kindern?) kündigen sie eine einjährige Auszeit im Ausland an. Als sie Donata kennenlernen erzählt Justus zwar von seiner Vergangenheit als Jugendbuchautor, sagt aber, der Name, den er damals verwendet habe, sei ein Pseudonym gewesen. Viele Autoren schreiben unter Pseudonym. Als dann Sarah, nachdem sie von Donata gehört hat, sie sei Fotografin, spontan die Geschichte von dem Reiseführer erfindet und dann auch noch leichtfertig von Rumänien spricht, gerät das Paar in Zugzwang, nachdem sich Donata für die Fotos angeboten hat. In Rumänien entsteht die Idee mit dem gemeinsamen Roman. Sarah findet es viel spannender, Donata und Thomas in ihr Spiel fest zu integrieren. Sie ahnen noch nicht, wie fatal sich dieses unmoralische Spiel auf Donata und Thomas auswirken wird. Die Rollenverteilung zwischen Sarah und Justus konkretisiert sich. Sie konstruieren sich als ein höchst problematisches, kinderloses Paar. Justus liebt die Rolle des Provokateurs, Sarah denkt sich ihre Geschichte vor dem Lottogewinn weiter. Was wäre gewesen, wenn sie nicht plötzlich im Geld geschwommen wären? Hätte ihre Beziehung gehalten? Auch diese Frage spielt für sie eine Rolle. Das ist für beide nicht nur angenehm. Das Improvisieren kann für sie auch schmerzhafte Seiten haben, denn bei aller Offenheit, die sie beide seit einigen Jahren pflegen, gibt es doch immer noch wunde Punkte. Aber sie haben auch Spaß daran, ihre unterschwelligen Auseinandersetzungen in den Chats auf die Spitze zu treiben. Die Konsequenz müsste allerdings sein, dass Thomas und Donata bei diesem Experiment am Ende irgendwie auf der Strecke bleiben. Der letzte Teil, den sie schreiben, wäre dann auch möglicherweise etwas wie eine doppelbödige Beichte. Und ja, Thomas hat recht, als er irgendwann anmerkt, er fühle sich wie eine Art Versuchstier. Die Pfade führen immer wieder hinaus in die gefakten Blogs von Donata und Krull&Krull. Zugleich bleibt der Roman über das Vierer-Team in sich homogen. Für Donatas Blog müssten allerdings gefakte Fotos entstehen, für die sich Freiwillige zur Verfügung stellen müssten. Entsprechend würden die Grenzen des Romans radikal aufgesprengt.

Die Geschichte einer Manipulation? Wie würden Sarah und Justus in das Leben von Donata und Thomas verwickelt – und umgekehrt? Was passiert, wenn aus dem Spiel Ernst wird? Nehmen Justus und Sarah ihre Verantwortung wahr? Was, als klar wird, dass Thomas im Burn-out steckt? Was, als deutlich wird, wie sehr Donata ihre Kinder vernachlässigt? Was, als Donata immer stärker von Thomas abrückt? Intervenieren sie? Beginnt Sarah sich um die Jungs zu kümmern? Wie kommen sie aus dieser Nummer wieder heraus? Was ist mit dem Vertrauen, das Thomas und Donata in sie entwickelt haben? Wenn das gemeinsame Romanprojekt scheitert, und dazu auch die Beziehung zwischen Thomas und Donata, dann laden Justus und Sarah zu große Schuld auf sich. Die Hexenmeister können über den Besen, den sie zum Leben erweckt haben, nicht mehr verfügen.

Was kann dann noch im Haus am See geschehen? Sarah und Justus könnten die Figuren des Zukunftsromans am Ende auslöschen, erschießen – und Thomas und Donata ihre Geschichte erzählen, woraufhin Donata und Thomas schließlich Justus und Sarah erschießen.

Die Katastrophe am Ende des Hauptteils müsste dazu führen, dass Sarah alle in ein Haus in Rumänien einlädt, um die Sache, den Betrug aufzuklären. Übrigens dürfte dann zwischen Donata und Justus nichts „Außereheliches“ vorgefallen sein. Oder etwa doch? Ist das vielleicht Teil der Katastrophe, dass Justus und Sarah ebenfalls nicht ungeschoren aus der Geschichte herauskommen? Weil Justus übertreibt, übermütig wird? Weil Sarah tatsächlich eine Affäre mit Pascal hatte? Weil Justus und Sarah bald selbst nicht mehr wissen, was Wirklichkeit und was Fiktion ist?

Umorganisationen: Die erdachte Affäre mit Pascal lässt Sarah schon sehr frühzeitig heraus. Und Sarah wird tatsächlich noch einmal schwanger, allerdings von Justus. Wer hätte das gedacht? Donata hat bei einem Treffen bemerkt, dass Sarah ein Bäuchlein kriegt. Aber Justus erfindet die Beziehung zu Xaver, den sich Sarah einmal im Chat spontan ausgedacht hatte. Wie reagiert der erfundene Justus darauf? Zieht er sich zurück? Welches Drama inszenieren Sarah und Justus dafür? Oder ist Sarahs Schwangerschaft doch nur erfunden? Dann wollen Sarah und Justus nur sehen, wie Thomas und Donata auf dies Drama reagieren, die wie erwartet und erhofft, zu Liberalität und Verzeihen ermahnen. Dann ist wenigstens endlich ein Kind in der Familie? Ist doch nicht so schlimm, wenn es ein braunes ist. Ist es braun? Wer war nochmal Xaver?

Noch einmal das Modell: Dem Paar, das sich die Namen Justus und Sarah gegeben hat, eröffnen sich mit einem Lottogewinn alle Möglichkeiten, ein anderes Leben als zuvor zu führen.  Die beiden beschließen, zunächst für ein Jahr in neue Identitäten zu schlüpfen, ihr Leben gewissermaßen zu einem Roman zu machen. Für dieses Spiel brauchen sie natürlich auch Mitspieler, die zugleich ihr Publikum sind. Eine dekadente Maskerade, die zugleich ein Selbsterfahrungstrip sein soll. Grundsätzlich sehen sie keine moralischen Probleme, denn sie treten ja als „normales“ Paar auf. Dass sie ihre Geschichten und ihre Handlungsmotive erfinden bzw. improvisieren, ist ihr persönliches Spiel. Für die Konsequenzen, die die anderen daraus ziehen, sind sie nicht verantwortlich, oder nicht mehr, als wenn sie sich mit anderen Geschichten ausstatten würden, oder „sie selbst“ wären. Dieses „wir selbst“ haben sie aber grundsätzlich in Zweifel gezogen. Sie sind, was sie aus sich machen. Solange sie nicht direkt in das Leben der anderen eingreifen, oder Profit aus ihren Bekanntschaften zu ziehen versuchen, den anderen schaden, ist das, was sie tun, im engeren Sinne kein Betrug. Jeder Mensch erfindet seine eigene Geschichte, indem er aus Fragmenten seiner Erinnerungen Sinnkonstrukte herstellt und sich so eine Identität verschafft. Diese Neigung jedes Menschen treiben Justus und Sarah spielerisch auf die Spitze. Als zweckfreie Kunst, als gelebte Literatur. Erfinde dein Leben! Sie können es sich erlauben, es ist eine ganz besondere Form des Luxus. Die Menschen verbergen sich doch auch in ihrem scheinbar authentischen Leben hinter Masken. Hinter die Masken der anderen wollen Sarah und Justus schauen, indem sie sich selbst Masken aufsetzen und sich Methoden überlegen, mit denen sie die anderen dazu verführen können, ihre Masken fallenzulassen. So der Plan. Was für ein Vergnügen! Aber aus jedem Spiel wird irgendwann ernst. Justus ist fasziniert von Donata und lässt sich auf eine Affäre mit ihr ein. Justus hat die Grundregel verletzt und auch ihr Bündnis in Gefahr gebracht. Sarah will aussteigen, sie ist verletzt, fühlt sich aber irgendwie auch gebunden an die libertäre Haltung, die sie aus Thomas und Donata herauszulocken versucht haben. Seitensprung? Muss das ein Grund für die Trennung sein? Sarah begibt sich auf eine fiktive Reise nach Rumänien und zieht vorübergehend in die Zweitwohnung, wo sie sich in neue Kapitel für Birthe vertieft. Überhaupt: Justus hat sehr viel mehr Gefallen an dem Spiel mit falscher Identität, und Sarah interessieren immer mehr die Fragen, die sich aus dem Zukunftsroman ergeben. Sie wird ernster und bekommt Skrupel. Sie will, dass der Zukunftsroman seriös wird. Das ist sie den beiden Mitautoren schuldig. Sie sollen wenigstens mit einem Ergebnis aus diesem Spiel gehen, das sie befriedigt. Deshalb schreibt sie auch die Kapitel für Ernest, die Justus nicht in Angriff nimmt. Sie begreift, dass ihr Spiel nur eine schöne Illusion gewesen ist und dass Justus sich nicht verändert hat. Ihr stoßen all die Verhaltensweisen von Justus auf, die sie auch schon vor dem Lottogewinn gestört haben. Und Justus fühlt sich immer noch von Sarah dominiert und beginnt, nur noch seinen Vorteil zu suchen, den Nervenkitzel. Er beginnt immer mehr, seine Macht zu genießen und auszunutzen. Um Schlimmeres zu verhüten, müsste Sarah die ganze Sache auffliegen lassen. Oder kommt ihnen Thomas auf die Schliche? Sarahs Erzählungen von ihren beruflichen Erfolgen entsprechen keine Informationen im Internet. Lügen haben kurze Beine. Das Pseudonym, das Justus angeblich für seine Jugendbücher benutzt hat, ist sein wahrer Name, Justus Stirner das Pseudonym. Thomas und Donata müssen sich ausgenutzt und ausgebeutet fühlen. Aber warum? Zu welchem Zweck?

