Aleksander hat jetzt wieder angefangen kurze Erzählungen zu schreiben. Eine davon heißt „Das Haus am See“. Es sei nur ein erster Versuch. Was für ein Versuch? Ein Versuch in pornografischer Literatur. Er wolle einmal für sich persönlich erkunden, ob in einem durchaus verklärten Sinne so etwas wie „schöne“ Pornografie möglich sei, feministische Pornografie. Oder ob am Ende doch nur wieder eine klassische, misogyne Männerphantasie dabei herauskomme. Das würde ich dann zu entscheiden haben. Kein Problem, mache ich gern. Aber es ist doch ein großer Unterschied, ob jemand einen pornografischen Text schreibt oder pornografische Videos produziert, in denen Darsteller_innen in entfremdeten Produktionsprozessen zu bloßen Objekten gerinnen und mit den zur Schau gestellten Pseudo-Intimitäten ihre Subjektivität, ihre Einzigartigkeit zum Verschwinden bringen. Darum nämlich drehte sich unsere Diskussion der vergangenen Tage. Der Kurzschluss zwischen dem literarisch gestalteten erotischen Reiz und dem individuellen Phantasie-Getriebe im Hirn der Leser_in ist immer ein mittelbarer, humaner, frei von Gewalt, wie sehr der Text möglicherweise auch Gewalt zur Darstellung bringen mag. Sinnt der Autor zwar unmittelbar auf die sexuelle Erregung seiner Leser_in, muss der fiktionale Inhalt doch den Umweg über die individuelle Anreicherungsmaschinerie der Leser_innen-Fiktionalität gehen. Der Kurzschluss zwischen dem fotografischen oder filmischen Abbild einer physischen Realität mit pornografischer Intention und dem Assoziations- und Erregungsapparat des Betrachters dagegen ist ein unmittelbarer und darum weitgehend unreflektierter. Er erzeugt die Illusion unmittelbarer Verfügbarkeit über die ins Bild gesetzten Körper, die einer Enteignung der vor der Kamera agierenden Individuen gleichkommt. So subjektiv und lustvoll der abgelichtete Geschlechtsakt während des Vollzugs auch gewesen sein mag, das Produkt ist am Ende doch nur ein ausgehöhltes Surrogat, das die Darsteller_innen ihrer Würde beraubt und dem Zuschauer als bloßes Mittel, Hilfsmittel zur eigenen sexuellen Erregung und Befriedigung dient. Es ist ein ausbeuterisches Verhältnis zwischen den – einen fragwürdigen Mehrwert produzierenden – Sexarbeiter_innen und dem Konsumenten, das vor allem dem am Profit interessierten Produzenten in die Hände spielt, der in seinen Darsteller_innen wie in den entstandenen Abbildern nur „Material“ sieht. Die blutig durchschossene Lunge des Helden in einem Actionfilm bleibt immer noch Spiel in einem Spielfilm, weil ihm die Wunde doch nicht wirklich zugefügt wurde und sich nur illusionärer kinematografischer Techniken verdankt. Wenn eine Frau aus einer möglichst alles sichtbar machenden Kameraperspektive von einem erigierten Penis penetriert wird, ist das dagegen längst kein Spiel mehr. Der – nicht selten aggressive – filmisch oder fotografisch festgehaltene Akt geschieht in Wirklichkeit und steht damit auf einer Stufe mit den von Schaulustigen aufgenommenen Handy-Videos versehrter oder verstorbener Unfallopfer. Mögen die unveröffentlichten Videos, die etwa Paare von sich selbst beim Sex aufnehmen, noch legitimer Teil ihres (auch schon irgendwie entfremdeten) Liebesspiels sein – sobald derlei private Videos aber der kapitalistischen Verwertungskette zugeführt werden, selbst in scheinbar dem monetären Markt enthobenen privaten Foren, verwandeln sie sich in Snuff-Videos, die die in ihnen handelnden Individuen auslöschen.
Wenn Aleksander sich also in pornografischer Literatur versucht, mag sich das Ergebnis unter Umständen zwar als misogyn, antifeministisch oder grundsätzlich inhuman und barbarisch erweisen, was ich allerdings nicht erwarte. Aber der Blowjob und das Spermaschlucken bleiben doch so virtuell und spielerisch wie der Lungendurchschuss im Actionfilm. Aleksander hatte wohl die Absicht, mich mit seinem literarischen Vorhaben ein wenig zu provozieren. Die Herausforderung nehme ich gerne an, vielleicht sogar mit einer kurzen eigenen Erzählung.
