[…] aus einer Rede zur Eröffnung der Ausstellung der Kunst-Klasse eines Gymnasiums
von André M. Kuhl
[…] Die vergangenen fast drei Jahre der schon bald vor dem Abschluss stehenden Kunst-Klasse standen unter keinem guten Stern: Die Einschränkungen unter Corona durchkreuzten bereits im ersten Halbjahr der Oberstufe manche Pläne, und setzten sich auch 2021 fort, Anfang 2022 begann der Krieg in der Ukraine –und nicht nur als Hintergrundrauschen hörten wir vom endgültigen Scheitern des 1,5-Grad-Zieles. Das furchtbarste Ereignis für uns war jedoch der schreckliche Unfall-Tod einer Mitschülerin. Die heutige festliche Eröffnung der Ausstellung des ästhetischen Profils der Domschule ist zugleich Anlass des Gedenkens. Wie gern hätten wir den heutigen Abend gemeinsam mit […] erlebt!
So ohnmächtig wir vor dem Tod stehen – dem geliebter Menschen oder dem eigenen – so ohnmächtig dürfte sich eine ganze Generation junger Menschen angesichts der zahlreichen in die Zukunft weisenden Sackgassen fühlen: Weitere Pandemien werden folgen, der Klimawandel und seine unabsehbaren Konsequenzen sind nicht mehr aufzuhalten, der Krieg Russlands gegen die Ukraine kündigt womöglich eine Ära neuer gewaltsamer, kriegerischer Annullierungen territorialer Grenzen an, eine breite antiaufklärerische Bewegung schaufelt aus dem Unrat der Geschichte neue autoritäre und diktatorische Regime an die Macht, das Finanz- und Rentensystem nähert sich unaufhaltsam dem Zusammenbruch. Die Versprechen, die noch meiner Generation gemacht wurden und zu großen Teilen auch gehalten wurden, hallen für die Jugend kaum noch vernehmbar im kalten Wege-Leit-System verordneter Zukunftsträume nach. Zwei Wirklichkeiten spalten sich vor unseren Augen auf: die der Alten und die der Jungen. Allerdings nicht mehr wie in früheren Zeiten unter den Vorzeichen von Pubertät, Sturm und Drang. Ich will im Folgenden versuchen, diese Spaltung am Beispiel eines interessanten Horrorfilms aus dem Jahr 2001 zu veranschaulichen: In diesem Film lebt eine Familie im Jahr 1945 in einem einst prächtigen, ländlich gelegenen Anwesen. Die Kinder leiden unter einer Lichtallergie und müssen sich in dunklen Zimmern hinter Vorhängen und Verschlägen verbergen, umsorgt von der hypervorsichtigen Mutter. Wie es sich für einen Horrorfilm gehört, geschehen nun bald geisterhafte Dinge, Türen öffnen sich von selbst, der Flügel erklingt im einsamen Saal, Stimmen sind zu hören, schemenhafte Gestalten zu sehen. Bald sind die Bewohner des Hauses davon überzeugt, dass sie von Geistern belagert werden. Der Plot-Twist gegen Ende des Films besteht allerdings darin, dass sich die Hauptfiguren selbst als die unerlösten Geister erweisen, die vermeintlichen Geister dagegen sind Menschen aus Fleisch, Blut und Gänsehaut, die sich ihrerseits durch die Geister in diesem unheilvollen Haus belästigt sehen.
In gewisser Weise lässt sich das Verhältnis von uns Alten zu Euch Jungen mit dieser geisterhaften Situation vergleichen. Was ist das für ein Ort, an dem es zu spuken scheint?
Utopia
Utopia war mal im allgemeinen Sprachgebrauch (der inhaltlich nur noch wenig mit der von Thomas Morus erfundenen Insel zu tun hat) ein in der Zukunft angesiedelter Ort des besseren, gerechten und richtigen gesellschaftlichen Lebens, die Vision der Vermählung unserer humanen Werte mit den realen materiellen Bedingungen irdischen Lebens. Die – lassen Sie es mich so provokativ formulieren – Lost Generation 2.0 findet ihr Utopia, diesen Nicht-Ort längst nicht mehr in Visionen einer besseren Zukunft. Wie auch? Ihr Utopia ist ganz und gar gegenwärtig. Dieser Nicht-Ort ist ein virtual space, ein von künstlicher Intelligenz arrangiertes Environment, ein virtueller Lebensraum, der demjenigen, der darin interagiert, die wohlig-unheimliche Suggestion vermittelt, an diesem Un-Ort ein reales und gelingendes Leben führen zu können.
Mit Verachtung und Sorge beobachten wir Alten den Rückzug der Jungen ins geisterhafte Reich der Virtualität und der entmaterialisierten sozialen Netzwerke – Netflix, Tik-Tok, Reddit, Discord. Wenigstens ein soziales Jahr sollen sie demnächst absolvieren, damit sie endlich auch mal mit der wirklichen Wirklichkeit in Berührung kommen.
Blicken wir Alten jedoch aus ihrer, der jungen Perspektive auf uns und die alte Welt, steht überm Portal ins von uns so eifrig beworbene wirkliche Leben jener unheilverkündende Spruch aus Dantes Göttlicher Komödie: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!“
Von Dantes Vorhof der Hölle mache ich einen großen Schritt zu Schiller und Nietzsche, denn nun kommt – im wörtlichen Sinne – die Kunst … ins Spiel. Denn die Kunst ist das letzte verbliebene Reich der Freiheit, der utopische Ort, wo aus freiem Spiel neue Ideen erwachsen können. Für Nietzsche bestand das Ziel individueller menschlicher Entwicklung darin, zum spielenden Kind zu werden. Oder Schiller im 15. Brief seiner Abhandlung über die ästhetische Erziehung des Menschen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Die künstlerische Tätigkeit ist freies, unmoralisches, unkorrektes Spiel, ist Training für das Denken des Undenkbaren, ist Kreativität in dem emphatischen Sinne, dass sie Lösungskompetenz für scheinbar unlösbare Probleme ist. Sie gedeiht an verborgenen Orten, jenseits von Überwachung und Kontrolle.
Aber….
Kunst – wozu? Frei – wozu?
Weder der Rückwärtsgang noch der kraftvolle Sprint in die Zukunft befreit uns aus unserer wahrhaft verrammelten Gegenwart. Viel ist gegenwärtig von „Zeitenwenden“ die Rede. Keine Wende konnte bislang vollzogen werden. Vielmehr leben wir in einer Schwellenzeit. Liminalität kennzeichnet die Tiefenstrukturen der Lost Generation 2.0. Unklar ist, was kommen wird. Jedenfalls wird es nie wieder so sein, wie es früher nie war.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie heute die in den letzten zweieinhalb Jahren entstandenen Bilder einer kleinen, kaum repräsentativ zu nennenden Gruppe junger Menschen sehen, mögen Sie in manchen Augenblicken das Gefühl haben, Sie hörten verzweifelte oder zynische Rufe aus der Gruft de Web 2.0 und wir Alten müssten die Jungen mal gehörig aufrütteln, am Kragen packen, ihnen gut zureden oder auch gönnerhaft Mut zusprechen. Nicht die Jungen drohen in der Vorhölle virtueller Welten zu verdorren, wir Alten haben uns längst bequem im Vestibül der Hölle eingerichtet, denn wir haben uns mit unserer Ohnmacht schon lange abgefunden, unser Leben ist der blutige Ernst schlechthin, kein Spieltrieb lässt noch unsere Kreativität erblühen, wir repräsentieren das Ende der Geschichte. Wir Alten sind es, die zwischen verwitterten Wänden spuken.
Schauen Sie genau hin, hören Sie genau hin! In der Ausstellung vernehmen wir Untoten leise Nachrichten aus Utopia.
Ein unkorrekter Essay über Kommunikation und Diskurstheorie / Lektion für die Schüler eines 13. Jahrgangs, die sich auf das Abitur im Fach Kunst vorbereiten – von André M. Kuhl
„Nur Kommunikation kann kommunizieren“ – dieser Satz des Soziologen Niklas Luhmann klingt absurd. Um ihn angemessen verstehen zu können, müsste man sich in seine Theorie sozialer Systeme vertiefen. Das ist an dieser Stelle nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Trotzdem lassen sich mit Hilfe dieser These manche Phänomene in unserer Medienwelt veranschaulichen.
Ähnlich verhält es sich mit den Begriffen des Diskurses und des Dispositivs, die der Soziologe Michel Foucault in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. Denn mit diesen Begriffen versucht Foucault zu begreifen, wie sich Ideen und insbesondere Ideologien in Gesellschaften verbreiten, ohne dass die Individuen als die vermeintlichen Träger von Ideologien auf diese wesentlichen Einfluss haben. In unserem Fall geht es vorwiegend um die Kommunikation durch Bilder und die Frage, wie Bilder als Mittel der Kommunikation funktionieren.
Luhmann: „Menschen können nicht kommunizieren, nicht einmal Hirne können kommunizieren, nicht einmal das Bewusstsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“ (Niklas Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt? In H.U. Gumbrecht und K.L. Pfeiffer: Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988, S. 884)
Sprache und Kommunikation
Bleiben wir zunächst einmal auf der Ebene der sprachlichen Kommunikation, denn wenn wir von Kommunikation reden, denken wir meistens sofort an Sprache. Auch wenn Kommunikation häufig nonverbal funktioniert, durch Blicke, Gesten, Mimik. Ein Beispiel alltäglicher Kommunikation: Auf dem Weg zum Supermarkt treffe ich Marina. Wir winken uns nonverbal zu, entschließen uns, aufeinander zuzugehen und bleiben (in Zeiten des Virus) in angemessenem Abstand voreinander stehen. Wir lächeln, ich frage Marina, wie es ihr gehe.
„Gut“, sagt sie, „wie es in diesen seltsamen Zeiten einem eben geht. Kaum Kontakte, Skypen macht auch keinen Spaß, man wird noch viel mehr daran erinnert, dass man isoliert ist, wenn man seine Freunde auf dem Display sieht und sie nicht anfassen kann, es gibt kaum etwas zu sagen, also redet man über Corona. Dabei hab‘ ich es echt satt über Corona zu reden. Der Urlaub ist gecancelt, dabei gibt es im Moment nichts, was ich mir lieber wünschen würde, als einfach wegzufahren, irgendwohin. Nach Italien. Ist natürlich Quatsch. Italien! Wieviele Tote haben die mittlerweile?“
„Sind ja vor allem Alte, die sterben“, sage ich, habe aber im selben Moment schon ein schlechtes Gewissen wegen dieser Äußerung. In Amerika soll ein Gouverneur gesagt haben, er riskiere lieber sein eigenes Leben und das seiner Altersgenossen, als durch den Shut-down eine katastrophale Wirtschaftskrise zu provozieren, die langfristig noch mehr Tote fordern würde und die Zukunft der jungen Menschen ruiniere.
Das könnte ich Marina jetzt genau so sagen, schweige aber. Ich habe das Gefühl, ich würde damit noch weniger über meine persönliche Situation mitteilen als mit meiner Frage, wie es Marina gehe. Denn damit habe ich zumindest zum Ausdruck gebracht, dass ich mir Gedanken mache, wie es ihr geht. Aber habe ich mir wirklich Gedanken gemacht? Sorge ich mich wirklich um Marina? Augenscheinlich geht es ihr gut. Meine Begrüßung war eine konventionelle Formel. Das sagt man halt, wenn man jemanden trifft. Nicht schlimm, das ist nur höflich. Wir beide sind es gewohnt, Höflichkeitsfloskeln zu verwenden. Daher könnte sich Marina im Klaren darüber sein, dass ich mir nicht wirklich Sorgen um sie mache. Wahrscheinlich wäre sie auch nicht sehr enttäuscht, wenn ich kurz angebunden bliebe und sagen würde, ich hätte leider gerade keine Zeit für ein Gespräch. Muss dringend Mehl kaufen.
Marina hätte auch anders antworten können, indem sie meine Frage („Wie geht es dir?“) absolut ehrlich beantwortet hätte: „Du fragst mich, wie es mir geht? Ich kann das kaum beschreiben. Je länger der Zustand anhält, desto sinnloser kommt mir mein Leben vor. Ich frage mich, wozu ich noch putze und aufräume. Einerseits bin ich froh, dass ich ein paar Tage Urlaub dazubekommen habe – de facto – weil das Homeoffice im Grunde in ein, zwei Stunden gemacht ist. Weniger, viel weniger Anfragen, Mails und so, die Betriebe sind ja irgendwie alle lahmgelegt, da passiert im Moment nicht viel. Kennst du ja. Ich komme morgens kaum aus dem Bett und abends nicht rein. Eine total depressive Stimmung. Gestern habe ich anderthalb Flaschen Wein geleert. Hat mich aber auch nicht glücklicher gemacht. Im Gegenteil. Und ich sehne mich so sehr danach, mal in den Arm genommen zu werden. Gerne auch mehr, wenn du verstehst, was ich meine. Nicht mal Tinder macht noch Spaß. Sich mit einem Typen verabreden, geht ja nicht mehr.“
Es scheint, als hätte ich eine ganze Menge über Marina und ihre derzeitige Situation erfahren. Aber ist das wirklich so? Ich habe eine Reihe von Sätzen gehört, die mich dazu veranlassen, mich in Marinas Situation der modernen Single-Frau hineinzuversetzen. In meinem Kopf wurden einige einschlägige Assoziationen ausgelöst. Ich sehe sie allein vorm Fernseher sitzen, wie sie Rotwein in großen Schlucken in sich hineinkippt, sehe sie am Morgen in ihrem Bett (beige-graue Bezüge) mit verquollenen Augen und wie sie missmutig auf ihrem Smartphone nach links und rechts wischt. Vielleicht muss ich mir Sorgen machen um Marina. Ich sollte später vielleicht noch einmal mit ihr telefonieren, damit es ihr wieder ein wenig besser geht. Es ist sehr wichtig, dass Menschen „miteinander kommunizieren“. Die Kommunikation, die damit gemeint ist, ist eine Tätigkeit, die Menschen einander bestätigt, nicht allein zu sein, wahrgenommen zu werden und mit ihren Gefühlen anerkannt zu werden. Daher ist es manchmal (oder meistens?) gleichgültig, worüber genau man miteinander redet. Beispielsweise könnte ich Marina auch von meiner Kronkorkensammlung erzählen, mich mit ihr über das Wetter unterhalten, über die Stiefmütterchen, die ich heute Morgen im Vorgarten eingepflanzt habe, egal. Es würde ihr möglicherweise ein wenig besser gehen. Viele Menschen finden emotionale Stabilität, wenn sie mit anderen reden. Streicheleinheiten wären wahrscheinlich noch besser, aber die sind in unserer Kultur weitgehend untersagt, tabu, pfui!, macht man nicht, ist übergriffig, tendenziell Missbrauch usw. (Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung sich besser fühlen, wenn sie zum ersten Mal mit einem Psychotherapeuten reden. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob der wirklich ein Therapeut ist, oder ein Hochstapler, oder nach welcher Methode er therapiert. Allein das Reden hilft – und die Illusion, das werde helfen, weil man es mit einem Profi zu tun hat. „Sie haben gerade von Ihrer Katze geredet. Erzählen Sie mehr über Ihre Katze!“ „Über meine Katze? Gern. Hilft das denn?“ „Hätten Sie Ihre Katze erwähnt, wenn sie in Ihrem Leben keine Rolle spielen würde?“ So ungefähr funktioniert Psychotherapie: Es geht nur darum, den Patienten am Reden zu halten, egal worüber… Nach der dritten Therapiestunde lässt der Effekt allerdings deutlich nach.)