Peinliche Situation. Der erste Affekt: Schuldeingeständnisse, tiefe Scham, Rückzug. Wollen jetzt alle kapitulieren? Soll der Roman nicht beendet werden? Gehen zwei Ehen in die Brüche? Kann und darf es das Kunstwerk Leben (als gelebte Fiktion, als freies Spiel) nicht geben?

Aber es ist doch auch ein spannendes, aufregendes Spiel gewesen! Ist der Gedanke, das Leben als Spiel aufzufassen nicht nach wie vor reizvoll und sogar sinnvoll? Was spricht gegen das Erproben immer neuer Rollen? Ist das nicht die einzige Möglichkeit der Befreiung: sich an die eigene Geschichte gebunden zu fühlen? Sartre meinte, wir hätten „unsere Geschichte zu sein“, aber erschrieb ebenfalls, dass das Wesen des Menschen Freiheit sei. Noch der Gefangene habe die Freiheit, gegen die Gefängnismauern anzukämpfen, auf den Entwurf in die Zukunft käme es an. Es gibt die Möglichkeit, dass sich die vier Autoren erneut verbünden und in eine neue Phase des Spiels übergehen, für das keine Masken mehr nötig sind.

 

Die literarischen Motive und ihre dramaturgische Bedeutung:

Der Lotto-Jackpot und das gute Leben: Wenn es um die Frage geht, „wie wir leben wollen“, dann fallen uns viele Hindernisse ein, die verhindern, dass wir so leben könnten, wie wir wollten. Es sind zumeist wirtschaftliche Einschränkungen, die uns daran hindern, immer das zu tun, was wir wollen und für richtig halten. Wenn es um das gute und vor allem richtige Leben geht, also der moralische Aspekt in den Vordergrund gerückt wird, geht es oft nicht mehr um das angenehme und bequeme Leben, sondern um die Harmonie aller mit der Natur, mit sich selbst und dem Planeten Erde. Es erscheint illusorisch, auf eine Revolution oder eine weltanschauliche bzw. religiöse Massenumkehr zu hoffen, die allen Menschen ein menschenwürdiges Leben in und mit der Natur ermöglichen würde. Die moralischen Ansprüche derer, die sich eine solche Revolution wünschen, verschwinden nicht mit der Einsicht in die Unwahrscheinlichkeit, dieses Ziel jemals erreichen zu können. Die individuelle Lösung besteht in einer Mischkalkulation, bei der die Vorteile der unausweichlichen Einbindung in eine kapitalistisch organisierte Gesellschaft mit einigen wenigen signifikanten Elementen kombiniert werden, die den Lebensweisen und Einstellungen im moralisch-ökologischen Utopia zu entsprechen scheinen. Wenigstens graduell in geringerem Maß das eigene Leben nach den Maßgaben des raubbauenden Kapitalismus zu gestalten, beruhigt das Gewissen und bedient damit die Sehnsucht danach, ein moralisch richtiges Leben zu führen. Die Elemente können im Bereich der Ernährung liegen (Bio-Produkte, Vegetarismus, Konsumvermeidung, Umweltaktivismus etc.), im caritativen Bereich (Spenden, soziales Engagement, Menschenrechtsorganisationen etc.) oder im Bereich des politischen Aktivismus. Die Aktivitäten können aber immer nur auf der Grundlage einer gewissen wirtschaftlichen Potenz aufrechterhalten werden. Entweder man arbeitet für eine Umweltorganisation, oder man ist zum Beispiel ein politischer Abgeordneter. Wenn nicht, muss das moralisch motivierte Ausgleichsverhalten durch die Beteiligung an genau dem Wirtschaftssystem erkauft werden, gegen das sich die moralischen Bemühungen in letzter Konsequenz richten müssen.

Bei den wenigsten Menschen stehen vermutlich die moralischen Grundsätze und Ziele als Handlungsmaximen an erster Stelle, sogar für die wenigsten Aktivisten. Das wirtschaftliche Fundament für das Handeln muss in jedem Fall gelegt und gesichert werden. Wer kein Geld besitzt, ist in jeder Hinsicht ohnmächtig und könnte allenfalls noch zum Märtyrer werden. Menschen, für die das gute und richtige Leben in hohem Maße ein moralisch richtiges ist, leben daher trotz aller Bemühungen in einem Widerspruch zwischen ihren Werten und der Eingebundenheit in einen vermutlich zerstörerischen und teils unmoralischen Wachstumskapitalismus. Der Widerspruch lässt sich nur zu einer Seite hin auflösen, nämlich in die Richtung eines hemmungslosen Hedonismus, der das kapitalistische System ohnehin antreibt. Zur Seite eines mit wahrnehmbaren Effekten verbundenen moralisch richtigen Handelns gibt es nur graduelle Steigerungsmöglichkeiten, die mit hohem persönlichen Aufwand erreicht werden können – oder auf der Grundlage eines größeren Vermögens (Bill und Melinda Gates). Wer wenig hat, empfindet dagegen die meisten moralischen Ansprüche als Luxus.

Bei der Frage, wie sie sich ein gutes und optimales Leben vorstellen, würden die meisten Menschen als erstes an das wirtschaftliche Fundament denken: Geld. Geld öffnet alle Türen. Der Lotto-Jackpot von 25 Millionen Euro (für wirklich Reiche ein lächerlicher Betrag) eröffnet für den Otto-Normalverbraucher viele neue Möglichkeiten, die für ihn mit dem guten Leben in Verbindung stehen. Wenn man den Betrag erst einmal auf seinem Bankkonto weiß, verblassen die guten Vorsätze, einen großen Teil davon für gute Zwecke zu spenden. In den Vordergrund rücken vergangene unerfüllte und neue ungeahnte Konsumwünsche, zu denen im Prinzip alles gehört, was bezahlt werden muss, also auch z.B. Reisen, das Haus am See, teure Restaurants – alles das, was sich auch Ernest leisten kann. Er ist der Superreiche, der sich seinen Reichtum erarbeitet hat und seine moralischen Ansprüche auf individuelle Weise mit den Notwendigkeiten des kapitalistischen Systems vermittelt hat. Er hat wie die meisten Anderen persönliche Schuld auf sich geladen (das „Findelkind“) und ist in kollektive Schuld verwickelt, der er aber zu entkommen versucht hat. Birthe hat für sich eine Nische gefunden, in der sie ihre Verwicklung in kollektive Schuld weitgehend ausblenden kann. Daher hält sie sich für moralischer als Ernest.