Unscheinbar und jenseits aller provokativen Absichten wirkt dagegen auf den ersten Blick der Arbeitstitel der pornografischen Übung: „Das Haus am See“. Ich muss gestehen, selbst immer mal wieder von einem eigenen kleinen Haus am See geträumt und davon während unserer Spaziergänge an Frühlingstagen hemmungslos geschwärmt zu haben. Mein lieber Pjotr pflichtet mir zwar immer wieder gerne bei, wie schön das einsame Leben in so einem Haus am See sein könne, aber ins Schwärmen gerät er eher nicht, denn er bevorzugt dann doch das Leben in der Großstadt mit all seinen Möglichkeiten und kleinen wie größeren Verführungen. Aber hin und wieder dem Großstadttrubel entfliehen können? Das wäre schon sehr angenehm. Abgesehen davon, dass wir uns ein eigenes Haus finanziell ohnehin niemals werden leisten können, es wäre dann doch auch eine Last, wie jede Form von Eigentum. Wie oft würden wir uns wohl auf den vermutlich viel zu weiten Weg zu unserem Auszeit-Refugium machen? Und kämen wir wirklich zur Ruhe, wenn Rasen, Sträucher und Bäume in unserer Abwesenheit wucherten und uns jedes Mal in flehentlichem Ton empfingen, wir möchten sie doch schneiden, stutzen kürzen und kompostieren? Und im Winter müssten wir gegen Muff und Schimmel anheizen, selbst während unserer Abwesenheit, im Sommer die Klärgrube leeren lassen und auf Strom, fließend Wasser und Internet möglicherweise ganz verzichten. Der Traum, den ich und anscheinend viele andere träumen und sich in unzähligen Romanen, Erzählungen und Filmen eingenistet hat, geht so: Das Haus am See liegt einsam und verlassen in einem Sommerland jenseits der Zivilisation. Seine Bewohner haben mit der Welt da draußen weitgehend abgeschlossen, sind ihr – jedenfalls zeitweise – entflohen. In ihm befinden sich nur die allernötigsten Gegenstände. Ein alter Holztisch, zwei Stühle, eine kleine Küchenzeile, ein paar einfache Teller, Becher, Gläser Küchenutensilien, ein Sofa, zwei kleine Schreibtische, ein großes Bett für das Paar, zwei schmale Betten für Gäste. Die benötigte geringe Menge Strom liefert eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach, für warmes Wasser und die Heizung gibt es einen Holzofen oder eine Erdwärme-Anlage. Das Wasser wird aus dreißig Metern Tiefe heraufgepumpt und im Garten wachsen Gemüse und Früchte. Mit einem Wort: Im Haus am See lebt man autark. Aber woher kommt diese Sehnsucht nach dem autarken Leben in einem Haus am See? Warum träumen wir von diesem reduzierten, auf die elementarsten Bedürfnisse zurückgekürzten Leben, abgeschnitten von Medien, Konsum und Kommunikation?
In Häusern an Seen findet das wahre und richtige Leben statt. Da ist immer Sommer, das Wasser warm und klar. Wir lassen unsere nackten Körper ins Wasser gleiten, wir liegen in den Armen des geliebten Menschen, wir baden und lieben am Morgen und am Abend. Nur die geliebten und begehrten Menschen kommen uns besuchen. Sie kommen als Wanderer mit ihren leichten Rucksäcken. Wir essen frisches Brot und trinken roten Wein. Die Mücken stechen nicht, sie summen nur. Das Lagerfeuer wärmt Gesicht, Brust und Füße. Am Schreibtisch lädt die Stille zu tiefen Gedanken ein. Bücher entstehen, Romane und Welterklärungen, tröstende und lustvolle Gedichte. Das Glas Wasser ist kühl und erfrischend, ein bunter Schmetterling setzt sich auf seinen Rand. Die Blicke der Liebenden sind klar und verstehend. Kein Wort tut Not, nur ein zufriedener Seufzer. Noch die Sitzung auf dem Plumpsklo ist reine Meditation. Wir sind bei uns, bei uns selbst und beieinander, der Beischlaf tantrisch im Moos, der Waldboden warm und weich, wenn wir nackt zur Felsenquelle schleichen. Wir sehen das Gras wachsen und hören den Elch rufen. Die Nacht ist so still wie der Himmel schwarz und von der Milchstraße umschlungen. Nichts drängt, nichts muss, nichts will. Ein lauer Wind umhaucht die Haut. Fast ein Nichts, diese Häuser an Seen.
Wenn man „Haus am See“ googelt, findet man fast ausschließlich Hotels, Restaurants und Ferienwohnungen, lauter falsche Versprechen. Wir kommen nie bei ihnen an, nie bei uns selbst. Wir bleiben für immer unbehaust. Deshalb muss auch Aleksanders „schöne Pornografie“ ein falsches Versprechen bleiben, eine schöne Illusion, die ihre Entsprechung in der Wirklichkeit vergeblich sucht.