„Stiefmütterchen einpflanzen? Du hast es gut, du hast einen Garten.“
“Aber der Blick aus deinem Wohnzimmerfenster ist unbezahlbar. Du kannst auf die Schlei sehen. Und das bei dem schönen Wetter! Außerdem ist es ja noch nicht verboten, spazieren zu gehen.“
„Stimmt. Wenn ich mich dazu aufraffen könnte.“
„Wir können auch mal zusammen einen Spaziergang machen. Im Abstand von zwei Metern. Und ein bisschen reden.“ Das sage ich, habe aber eigentlich gar keine Lust, mit Marina spazieren zu gehen und mir ihre Tinder-Geschichten anzuhören. Wäre ein Akt der Barmherzigkeit. Außerdem könnte Marina mein Angebot falsch verstehen. Ich will keinesfalls der Ersatz für ihre Tinder-Bekanntschaften sein. Sehe ich da nicht einen gewissen Glanz in ihren Augen?
„Spazieren gehen? Du kannst mich auch mal besuchen kommen. Zwei Menschen dürfen ja immer noch zusammenkommen.“ Sie kichert. „Mit Mundschutz, Gummihandschuhen, also mit Vollschutz gewissermaßen. Komplett eingepackt.“
Safer Sex in Zeiten von Corona, denke ich, und fürchte, dass ich schon wieder zu spät für Klopapier sein werde, wenn ich hier noch länger mit Marina herumstehe. (Ganz nebenbei: Ist Ihnen aufgefallen, dass bei dem Wort bzw. den Wörtern „zusammen“ und „kommen“ für die Bedeutung die Schreibweise extrem wichtig – okay, Sie haben es bemerkt, dann ist ja gut!)
Jetzt ist in Ihrem Kopf so nach und nach ein Bild von mir und Marina entstanden. Vielleicht sehen Sie auch schon Marina vor sich, haben eine Idee davon, wie sie aussieht, wie alt sie ist und in welchem Tonfall sie spricht. Trägt sie Make-up? Haben Sie den Chihuahua bemerkt, der schon die ganze Zeit an ihrer Leine zerrt und an meinem Hosenbein schnüffelt? Ich trage seit einer Woche die gleiche Hose. Wirkt anscheinend anziehend auf das Tier. Die Wörter und Sätze, die Sie bis hierhin gelesen haben, haben dazu geführt, dass Sie eine Vorstellung von der Szene entwickelt haben. Sie haben die Sätze und Wörter „verstanden“. Sie sind bei diesem „Verstehen“ allerdings die ganze Zeit mit Ihren eigenen Assoziationen umgegangen, mit ihren eigenen Erinnerungen und Erfahrungen. Wörter und Sätze können sehr viel Verschiedenes bedeuten. Vielleicht (hoffentlich!) habe ich Sie mit meinen Zeilen ein wenig unterhalten. Man nennt das auch INTERAKTION (im Unterschied zu Kommunikation). Sie haben sich von mir angesprochen gefühlt, fühlen sich persönlich gemeint. Das würde allerdings auch mit einem ganz anderen Thema funktionieren. Ich könnte Ihnen zum Beispiel mitteilen, dass ich mich mit drei Paketen Klopapier und zwanzig Dosen Ravioli im Klo eingesperrt und beschlossen habe, es für zwei Wochen nicht mehr zu verlassen. Dass vor der Tür bereits meine Frau, zwei Feuerwehrmänner und ein Psychiater stehen und seit einer halben Stunde auf mich einreden, ich solle doch endlich rauskommen, sonst bliebe ihnen nichts anderes übrig, als die Tür aufzubrechen. Ich drohe, mit Scheiße zu werfen, falls sie es tun sollten.
Ist das alles schon Kommunikation? Oder nur sprachliche Zuwendung? Haben Sie im Moment des Lesens die gleichen Gedanken im Kopf gehabt wie ich beim Schreiben? Wurden durch meinen Text unsere Hirne synchronisiert? Hoffentlich nicht! Funktioniert auch nicht. Wir denken zwar in Sprache, wir handeln mit den Mitteln der Sprache, aber wir haben keine Möglichkeit, eine eigene Sprache zu entwickeln, mit der wir etwas Neues zum Ausdruck bringen, mit der wir Neues benennen könnten. Unsere Sprache ist ein soziales Instrument. Sie gehört uns nicht als Individuen – eher umgekehrt: Unser sprachlich strukturiertes Wissen determiniert, wie wir uns selbst als Persönlichkeiten definieren. Wir können nur zum Ausdruck bringen, was wir mit der Sprache, die wir gelernt haben, formulieren können. Beim Spracherwerb (vom Säuglingsalter an) kommt die Sprache von außen zu uns, wir erlernen sie und entwickeln einiges Geschick bei ihrer Verwendung. Ich kann mit Sprache handeln und auf Menschen einwirken. Ich kann sagen: „Mach mal das Fenster auf!“ Und mein Sohn macht das Fenster auf. Oder auch nicht. Aber er gibt mir wenigstens zu verstehen, dass er verstanden hat, indem er mir das Schweigeeinhorn zeigt. Meine Handlung ist also nicht wirkungslos gewesen (Stichworte für die weitere Recherche: Interaktion, Sprechakttheorie, die britischen Vertreter der „Ordinary Philosophy“).
Das „Schweigeeinhorn“ – selbst so ein schwieriges Wort verstehen Sie, denn Sie haben das Wort sofort in dem Kontext wahrgenommen, in dem es Ihnen gemeinhin begegnet. Sie haben nicht gedacht: „Warum redet der jetzt von einem schweigenden Einhorn? Außerdem gibt es gar keine Einhörner.“ Sie haben sofort begriffen, dass mein Sohn mir den Mittelfinger (wahlweise Stinkefinger) gezeigt hat, als ich ihn aufforderte, das Fenster zu öffnen. Dabei mieft es in seinem Zimmer ganz furchtbar und es wäre wirklich nötig, dass er endlich mal lüftet und die Pizzakartons in die Papiertonne bringt.
Kontexte
Kontext: Dieser Begriff ist Ihnen schon oft begegnet. Zum Beispiel im Deutschunterricht. Kontext unterscheidet sich von Ihren persönlichen Assoziationen zu bestimmten Wörtern, Sätzen, Bildern und Situationen dadurch, dass Kontext definitionsgemäß das Umfeld ist, in dem ein Wort, ein Text oder ein Bild objektiv auftaucht. Kontext bedeutet, dass (um der Einfachheit halber bei einem Wort zu bleiben) ein Text immer innerhalb eines größeren „Textes“ auftaucht. Jeder Text, jede Äußerung ist eingebettet in einen „Text“ von noch viel größeren Ausmaßen. Der Kontext erklärt uns, wie ein Text oder eine Äußerung zu verstehen ist. Warum „Text“? Der Kontext kann auch ein Ort, eine Umgebung sein, also rein Materielles. Aber wenn Sie diese Materie detailliert beschreiben, haben Sie wieder einen Text. (Beispiel: „Er las ihren Brief, als ihm das Wasser in der Kajüte bereits bis zum Hals stand. Er bemühte sich gar nicht mehr, seine Füße zu befreien, die George mit Kabelbindern …“ usw. Der Kontext der Brieflektüre macht deutlich, welchen Stellenwert der Brief für den todgeweihten Leser gerade hat. Ich wüsste zu gern, was in dem Brief steht. Habe aber gerade keine Zeit, mir das jetzt auch noch auszudenken. Außerdem muss ich noch Mehl und Klopapier kaufen. Schon vergessen?)
„Haben wir uns nicht auch schon auf Tinder getroffen?“ Der Satz hat eine ganz bestimmte Bedeutung, wenn Marina ihn sagt, als wir uns verabschieden und gerade ein bis unters Kinn tätowierter Bandido in frisch eingefetteter Lederjacke einen Einkaufswagen voller Klopapier an uns vorbeischiebt.
„Wie bitte?“
„Na, auf Tinder. Du bist der Typ mit der Perücke und der großen Sonnenbrille. Ich hab‘ dich genau erkannt.“
Der gleiche Satz („Haben wir uns nicht auch schon auf Tinder getroffen?“) hat eine völlig andere Bedeutung, wenn ich ihn zu Marinas Chihuahua sage, nachdem ich mich zu ihm hinunter gehockt und ihm mit dem Finger auf die feuchte Nase gestupst habe. „Du süßer Fratz, du!“
„Mein Schoßhündchen verleihe ich nicht, Alter!“
Pointe verpasst? Siehe da, Marinas Bemerkung ist tatsächlich nicht oder nur halb zu verstehen, wenn man die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Schoßhündchen“ nicht kennt (siehe dazu den Wikipedia-Artikel zu „Schoßhund“!). Kontext eben! In diesem Falle liegt der Kontext im Weltwissen von „Sender“ und „Adressat“. Niemand hat das komplette Weltwissen im Kopf, aber heutzutage haben die meisten Menschen weitreichenden Zugang zum aktuellen Weltwissen. Zum Beispiel über Wikipedia. Sie haben es sich vermutlich nicht nehmen lassen, bei Wikipedia den „Schoßhund“ zu suchen. Und schon haben Sie sich zunutze gemacht, dass in dem Artikel wichtige Begriffe mit eigenen Artikeln verlinkt sind. Daher sind Sie als historisch interessierter Mensch schon beim Artikel über die Renaissance angelangt, oder haben sich für das Fachwort „Cunnilingus“ interessiert. Wikipedia ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie jeder Sachverhalt in verschiedenste Kontexte eingebunden ist. Alles hängt mit allem zusammen.
Wir haben den Kontext (oder zumindest wesentliche Aspekte davon) im Kopf zwar meistens parat und verstehen darum die meisten Äußerungen, „wie sie im Kontext gemeint“ waren. Aber die Kontexte sind eigentlich etwas, was da draußen und nicht in meinem Kopf ist. Allerdings ist das menschliche Gedächtnis sehr leistungsfähig. Man kann sich Dinge merken. Trotzdem, der eigentliche Kontext ist nicht in meinem Kopf, sondern irgendwo in der Wirklichkeit jenseits meiner Hirnwindungen. Wenn ich „Bombe“ in einem Passagierflugzeug sage, ist das Flugzeug der Kontext. Mehr noch: Der Kontext ist die Tatsache, dass es bereits diverse Bombenanschläge oder Anschlagsdrohungen in Verbindung mit Passagierflugzeugen gab. Dass Menschen in Panik geraten können, wenn sie in diesem Kontext das Wort „Bombe“ hören. Zum Kontext gehört auch, dass Menschen, die in Flugzeugen dieses böse Wort gesagt haben, bereits verhaftet und bestraft wurden. Zum Kontext gehört eine Welt, in der Terroristen Anschläge verüben, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Zum Kontext gehört eine Welt, in der Reichtümer ungleich verteilt sind usw. Gewissermaßen kann man den Blick immer weiter ausweiten, wenn man nach den Kontexten sucht. Und man wird wieder einmal feststellen, dass alles mit allem zu tun hat. Trivial.
„Hoffentlich hat niemand eine Bombe in einem Koffer versteckt!“ Diese Aussage ist eigentlich ganz unverfänglich. Nicht böse gemeint. Aber sie kann in dem betreffenden Kontext Panik auslösen. Die Aussage entwickelt – unabhängig davon, was ich gemeint habe – ein Eigenleben, bzw. erhält eine Funktion und eine „Sprengkraft“, die ich nicht beabsichtigt habe. Meine Aussage wird von meinem Umfeld auf eine ganz bestimmte Art und Weise verarbeitet, die mit der Bedeutung der Aussage im Grunde nicht viel zu tun hat. Die Bedeutung wird der Aussage von außen zugewiesen, selbst dann, wenn einige meiner Mitpassagiere wissen oder ahnen, dass ich nur einen Witz machen wollte. Meine Äußerung gehört mir nicht und ich habe keinen Einfluss darauf, dass sie so von meinem Umfeld verwendet wird, wie ich sie gemeint habe.
Corona-Hasen und Kokosnüsse
Mittlerweile weiß jeder, dass man bestimmte Wörter im Flugzeug nicht sagen darf. Schwieriger wird es, wenn man noch nicht weiß, wie das gesellschaftliche Umfeld auf eine Äußerung oder ein Bild reagieren wird, weil die Handlung oder das Bild neu ist. Ein kleverer Unternehmer hat zum Beispiel die Idee gehabt, Corona-Osterhasen zu entwickeln, Schoko-Hasen mit essbarem Mundschutz und einer Klorolle am Gürtel. Hätte witzig sein können, führte aber zu Empörung und massiven Protesten. Die Häschen wurden flugs wieder aus den Regalen geräumt. Waren da wirklich einzelne Menschen empört? Was war der Grund für diese Empörung? Offenbar gibt es eine gesellschaftliche Norm, die sich blitzschnell ausgebreitet hat, die nämlich, dass man über die Corona-Pandemie keine Witze machen darf. Weil Leute sterben. Stimmt wohl, aber es sterben täglich Hunderttausende. Auch zum Beispiel durch herabfallende Kokosnüsse. Durchschnittlich werden jedes Jahr 150 Menschen von herabfallenden Kokosnüssen erschlagen. Findet man irgendwie kurios und amüsant, obwohl die individuellen Schicksale sehr traurig sind. Marinas Ex zum Beispiel ist von einer Kokosnuss erschlagen worden. Nicht im exotischen Ausland, sondern bei einer Weihnachtsfeier. Egon (Name aus Datenschutzgründen geändert) hatte sturzbetrunken mit heruntergelassenen Hosen auf einem Tisch getanzt, während sich zwei andere ebenso betrunkene Hanseln eine Kokosnuss zuwarfen. Hin und her. Immer über Egons Kopf hinweg. Fanden die witzig. Die Nuss fiel einem von ihnen aus der Hand, sie rollte ans andere Ende des Saals, wo ein blonder Bodybuildertyp sie aufhob und einfach nur freundlich sein wollte, als er sie mit Schmackes (wie man im Rheinland sagt) in die lustige Runde zurückwarf. Tragisch das. Aber Sie finden die Geschichte auch irgendwie witzig. Was nichts anderes bedeutet, dass man über lebensgefährliche Kokosnüsse Witze machen kann, nicht aber über eine Bedrohung, die im Prinzip jeden betreffen könnte (mal abgesehen von der Tatsache, dass die Sterblichkeit bei Menschen ohnehin immer noch über 99,9% Prozent liegt. Die Wahrscheinlichkeit, von einer Kokosnuss getroffen zu werden, liegt dagegen bei unter 0,01%. Macht zusammen 100).