Das gute Leben auf der Grundlage eines großen Vermögens kann auch noch einige Aspekte im Randbereich der Konsumkultur aufweisen: Freizeit, Zeit für kreative Tätigkeiten, die Lösung aus belastenden bzw. lästigen Bindungen etc. Das Paar mit dem Lottogewinn muss sich nicht mehr als Zugewinngemeinschaft verstehen, dessen wirtschaftliche Situation durch eine Trennung gefährdet werden würde. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit (12 Millionen für jeden) wirft die Frage auf, ob die Partnerschaft unter diesen Bedingungen weiter aufrechterhalten werden soll. Abgesehen davon, dass man sich die Liebe und Anerkennung des Partners wünscht und benötigt, bietet der Reichtum die Möglichkeit, eine bestehende Partnerschaft weitgehend risikolos zu gefährden, etwa durch Seitensprünge oder die Uneinigkeit über weitere Ziele und Konsumwünsche (der Wohnsitz in der Karibik oder am Gardasee? Ich hier, du da?). Man muss keine Kompromisse mehr machen. Und wie viele Kompromisse man früher gemacht hat, bemerkt man erst mit dem unverhofften Reichtum.

Es gibt viele Fallstricke für die neuen Lottomillionäre: Das Geld ist schnell sinnlos ausgegeben, Freundschaften zerbrechen, nachdem man mit dem neuen Reichtum geprahlt hat und die fordernden falschen Freunde zahlreicher geworden sind. In einer Kleinstadt wie Parchim oder Pocking gäbe es auch viele Bittsteller aus Politik und Kultur, die lästig werden könnten. Die Angst vor Überfällen und Entführung steigt (wenn auch eher unbegründet). Es ist ratsam, den Millionengewinn geheim zu halten und den Konsum nur sehr moderat zu steigern.

Für Sarah und Justus stehen mit dem Gewinn (in diesem Modell) wichtige Entscheidungen an. Wollen sie ihr Kapital durch Arbeit und Investitionen weiter vermehren? Oder nutzen sie es für die Ausgestaltung eines guten Lebens? Wollen sie weiter eine Wochenend-Ehe führen? Will Sarah jetzt doch noch ein Kind? Justus will sich angesichts der neu gewonnenen Freiheit nicht unnötig einschränken. Nicht durch ein Kind. Über ihre Träume sind sie sich anfangs noch nicht wirklich klar. Wird Justus weiter Romane schreiben und auf den großen Erfolg hoffen? Die Ruhe zum Schreiben hatte er doch auch schon zuvor. Will Sarah weiter in ihrem Beruf arbeiten? Oder kauft sie sich in das rumänische Mode-Label ein, das ihr bisheriges Unternehmen, für das sie arbeitete, aufkaufen oder untergehen lassen wollte? Spenden die beiden eine beträchtliche Summe ihres Vermögens für gute Zwecke? Das würde sie sympathisch machen. Als Teilhaberin von HEDDA/Irascible und Mitglied des Managements müsste sie nicht mehr so viel Zeit mit echter Arbeit zubringen wie zuvor. Sie hat Zeit. Und Justus hatte immer schon Zeit. Was wollen sie mit dieser Zeit anfangen? Alle wirtschaftlichen Hindernisse sind aus dem Weg geräumt. Sie können ihr Leben gestalten, wie sie wollen, solange sie das Geld nicht für Überflüssiges ausgeben. Und das will Sarah auf keinen Fall. Justus verfällt erst einmal dem Kaufrausch und plappert gegenüber Freunden und Bekannten aus, dass sie sich über Geld keine Sorgen mehr machen müssen. Justus feiert Partys und gibt das Geld mit beiden Händen aus. Bis die ersten Bittsteller auf der Matte stehen und die Freunde zu Trittbrettfahrern mutieren. Irgendwann steht für beide fest, dass sie in sich gehen müssen (vor allem Justus) und ihr weiteres Leben, wenn es denn ein gemeinsames bleiben soll, planvoll gestalten müssen. Sie machen sich sehr viele Gedanken über ein „gutes Leben“ in einer „schlechten Welt“. Mit Spenden ist es nicht getan, auch nicht mit einer Minimierung ihres Konsums auf das Allernötigste. Und lebt der Mensch, um weite Reisen zu machen? Sie spüren, dass ihnen eine ideelle Grundlage für das gute Leben fehlt, die über den Anspruch hinaus geht, das Leid anderer Menschen zu lindern und die Zerstörung der Natur zu verzögern und ansonsten einen Beitrag zu gesellschaftlichen Aufgaben durch ihre Arbeit oder ihr Geld zu leisten. Was macht ein gutes Leben jenseits der kulturell vermittelten Werte aus, denen Justus und Sarah nicht abschwören wollen? Was ist Freiheit? Freiheit des Geistes, Freiheit des Handelns. Justus findet, die Kunst, die Literatur und die Musik seien die letzten verbliebenen Reiche der Freiheit. Genaugenommen alles das, was Hegel als „den seiner selbst bewussten Geist“ definiert: Die Künste, die Religion und die Philosophie. Schreiben, denken, Kunst machen. Das eigene Leben zu einem Kunstwerk machen, zu einem freien Spiel, zu einem literarischen Kunstwerk. Das menschenwürdigste Leben ist das im freien, sorglosen Spiel. Hat man die Möglichkeit (qua Lotto-Jackpott) einmal gewonnen, dieses freie Spiel zu spielen, dann ist man dazu auch verpflichtet. Und was ist mit einem Kind? Justus findet Sarah zu alt dafür und würde die Möglichkeit des freien Spielens massiv einschränken. „Denk nur daran, dass wir für mindestens 13 Jahre an eine Schule und an eine Stadt gebunden wären!“

Sarah und Justus machen einen neuen Anfang in einer anderen Stadt. Hier entwickeln sie ihren Plan, ein in ideeller Hinsicht freies Leben zu führen. Teil dieses Plans ist die spielerische Fiktionalisierung ihrer Geschichte und ihrer Identität. Die Kunst speist sich aus der Improvisation, deren Hauptregel darin besteht, „Angebote zu akzeptieren“ und Hochstatuswettkämpfe möglichst zu vermeiden (Keith Johnstone), sowie der geplanten Lüge unter dem Vorbehalt, dass dadurch niemand übervorteilt, ausgebeutet, physisch verletzt, seelisch traumatisiert oder in anderer Weise seiner Menschenwürde beraubt wird. Bei genauerer Betrachtung dieser Regeln wird deutlich, dass alle die Regeln einschränkenden Begriffe ohne Definition zu schwammig bleiben – ebenso wie schon der Begriff der Freiheit. Wo endet die Freiheit und wie wird sie eingeschränkt durch die Verantwortung?

„Definitionen:

Freiheit: absolute Gedankenfreiheit, bedingte physische Freiheit, die die physische Freiheit Anderer nicht beschneidet. Die Gedankenfreiheit ist nicht automatisch auch schon eine Freiheit, diese Gedanken auszusprechen. Vor allem kann das Aussprechen von Gedanken als sprachliche Handlung die Freiheit Anderer beeinträchtigen. Dabei lässt sich selten eindeutig voraussagen, welche sprachlichen Handlungen eine derartige Beschränkung der Freiheit Anderer darstellen. Wir berufen uns auf die Meinungsfreiheit, die sicherstellt, dass Meinungen frei geäußert werden dürfen. Verboten sind Beleidigungen, verbale Erniedrigungen, sprachliche Handlungen in täuschender Absicht, sofern sie Andere zu Handlungen veranlassen, die sie in Gefahr bringen oder materielle Schäden verursachen würden.