Woher das Tabu kommt, lässt sich nicht dadurch erklären, dass viele Menschen es von sich aus geschmacklos finden, Schokohasen mit Mundschutz zu verkaufen. Das Tabu entwickelt sich unabhängig von einzelnen Individuen. Klar, es braucht jemanden, der sagt: „Wie geschmacklos! Das geht gar nicht!“ Kann er sagen. Ich kann ebenso gut sagen, dass Grapefruits aussehen wie Brüste und es sexistisch ist, sie im Supermarkt unbedeckt anzubieten. Mal ganz abgesehen von den Gurken. Würde allerdings niemanden scheren. Warum also müssen die Corona-Hasen dran glauben? Die sollten uns doch nur ein wenig aufheitern! Antwort: Weil wir in einer Zeit leben, in der wir alles richtig machen müssen und nichts mehr selbstverständlich ist (das „Dispositiv“ der politischen Korrektheit). Jede Äußerung, jede Handlung, jedes Bild könnte verdächtig sein und gegen bestimmte Formen des Anstands verstoßen. Für das, was anständig und korrekt ist, gibt es allerdings keine klaren Regeln mehr, bzw. nur die Regel, dass prinzipiell alles unanständig sein kann – je nach Kontext. Leider kann niemand alle Kontexte (qua Fettnäpfchen) überblicken. Wenn also jemand ruft: „Keine Osterhasen mit Mundschutz!“, vermuten sofort eine ganze Menge anderer, es gebe da vielleicht eine neue Anstandsregel und es sei daher nur anständig, die neue Forderung zu unterstützen. Gleichwie: Nicht der eine, der als erster gerufen hat, ist verantwortlich, sondern eine IN DER GESELLSCHAFTLICHEN KOMMUNIKATION verankerte FUNKTION, die eine augenscheinlich moralisch gemeinte Äußerung unter bestimmten Bedingungen mit einem normativen Gewicht belegt, das weitere ähnliche Kommunikationen hervorruft. Die Masse der diesbezüglichen Kommunikationen, die danach zu verzeichnen ist, erzeugt dann eine neue Norm. Ein kommunikativer Staubfänger, an dem alle möglichen Äußerungen kleben bleiben. Ein elektrostatisch aufgeladener Luftballon. Haben Sie sich mal gefragt, warum Staub sich in Ihrer Wohnung (jedenfalls am Boden, auf Parkett oder Laminat oder Fliesen) nicht gleichmäßig verteilt, sondern sich nach einiger Zeit kleinere und größere Staubflocken bilden? Oft sind es Haare, um die sich kleinere Staubpartikel ansammeln. Weil Sie in der Wohnung umhergehen (und gewissermaßen mit der Raumluft interagieren) entstehen teils chaotische Luftzüge, die die kleinen Staubflocken mit anderen kleinen Staubflocken zu größeren Staubflocken zusammenbinden. So ähnlich muss das auch mit Diskursen und Dispositiven sein (mehr dazu weiter unten). #MeToo ist so ein Phänomen, das aus einem einzelnen Hashtag entstanden ist und heute unser kritisches Denken und unser Verhalten entscheidend mitbestimmt. Ein feines Härchen sammelt viele kleine Partikel, noch weitere Haare, noch mehr Staub – bis ein riesiger Ballen daraus geworden ist, den Sie einfach nicht mehr übersehen können. Genauso sammeln sich um den Corona-Hasen aufgrund chaotisch anmutender Interaktionen von Menschen (die Raumluft der Kommunikation) Kommunikationen. (Im Lutherjahr 2017 hat eine Jugendorganisation der evangelischen Kirche im Rheinland eine Kondom-Edition mit dem Lutherwort „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ herausgebracht. Aus nachvollziehbaren Gründen wurden die Kondome gleich wieder eingezogen, als die älteren Kirchenvertreter davon erfuhren. Luther und Sex scheint eine tabuwürdige Kombination zu sein. Die Kirchen haben schon sehr lange ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität. #wollmäuseimkreuzgang)
Interessant daran ist, dass es ab einer kritischen Menge von Kommunikationen nicht mehr darauf ankommt, ob die Kommunikationen für oder gegen Corona-Hasen plädieren, für oder gegen MeToo, für oder gegen Luther-Kondome. Es kommt nur darauf an, dass überhaupt (aufgeregt) darüber geredet wird und Unternehmer, Hersteller und Verkäufer um ihre Umsätze und ihren Ruf zu bangen beginnen. Es könnte sogar sein, dass die Person, die sich als erste über die Corona-Hasen beschwert hat, ihre Äußerung bereut. Es hätte keinen lindernden Effekt, wenn diese Person sagen würde, so habe sie das nicht gemeint, und auch nicht beabsichtigt, dass alle Corona-Hasen verschwinden. Und erinnern uns die Hasen nicht eigentlich daran, dass wir uns weiter schützen müssen? Könnten wir mit diesen Hasen nicht unsere Solidarität mit Ärzt*innen und Pfleger*innen in dieser schweren Zeit bekunden? Egal! Ich jedenfalls habe meinen Teil dazu beigetragen, dass die Debatte um die Corona-Hasen fortgesetzt wird. Und darauf kommt es an. Und auch Sie helfen dieser Debatte weiter auf die Sprünge, wenn Sie jetzt auf Google nach Corona-Hasen suchen. Wieder ein paar Klicks mehr! Die Debatte (oder der Diskurs, oder die Kommunikation) nährt sich von Ihrem Interesse. Sie sind der Wirt von parasitären Kommunikationen, in Ihrem Hirn verbreiten sich sprachliche Viren, die Sie alsbald wieder ausspucken und die dann von anderen Menschen eingeatmet werden. Beim Corona-Virus würden Sie auch nicht sagen, dass er Ihre persönliche Meinung widerspiegelt – nur weil Sie ihn beim Husten verbreiten. Sprachliche Äußerungen und Überzeugungen haben beinahe genauso wenig mit Ihnen persönlich zu tun. Bevor Sie Überzeugungen und Meinungen (eventuell leicht mutiert) in die Welt posaunen, sind sie von anderswo her in Ihren Kopf geflogen.
Diskurse und Dispositive
Was wir hier sehen können, ist ein Beispiel dafür, wie ein kleiner, weitgehend unbedeutender DISKURS entsteht, der sich schließlich zu einem DISPOSITIV (s.o. #wollmaus) verfestigt. Der Diskurs empfiehlt oder legt etwas nahe, das Dispositiv legt fest: „Keine Osterhasen mit einer Konnotation, die auf Tod und Sterben verweisen könnte!“ Also auch keine Osterhasen mit Kokosnuss! Fortan bestimmt das Dispositiv auch die mit ihm zusammenhängenden Diskurse. Diskurs bedeutet: Da reden Leute über ein Thema, sie äußern Meinungen und nutzen dafür mehr oder weniger weitreichende Medien. Ob sich das Thema durchsetzt und künftig immer mehr Menschen über dieses Thema reden, wird sich erst noch erweisen. Niemand kann das vorhersagen. (Das ist wie mit den Aminosäuren in der Ursuppe, diese faszinierenden Molekülketten, die sich zumeist synthetisch herstellen lassen und also gut verstanden sind, schwimmen da rum und aus unerklärlichen Gründen verbinden sich einige von ihnen zu einem Eiweiß. Und aus noch viel unerklärlicheren Gründen haben sich irgendwann bestimmte Eiweißketten zu der ersten lebenden Zelle verbunden. Wirklich! Niemand weiß, warum das geschieht bzw. geschehen ist. Deshalb hat man ein sehr schönes Fremdwort dafür bemüht: EMERGENZ. Emergenz bedeutet, dass in einem autonomen Prozess etwas Größeres aus Einzelteilen entsteht, das kausal nicht mehr auf diese Einzelteile zurückgeführt werden kann. Oder mit anderen Worten: Kein Schwein weiß, wie das passiert ist, aber da ist etwas absolut Neuartiges entstanden! In der Biologie genauso wie in der Kommunikation ist das Ursache-Wirkungs-Prinzip ausgehebelt.) Wenn sich im Laufe zahlreicher Interaktionen das Thema durchgesetzt hat, dann verfestigen sich die Meinungen zu einer Norm, oder sogar zu einer Institution (Schule wäre so ein Beispiel für eine aus Diskursen entstandene Institution, ein Dispositiv, das maßgeblich die Diskurse über das Lernen von Kindern bestimmt). Die Norm legt nicht unbedingt fest, wie sich Menschen konkret zu verhalten haben. Aber sie legt fest, dass sie sich vor dem Hintergrund dieser Norm (und der Gegen-Norm) oder zumindest einer Fragestellung verhalten und ihr Verhalten bzw. Handeln aus diesem Blickwinkel beobachten, kontrollieren und reflektieren müssen. Beispiel: Ich kann durchaus weiter mit meinem SUV fahren. Aber ich kann es nicht mehr tun, ohne indirekt oder direkt zu meinem Verhalten Stellung zu beziehen. Der Diskurs fordert mich auf, über die Klimaerhitzung nachzudenken und meine Nutzung eines SUV im Zusammenhang damit zu betrachten und zu bewerten (sogar mich selbst als Nutzer zu bewerten). Auch wenn ich mich der Meinung derjenigen anschließe, die finden, dass es keine von Menschen gemachte Klimaerwärmung gibt. Oder dass jetzt ohnehin alles zu spät ist und ich mein Leben genießen möchte, solange es währt. Ich kann trotz der herrschenden Diskurse meine eigene Meinung haben. Aber die Diskurse bestimmen über mich in der Hinsicht, als dass ich zu ihnen eine Haltung entwickeln MUSS. Ich kann sie nicht ignorieren. Insofern gibt es für mich als SUV-Fahrer eine Welt, in der die Klimaerhitzung existiert, selbst dann, wenn ich glaube, dass das alles nur Fake-News sind. Die Diskurse und Dispositive sind eine Wirklichkeit, die außerhalb von mir existiert. Ich muss mich an sie anpassen (oder mich gegen sie auflehnen), ich kann sie als Einzelner nicht steuern oder verändern. Es gibt so etwas wie die „Materialität der Kommunikation“. Vielleicht ist es vergleichbar mit der Spekulation an der Börse. Ich kann mit meinen bescheidenen Mitteln Aktien kaufen. Aber mit meinem Kauf kann ich den Aktienhandel nicht zielgerichtet und erfolgreich manipulieren. Wenn ich Milliardär wäre, könnte ich riesige Aktienpakete kaufen. Damit würde ich zwar spürbar Einfluss auf die Aktienkurse ausüben, allerdings könnte ich nicht mit Sicherheit vorhersagen, wie die Reaktionen der Börse auf meine Investitionen aussehen würden. Steigende Kurse? Fallende Kurse? Gewinn oder Verlust? Mit Äußerungen von einzelnen Personen (oder größeren Interessengruppen) ist es ähnlich: Ich „investiere“ mit bestimmten Beiträgen in KOMMUNIKATION, aber ich kann nicht mit Sicherheit vorhersagen, wie die „Kommunikationsbörse“ darauf reagiert. In sozialen Netzwerken gehen hin und wieder bestimmte Beiträge plötzlich und unerwartet „viral“. Niemand kann so etwas planen, auch wenn viele das versuchen. Kann irgendjemand das Phänomen Bianca „Bibi“ Claßen erklären? Wird jedenfalls schwierig.
Gesellschaftliche Wirklichkeit wird maßgeblich durch Kommunikation erzeugt – und durch Kommunikationen aufrecht erhalten. Es ist nicht einmal notwendig, dass Menschen diejenigen sind, die kommunizieren, das können (im Internet) in vielen Fällen auch Bots übernehmen. Die Kommunikation steuert sich selbst, sie besitzt ein faszinierendes wie bedrohliches Eigenleben. Sie verarbeitet nur diejenigen Kommunikationen, die ihrem Selbsterhalt dienen. Unpassende Kommunikationen ignoriert sie. Das Eigenleben der Kommunikation muss nicht unbedingt sinnvoll sein. Wir leben in einer Welt, in der deutlich wird, dass uns die AUTONOMIE der Kommunikation an den Rand des Abgrunds treibt. Das hat damit zu tun, dass es im Grunde genommen nicht DIE Kommunikation gibt, sondern viele verschiedene von einander getrennte KOMMUNIKATIONSSYSTEME. Die Theorie sozialer Systeme, die durch Kommunikation gebildet werden, würde an dieser Stelle zu weit führen. Aber wenn Sie sich vorzustellen versuchen, dass es zum Beispiel ein Politiksystem gibt und ein Wirtschaftssystem und ein Rechtssystem und ein Kunstsystem und viele weitere Systeme mit einer je eigengesetzlichen Kommunikation, dann ahnen Sie vielleicht auch, dass das Wirtschaftssystem nicht von dem Politiksystem ferngesteuert werden kann, und das Politiksystem nicht von einer Bewegung, die „Fridays For Future“ heißt. Und FFF nicht vom Wissenschaftssystem, auch wenn da ein enger Zusammenhang behauptet wird. FFF funktioniert eben nicht wie Wissenschaft. Und die Wissenschaft hat es jahrzehntelang nicht vermocht, die Politik von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass die industriellen Emissionen drastisch reduziert werden müssen. Kommunikation im Politiksystem funktioniert eben anders. Das ist so, weil jedes soziale System eine eigene kommunikative und autonome Sphäre mit eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt hat, die in anderen sozialen Systemen nicht unbedingt gelten. Sogar Politiker verzweifeln daran, dass sie im Politiksystem nicht tun können, was sie wirklich für richtig halten, weil das Politiksystem abweichende Kommunikationen entweder aussortiert oder sanktioniert. Zu kompliziert? Ist es. Sie müssen das nicht verstehen. Aber es lohnt sich, sich mit diesen komplizierten Zusammenhängen zu befassen. Irgendwann.
Bilder
Kommen wir nun zu den Bildern. Auch Bilder stellen Kommunikationen dar. Viele würden vielleicht sagen, sie seien Mittel zur Kommunikation. Dann würde man sie allerdings als Werkzeuge missverstehen, mit denen Menschen miteinander kommunizieren. Aber: „Menschen können nicht kommunizieren […]. Nur Kommunikation kann kommunizieren“. Menschen verarbeiten oder verbreiten Kommunikationen (oder „Kommunikate“, wie manche Wissenschaftler sagen würden). Das Unternehmen bzw. das Lifestyle-Magazin „Fit for Fun“ hat ein Foto veröffentlicht. Es lässt sich daraufhin untersuchen, wie es an Kommunikation beteiligt ist.