Frage: Den Verlauf eines Gespräches derart zu beeinflussen oder zu manipulieren, dass zum Beispiel der eheliche Friede zwischen zwei Partnern „durch sie selbst“ gestört oder zerstört wird – wäre das ein durch sprachliche Handlungen verursachter Schaden? Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, mit anderen Menschen „therapeutische Gespräche“ zu führen. Nichts anderes wären sie, wenn wir stets darauf bedacht wären, die Konflikte Anderer durch unsere Interventionen zu entschärfen oder zu verhüten. Einen Konflikt zwischen Anderen zu verschleiern kann nicht das Ziel unserer Auffassung als Künstler entsprechen. Im Gegenteil: Konflikte und Lebenslügen müssen die Chance erhalten ans Tageslicht zu kommen, denn nur dann können sie auch aufgelöst werden. Die künstlerischen Ziele sind „Drama“, Bewegung, Veränderung, Hilfe zur Selbstaufklärung. Justus sieht ihre Rolle in der Nähe des Abbé aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, der aus dem Hintergrund die Geschicke Wilhelms lenkt. Ein weiteres Vorbild ist in Émiles Erzieher aus Rousseaus berühmten Werk über die Erziehung zu sehen. Justus meint: Die Menschen müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. Es kommt aber darauf an, sie in die dafür geeigneten Situationen zu locken. Entsprechend ist der Künstler, wie ihn sich Justus und Sarah vorstellen, ein Katalysator, der Arrangements schafft, durch die die Anderen hindurchgehen (oder es sein lassen, denn sie sind frei) und die sie am Ende als Verwandelte wieder verlassen.

Über die eigene Identität befindet allein das Individuum. Die Identität als Künstler wird durch das künstlerische Konzept bestimmt, sofern dieses Konzept als performative Kunst die Fragen der Identität berührt. (Gedankenfreiheit, Selbstbestimmungsrecht)

Übervorteilung und Ausbeutung finden immer dann statt, wenn eine Person aufgrund der Vorspiegelung falscher Tatsachen zu einer Handlung veranlasst oder gezwungen wird, die sie ohne den Täuschungsversuch unterlassen würde. Einen Anderen über seine Identität im Unklaren zu lassen, stellt in dieser Hinsicht keinen Tatbestand der Übervorteilung oder Ausbeutung dar, solange die zum Ausdruck gebrachten Gefühle aufrichtig sind und Verbindlichkeiten und Versprechen gehalten werden. Die Aufrichtigkeitsregel berührt auch die Frage sexueller Handlungen. Prinzipiell wären sexuelle Handlungen möglich, aber wir verpflichten uns dazu, sexuelle Handlungen zu unterlassen, da diese Verbindlichkeiten erzeugen könnten, für deren Einhaltung keine Gewähr gegeben werden kann, psychische Verletzungen nicht auszuschließen wären und die Beziehungen Anderer in unvorhersehbarer Weise gefährdet werden könnten. Die eigene Lustbefriedigung soll zwar auch Teil des Spiels sein, aber sie darf nicht auf Kosten anderer entstehen. Berührungen und Küsse sind im Zweifelsfall erlaubt.“

Teil der Dramaturgie wäre, dass Donata und Thomas den beiden ab einem bestimmten Zeitpunkt auf die Schliche kommen. Sarah und Justus machen es ihnen auch leicht, denn Zazie und Roman Krull beschreiben in ihrem Blog das Modell dieses performativen Kunstwerkes ausführlich. Der Chat wird nach und nach zu einem Detektivspiel, bei dem das Künstlerpaar überführt werden soll. Vielleicht ist es zunächst auch nur Donata allein, die Nachforschungen anstellt und peinliche Fragen stellt. Vielleicht verbünden sich aber auch Thomas und Donata, um den beiden eine Falle zu stellen. Sie wollen Gewissheit. Die Regel der sexuellen Enthaltsamkeit bei diesem Spiel, die in Rumänien beinahe gebrochen wurde, fordert Donata in besonderer Weise heraus. Sie ist es, die Justus in dieser Hinsicht aus der Reserve zu locken versucht. Sie will sehen, wie viel Widerstand Justus gegen ihre Verführungsversuche aufbringt. Justus, der sich ihr nur schwer entziehen kann und große Schwierigkeiten hat, ihrem Drängen nicht nachzugeben, hört aus ihren Bemerkungen heraus, dass sie das Spiel durchschaut hat. Entweder er gibt die Täuschungen zu, oder er übertritt die Regel, um Donata den Wind aus den Segeln zu nehmen. Justus wird es Sarah als „tragische Situation“ schildern. Sarah wird enttäuscht sein und sein Verhalten als Schwäche deuten. Er hätte sich nicht in diese Situation bringen lassen dürfen. Wie sollen sie nun damit umgehen?

Auf der Blog-Seite formulieren Krull&Krull ihr performatives Konzept als künstlerisches Manifest. Indem sie Thomas und Donata den Blog zugänglich machen, geben sie, Justus und Sarah, ihnen die Möglichkeit, das Spiel zu durchschauen und decken damit ihr Lügenspiel in einer Weise auf, die Thomas und Donata die Chance einräumt, in dieses Spiel auf Augenhöhe einzusteigen. Sollten sie darauf direkt angesprochen werden, werden sie leugnen, dieses Spiel zu spielen, „auch wenn es eine sehr verlockende Idee“ sei. Oder sie bejahen es zunächst offensiv, um es indirekt wieder zu entkräften. Es gibt genügend Argumente, die dagegen sprechen, zum Beispiel, dass sie ja wirklich gemeinsam einen Roman schreiben, was ja neben all der Arbeit einen erheblichen Aufwand darstellt.

Donata könnte auf die provokativ gemeinte Idee kommen, Marie ein ähnliches Spiel beginnen zu lassen, bei dem sie Paul manipuliert, oder sie schlägt vor, Paul und Marie könnten sich verbünden um gemeinsam die „Lebenslügen“ von Birthe und Ernest aufzudecken. Denn in dem künstlerischen Manifest wird unter anderem als Ziel angegeben, „sowohl die eigenen Lebenslügen mit neuen Mitteln zu entdecken und zu bekämpfen, als auch die derjenigen, mit denen sie in guter Absicht in Kontakt treten, indem sie durch die eigene Offenheit und Wahrhaftigkeit, die Anderer zu bewirken“ trachten. Als Lebenslüge betrachten sie normative Einstellungen und die unreflektierte Befolgung von Konventionen, die die eigene individuelle Ohnmacht gegenüber der Gesellschaft als Ganzer verschleiern und daher nicht mit der Moral des freien Spiels vereinbar sind.

Die Ohnmacht des Individuums angesichts des expansiven Kapitalismus und der Allmachtsphantasien des menschlichen (und vor allem männlichen) Geschlechts verhandelt Sarah in den Kapiteln über Birthe und Ernest. Justus schreibt in der Tat nicht und verfällt zunehmend in alte Schemata. Er gefällt sich immer mehr als „pädagogischer Provokateur“ und genießt das Machtgefälle. Sarah versucht ihn immer wieder zurückzupfeifen und zur Mäßigung aufzurufen und wirkt daher oft gouvernantenhaft, was ihrem wahren Wesen und ihrem Selbstbild widerspricht. Thomas entwickelt provokativ das Bild des technisch optimierten Übermenschen. Ist der Mensch angesichts der problematischen und auf eine Katastrophe zusteuernden Entwicklungen in der Welt wirklich so ohnmächtig, wie Sarah und Justus behaupten? Lässt sich das Heil wirklich nur noch in der Kunst bzw. mit den Mitteln der Kunst bewirken? Und ist es ein rein individuelles Heil? Ginge es nicht doch eher darum, politisch aktiv zu werden? Wird die Wissenschaft die Menschheit retten? Sarah und Justus sind sich in dieser Frage nicht einig. Justus beharrt darauf, dass Kunst und die Literatur in gewisser Weise auch eine Form des politischen Handelns sind.