Wir sehen sofort, dass die auf dem Foto abgebildeten Personen dabei sind, Sport zu treiben. Wir kennen die entsprechende Funktionskleidung aus anderen Abbildungen, aus Filmen, aus der eigenen sportlichen Praxis, weil wir selbst beim Sport ähnliche Kleidung tragen usw. Wir wissen auch sofort, dass die seltsame Haltung, in der sich die Beiden befinden, eine gymnastische Übung sein muss und kein Begrüßungsritual oder ein Balztanz. Gleich werden sie sich in Bewegung setzen und weiter durch den Wald laufen. Wir wundern uns nicht über das, was wir sehen und fragen uns auch nicht, warum der Hund keine bunte Funktionskleidung trägt. Könnte er ja, der beste Freund des Menschen. Das Bild gehört zu einem Dispositiv, das noch nicht sehr alt ist und das von uns fordert, Sport zu treiben. Vor zweihundert Jahren gab es das in dieser Form noch nicht. Aber es geht nicht nur um Sport. An diesem Bild sind mehrere verschiedene soziale Kommunikationssysteme beteiligt, sie überlagern sich:
Das Gesundheitssystem. Wir müssen uns wegen unserer bewegungsarmen Berufe in unserer Freizeit fit halten. Dann leben wir länger und sind im Beruf verlässlichere Arbeitnehmer, die nicht so häufig krank werden. Kränkliche Arbeitnehmer sind zu teuer.
Insofern spielt hier auch das Wirtschaftssystem eine Rolle. Wegen der gesteigerten Arbeitskraft. Aber auch weil wir Konsumenten von Funktionskleidung sein sollen. Mit dieser Kleidung würden wir keinesfalls in einer Bank arbeiten. Wir brauen beim Sport dringend Funktionskleidung, die deutlich macht, dass das, was wir gerade tun, Sport ist und nichts anderes. Durch unseren Sportdress zeigen wir, dass wir gesund leben und modebewusst sind. Wenn jemand mit Alltagskleidung und Straßenschuhen durch einen Wald rennt oder durch eine Fußgängerzone, dann nehmen wir nicht an, dass diese Person gerade Sport treibt. Dann ist sie vielleicht auf der Flucht – oder verrückt.
Wir lernen auch etwas über Schönheitsideale: Frauen haben lange Haare und einen knackigen Hintern, der in diesem Bild besonders betont wird, denn der Mann streckt seinen Hintern nicht so raus wie die Frau. Sähe auch albern aus, finden Sie nicht? Männer haben Muskeln und dürfen auch etwas kräftiger gebaut sein.
Bewegung in der Natur scheint den Menschen besonders gemäß zu sein. Wir sehen Bäume, Gras und Büsche. Was wir nicht wahrnehmen, ist, dass diese „Natur“ Teil einer künstlich geschaffenen Kulturlandschaft ist. Hier ist sogar der Weg asphaltiert.
Die beiden Menschen könnten ein Paar sein, so wie sie sich berühren. Eine Frau und ein Mann. Wir haben es hier mit dem herrschenden Dispositiv der Heterosexualität zu tun. Warum begrapschen sich hier nicht zwei Männer? Heterosexualität ist eben das „Normale“. Und zu dieser Normalität gehört heutzutage auch, dass man eher mit seinem Hund als mit seinen Kindern draußen herumläuft. Hunde gehören zum perfekten Glück einfach dazu! Mit Kindern geht man auf den Spielplatz oder zur Eisdiele.
Das Bild transportiert alle diese Normen – und wahrscheinlich noch einige mehr. Indem wir selbst Sport treiben und uns die dazu passende Kleidung kaufen (und den passenden Hund), erfüllen wir die Forderungen der zuständigen Dispositive (oder Kommunikationssysteme). Wir eignen uns die Normen an und glauben, wir erfüllten uns damit eigene, sehr persönliche Bedürfnisse. Es mag sein, dass wir das Bedürfnis haben, uns zu bewegen, uns zu verausgaben. Sicher ist das allerdings nicht. Anthropologen bescheinigen den Menschen vermutlich eine ursprünglich ausgeprägte Faulheit. Klar, auf der Jagd mussten die Urmenschen weite Strecken zurücklegen. Aber wenn sie nicht mussten, haben sie es auch gelassen. Über vierzig Kilometer zu rennen, hat nicht mehr viel mit der Natur des Menschen zu tun. Haben Sie schon mal Menschen nach einem Marathon kotzen und zusammenbrechen sehen? Haben Sie mal Boris Becker laufen sehen? Sport kann ziemlich ungesund sein, Leistungssport ist es fast immer. Aber was sage ich da? Mit meinem Urteil, Sport sei ungesund, bediene ich nur wieder das Sport-Dispositiv. Ich teile Meinungen mit, die ich irgendwo mal aufgeschnappt und mir zu eigen gemacht habe. Und es gibt genügend andere, die von den Gesundheitseffekten des Sports erzählen könnten. Ich bestätige mit meinem Beitrag nur, dass Sport ein für die Menschheit wichtiges und unverzichtbares Thema (oder Dispositiv) ist. Ich helfe mit, den Sport als Kommunikationssystem am Leben zu halten. Ich REDE zwar negativ über den Sport, aber ich helfe dem Sport dadurch, weiter im Gespräch zu bleiben und dadurch wichtig zu erscheinen. Selbst wenn ich meinen Fußweg zur Schule als Sport bezeichne, bestätige ich (trotz meiner Verachtung für die Ideologie des Sports), dass Sport ein diskurswürdiges Thema ist. Ich entkomme dem Sport nicht. Selbst wenn ich auf die Frage, ob ich Sport treibe, sage: „No sports!“ und dafür ein ironisches Lächeln ernte und hören muss, dafür sei ich aber ganz schön beweglich, merke ich, dass ich meinen Körper nicht jenseits des Sports denken kann. Ich bin sogar stolz, noch so fit zu sein, OBWOHL ich keinen Sport treibe. Ich kann meinen Körper und mein Wohlbefinden nicht jenseits von Sport denken und beurteilen. Gemessen an meinen Sport treibenden Freunden bin ich vergleichsweise fit. Auch wenn ich bereits nach fünf Kilometern Laufen kotzen müsste und nicht erst nach 42. Kondition ist nicht so mein Ding. Dafür müsste ich schon regelmäßig laufen. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sollte mal wieder Sport treiben.
Exkurs
Seit ich mich bei Instagram angemeldet habe, begegnen mir extrem häufig Bilder von alleinstehenden oder zumindest kinderlosen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die Fotos ihrer Hunde posten. Ich muss zugeben, dass ich Hunde allenfalls aus der Entfernung mag und mir auch zwischendurch vorgestellt habe, wie Marinas Chihuahua von einem SUV geplättet wird. Ich habe kein schlechtes Gewissen bei derlei Fantasien – allerdings ein schlechtes Gewissen, dass ich kein schlechtes Gewissen habe, also eine Art Meta-Schlechtes-Gewissen. Dass „Geistesarbeiter*innen“ offenbar ein Faible für Hunde haben, könnte einerseits an ihrem Beruf liegen, der sie für Hundeliebe (siehe auch: Zoophilie) besonders sensibilisiert. Es könnte aber auch an der wirtschaftlichen Situation liegen, mit der Schriftsteller*innen zu kämpfen haben. Die ist nämlich zumeist äußerst prekär. An Familiengründung ist da oft nicht zu denken. Und wenn man keine Familie gründen kann, ohne den Traum vom eigenen Buch aufzugeben, dann sind oft auch die Liebesbeziehungen anfällig für plötzliche Trennungen. Ein Hund dagegen ist Garant für Zärtlichkeit, Treue und unproblematische „Kommunikation“. Wie bitte? Kann man mit Hunden kommunizieren? Leider nein. Aber wir können mit Hunden INTERAGIEREN. Und das tut vielleicht manchmal gut. Ungefähr so gut, wie mit Marina ein längeres Gespräch zu führen oder mit ihr anderweitig „vollgeschützt“ zu interagieren.
Obst und Gemüse
Apropos Obst und Gemüse: Erinnern Sie sich an mein absurdes Beispiel mit den Grapefruits? Offenbar gar nicht so weit hergeholt. Es gibt eben keine wirklich originellen Ideen. Bis gerade eben wusste ich nicht, dass diese Netto-Werbung existiert (oder hatte es vergessen…). Immerhin habe ich dafür gesorgt, dass Sie Grapefruits nicht mehr anschauen können, ohne dabei an Brüste zu denken (und haben Sie mal original österreichische Germknödel gesehen?).
Sie ahnen es schon: Diese Nettowerbung kam Ende 2019 nicht gut an. Dabei war sie wirklich gut gemeint. Unverpacktes Obst und Gemüse kann durchaus sinnvoll für die Umwelt sein. Glaube ich jedenfalls. Das finden auch viele Verbraucher im Netz. Trotzdem gab es einen regelrechten Shitstorm: „[…] das Stichwort „zeitgemäß“ scheint der Marktingabteilung oder der beauftragten Werbeagentur wohl nicht so viel zu sagen. Anders lässt sich der aktuelle Reklameaufschlag nicht erklären: Da halten junge Frauen Äpfel oder Paprika vor ihre Brüste, da bedecken Männer ihren Penis mit Kopfsalaten und daneben prangt die Zeile „Nackte Tatsache„. Dass die armen Models dabei auch noch völlig entrückt und leicht irre vor sich her grienen, lassen wir mal außer acht“, schreibt der Stern. Und weiter: „Bleibt die Frage: Wer findet im Jahr 2019 eine solche Werbeidee richtig gut? Die User in den sozialen Netzwerken schon mal nicht. Von „Dein Ernst, Netto“ bis zu „sexistischer Kackscheiße“ reicht da die Bandbreite. „Neulich bei #Netto: ‚Wir machen Werbung für unser unverpacktes Gemüse. Ideen?‘ ‚Wir könnten was mit Zwischenebene machen, wie…‘ ‚NE NACKTE!!!!! Wir nehmen ne Nackte, die sich die Hupen mit Gemüse bedeckt!‘ Allgemeines Nicken brandet in donnernden Applaus. Tränen kullern“, kommentiert ein anderer Twitter-User. „Unfassbar, dass so eine Werbung heute noch möglich ist… Für Dich zum mitschreiben Netto-Marken-Discount: Verpackungen reduzieren ja, aber Sexismus nein!“, schreibt ein anderer User. Und eine andere Userin kommentiert: „Ich finde diese Art Werbung sooo unnötig und einfallslos.. Egal ob mit Männlein oder Weiblein.“
Verstehen Sie das? Ich nicht. Aber was wir feststellen können, ist, dass offenbar ein DISPOSITIV entstanden ist, das Nacktheit in Werbung heutzutage grundsätzlich ächtet. Interessant ist, dass die Argumente sogar selbst mit sexistischen und misogynen Aussagen daherkommen dürfen: „Wir nehmen ne Nackte, die sich die Hupen mit Gemüse bedeckt!“ Es ist anzunehmen, dass der betreffende Twitterer gar nichts gegen den Anblick nackter Frauen hat, vielleicht sogar ein eifriger Pornokonsument ist. Aber Werbung scheint eine davon abgetrennte Sphäre zu sein. Und dazu aufgefordert, die Netto-Werbung zu kommentieren, bezieht er dazu Stellung, wie es die Frage („Wer findet die Werbeidee gut?“) nahelegt. Die Frage impliziert nämlich schon die gültige Auffassung, mit Nacktheit dürfe nicht für Produkte geworben werden. Jetzt gilt das auch schon für beide Geschlechter, was man für einen Fortschritt halten könnte.
Der misogyne Kritiker hat vermutlich nicht seine eigene (durch langes Reflektieren erarbeitete) Meinung kundgetan, sondern nur interaktiv, das geltende Dispositiv gestärkt, weil das seiner Meinung nach (???) von ihm erwartet wird. Vermutlich ist er persönlich nicht besonders spießig, aber er leistet mit seinem Kommentar einen Beitrag dazu, unsere Gesellschaft noch ein wenig spießiger zu machen.
2012 – das nur nebenbei – durften Kunden in Süderlügum in einem Supermarkt an einem Tag sogar bis zu einem Preislimit umsonst shoppen, wenn sie „blank zogen“.
Muss ich nicht unbedingt haben, aber schlimm finde ich das auch nicht. Angesichts wirklich sexistischer Werbung ist die Netto-Werbung harmlos und eher niedlich. Offenbar gibt es auch eine gewisse Zahl an Menschen, die gerne mal nackt einkaufen würden. Auch in Museen werden seit längerer Zeit hin und wieder abendliche Nacktführungen angeboten, und das Nacktwandern auf ausgewiesenen Strecken in ausgedehnten Wäldern ist auch schon seit Längerem in Mode.
Der lange währende Kampf von Feministinnen gegen sexistische Werbung hat augenscheinlich Früchte getragen. Was durchaus zu begrüßen ist, wenn man sich einschlägige Beispiele ansieht.
Aber über ein diskursiv erzeugtes Dispositiv hat irgendwann niemand mehr die Kontrolle, es macht sich einfach selbstständig und schüttet sprichwörtlich das „Kind mit dem Bade“ aus. Und es kleidet sich mit dem Etikett eines überindividuell gültigen moralischen Wertes. Es dauert nicht lange, dann reagieren wir alle auf Nacktheit in der Werbung spontan ablehnend und empört. Und wir glauben wirklich, unser spontanes, affektives Urteil komme aus tiefstem Herzen. Und das ist dann auch so. Wir empfinden wirklich diese tiefe Abneigung. Und was ist persönlicher als ein Gefühl?
Die Netto-Werbung ist nur ein sehr harmloses Beispiel. Auf Nacktheit in der Werbung können wir schmerzlos verzichten. Schlimmer wird es, wenn es andere Dispositive und Diskurse sind, die sich in unsere Herzen versenken: Antisemitismus, Ausländerhass, die Überzeugung, dass Greta Thunberg nervt und den Klimawandel übertreibt, sogar lügt, um ein lukratives Geschäftsmodell am Laufen zu halten; Nationalismus, Totalitarismus, Nationalsozialismus. Alle diese Überzeugungen und Ideologien sind kommunikative Phänomene, die nicht oder nur schwer zu bändigen oder kontrollieren sind. Weil sie sich durch Kommunikation gestützt und verstärkt werden. Platt gesagt: Das zur Zeit wieder aufkeimende Dispositiv des Faschismus profitiert sogar noch vom Antifaschismus, weil der Antifaschismus Faschismus thematisiert. Interessanterweise stammt der Begriff des Faschismus sogar von seinen Gegnern.