Nach dem sexuellen Zwischenfall zwischen Justus und Donata gerät das gesamte Konstrukt ins Wanken. Einige der wichtigen Fragen des Romans betreffen ja die Ehe, langfristige Bindungen, die bürgerliche Kleinfamilie als Keimzelle der Gesellschaft, die Reproduktion mit technischen Mitteln, die Frage nach der Natürlichkeit oder kulturellen Vermitteltheit des Konzeptes der Mutterschaft und der Vaterschaft, sowie die Probleme in einer immer älter werdenden Gesellschaft, die mit dem ewigen Leben liebäugelt. Alle diese Fragen berühren das Problem der zunehmenden Eindämmung von Humanität zugunsten einer radikalen und falsch verstandenen Individualisierung. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von „Selbstbewusstsein ohne Selbst“. Theoretisch vertreten Justus und Sarah den Standpunkt, dass es in Zukunft neben der klassischen Kernfamilie auch andere soziale Gemeinschaften geben sollte, die die Fortpflanzung und die Erziehung von Kindern human und liebevoll organisieren (Illouz). Die bürgerliche Kleinfamilie ist ein Auslaufmodell, dass die Selbstbestimmung und Gleichstellung der Frauen weiterhin untergräbt. Sie liegen mit ihren Ansichten in einem wachsenden Trend. Künstliche Geburten und institutionalisierte Erziehung sind für sie keine Option. Auch für Thomas und Donata nicht. Aber eine Entlastung der Frauen von der klassischen Mutterrolle hält Donata für absolut notwendig. Sarah hingegen sehnt sich nach wie vor danach, diese Mutterrolle einnehmen zu können. Nachdem Justus die Verhaltensregel gebrochen hat und sich weiterhin weigert, ein Kind zu adoptieren, beschließt Sarah, sich ein Kind auf anderem Wege zu beschaffen. Jedenfalls will sie es riskieren. Justus weiß weder etwas über ihre Abtreibung vor vielen Jahren, noch etwas über den Liebhaber, den sie vor dem Lottogewinn gehabt hat. Sie hat sich von ihm losgesagt, als sie beschlossen, mit ihrer künstlerischen Performance zu beginnen und in dieser Idee wieder zueinander fanden. Nun aber nimmt sie erneut Kontakt zu Xaver auf. Ihre Absichten verrät sie Xaver nicht. Muss sie angesichts des Manifestes auch nicht, weil es ihr Kind sein wird und Xaver durch die Geburt eines Kindes, von dem er nichts erfahren wird, nicht beeinträchtigt sein wird. Hat ein Vater „Anrecht“ auf ein Kind? Als Besitz? Nie und nimmer. Das wäre altes patriarchalisches Denken. Wäre Justus durch das Kind beeinträchtigt? Nur wenn auch er diese patriarchalische „Lebenslüge“ für sich aufrechterhält. Was das Fremdgehen betrifft, sind die Beiden aus ihrer Sicht quitt. Und was einmal gewesen ist, soll ja laut Manifest keine Geltung mehr für das haben, was sie in der Gegenwart und in Zukunft aus ihrem Leben „als Kunst“ machen. Für niemanden entsteht ein Schaden, allein die alte Ideologie wird beschädigt.

Als Thomas von Donatas Seitensprung erfährt, gesteht er seinerseits einen Seitensprung. Donata rechtfertigt sich damit, die Absicht verfolgt zu haben, das Lügenspiel von Sarah und Justus aufzudecken, und Thomas beruft sich auf Donatas Ideen von einem „abenteuerlichen Leben“ (siehe oben), die sie als Folge der spielerischen Interventionen entwickelt hat und die ein offenes Modell von Ehe, Beziehungen und Familie ins Zentrum stellen. Gleichzeitig eskalieren die Probleme mit Luis, die offenbaren, dass Donata ihre Ehe und vor allem ihre Rolle als sorgende und versorgende Mutter innerlich bereits fast aufgekündigt hat. Thomas radikalisiert das Konzept des Übermenschen und kündigt die Zusammenarbeit auf. Und auch Sarah sieht das Projekt zunächst als gescheitert an. Aber sie fühlt sich weiterhin an ihr Manifest und die darin formulierten Regeln gebunden: Ehen dürfen nicht zerstört werden, Verbindlichkeiten müssen eingelöst werden. Das gemeinsame Projekt muss zu einem guten Abschluss gebracht werden. Dazu lädt sie alle in ein Haus nach Rumänien ein. Vielleicht lassen sich die Verletzungen wieder heilen, die Risse kitten. Erst in Rumänien offenbart Sarah Justus ihre Schwangerschaft. Im letzten Teil des Romans verschmelzen die fiktionalen Ebenen miteinander. Es bleibt unklar, ob der Roman ein Dokument des Scheiterns oder das eines Neuanfangs ist.

 

 

Inhalte des Manifestes

  • Sich von seiner Geschichte lösen, sich davon unabhängig machen.
  • Eine „liquid identity“ (Zygmunt Bauman) entwickeln. Die Fiktionalisierung des Ich. In der Zukunft bin ich immer auch als ein anderer denkbar. Mit anderen Gewohnheiten, Zielen, Wünschen und Lüsten.
  • Die Romane, Erzählungen und Spielfilme stellen für die meisten Menschen einen Ersatz für das eigene nicht gelebte Leben dar (Lutz Mommartz). Wir selbst und diejenigen, auf die wir uns bewusst einlassen, sind die Figuren eines humanen, moralischen Dramas und gestalten gemeinsam eine Lebensabschnittsgeschichte, die im echten Leben das hervorbringt, was wir sonst in Romanen nur lesen oder zu lesen wünschen.
  • Das Leben der meisten Menschen wird reguliert durch eine Vielzahl oft sinnloser oder sinnlos gewordener Normen und Konventionen, die sie daran hindern, es bewusst wie eine Romanhandlung zu gestalten. Sie und wir selbst als Performer sollen ihre bzw. unsere Lebensbedingungen, ihre bzw. unsere Körper, Gedanken und Ideen als das frei formbare und bewegliche Material zu begreifen lernen, mit dem sie/wir ihr/unser Leben vorwärts gestalten können. Dazu müssen wir, müssen sie die Automatismen, Schemata, Normen und Konventionen, nach denen sie bisher gelebt haben, aufdecken, hinterfragen und wenn möglich auflösen, wo sie die Fähigkeit und den Mut einschränken, in das Rollenspiel der Selbstfiktionalisierung einzutauchen.
  • „Vorwärts gestalten“ bedeutet: Das Leben nicht mehr erleiden und es im Rückblick als notwendige und nicht anders denkbare Faktizität begreifen, sondern die eigene Geschichte als Rollenspiel in die Zukunft entwerfen und gestalten.
  • Die Performance orientiert sich nicht an der kapitalistischen Konsumkultur, die unsere Begehrlichkeiten durch ihre materiellen und ideellen Verkaufsgüter konstruiert und uns davon zu überzeugen versucht, dass es unsere eigenen Begehrlichkeiten sind. Durch den Konsumkapitalismus werden wir aufgefordert, unsere Lebensgeschichten als eine Folge vorgegebener Akte des Konsums zu begreifen, die zu den bestimmenden und mit falschen Glücksversprechen gekoppelten Lebensereignissen werden sollen, die am Ende unsere Lebensgeschichte darstellen: der Kauf von elektronischen Geräten, Fahrzeugen, Einrichtungsgegenständen, der neuen Wohnung, von Reisen, Wellness-Aktivitäten, Therapien jeder Art, Unterhaltungsangeboten, Accessoires etc.
  • Die Welt lässt sich nicht retten. Die Logik des Kapitalismus, der unausweichlich geworden ist, erlaubt keine weltweite Revolution, die nötig wäre, um ihn in einen humanen und nichtexpansiven Kapitalismus zu verwandeln. Die Klimaziele werden verfehlt, Kriege und Ausbeutung von unterprivilegierten Menschen werden kein Ende nehmen, wissenschaftliche Erkenntnisse werden in erster Linie für ein weiteres Wirtschaftswachstum genutzt, das die Ressourcen unseres Planeten immer weiter und schneller ausbeutet. Dies alles geschieht, weil wir unsere Lebensgeschichten als die Geschichte unseres Konsums verstehen und uns diese Geschichte von eben diesem Kapitalismus erzählen lassen, um sie nachzuspielen. Die damit verbundenen Glücksversprechen werden immer nur für kurze Zeit erfüllt. Die Gier nach neuen käuflichen Ereignissen steigt immer weiter an. Der Kapitalismus schreibt das Buch unseres Lebens.
  • Arbeit ist das zentrale Element unseres Lebens. Arbeit sichert unser Einkommen und dieses Einkommen investieren wir für die Ausstattung unseres Lebens mit materiellen Gütern und käuflichen Events. Gesellschaftliche und kulturelle Normen und Konventionen regulieren die Abläufe des Arbeitens und Konsumierens und erzeugen immer neue Zwänge, die die Palette dessen, was zu konsumieren ist, um ein gutes und richtiges Leben zu führen, unaufhörlich erweitert.

Liquid Love

Mal ehrlich – oder besser: im Ernest! – viele Köche verderben den Brei, oder? Besonders wenn der Topf, in den man seine Zutaten wirft, ein Roman ist. Könnte man meinen. Aber wenn man das Gewese und Geraune der Pseudoexperten um den modernen Roman vorübergehend ignoriert, die Apologeten romantischer Genialität links liegen lässt und den verderblichen Brei zurück in die Metaphernschatzkiste stopft, können wir uns genügend Platz für ein üppiges Buffett verschaffen, zu dem viele Hände, jedenfalls mehr als zwei oder vier beitragen können. Denn auch ein gelungenes und erfülltes Leben lebt keiner für sich allein. Und an einem Roman – sei er noch so druckfrisch und seine Autorin so jung wie Büchner, Jesus oder Sally Rooney – haben schon Dezennien vor seiner Entstehung ungezählte Hände geschrieben. Eine Tatsache, die die Frage aufwerfen könnte, ob eine Autorin mehr Köchin oder mehr Konsumentin im Supermarkt der sprachlichen Diskurse ist. Wir fragen aber nicht und beschließen an dieser Stelle mal in autoritärem Ton, dass der Geniekult, der gegenwärtig die Eigentümlichkeiten der Schaumgeborenen aus dem diskursiven Meer an die Ufer der Buchläden spült, obsolet ist. Schon lange. Haben aber ein paar Leute, die es besser wissen müssten, leider wieder vergessen.

Also noch einmal zurück zum Bild: Im Sternerestaurant legen wir uns brav die Serviette auf den Schoß, nippen kundig und kompetent am Burgunder, geraten außer uns beim Anblick einer Mikrokomposition aus Mousse, Juice, Filet und glasierter Zuckererbse und steigern uns autosuggestiv in gustatorische und olfaktorische Ekstase, während wir die augeklügelte Komposition zu Brei kauen. Kann man machen, ist geil und ist vergleichbar mit dem Besuch eines exquisiten Swingerclubs, in dem du auch an einem Abend ein halbes Monatsgehalt lassen kannst. Die Party kannst du aber auch gut und gerne zuhause haben, wenn du dich traust: Jeder bringt mit, was er hat und kann. Und alle kosten von allem und jedem. Rezepte werden ausgetauscht, der Wein fließt in Strömen, man lacht, schweigt, hört zu, diskutiert, tanzt, umarmt sich, tröstet, nimmt die letzte Olive und teilt sie mit den feuchten Lippen dieser Person mit der zerlaufenen Wimperntusche und dem nass verschwitzten T-Shirt. Fühlt sich gut an. Für beide.

Einen Roman nicht allein zu schreiben, nicht der „Einzige und sein Eigentum“ sein zu wollen, bietet eine große Chance, die nämlich, am Leben der Anderen in viel größerem Maße und weitaus intensiver Anteil zu nehmen, als wir es uns in unserer Schamkultur gemeinhin erlauben. Klingt nach faulen Kompromissen? Stimmt nur, solange man weiter einem Geniekult anhängt, der heute ein Marketing-Gag des kapitalistisch organisierten Buchmarktes ist: Was sich als Unterhaltung für die breite Masse nicht verkaufen lässt, preist man eben als einzigartiges Machwerk eines ebenso solitären Machers an, dessen Genialität (oder Singularität) eben nur diejenigen Leser begreifen und genießen können, die sich selbst für verkappte und unverstandene Genies halten. Funktioniert. Besonders gut funkt’s zwischen den jugendlich-übermütigen (oder besser: übermutigen) Schreiberinnen und den überjugendlichen Mittfünfzigern, die sich als Leserinnen unterkomplexer Pubertätsprosa wieder so richtig jung fühlen können. Unsere Zeit ist einfach zu liquide geworden, um in ihr noch Platz für die Alten und Weisen einzuräumen, deren Wissen und Gewissheiten uns bereits gestern als vorgestrig erschienen, während unsere Kinder doch die Zukunft sind, seien es nun die Literaten, Informatiker oder Ingenieure. Klar ist, dass sie unsere Zukunft bauen werden. Wir folgen ihnen blind.

„Liquid Love“ heißt der Roman, den uns vor wenigen Wochen unsere Freunde zur Probelektüre überlassen haben. Die Sache ist durchaus pikant, denn in der Anfangsphase haben wir selbst an diesem Experiment teilgenommen, das vor etwa drei Jahren begonnen hat. Da war es noch ein Projekt von „UtaundAndré“ und „NinaundAleksander“ gewesen. Auf die Umstände, die dazu führten, dass UtaundAndré vor einem Jahr beschlossen, die Geschichte noch einmal neu aufzurollen und etwa siebzig bis achtzig Prozent neu zu schreiben, können und wollen wir an dieser Stelle nicht eingehen. Aber wir weisen in aller Deutlichkeit darauf hin, dass es andere Umstände waren als die, die das Autorenteam in „Liquid Love“ auseinandertrieb. Denn in der Tat: „Liquid Love“ handelt von zwei Paaren, die sich als höchst heterogenes Kollektiv an das Experiment wagen, einen gemeinsamen Roman zu schreiben. Das war das Schöne und Aufregende an dieser Konstellation: dass wir selbst wagten, was unsere fiktionalen Figuren taten. Und es gab eine klare Vereinbarung: no more autofiction. Davon kriegen wir nämlich mittlerweile das Kotzen. (Also geht uns auf unserem Blog bloß nicht auf den Leim!)