Das Kommunikationsmodell der Systemtheorie ist problematisch
An dieser Stelle kommen wir zu einem äußerst problematischen Aspekt der Luhmann’schen Systemtheorie. Wenn wir davon ausgehen, dass „nur Kommunikation kommunizieren“ kann, dann sind die einzelnen Individuen in einer Gesellschaft dieser sich verselbständigenden Kommunikation ohnmächtig ausgeliefert. Nicht einmal Kritik hilft. Denn die Kritik Einzelner dürfte schon wieder abhängig von der Sphäre der Kommunikation sein, also selbst schon wieder ideologisch. Kann es da noch objektiv Richtiges und Falsches geben? Lohnt es da überhaupt noch, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu analysieren und Verbesserungsvorschläge zu machen? Die Politik zum Beispiel ist beinahe resistent gegen objektiv sinnvolle Vorschläge, wenn sie nicht zu den Eigengesetzlichkeiten der Politik passen. Ist es nicht zum Verzweifeln, dass Greta Thunbergs Mahnungen und Forderungen beinahe wirkungslos verhallen? Fasst man sich nicht an den Kopf, wenn selbst die Grünen nur 60 Euro für eine Tonne CO2 fordern (vorher sogar nur 30 Euro)? Die Ohnmacht, die wir Tag für Tag erfahren müssen, scheint dem Modell von Luhmann recht zu geben. Aber es ist eben nur ein theoretisches Modell. Genauso wie Foucaults Modell von Diskursen und Dispositiven. Beide Modelle habe ich hier nicht wirklich korrekt wiedergegeben. Schon sie so zu vermischen, wie ich es getan habe, ist eigentlich nicht zulässig. Es zu tun, erschien mir zweckmäßig, dem Zweck geschuldet, über Kommunikation aufzuklären. Wenn wir von den Modellen der Soziologen (Luhmann und Foucault) zu denen der Philosophen wechseln, begegnen wir auch wieder anderen Bildern des Menschen. Viele philosophische Theorien stellen die Freiheit und die Würde des Menschen ins Zentrum. Aus der Perspektive der Philosophie lohnt das Aufbegehren gegen übermächtige Systeme und Ideologien. An erster Stelle steht die Selbstaufklärung der Menschen, wie sie Immanuel Kant gefordert hat. Einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leistet jeder Einzelne, wenn er versucht, die irrationalen Mechanismen der Kommunikation zu analysieren und zu durchschauen – um dann neue Diskurse zu starten. So wie Greta Thunberg.
Steve de Shazer und Insoo Kim Berg haben die therapeutische Wunderfrage in der klinischen Praxis bei der Therapie psychisch Erkrankter entwickelt. Sie wird in etwa so eingeleitet: „Nach unserer Sitzung heute gehen Sie (der Patient/die Patientin) nach Hause, am Abend tun Sie, was Sie immer tun, vielleicht sehen Sie etwas fern, gehen ins Bett, lesen noch ein wenig in einem Buch, Sie werden müde, schalten das Licht aus und schlafen ein. Während Sie schlafen jedoch geschieht ein Wunder. Sie wissen nicht, wie es geschieht, und Sie wissen, wenn Sie am Morgen erwachen, zunächst auch nicht, was geschehen ist. Aber das Wunder, das sich über Nacht ereignet hat, hat die Probleme, derentwegen Sie in die Therapie gekommen sind, beseitigt. Einfach so. Ohne Ihr Zutun. Ihre Probleme wurden durch das Wunder einfach in Luft aufgelöst. Woran würden Sie, wenn Sie aufwachen, erkennen, dass dieses Wunder stattgefunden hat? Wie würde sich Ihr Tag gestalten? Welche Veränderungen an sich selbst würden Sie wahrnehmen? Welche Veränderungen würden Sie an den Menschen Ihrer Umgebung wahrnehmen? Was würden Sie tun? Was würde sich ändern?“
Aus dem konkreten therapeutischen Setting herausgelöst, in dem es um wirksame Änderungen eines einzelnen psychischen Systems geht, und übertragen auf gesellschaftliche Probleme bekommt die Wunderfrage utopische Dimensionen. Imagine! John Lennon hat die Wunderfrage gestellt und bei seinem imaginären Kehraus zum Mitsingen kurzerhand Himmel, Hölle, Religion, Kapitalismus und Nationalstaaten entsorgt. In seiner Vision stellt sich unmittelbar Friede unter den Menschen ein, denn niemand muss mehr für irgendein höheres Ziel töten oder sterben, niemand mehr hungern. Easy!
Tatsächlich aber sind die Probleme vielfältiger, verschachtelter, verwobener. Schon sie in der kritischen Analyse überhaupt zu identifizieren, bedeutet, Richtiges von Falschem unterscheiden zu müssen und dabei auch in der Wertung richtig zu liegen. Den von einem Krebsgeschwür befallenen Lungenflügel kann der Arzt im Extremfall komplett herausschneiden, die vom Krebs durchwucherte Leber dagegen nicht. Ganz abgesehen davon, dass das Bild vom gesunden (Volks-)Körper selbst schon auf die falsche Fährte führt, der nämlich, es gehe bei der Gesundung um die Totalität eines Organismus respektive einer Gesellschaft, deren Teile ihr als Ganzer untergeordnet sind. Wenn es um den Organismus geht, hat die einzelne Zelle keine Bedeutung mehr. Sie ist verzicht- und ersetzbar, sie wächst nach. Aus einem kranken Organismus können Teile entnommen oder herausgebrannt werden. Der Organismus sorgt im Heilungsprozess für Ersatz, oder das insuffiziente Herz wird durch das eines Verstorbenen ersetzt. Medikamente killen Krebszellen, aber eben auch harmlose Schleimhautzellen, jedenfalls verhindern sie ihr Wachstum. Für den guten Zweck nehmen es Arzt und Patient in Kauf.
Dieser Blick auf den sanier- und optimierbaren biologischen Organismus entspricht in vieler Hinsicht dem auf die durch nationale Grenzen eingehegte Gesellschaft, den Nationalstaat. Nicht selten wird der Staat im animistischen Bild des notorisch kranken Patienten personifiziert. Schon Ende des 17. Jahrhunderts hatte Thomas Hobbes den Staat als lebendiges, nach menschlichen Vernunftprinzipien geformtes und agierendes Meta-Wesen gezeichnet (das von Vitalität allerdings noch strotzte). Dieses Bild bestimmt nachhaltig unser Nachdenken über dessen Probleme: Gesellschaftliche Probleme sind Probleme, die eine Gesellschaft oder eine Nation (resp. Staat) hat. Ist eine Gesellschaft krank, sind die Ärzte und Quacksalber nicht weit. Entsprechend laut sind die Rufe nach dem Skalpell. Sie dröhnen immer lauter. Von allen Seiten. Ob „Nazis raus“, oder „Ausländer raus“, es geht um die Beseitigung Einzelner oder ihrer Meinungen aus dem gesellschaftlichen Korpus. Es geht um die Schachmattsetzung der für Missstände Verantwortlichen, darum, Menschen mundtot zu machen, die Unwahrheiten oder sogar bewusste Lügen verbreiten. Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper, Gifte und Schlacken müssen ausgeschieden werden, der Körper hat seine eigenen unwandelbaren Diskurse, er ist das Dispositiv für alle organischen Prozesse. Entsprechend werden die Werte und Normen top-down gedacht: Es geht um den Erhalt und die Reproduktion des Organismus‘. Dafür sind alle Mittel recht.
Zwar wird auch der demokratische Staat als ein auf Selbsterhaltung ausgerichteter Organismus verstanden, die politischen Prozesse sind durchweg selbstbezüglich. Aber ins demokratische System ist normativ die Vermittlung dieser Prozesse mit den davon betroffenen Individuen eingeschrieben. Dies, die Verfassung und die Trinität von Legislative, Judikative und Exekutive verhindern die totale Macht des Staates. Sie schützen die Individuen in einer Demokratie vor totalitärer Willkür. Ihre Mühlen jedoch mahlen langsam. Für viele Ungeduldige des beschleunigten digitalen Zeitalters zu langsam. Der Ruf nach Geschwindigkeit und Effektivität wird immer lauter, unterschwellig verbindet sich mit ihm die Projektion eines Staates, der in der Verschmelzung der drei Instanzen zu neuer Macht, zu Effektivität und neuem Glanz gelangt. „Schnellere Entscheidungen, bitte! Keine Klagemöglichkeiten für Windkraftgegner, asylsuchende Straftäter sofort abschieben, das unkorrekte Wort aus den medialen Verteilern verbannen!“ – Beispiele für Lösungen von Problemen, die nichts sind als Etiketten für Gefühle, die selbst noch gar nicht in rationale Relation zu den durch die Verfassung (das Grundgesetz) verbürgten Rechten gesetzt wurden. Schleichend – jedoch vor aller Augen – ballen sich die naiv geäußerten Befindlichkeiten und Ressentiments zu einem verfassungsfeindlichen Diskurs. Er gibt sich einen basisdemokratischen Anschein, wo er, legitimiert durch Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte, Mehrheiten für Meinungen akkumuliert und daraus Forderungen an den Staat ableitet, die auf eine Beschneidung oder gar Abschaffung verfassungsmäßiger Rechte abzielen. Der kranke „Vater Staat“ soll sich diversen operativen Eingriffen unterziehen, angeleitet von einer Schar gewitzter Meinungsführer, die es verstehen, von unbestimmten Emotionen getriebene Schwärme um sich zu versammeln. Der Staat soll Hand an sich legen und sich mit stumpfem Messer das kranke Gewebe aus dem Leib schneiden, er wird zum Aderlass gebeten, Quecksilber und Arsen merzen noch die letzten Keime und Erreger aus und alle gefährlichen Parasiten, die am Volkskörper saugen. Die herbeigebrüllten Selbstheilungskräfte könnte der Staat jedoch allein aus totaler, mindestens aber autoritärer Macht beziehen. Der Staat soll sich selbst in die Lage versetzen, jedes für problematisch gehaltene Phänomen mit starker Hand an den demokratischen Institutionen vorbei schnell und effektiv aus dem Weg zu räumen. Nur so, meint eine bedrohlich wachsende Masse von Bürgern, könne der eigene Staat im neu entbrennenden Konkurrenzkampf mit den anderen Staaten langfristig bestehen. Das vorgebliche Interesse an der Heilung des Staates ist in Wahrheit ein Kampf um die Verwirklichung von Partikularinteressen. Es keimt hier aus egoistischer Gier, dort aus irrationalen Befürchtungen, Privilegien, Wohlstand oder das Stützgerüst kulturell vermittelter Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten zu verlieren.
Die eingangs erwähnte Wunderfrage könnte für Antidemokraten so lauten: „Was würde sich ändern, wenn der Staat endlich wieder ein starker Staat wäre? Was, wenn wir die Grenzen schlössen? Was, wenn wir die intellektuellen Eliten endlich entmachtet hätten? Wenn es keine Asylanten mehr gäbe, die EU aufgelöst wäre, der eigene Staat wehrhaft als politische, militärische und wirtschaftliche Großmacht als Verteidiger nationaler Interessen in den Kampf um die versiegenden Ressourcen zöge?“
Naturgemäß kränkelt der demokratische Staat in verschiedensten Bereichen, lebensbedrohlich jedoch sind allein die antidemokratischen Tendenzen in der Bevölkerung. Sie sind vergleichbar mit einer Autoimmunerkrankung, bei der ein Organismus sich selbst attackiert und früher oder später zerstört. Die Frage ist, welche Therapie zu Gebote steht, die nicht selbst wieder eine Autoimmunreaktion wäre.
Steve de Shazer und Insoo Kim Berg entwickelten und praktizierten eine systemische Kurzzeittherapie. Möglicherweise sind einige Ansätze ihrer therapeutischen Praxis auch auf das Handeln in gesellschaftlichen Zusammenhängen übertragbar. Etwa die Überzeugung, es sei bei psychischen Störungen keineswegs angebracht, die Symptome selbst zu bearbeiten, zu analysieren und im Gespräch ihre Ursachen zu erforschen. Die Patienten kommen in der Regel erst dann zur Therapeutin, wenn sie genau das bereits zur Genüge versucht haben: das Problem selbst zu verstehen, zu kontrollieren oder zu beseitigen. Nur die klassische Psychoanalyse verspricht sich Heilung von immer mehr der gleichen Lösung: Sie buchstabiert die psychischen Störungen bis ins Detail aus und veranlasst die Patientinnen, noch weitere Kapitel zu der ohnehin schon endlosen Erzählung hinzuzudichten. Bis heute hat sich die Psychoanalyse nicht den evaluativen Verfahren unterzogen, denen sich die übrigen therapeutischen Verfahren mit unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gestellt haben. Es geht der Psychoanalyse auch gar nicht in erster Linie um Heilung, es geht um die Analyse selbst und die sprachlich strukturierten Erkenntnisse, die anschließend an dieses zeitraubende Verfahren zu Verhaltensänderungen des Analysierten führen sollen – wenn sie denn wirklich dazu befähigten. Eher wird die Analyse im Jahre dauernden Prozess zu einer eigenen Lebensform, die trotz der durch sie, zusätzlich zu den verhandelten Symptomen der Störung, provozierten Qualen (die sich immer wieder auch in glückspendendes Wohlgefallen auflösen und auflösen müssen, um den Erfolg der Therapie zu suggerieren) einen besonderen Narzissmus hervorbringt, der sich gerade von den untersuchten und in sprachliche Strukturen verwandelten Störungen nährt und darum die Heilung gerade meiden muss wie der Teufel das Weihwasser. Die Psychoanalyse ist ein selbstbezüglicher und sich selbst erhaltender Prozess.
Die systemische Kurzzeittherapie weicht dagegen den Symptomen der psychischen Störung vordergründig aus. Es hilft nicht, sie zu analysieren und ihnen ein komplexes Wortkleid anzupassen. Da der Mensch, der der Therapeutin gegenübertritt, ein hochkomplexes psychisches System darstellt, in dem (in einem wiederum extrem unterkomplexen Bild) viele Zahnräder ineinandergreifen, hilft es womöglich mehr, das System zu verändern, wo es sich verändern lässt, und gerade nicht da, wo es offensichtlich hakt. Probleme sind Probleme, weil sie so widerständig sind. Wo alle Zahnräder im System mit allem direkt oder indirekt verbunden sind, ändert die Einstellung eines zunächst peripher erscheinenden Rädchens, an dem sich aber leicht drehen lässt, das ganze System. Die Veränderung in einem dem Symptom scheinbar abgewandten Bereich des Systems beeinflusst auch das bislang für unveränderlich gehaltene Symptom der psychischen Störung. Die Heilung der Symptome geschieht im günstigen Fall ohne eine ausführliche Analyse und das Verstehen der Symptome sowie der Gründe für die psychische Störung. Das Ausbuchstabieren der psychischen Störung würde diese im Gegenteil noch weiter etablieren oder sogar ausweiten, die betroffenen Synapsen im Hirn nur weiter stärken. Der von Einschlafstörungen geplagte Patient sollte alles andere tun, als über die Beseitigung seiner Störung nachzudenken. Es würde ihn auch weiterhin am Einschlafen hindern. Schlimmer noch: Jede ausführlich reflektierte Maßnahme, die das Einschlafen befördern könnte, böte neue assoziative Anknüpfungspunkte für die Erinnerung an die Störung. Bald würden nicht nur Schäfchen mit ihrer weichen, wärmenden Wolle, sondern auch Mantras, Atemgeräusche, der Wecker, das Blättern im als Ablenkung gedachten Buch, der Anblick von Socken, der Arzneischrank und vieles andere mehr schon vor dem Zubettgehen an den Kampf um die Nachtruhe erinnern. Der therapeutische Diskurs, der die Störung selbst thematisiert, verstärkt die Störung nur.