In ausgedehnten Chats, Spiegelfechtereien in den Nächten und an freien Wochenenden konstruierten wir im freien Spiel unsere Alter Egos (sagt man so im Plural?), die wiederum – jetzt wird’s kompliziert – die Figuren zweier Liebesgeschichten im Jahr 2050 entwerfen. Pjotr und ich halten diese Konstruktion nach wie vor für „genial“, wenn man „genial“ ausnahmsweise als ungeplantes und emergentes Produkt betrachtet, das aus vergleichsweise chaotischer, tabuverletzender und überhaupt regelwidriger Kommunikation hervorgeht. Wer redet schon mit seinen Freunden über heimliche sexuelle Vorlieben, die persönlichen Mechanismen des Selbstbetrugs, die offenen flanken des eigenen Narzissmus, die den eigenen Alltag und die darin wimmelnden Mitmenschen beschädigenden Fehlleistungen, denen lange antrainierte Verhaltensschemata zu Grunde liegen? Doch, es gibt sie: Charlotte und Martin! Die haben auf Spotify Freundschaft mit dem Rest der deutschsprachigen Welt geschlossen. Aber wir waren dann doch was anderes als „CharlotteundMartin“ und „BarbaraundMarkus“.

Wir waren „SarahundJustus“ und „DonataundThomas“ oder auch „ThomasundSarah“, „JustusundDonata“, oder SarahJustusThomasDonata. Und dann auch PaulMarieBirtheErnest at Zwanzigfünfzig. Ah, ja, dürfen wir’s an dieser Stelle verraten? Ernest verdankt seinen Namen nicht, wie Sarah schreibt, einer Laune, sondern dem Widerwillen von Justus, die Verantwortung für eine der vier Hauptfiguren der Zukunftsgeschichte zu übernehmen. Wir alle haben ihn anfangs nicht sonderlich gemocht. Nach Egon und Erwin hieß er der Alliteration wegen irgendwann Ernest. Eine vorübergehende Notlösung. Aber im Ernst: Irgendwann fing der Name Ernest an uns Spaß zu machen.

Wie jetzt? Wer jetzt? Fassen wir die Geschichte mal kurz zusammen, ohne zu viel zu verraten, und zwar in der Version, die wir in den letzten Wochen mit großem Vergnügen und vielen Überraschungsmomenten gelesen haben: Sarah erzählt uns ihre Geschichte. Das ist wichtig (und neu gegenüber der letzten Version, bei der wir noch deutlich mehr unsere Finger im Spiel hatten). Sarah ist die fiktive, autofiktional erzählende Hauptfigur, die das gesamte Material arrangiert – und vermutlich auch manipuliert (letztlich eine unzuverlässige Erzählerin). Es ist die Geschichte einer kinderlosen Ehe mit Justus, einem wenig erfolglosen Schriftsteller in einer auf Dauer gestellten Schaffenskrise, die Sarah erzählt. Soweit das Klischee. Als erfolgreiche Geschäftsfrau, die seit Jahren ihren einkommensschwachen Mann aushält, aber den Vorteil hat, die meiste Zeit beruflich im Ausland (Rumänien) zu verweilen, könnte durchaus zufrieden sein und sich als moderne, emanzipierte Frau wähnen, würde sie im Alter von etwa vierzig Jahren nicht Torschlusspanik befallen und ihr die fixe Idee einimpfen, jetzt noch schnell ein oder zwei Kinder zu kriegen. Justus ist not amused, sieht er sich doch schon als Kindermädchen für die dauergestresste, dauerabwesende und dauerberufstätige Mutter. Da könnte er wohl die eigene Karriere vollständig knicken. Kennt man. Allerdings: Justus ist ohnehin unfruchtbar. Glück im Unglück, könnte man sagen. Aber Sarah ist zu allem entschlossen. In der Überzeugung, seine hassgeliebte Angetraute und solvente Ernährerin befinde sich bereits in den Wechseljahren und mit einer nachhaltigen Konzeption sei nicht mehr zu rechnen, beginnt Justus erotische Ränke zu schmieden. Er sieht die – gerade für einen Spätfünfziger – belebende Gelegenheit, gemeinsam auf dem verruchten Parkett des Partnertauschs zu debütieren. Eine unrühmliche Episode, die Sarah längst vergessen hat, als sie beide anlässlich eines Projekts für Sarahs Modelabel die Fotografin Donata kennenlernen. Justus jedoch sieht endlich die Gelegenheit für ein amouröses Abenteuer gekommen, mit Donata und ihrem Mann Thomas. Während er die Schnapsidee befeuert, gemeinsam einen Roman zu schreiben, verfolgt er systematisch sein Ziel, Sarah mit Thomas zu verkuppeln – und sich selbst mit Donata. Kann natürlich nicht gut gehen.

2050 sind die Konstellationen andere. Dort schlüpft die temperamentvolle und als Mutter zweier pubertierender Jungs frustrierte Donata in die Rolle der Fotografin Marie, die in den Zwiespalt gerät, einerseits genetisch eine „Premiummutter“ zu sein, andererseits auch mit 35 Jahren weiter ihre Freiheit auszukosten und ein künstlerisches Dauerprojekt zu verfolgen, in dem es um das ewige Leben, den biologisch-medizinisch ermöglichten Jungbrunnen geht. Marie lernt einen jungen Wissenschaftler kennen, ist ganz hin und weg von dem smarten Typen, kämpft aber beharrlich gegen ihre retrospektiven, antifeministischen Bindungs- und Unterwerfungswünsche an. Eine Stoßmich-Ziehdich-Beziehung, bei der Marie erst viel zu spät mitbekommt, welche Interessen der Angehimmelte tatsächlich verfolgt hat, als er sich ihr näherte. Paul ist nämlich ein … Okay, wir wollen nicht zu viel verraten.

Dann sind da noch Birthe und Ernest. Neben der Liebe, die sie verbindet, gibt es ein Thema, das sie trennt. Und das hat mit Afrika zu tun, mit medizinischen Menschenversuchen, die in einem zukünftig überbevölkerten Nigeria durchaus glaubwürdig angesiedelt sind. Schon heute gelten Menschen in Westafrika oft viel unverblümter als hierzulande als handelbare Ware – insbesondere Kinder. Und Ernest scheint da seine Finger im Spiel zu haben – oder gehabt zu haben. Die Afrikakennerin Birthe, einst Mitglied einer Hilfsorganisation in Nigeria, wo sie Augenzeugin der Leiden beschnittener Frauen wurde, gerät während ihrer Recherchen zwischen die Fronten. Und zweifelt immer mehr an dem Bild, das Ernest von sich gezeichnet hat.

Die Fäden der beiden Liebesgeschichten werden erst recht spät zusammengeführt und sie haben vor allem mit der Frage der künftigen menschlichen Fortpflanzung zu tun. Werden KI-gesteuerte Automaten den Frauen das mühevolle, schmerzhafte Gebären von Kindern abnehmen? Werden die neuen Menschen genetisch designt? Wird es nicht darauf ankommen, die Menschen in einem Zeitalter, das für prinzipiell jeden Menschen ewiges Leben verspricht, die problematischen Individuen, wie wir sie kennen (und jeder für sich ist) mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden zu optimieren? Die Menschen werden nicht nur ewig leben, sie werden auch zu KI-gesteuerten Hybriden werden müssen, weil sich der Kampf aller gegen alle weiter verschärfen wird.

Da bahnt sich also was an. Aber alle Figuren des Romans, auf beiden Zeitebenen, 2018 und 2050, sehnen sich angesichts ihrer Liquidisierung oder Fluidisierung ihrer Identitäten, angesichts ihrer, einer radikalen Individualisierung geschuldeten, Einsamkeit, nach Nähe, Geborgenheit, nach Befreiung aus normativen Zwängen ebenso wie nach Elternschaft und dem ruhigen und reduzierten Leben im „Haus am See“.

Das Haus am See: Ihm gehört der überraschende zweite Teil des Romans. Dieser Sehnsuchtsort wird der Schauplatz der vollständigen Zerrüttung und Auflösung. Sogar die beiden Zeitebenen stürzen ineinander. Wie zu hören war, haben bislang alle Probe-Leser über diesen zweiten Teil geklagt. Warum werden die spannenden Geschichten nicht aufgelöst? Warum dieser formale Bruch in der Erzählhaltung? Die Autoren hätten es sich damit zu einfach gemacht, der zweite Teil sei einfach zu clever – oder zu komplex.