Im übertragenen Sinn füttert der diskursive Kampf gegen die oben diagnostizierte antidemokratische Autoimmunreaktion westlicher Staaten ausgerechnet die Diskurse und Dispositive, denen der Kampf angesagt wurde. Diesem Problem, den in die Irre laufenden Diskursen auszuweichen, statt sie argumentativ zu bekämpfen und wissenschaftlich differenziert zu analysieren, bedeutet jedoch nicht, sie zu ignorieren. Sie bleiben ja jederzeit sichtbar und spürbar, sie haben eindeutige Gefühlsqualitäten: Es herrschen Hass, Missgunst, Neid, Anerkennungssucht, Eifersucht, Gier. Sie speisen unser kapitalistisches Gesellschaftssystem, das noch bis in die intimsten Zonen des individuellen Lebens hineinregiert und die Menschen sich selbst als Waren und ihre Beziehungen zueinander als Warentausch erfahren lässt. Das Unbehagen Vieler äußert sich, wo Ängste formuliert werden, wo quälende neurotische Zwänge zutage treten, es zeigt sich in Erschöpfung, Hasskommentaren, Diffamierungen, in Wut oder auch schlechtem Gewissen über objektive oder bloß empfundene Ungerechtigkeiten, in Gefühlen der Einsamkeit, fehlender Liebe, Zuwendung und Zärtlichkeit, der unerfüllten Sehnsucht nach Gemeinschaft, gegenseitigem Verstehen und Anerkennung, der verzweifelten Preisgabe von – auch kultureller – Identität zugunsten eines fluiden Marktes, der nach nicht minder fluiden Akteuren und Konsumenten verlangt.
Die Analyse der Ursachen für die Probleme entfaltet sich in unerschöpflichen Diskursen und innerhalb der sich immer weiter ausdifferenzierenden wissenschaftlichen Paradigmen. Die Analyse kennt kein Ende und immer nur vorläufige Teilerkenntnisse über die unüberschaubare Komplexität gesellschaftlicher, kultureller Verhältnisse und der Psychologie der Massen. Die daraus hervorgehenden Urteile, Bewertungen und kämpferischen Kommentare und Agitationen werden in unvorhersehbarer Weise von den herrschenden Diskursen aufgesogen, sie werden zum Rohmaterial eines bewusstlosen Kommunikationssystems, das nach eigenen Regeln kommuniziert. Überspitzt formuliert Luhmann es so: „Nur Kommunikation kann kommunizieren.“ Der antidemokratische Diskurs lässt sich nicht diskursiv kontrollieren oder lenken. Er führt ein Eigenleben – und okkupiert das Bewusstsein von immer mehr Menschen. Welchen Sinn haben da noch unsere kritischen Analysen und die durch sie begründeten Appelle und Vorwürfe, mit denen wir wider unsere Absichten den antidemokratischen Diskurs weiter anfeuern? Der Widerspruch gegen alles Falsche thematisiert dies Falsche bereits wieder und provoziert die Gegenrede. Die Rationalität des Diskurses ist die Behauptung, ihr Modus der der Unterscheidung. Diskurse verschwinden nicht durch Argumente, sie differenzieren sich durch sie nur weiter aus. Ohnmächtig vor den selbstbezüglichen Prozessen der Kommunikation, der gesellschaftlichen Wirkungslosigkeit der mit unseren Erkenntnissen, Diagnosen und Appellen verbundenen Absichten werden wir die Analysen und die diagnostische Arbeit bald so entmutigt wie erleichtert den künstlichen Intelligenzen überlassen, denen wir schon jetzt mehr zutrauen als der menschlichen Intelligenz, der humanen Vernunft. Dann werden sich die Analysen vollends als das erweisen, was sie bereits sind: selbstbezügliche Systeme mit undurchdringlichen Grenzen zur ihrerseits selbstbezüglichen, autonomen Wirklichkeit der Diskurse. Die von manchen Wissenschaftlern herbeigesehnte totale künstliche Intelligenz, eine gottgleiche „Singularität“ soll den Menschen künftig Orientierung und konkrete politische, technologische und wirtschaftliche Handlungsanweisungen geben und auf diese Weise die unerträgliche Komplexität der Wirklichkeiten auf ein Menschenmaß reduzieren. Aber schon jetzt lässt sich das Zustandekommen der Ergebnisse, die die Maschinen mit ihren selbstbezüglichen lernenden Algorithmen von Menschen nicht mehr nachvollziehen. Die Maschine verwandelt sich vom kalkulierten Ingenieursprodukt zur autonomen Black Box, der wir unser Schicksal als Menschheit irgendwann anvertrauen werden. Die intelligente Maschine wird zur Zentrale eines totalitären Super-Staates, der zum Zweck seines Selbsterhalts die ihn einst konstituierenden Individuen nur noch als problematische Manövriermasse betrachtet und jedes individuelle Leid, jede Ungerechtigkeit, jede Auslöschung, Vertreibung, Ausgrenzung, Diffamierung, Diskriminierung, Unterdrückung dafür emotionslos in Kauf nimmt.
Totalitarismus entsteht, wo eine Gesellschaft, ein Nationalstaat als autonomer, selbstbezüglicher Organismus gedacht wird, der gesellschaftliche Probleme als Symptome der Dysfunktionalität von Menschen, Gruppen von Menschen und vor allem von Kommunikationen auffasst und diese in einer Weise zu lösen versucht, dass sein eigenes Fortbestehen gewährleistet ist. Totalitarismus entsteht, wo gesellschaftliche Probleme nicht mehr vom Individuum und seinen unverbrüchlichen Rechten aus reflektiert werden. Gesellschaft und Kultur von den Menschenrechten aus zu denken und zu bewerten, was einen notwendigen Perspektivwechsel darstellen würde, macht die Sache allerdings nicht weniger kompliziert, sofern man sich getrieben sieht, zu analysieren, warum überall in der Welt gegen Menschenrechte verstoßen wird; wenn wir die Ursachen dafür in langwierigen theoretischen Disputen ausbuchstabieren und immer neue theoretische Modelle entwerfen, wie das Zusammenleben der Menschen organisiert werden müsste, damit auch im letzten Winkel der (dem Kollaps entgegeneilenden) Welt die Einhaltung der Menschenrechte gewährleistet wäre. Das denkbar menschlichste Konvolut an Werten und Normen, das auch die intelligenteste Maschine für die Menschheit nicht ersinnen könnte, steht aber schon in Stein gemeißelt geschrieben. Es sind die kategorischen Imperative einer allgemeinen menschlichen Vernunft. Sie zu befolgen bzw. ihre Verwirklichung im konkreten Handeln jederzeit zu ermöglichen, ist der Auftrag jedes einzelnen Menschen, ganz gleich, in welchem sozialen System er als scheinbar Ohnmächtiger wirkt.
Imagine! Stell dir vor, während du schläfst, geschieht ein Wunder und du erwachst eines Morgens und „alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten“! Woran würdest du bemerken, dass dieses Wunder wirklich geschehen ist? Wie wäre dein Tag? Wie begegneten dir deine Mitmenschen? Was würde sich verändern?
Stell dir vor, während du schläfst, geschieht ein Wunder und deine Hautfarbe, dein Geschlecht, deine Sprache, Religion, deine politische oder deine sonstigen Überzeugungen, deine nationale oder soziale Herkunft, dein Vermögen oder dein gesellschaftlicher Status beeinträchtigten nicht mehr dein Zusammenleben mit den anderen! Stell dir vor, dein Hass, deine Gier, deine Eifersucht, dein Neid seien über Nacht verflogen. Was würde sich für dich und die Menschen in deinem Umfeld ändern?
Stell dir vor, ein Wunder geschieht, während du schläfst. Einfach so. Du erwachst mit dem Mut, das Unrecht, das dir oder anderen Menschen geschieht, hörbar zu benennen! Was würde sich für dich und die Menschen, mit denen du verbunden bist, verändern? In deiner Beziehung, in deiner Familie, in deinem Betrieb, deiner Stadt, in deiner Partei, in der Organisation oder Institution, der du angehörst.
Für den Patienten im therapeutischen Setting stellt die Wunderfrage allein noch nicht den ersten Schritt zur Heilung von seinen Symptomen dar, im Gegenteil, sie kann ihm als zynische Zumutung erscheinen. „Wie soll ich mir das vorstellen? Ich erwache jeden Morgen mit meiner Angst. Die geht nicht einfach so weg.“ Die Heilung beginnt erst in dem Moment, wo die Fantasie sich das utopische Szenario des „Als ob“ konstruiert, wo der Patient die veränderte Situation imaginiert, in der er sich selbst anders verhalten würde als bisher und die Gemeinschaft mit anderen eine neue (wenn auch unvorhersehbare) Drift bekäme. Und wäre es auch nur die Vorstellung, wie er am Morgen entspannt eine halbe Stunde länger mit seinem Kaffee am Tisch sitzt, ohne die Angst, von den Erwartungen der anderen weiter im Übermaß getrieben zu sein. Oder die Vorstellung der Patientin, ihrer schizophrenogenen Mutter endlich mit Gleichmut begegnen zu können. Es geht um den Entwurf des eigenen Handelns unter gewandelten Bedingungen. Diese Handlungsentwürfe, diese Verschiebung der Perspektive leitet zu den Verhaltensänderungen an, die das psychische System in Bewegung setzen und es verwandeln. Es sind kreative Brechungen eingeübter Handlungsschemata. Nicht die kräftezehrenden Versuche, die Symptome selbst zu bekämpfen (gegen die Ängste andenken, dem Partner endlich mal die Meinung sagen, ihn verlassen, Selbstkasteiung, sich für seine psychische Störung selbst verantwortlich machen, die ultimative Einschlafmethode erfinden usw.), sondern Veränderungen vorzunehmen, wo sie leicht erscheinen. Und zu beobachten, was sich verändert.
Die Wunderfrage animiert dazu, das eigene Leben und das Leben mit den anderen Menschen in utopischen Dimensionen zu denken, in einem zunächst nur fiktionalen Raum des „Als ob“. In diesem „Als ob“ können wir dann vielleicht unser zukünftiges soziales Handeln entwerfen und vorwegnehmen, das ein besseres und heilsames wäre. Wie eine Stabhochspringerin, die ihren Sprung wochenlang imaginiert, bevor sie wirklich über die Latte fliegt, ohne sie zu berühren. So könnten auch wir im „Als ob“ der Fiktion neue Lebensmodelle imaginieren, die unterm Schutz eines demokratischen Rechtsstaates, der unsere Freiheit garantiert, möglich wären.
Zu selten noch folgen die Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Filme in ihrer Funktion als Reiche der Freiheit den Wunderfragen. Insbesondere die ambitioniertesten unter ihnen spiegeln vor allem das Elend und das Unrecht wider, das uns umgibt und wovon die Medien bereits zur Genüge berichten (was nötig und wichtig ist! Das ist ihre Aufgabe!). In wohlmeinender kritischer und aufklärerischer Absicht spiegeln die Autor*innen etablierte Diskurse, verorten sich (nicht selten selbstverliebt) autofiktional im Getriebe, dem sie zugleich schreibend zu entkommen meinen. Sie schreiben über Wohnungsnot, kapitalistische Heuschrecken, über Depression und Identitätsverlust im kapitalistisch organisierten Warenhaus der Beziehungen. Sie fordern dramaturgisch geschickt Respekt und Empathie für Vertriebene, Geflüchtete und Gestrandete ein. Ihren literarisch gestalteten Diagnosen des Scheiterns und des Unrechts verleihen sie vielleicht am Ende ihrer Erzählungen noch einen Schimmer der Hoffnung, weil sie ihre Leser nicht in Hoffnungslosigkeit zurücklassen wollen. Sie schüren Empörung und die Identifikation mit den Opfern der gesellschaftlichen Verhältnisse, sie sensibilisieren für das Falsche unserer Lebensweise, für die vermeidbaren Irrwege. Sie machen uns betroffen, aber führen uns doch zugleich unsere individuelle Ohnmacht vor. Immer häufiger schildern sie auch nur nonchalant ihre eigene Überforderung von den sie bestimmenden Verhältnissen und schrecken auch nicht vor dem ironisch-komödiantisch verharmlosten Bekenntnis der Resignation vor der eigenen Ohnmacht zurück. Wir Leser können zufrieden sein: „Es sind vielleicht andere Geschichten als meine eigene (oder auch eins zu eins meine Geschichte!), aber es geht den Autor*innen oder den handelnden Figuren letztlich nicht anders als mir. Als in (drohendes) Unheil Verwickelte lesen wir über die womöglich noch viel verwickelteren Anderen. Offenbar hätte es für mich schlimmer kommen können. (Oder: Für mich ist es schlimmer gekommen. Warum lese ich diesen Quatsch?) Gleichwie, ich schlage das Buch zu und widme mich wieder meinen Tagesgeschäften.“
Die literarischen und künstlerischen Fiktionen der Gegenwart stehen mehrheitlich im Dienst herrschender Diskurse. Sie brennen sie den Leser*innen weiter ins Bewusstsein ein. Statt im dialektischen Wechselspiel auch hin und wieder den Wunderfragen zu folgen und utopische Entwürfe gelingenden menschlichen Zusammenlebens zu erfinden, in denen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, in denen sich Liebe, Zuneigung, gegenseitige Anerkennung und Verantwortung entfalten. Kein langweiliges himmlisches Einerlei wäre zu erwarten, auch wenn sich zu Friede und Freude auch mal der Eierkuchen gesellen dürfte. Die Aufgabe, eine fiktionale Welt zu gestalten, in der die Menschenrechte für alle Menschen (oder zunächst nur für eine kleine Gruppe von Menschen) verwirklicht sind, in der auf abenteuerliche Weise sinnlos gewordene Normen und Traditionen überwunden werden, Konflikte originell, kreativ und friedlich ausgefochten und beigelegt werden, Liebe und Zuneigung sich vervielfachen, weiten und die von schmerzlichen Schicksalen Betroffenen in tröstlicher Weise aufgefangen werden, all das böte eine unendliche Zahl aufregender Geschichten und alternativer Lebensmodelle – so unrealistisch (eben utopisch) sie auch sein mögen. Weiter auf die kathartische Wirkung von Tragödien und zynischen Farcen zu hoffen, dürfte vergeblich sein. Die Halbwertszeit kathartischer Wirkungen ist wegen des medialen Überangebots längst überschritten.
Vom Paradies zu träumen, begleitet die Menschheit seit ihren Anfängen. Ihre Kraft beziehen die Erzählungen vom neuen, menschenwürdigen Utopia durch die Irritationen und die Empörung, die sie hervorrufen können, weil sie im harten Kontrast zu den vertrauten Normen unseres falschen, oft erniedrigenden und zerstörerischen Zusammenlebens stehen. Nicht affirmativen Kitsch, Wohlfühl-Fiktionen vom richtigen Leben im falschen, böten solche Erzählungen, sondern derbe, lustvolle Dissidenz. Sie hätten womöglich in höherem Maß als herkömmliche Erzählungen die Kraft, neue, heilsamere Diskurse entstehen zu lassen.