Ihr Lieben, UtaundAndré, klar, dass Ihr Euch diese Kritik zu Herzen nehmt und überlegt, ob ihr ein weiteres Jahr dranhängen sollt. Unsere klare Empfehlung: Kriecht Euren Lesern nicht voreilig in den Arsch, indem Ihr sie mit auserzählten Geschichten und klischeehaften Kausalitäten befriedigt. Ihr kennt Eure zukünftigen Leser gar nicht. Kriecht vor allem nicht einer Buchbranche in den Arsch, die – ob U oder E – doch bloß ohnmächtig wie größenwahnsinnig den emergenten Marktmechanismen hinterherschielt. Habt Ihr zum Glück nicht nötig. Hey, das seid Ihr uns schuldig: Bleibt standhaft!

 

 

PS:

In 2017 und 2018 sind einige Romanpassagen und Episoden aus unserer Hand entstanden, die aus der aktuellen Fassung komplett oder weitgehend verschwunden sind. Einige dieser Dokumente kollektiven Schreibens möchten wir gern in nächster Zeit an dieser Stelle veröffentlichen. Sie bilden vielleicht so etwas wie eine Parallelwelt zu einem liquide gewordenen Roman, dessen Autoren unscharf werden im unberechenbaren Meer der Diskurse und Kommunikationen.

Roman

Wenn einer nie sagt, was er denkt. Wenn einer nie denkt, was er sagt. Geht das? Wenn einer immer sagt, was er denkt. Wenn einer immer denkt, was er sagt. Wenn einer immer sagt, was er gedacht hat. Wenn einer immer denkt, was er gesagt hat. Wenn einer immer ist, der er war. Wenn einer immer war, was er ist. Wenn einer nie war, was er ist. Wenn einer nie ist, was er war. Wenn einer nie war, was er denkt. Wenn einer nie denkt, was er war, immer denkt, was er nie war, nie denkt, was er immer war. Wenn einer denkt, was er immer denkt. Wenn einer immer denkt, was er gedacht hat, wenn einer nie war, was er gedacht hat, nie gedacht hat, was er war, immer denkt, was er ist.

Wenn einer fühlt, was er denkt. Wenn einer denkt, was er fühlt. Wenn einer nie fühlt, was er denkt. Wenn einer nie denkt, was er fühlt. Wenn einer denkt, was er nie gefühlt hat. Wenn einer nie gefühlt hat, was er gedacht hat. Wenn einer nie fühlt, was er fühlt. Wenn einer fühlt, was er nie gefühlt hat. Wenn einer sagt, was er fühlt. Wenn einer sagt, was er nicht fühlt. Wenn einer nicht sagt, was er fühlt. Wenn einer nie sagt, was er fühlt. Wenn einer nie fühlt, was er sagt. Wenn einer, oder zwei.

Wenn einer weiß, was er sagt. Wenn einer weiß, was er denkt. Wenn einer weiß, was er fühlt. Wenn einer nicht weiß, was er denkt. Wenn einer nicht weiß, was er sagt. Wenn einer nicht weiß, was er fühlt. Wenn einer weiß, was er nicht sagt. Wenn einer weiß, was er nicht denkt. Geht das? Wenn einer weiß, was er nicht fühlt. Wenn einer weiß, was er nicht weiß. Wenn einer nicht weiß, was er weiß. Wenn einer nicht weiß, was er nicht weiß. Wenn einer fühlt, was er weiß. Wenn einer nie fühlt, was er weiß.

Wenn einer nie weiß, was er denken soll. Wenn einer nie denken soll, was er weiß. Wenn einer denken soll, was er weiß. Wenn einer fühlen soll, was er denkt. Wenn einer nie fühlt, was er denken soll. Wenn einer sagen soll, was er denkt. Wenn einer denkt, was er fühlen soll. Wenn einer weiß, was er fühlen soll. Wenn einer fühlen soll, was er fühlt. Wenn einer fühlt, was er fühlen soll. Wenn einer denken soll, was er denkt. Wenn einer denkt, was er denken soll. Wenn einer sagt, was er denken soll. Wenn einer denkt, was er sagen soll. Wenn einer nie denkt, was er sagen soll. Wenn einer fühlt, was er sagen soll. Wenn einer sagt, was er sagen soll. Wenn einer sagt, was er fühlen soll, was er denken soll, was er sagen soll.

Wenn einer denkt, was er denken will. Wenn einer fühlt, was er fühlen will. Wenn einer sagt, was er sagen will. Wenn einer nicht denkt, was er denken will. Wenn einer nicht fühlt, was er fühlen will. Wenn einer nicht sagt, was er sagen will. Wenn einer nicht denken will, was er denkt. Wenn einer nicht sagen will, was er denkt. Wenn einer nicht denken will, was er sagt. Wenn einer nicht fühlen will, was er denkt. Wenn einer nicht fühlen will, was er fühlt. Wer nicht hören kann …

Wenn einer muss. Wenn einer kann. Wenn einer darf. Wenn einer, oder zwei.

Wenn einer sagt, was der andere denkt. Wenn einer denkt, was der andere denkt. Wenn einer fühlt, was der andere denkt. Wenn einer nie denkt, was der andere fühlt, wenn er nie fühlt, was der andere fühlt, nie denkt, was der andere denkt, nie sagt, was er denkt, was der andere denkt oder fühlt, nie weiß, was der andere denkt oder fühlt oder weiß oder kann oder will. Wenn einer nie darf, was der andere kann. Wenn einer darf, was der andere muss. Wenn einer fühlt, was der andere weiß. Wenn einer weiß, was der andere fühlt. Wenn einer denken darf, was der andere nicht fühlt. Wenn einer nicht fühlen muss, was der andere fühlt. Wenn einer fühlen soll, was der andere fühlt. Wenn einer fühlen soll, was der andere denkt.

Wenn einer denkt, was der andere macht. Wenn einer fühlt, was der andere macht. Wenn einer sagt, was der andere macht. Was du nicht willst, was man dir …

Wenn einer machen soll, was der andere sagt. Wenn einer machen soll, was der andere fühlt. Wenn einer macht, was der andere macht. Wenn einer nicht macht, was der andere macht, weil es der andere macht.

Wenn einer denkt, weil er denken soll, fühlt, weil er fühlen soll, sagt, weil er sagen soll, oder nie sagt, oder nie denkt, oder nie fühlt und nie weiß. Wenn einer nicht weiß, was er denken soll, weil er denken soll. Wenn einer nie fühlt, was er fühlt, weil er fühlen soll. Wenn einer sagt, was er fühlt, weil er denken soll. Wenn einer nie sagt, was er fühlt, weil er fühlen soll. Wenn einer nie denkt, was er denken soll, weil er fühlt. Wenn einer nicht sagt, was er fühlt, weil er denkt. Wenn einer nie denkt, was er sagt, weil er fühlt. Weil einer denkt, was er fühlt, sagt er nichts.

Wenn einer nie war, was der andere gedacht hat. Wenn einer immer war, was der andere gedacht hat. Wenn einer denkt, was der andere ist. Wenn einer weiß, was der andere sein soll. Wenn einer fühlt, was der andere sein soll. Wenn einer sagt, was der andere sein soll. Wenn einer nie sagt, was der andere sein soll, obwohl…

Wenn einer denkt, obwohl er fühlt. Wenn einer ist, obwohl er war. Wenn einer denkt, obwohl der andere fühlt. Wenn einer weiß, obwohl der andere denkt, dass…

Wenn alle denken, was ich denke. Wenn keiner denkt, was ich denke. Wenn niemand fühlt, was ich fühle. Wenn niemand weiß, was ich weiß. Wenn keiner ist, wie ich bin. Wenn keiner weiß, wer ich bin. Nur ich. Wenn alle wissen, was mit mir ist. Nur ich nicht.