„Die Sache ist doch so“, sage ich zu Pjotr, „wenn Disney oder Warner einen neuen Blockbuster raushauen, verdienen die ihr Geld vor allem mit Merchandising-Produkten, T-Shirts, Plastikfiguren und dem ganzen Scheiß. Bands und Leute wie Helene Fischer verdienen ihr Geld nicht mit CDs oder Spotify, sondern mit den Konzerten – und eben mit Merchandising.“ Na und, fragt Pjotr. „Na, ist doch vielleicht so auch mit der Literatur, die verlagert ihren Schwerpunkt allmählich auch in andere Bereiche. Du schreibst ein Buch, aber es geht gar nicht mehr um das Buch, oder jedenfalls nicht nur. Es geht um die Illusionen, die um den Autor oder die Autorin gestrickt werden. Das Buch ist bloß noch der Anlass, um sich mit der Autorin zu beschäftigen. Oder mit irgendeinem angesagten Thema.“ Das war nie anders, meint Aleksander, Goethe, Schiller, Brecht, Grass, irgendwann ging’s immer nur noch um die Autoren, um ihre politischen Überzeugungen, ihre kluggeschissenen Kommentare zum Weltgeschehen, ich meine jetzt nicht Schiller oder Goethe, du weißt schon, wie ich zu Grass stehe.
Ja, weiß ich. Komisch, dass ihm wieder mal nur Männer als Beispiele eingefallen sind. Sei’s drum. „Ich meine, scheiß auf die Autorinnen! Die Romane fangen an, zwischen den Buchdeckeln hervorzuwachsen, sie fließen in die sozialen Medien hinein und beginnen da eine Art Eigenleben. Du weißt schon, dieses blöde Gerede davon, dass Autoren irgendwann hilflos vor ihren selbstgeschaffenen Figuren stehen und mit ansehen müssen, wie die ihre Geschicke selbst zu bestimmen beginnen; wenn Autorinnen begeistert von der Eigendynamik der Story erzählen und behaupten, sie seien irgendwann nur noch Zuschauer oder Chronisten gewesen, weil sich alles von allein ergeben hat. Die Sachzwänge der Fiktion. Aber wenn der Roman anfängt, vor allem in den sozialen Medien zu existieren, da ein Eigenleben entwickelt …“ Fan-Fiktion, unterbricht Al. Aleksander hasst es, wenn ich ihn Al nenne. „Nee, Al, nicht diese Nachahmungsscheiße, sondern: Der Roman geht im Internet weiter, er hört einfach nicht auf, oder er verändert sich. Das Buch ist fertig, aber dann findet so eine Art Zellteilung im Internet statt, und Mutationen. Die Figuren und die Geschichte verwandeln sich weiter, obwohl das Buch schon fertig ist. Der liquide Roman – ist das nicht die logische Konsequenz für die Literatur in der liquiden Moderne? Dass sich nicht nur die Menschen und die Identitäten verflüssigen, sondern auch die Romane? So wie die Serien? Die Leute wollen ohnehin kaum noch was Ausgedachtes lesen, die wollen was aus dem Leben der Autorinnen lesen und es soll möglichst authentisch sein. Und so ein Leben geht ja auch immer weiter. Ich glaube, Serie ist das richtige Stichwort.“ So von Staffel zu Staffel, sagt Pjotr, da steckt aber auch Kontinuität drin, das entwickelt sich vielleicht immer weiter, aber das Ganze hat Konsistenz. Bei einer guten Serie jedenfalls. „Eben. Da muss eine andere Art von Konsistenz her. Stell dir einen Roman vor, der sich permanent verändert, der nach und nach seine eigenen Varianten ausspuckt, bis er sich einerseits nicht mehr ähnlichsieht, aber andererseits sich immer mehr seinem Kern annähert, wenn’s den überhaupt gibt. Eine Phänomenologie der Fiktionen, wenn du so willst, oder eine fiktionale Hermeneutik.“ Du meinst, sagt Pjotr, du schreibst einen Roman wie „Liquid Love“ einfach weiter? „Wir beide?“ Oder du, ich, Uta und André? Hermeneutik – ganz schön hochgestochen. Schreibst du da nicht besser einen Aufsatz für eine literaturwissenschaftliche Zeitschrift?
„Nee, gerade nicht. Es müsste schon Literatur sein. Wir schreiben an unserem Lebensroman doch auch immer weiter, wir hören nie auf damit. Und wir erzählen unsere Geschichte immer wieder neu, interpretieren sie neu, vergessen, konstruieren. Und deshalb wissen wir in keinem Moment, ob wir unser Leben endlich verstanden haben, uns selbst verstanden haben. Wir müssen uns immer wieder selbst auf die Probe und unsere Überzeugungen in Frage stellen. Klar muss ein Roman irgendwann zu Ende sein, wenn er gedruckt werden soll. Aber de facto ist er dann immer noch als ein anderer möglich. So wie mein Leben auch mit einem anderen Mann möglich wäre, oder mit einer Frau. Oder wenn du dich zum Beispiel entscheiden würdest, eine Frau zu werden.“
Willst du das? Ist das eine deiner Fantasien? Dass ich mir den Schwanz aboperieren lasse?
„Wieso das? Wäre das deiner Meinung nach nötig, um eine Frau zu werden?“ Aleksander zieht sich verzweifelt die Decke über den Kopf. „Ich mag deinen Schwanz, wie du weißt, du sollst ihn ja gar nicht abschneiden. Aber wenn du es wollen würdest und es tun würdest, dann würde sich ja zweifellos etwas ändern zwischen uns. Es war auch nur ein Beispiel. Aber wenn du es wirklich tun würdest, dann wäre es doch selbstverständlich, dass ich anfange, meine Geschichte mit dir noch einmal aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Das Ereignis würde meine und deine Geschichte nachhaltig verändern. Hast du dir immer schon gewünscht eine Frau zu sein? War der Sex, den wir hatten, irgendwie immer schon lesbischer Sex? Aber mir geht es im Moment gar nicht um unser Leben, sondern um Literatur. Wer sagt, dass ein Roman ein Ende haben muss? Und dass ein Roman sich nicht verändern darf? Dass eine Autorin nicht sagen darf, Leute, es ist 2020 und am 21. Januar hat ich endlich das erste Kapitel des Romans mit dem Titel soundso verändert. Es ist nicht nur besser geworden, sondern es ist eine weitere interessante Figur dazugekommen. Seit gespannt, denn diese neue Figur wird sich möglicherweise in unseren Protagonisten verlieben, was eine ganze Menge infragestellt, das wir für unumstößlich gehalten haben. Undsoweiter. Dieser Werkgedanke – der löst sich immer mehr auf. Das Werk löst sich auf. Das ist das Schicksal der Moderne: In dem Moment, wo etwas fertig zu sein scheint, hat sich die Welt, in die dieses Etwas gestellt wird, schon wieder so sehr verändert, dass sich dieses Etwas diesem Wandel sofort anpassen möchte und seine Gestalt verändert. Denk einfach an den Berliner Flughafen! Neue Bauvorschriften, neue Baustelle, Eröffnung zum siebten Mal verschoben. Der Online-Roman der Zukunft verändert sich laufend, ist unfassbar und formlos wie eine Amöbe im Heuaufguss. Oder so.“
Und wird nie fertig. So wie der Berliner Flughafen. Aber dein Geld musst du dann immer noch mit dem Buch, ich meine, mit dem gedruckten, fertigen Buch, verdienen, sagt Aleksander. Aber das ist ja jetzt schon fast unmöglich. Internet ist noch kein Merchandising. Wenn klar ist, dass dein Buch noch gar nicht fertig ist, wenn es erscheint – aus welchem Grund sollte es dann jemand kaufen? Die Leute leben ein unfertiges und oft genug unbefriedigendes Leben – warum sollten sie sich dann auch noch ein unfertiges Buch kaufen? Wenigstens der Roman sollte ein Ende haben, am besten ein Happy End, ein Ende, das sein Licht auf die zurückliegende Geschichte wirft und ihr Sinn verleiht. Also: warum ein unfertiges Buch?
„Einfach weil es eine geile Idee ist und es nicht mehr diesen Moment gibt, wo du dir sagst: Ich habe nur noch drei Seiten zu lesen, dann ist der Roman zu Ende, aber ich möchte weiterlesen, weiter, immer weiter. Die Leute wollen vielleicht ein richtiges Ende haben, aber im nächsten Moment wollen sie, dass es sofort weitergeht, also eben noch nicht zu Ende ist. Und ja, geil ist auch, wenn die Figuren nicht dieselben bleiben. Denn ich möchte auch nicht immer dieselbe bleiben.“
André Kertész
Du möchtest vielleicht auch noch irgendwann mal ein Mann sein. Und einen Gummipenis in der Hose tragen.
„Oder unterm Rock.“
Woher weißt du, dass du damit nicht einer fatalen Ideologie aufsitzt, die dich langfristig total aushöhlt? Mit dieser Idee der liquiden Persönlichkeit und dem liquiden Roman, das ist ja bloß die Fortsetzung oder Steigerung dessen, was bislang die Moderne war. Der Begriff der Moderne kommt, wie du weißt, von Mode. Als die Menschen im Neunzehnten Jahrhundert bemerkten, dass sich ihre Lebensverhältnisse spürbar veränderten, Moden einander abwechselten, in den Großstädten die Kanalisation eingeführt wurde, Gaslampen, Elektrifizierung, Maschinen, neue Anschauungen usw., als die Menschen nicht mehr umhin konnten zu sehen, dass alles das, was Jahrhunderte zuvor gegolten hatte, nun innerhalb weniger Jahrzehnte oder Jahre stürzen konnte, durch Neues ersetzt wurde, entstand die Moderne, das Zeitalter der Innovationen. Es hält bis heute an. Postmoderne? Zweite Moderne? Papperlapapp! Wir sind innovationssüchtig wie keine Generation vor uns. Und jetzt wird es nur immer schneller, so schnell, dass es zu fließen scheint. Keine Statik mehr, alles fließt.
„Stimmt, und weil sich alles immer schneller verändert, wollen wir uns nicht bloß an die Veränderungen anpassen, sondern immer schon am Ziel sein, bevor das Neue wirklich da ist, wie bei der Fabel vom Hasen und dem Igel. Ich bin jetzt die eine, aber in Zukunft werde ich schon immer die andere gewesen sein. Ich will ja gar nicht sagen, dass ich das gut finde. Aber ich gehöre bereits zu dieser Generation. Ich kann gar nicht anders. Das hat nämlich alles einen langen Vorlauf gehabt. Als Sechzehnjährige habe ich Sartre gelesen und bin fasziniert von der Vorstellung gewesen, dass ich mein Sein durch meine Entscheidungen, also durch mein Handeln erst erschaffe. Und heute ist diese Idee ins kollektive Unbewusste herabgesunken. Es ist absolut selbstverständlich geworden, das eigene Sein, die eigene Persönlichkeit, die eigene Geschichte zu erschaffen, jedenfalls davon überzeugt zu sein, dass man es kann und in begrenztem Rahmen auch tut. Mit einem wesentlichen Unterschied zu Sartres Theorie: dass ich meine Geschichte nicht mehr zu sein habe. Ich kann jederzeit eine andere sein und meine Geschichte hinter mir lassen. Und sagen: Diese Geschichte, das war ich mal, aber die bin ich nicht mehr, die hat mit mir nicht mehr viel zu tun. Ist natürlich Quatsch. Ich kann meine Geschichte nicht verändern. Ich kann sie vielleicht neu interpretieren, aber ich kann sie nicht ändern. Genauso wenig kann ich sie selbst erschaffen, es sind wahrscheinlich nur Spurenelemente von Selbsterschaffenem in meinem Ich. Aber es gibt diese neue Idee vom Menschen, der sich selbst erschafft, sich optimiert und sich vollständig verwandeln kann. Vom Fettkloß zum super tiny Model, vom Alkoholiker zum Abstinenzler, vom Anwalt zum Schriftsteller, vom Museumsdirektor zum Busfahrer. Mir fallen gerade nicht so geile Beispiele ein. Aber du verstehst schon. Du kannst durch Ratgeberliteratur, Therapie, Bildung, Tutorials auf Youtube, durch implantierte Chips in deinem Gehirn, durch Crispr oder was auch immer ein anderer Mensch werden. Scheiße! Das will ich gar nicht. Ich will das gar nicht für mich. Ich kann das auch gar nicht. Aber ein Roman, mein lieber Al, der kann das. Der Roman unserer Zeit muss das vielleicht sogar.“
Das ökonomische Problem hast du damit aber noch nicht gelöst.
„Warum sollte das ein Problem sein? Der Roman wird wie ein E-Book vertrieben, aber du kaufst auch die Updates dazu, jedenfalls für eine gewisse Dauer. Du kannst auch nur das fertige Buch kaufen. Aber es ist doch viel spannender ein Buch durchzulesen, um dann wieder vorne anzufangen und festzustellen, dass der Anfang jetzt ganz anders aussieht, oder ein wenig anders. Und! Ganz wichtig! Damit das wirklich schnell genug funktioniert, brauchst du Autorenkollektive, die das permanent neu schreiben, so wie bei den Computerspielen oder den Netflix-Serien. Da sind auch meistens mehrere Autoren am Werk. Oder Drehbuchschreiber, Regisseurinnen, Kameraleute, Dramaturgen usw. Das kann keiner mehr allein.“
Und das richtige Geld mit den Merchandising-Produkten verdienen.
Aleksander hat jetzt wieder angefangen kurze Erzählungen zu schreiben. Eine davon heißt „Das Haus am See“. Es sei nur ein erster Versuch. Was für ein Versuch? Ein Versuch in pornografischer Literatur. Er wolle einmal für sich persönlich erkunden, ob in einem durchaus verklärten Sinne so etwas wie „schöne“ Pornografie möglich sei, feministische Pornografie. Oder ob am Ende doch nur wieder eine klassische, misogyne Männerphantasie dabei herauskomme. Das würde ich dann zu entscheiden haben. Kein Problem, mache ich gern. Aber es ist doch ein großer Unterschied, ob jemand einen pornografischen Text schreibt oder pornografische Videos produziert, in denen Darsteller_innen in entfremdeten Produktionsprozessen zu bloßen Objekten gerinnen und mit den zur Schau gestellten Pseudo-Intimitäten ihre Subjektivität, ihre Einzigartigkeit zum Verschwinden bringen. Darum nämlich drehte sich unsere Diskussion der vergangenen Tage. Der Kurzschluss zwischen dem literarisch gestalteten erotischen Reiz und dem individuellen Phantasie-Getriebe im Hirn der Leser_in ist immer ein mittelbarer, humaner, frei von Gewalt, wie sehr der Text möglicherweise auch Gewalt zur Darstellung bringen mag. Sinnt der Autor zwar unmittelbar auf die sexuelle Erregung seiner Leser_in, muss der fiktionale Inhalt doch den Umweg über die individuelle Anreicherungsmaschinerie der Leser_innen-Fiktionalität gehen. Der Kurzschluss zwischen dem fotografischen oder filmischen Abbild einer physischen Realität mit pornografischer Intention und dem Assoziations- und Erregungsapparat des Betrachters dagegen ist ein unmittelbarer und darum weitgehend unreflektierter. Er erzeugt die Illusion unmittelbarer Verfügbarkeit über die ins Bild gesetzten Körper, die einer Enteignung der vor der Kamera agierenden Individuen gleichkommt. So subjektiv und lustvoll der abgelichtete Geschlechtsakt während des Vollzugs auch gewesen sein mag, das Produkt ist am Ende doch nur ein ausgehöhltes Surrogat, das die Darsteller_innen ihrer Würde beraubt und dem Zuschauer als bloßes Mittel, Hilfsmittel zur eigenen sexuellen Erregung und Befriedigung dient. Es ist ein ausbeuterisches Verhältnis zwischen den – einen fragwürdigen Mehrwert produzierenden – Sexarbeiter_innen und dem Konsumenten, das vor allem dem am Profit interessierten Produzenten in die Hände spielt, der in seinen Darsteller_innen wie in den entstandenen Abbildern nur „Material“ sieht. Die blutig durchschossene Lunge des Helden in einem Actionfilm bleibt immer noch Spiel in einem Spielfilm, weil ihm die Wunde doch nicht wirklich zugefügt wurde und sich nur illusionärer kinematografischer Techniken verdankt. Wenn eine Frau aus einer möglichst alles sichtbar machenden Kameraperspektive von einem erigierten Penis penetriert wird, ist das dagegen längst kein Spiel mehr. Der – nicht selten aggressive – filmisch oder fotografisch festgehaltene Akt geschieht in Wirklichkeit und steht damit auf einer Stufe mit den von Schaulustigen aufgenommenen Handy-Videos versehrter oder verstorbener Unfallopfer. Mögen die unveröffentlichten Videos, die etwa Paare von sich selbst beim Sex aufnehmen, noch legitimer Teil ihres (auch schon irgendwie entfremdeten) Liebesspiels sein – sobald derlei private Videos aber der kapitalistischen Verwertungskette zugeführt werden, selbst in scheinbar dem monetären Markt enthobenen privaten Foren, verwandeln sie sich in Snuff-Videos, die die in ihnen handelnden Individuen auslöschen.
Wenn Aleksander sich also in pornografischer Literatur versucht, mag sich das Ergebnis unter Umständen zwar als misogyn, antifeministisch oder grundsätzlich inhuman und barbarisch erweisen, was ich allerdings nicht erwarte. Aber der Blowjob und das Spermaschlucken bleiben doch so virtuell und spielerisch wie der Lungendurchschuss im Actionfilm. Aleksander hatte wohl die Absicht, mich mit seinem literarischen Vorhaben ein wenig zu provozieren. Die Herausforderung nehme ich gerne an, vielleicht sogar mit einer kurzen eigenen Erzählung.
Unscheinbar und jenseits aller provokativen Absichten wirkt dagegen auf den ersten Blick der Arbeitstitel der pornografischen Übung: „Das Haus am See“. Ich muss gestehen, selbst immer mal wieder von einem eigenen kleinen Haus am See geträumt und davon während unserer Spaziergänge an Frühlingstagen hemmungslos geschwärmt zu haben. Mein lieber Pjotr pflichtet mir zwar immer wieder gerne bei, wie schön das einsame Leben in so einem Haus am See sein könne, aber ins Schwärmen gerät er eher nicht, denn er bevorzugt dann doch das Leben in der Großstadt mit all seinen Möglichkeiten und kleinen wie größeren Verführungen. Aber hin und wieder dem Großstadttrubel entfliehen können? Das wäre schon sehr angenehm. Abgesehen davon, dass wir uns ein eigenes Haus finanziell ohnehin niemals werden leisten können, es wäre dann doch auch eine Last, wie jede Form von Eigentum. Wie oft würden wir uns wohl auf den vermutlich viel zu weiten Weg zu unserem Auszeit-Refugium machen? Und kämen wir wirklich zur Ruhe, wenn Rasen, Sträucher und Bäume in unserer Abwesenheit wucherten und uns jedes Mal in flehentlichem Ton empfingen, wir möchten sie doch schneiden, stutzen kürzen und kompostieren? Und im Winter müssten wir gegen Muff und Schimmel anheizen, selbst während unserer Abwesenheit, im Sommer die Klärgrube leeren lassen und auf Strom, fließend Wasser und Internet möglicherweise ganz verzichten. Der Traum, den ich und anscheinend viele andere träumen und sich in unzähligen Romanen, Erzählungen und Filmen eingenistet hat, geht so: Das Haus am See liegt einsam und verlassen in einem Sommerland jenseits der Zivilisation. Seine Bewohner haben mit der Welt da draußen weitgehend abgeschlossen, sind ihr – jedenfalls zeitweise – entflohen. In ihm befinden sich nur die allernötigsten Gegenstände. Ein alter Holztisch, zwei Stühle, eine kleine Küchenzeile, ein paar einfache Teller, Becher, Gläser Küchenutensilien, ein Sofa, zwei kleine Schreibtische, ein großes Bett für das Paar, zwei schmale Betten für Gäste. Die benötigte geringe Menge Strom liefert eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach, für warmes Wasser und die Heizung gibt es einen Holzofen oder eine Erdwärme-Anlage. Das Wasser wird aus dreißig Metern Tiefe heraufgepumpt und im Garten wachsen Gemüse und Früchte. Mit einem Wort: Im Haus am See lebt man autark. Aber woher kommt diese Sehnsucht nach dem autarken Leben in einem Haus am See? Warum träumen wir von diesem reduzierten, auf die elementarsten Bedürfnisse zurückgekürzten Leben, abgeschnitten von Medien, Konsum und Kommunikation?
In Häusern an Seen findet das wahre und richtige Leben statt. Da ist immer Sommer, das Wasser warm und klar. Wir lassen unsere nackten Körper ins Wasser gleiten, wir liegen in den Armen des geliebten Menschen, wir baden und lieben am Morgen und am Abend. Nur die geliebten und begehrten Menschen kommen uns besuchen. Sie kommen als Wanderer mit ihren leichten Rucksäcken. Wir essen frisches Brot und trinken roten Wein. Die Mücken stechen nicht, sie summen nur. Das Lagerfeuer wärmt Gesicht, Brust und Füße. Am Schreibtisch lädt die Stille zu tiefen Gedanken ein. Bücher entstehen, Romane und Welterklärungen, tröstende und lustvolle Gedichte. Das Glas Wasser ist kühl und erfrischend, ein bunter Schmetterling setzt sich auf seinen Rand. Die Blicke der Liebenden sind klar und verstehend. Kein Wort tut Not, nur ein zufriedener Seufzer. Noch die Sitzung auf dem Plumpsklo ist reine Meditation. Wir sind bei uns, bei uns selbst und beieinander, der Beischlaf tantrisch im Moos, der Waldboden warm und weich, wenn wir nackt zur Felsenquelle schleichen. Wir sehen das Gras wachsen und hören den Elch rufen. Die Nacht ist so still wie der Himmel schwarz und von der Milchstraße umschlungen. Nichts drängt, nichts muss, nichts will. Ein lauer Wind umhaucht die Haut. Fast ein Nichts, diese Häuser an Seen.
Wenn man „Haus am See“ googelt, findet man fast ausschließlich Hotels, Restaurants und Ferienwohnungen, lauter falsche Versprechen. Wir kommen nie bei ihnen an, nie bei uns selbst. Wir bleiben für immer unbehaust. Deshalb muss auch Aleksanders „schöne Pornografie“ ein falsches Versprechen bleiben, eine schöne Illusion, die ihre Entsprechung in der Wirklichkeit vergeblich sucht.
Seit einiger Zeit beschäftigt sich Nina mit der Frage, ob Pornografie sich eigentlich mit Feminismus verträgt. Sie meint, nein. In einer Vielzahl von Online-Magazinen, die Nina in den letzten Wochen durchstöbert hat, wird Frauen eine neue, oder nicht mehr ganz so neue Form eines sogenannten „sex-positiven Feminismus“ und einer damit korrespondierenden „feministischen Pornografie“ angepriesen. Frauen, so scheint es, leben in einem Zeitalter der letzten Stufe sexueller Befreiung. Sogar halbwegs seriöse Frauenzeitschriften bringen Artikel darüber, wie und wie oft Frauen sich am besten selbst zu befriedigen haben. Das sei gesund und frische den Teint auf. Statistiken fluten die Medien, in denen zu erfahren ist, dass bereits mehr als dreißig Prozent der Frauen Pornos im Internet schauen. Rückständig wäre, wer sich jetzt nicht in die einschlägigen Seiten einklickte, die frauenfreundliche Pornografie versprechen, in der es vorrangig um die Lust der Frauen und ihre sexuellen Phantasien geht. Pornografie von Frauen für Frauen. Aber die Frauen in diesen sogenannten frauenfreundlichen Pornos würden sich doch auch nur zu Objekten männlichen Begehrens machen, meinte Nina neulich. Ja, sagte ich, aber die genießen das vielleicht trotzdem. Das sei kein Argument, fand Nina, über Jahrhunderte hinweg hätten Frauen gelernt, ihre Wünsche an denen der Männer auszurichten. Das immer noch herrschende Patriarchat habe die Frauen derart umfassend unterworfen, dass sie nicht einmal mehr den Funken einer Ahnung hätten, welche Bedürfnisse ihre eigenen und welche ihnen einfach nur eingetrichtert worden seien. Jahrtausende, sagte Nina, haben Frauen nicht das geringste Bedürfnis verspürt, anderen beim Sex zuzusehen, und auf einmal würden Frauen geradezu pathologisiert, wenn sie sich nicht dafür interessieren und sich nicht wie ihre Männer vor den Bildschirm setzen und zu scheinbar aufgeilenden Szenen masturbieren. Anders als Nina fand ich die Sache nicht so eindeutig. Die ist doch viel komplizierter, sagte ich. Erstens werden die Frauen ja von anderen Frauen dazu ermuntert, und zweitens wäre es ja möglich, dass Frauen sich gerade deshalb nicht oder sehr viel weniger für Pornografie interessierten, weil ihre Sexualität eigentlich immer unterdrückt oder jedenfalls in Schach gehalten wurde. Und gewiss, da habe sie Recht, Frauen hätten im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende gelernt, die von Männern aufgestellten Normen als ihre eigenen zu verinnerlichen: Eine anständige Frau sollte möglichst keine sexuellen Gelüste haben, sollte beim Sex niemals die Initiative ergreifen, hat möglichst eine passive, erduldende Rolle zu spielen und die Arbeit dem Mann zu überlassen, der ja als einziger mit einem ernstzunehmenden Sex-Werkzeug ausgestattet ist. Es sei doch vielleicht ganz gut, wenn Frauen so nach und nach eine eigene Vorstellung von ihrer Sexualität entwickelten, ihren Wünschen und Phantasien. Woher willst du denn wissen, dass die anderen Frauen, für die du ja nicht sprechen kannst, nicht vielleicht doch ein größeres Interesse an Sex und Pornografie entwickeln, wenn sie sich nur erst einmal darauf einlassen. Und warum sollten sie, fragte Nina. Sollen sie ja gar nicht. Aber dürfen sie nicht? Nina ließ nicht locker: Niemand sagt, dass Frauen kein Interesse an Sex haben, aber warum sollen sich Frauen Pornos anschauen, aus denen sie doch auch nur wieder lernen, dass sich Frauen Männern unterzuordnen haben, sich zu Objekten der männlichen Begierde machen müssen, um ihre wahre Bestimmung zu finden. Sieht doch ganz so aus, als würde den Frauen mit wachsender Vehemenz nahegelegt, den Sinn ihres Lebens im Sex zu suchen. Mag ja sein, sagte ich zu Nina, aber sei doch mal ehrlich: Fändest du ein Leben ohne Sex nicht auch ziemlich sinnlos?
Nach einem Kurzvortrag über notwendige und hinreichende Bedingungen musste ich leider eingestehen, dass Sex für ein sinnvolles Leben lediglich eine hinreichende Bedingung ist und ich, sollte ich bei einem Unfall mein „Sex-Werkzeug“ einbüßen, immer noch ein sinnvolles und sogar glückliches Leben haben könnte. Rein logisch betrachtet. Aber es gibt Tage, an denen habe ich es nicht so mit der Logik. Da setze ich mehr auf Empirie. Und die Behauptung, Frauen hätten jahrtausendelang kein Interesse daran gehabt, anderen beim Sex zuzusehen, lässt sich empirisch leider gar nicht beweisen.
„Wie viele dieser feministischen Pornos hast du dir denn schon angesehen“, wollte ich wissen.
„Keine.“
„Und wie viele klassische Pornos?“
„Keine. Was meinst du überhaupt mit klassisch?“
„Aber wie kannst du da zu einem gültigen Urteil gelangen, wenn du gar keine empirischen Studien betrieben hast?“
„Ich soll mir Pornos anschauen? Dann tue ich doch genau das, was gerade von mir verlangt wird. Dass ich als Frau wie meine Geschlechtsgenossinnen mit dem Pornokonsum anfange. So wie die Männer schon lange.“
Ninas Rechnung ging so: Pornografie ist so ein Männerding. Du kannst Frauen als reine Sex-Objekte konsumieren, ohne dich auch nur ansatzweise mit ihrer Persönlichkeit beschäftigen zu müssen. Umgekehrt gibt es wohl kaum eine Frau, die Männerkörper zum Zwecke des persönlichen Lustgewinns von deren Persönlichkeit abspaltet. Die Reduktion von Frauen auf ihre Körper und ihre erotischen Reize in der von Männern dominierten Pornografie wurde im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zu Recht skandalisiert. Weil in kaum einem anderen Lebensbereich das nach wie vor herrschende Patriarchat bildlich evident wird. Und weil es illusionär wäre, Pornografie einfach zu verbieten, haben einige Frauen genau das gemacht, was viele andere vor ihnen auch gemacht haben: Statt sich wirklich zu emanzipieren, haben sie versucht, männliches Verhalten zu kopieren, weil sie glaubten, auf diese Weise den Männern ebenbürtig werden zu können. Deshalb halten es heutzutage viele, wenn nicht die meisten Menschen für emanzipiert, wenn sich Frauen in bestimmten gesellschaftlichen Handlungsfeldern männliche Verhaltensweisen zulegen, wo sie sich unterrepräsentiert und unterlegen fühlen. Deshalb werden Frauen Soldaten, beschließen als Politikerinnen Kriege und ziehen als Unternehmerinnen ihre Arbeitskräfte über den Tisch. Sie spielen die Machtspiele der Männer, lügen, betrügen – und machen nun neuerdings auch noch Pornos. Das ist weder eine sexuelle noch irgendeine Befreiung. Das ist immer noch das alte Schema der Anpassung. Und die Männer lassen es sich natürlich gerne gefallen, denn es bestätigt nur ihre Anschauungen. Sie haben halt schon immer Recht gehabt, auch was den Sex betrifft. Alles dreht sich nur um Sex, Sex ist gesund, Sex ist natürlich und – am allerwichtigsten – Sex hat nichts mit Liebe und Bindung zu tun. Wenn bald alle Frauen Pornos schauen – und sie möglicherweise für Papas Privatkino selber drehen – , dann werden sie sich bald auch keinerlei Gedanken mehr darüber machen, warum sie sich als Objekte männlicher Begierde nicht dauerhaft verfügbar halten sollten.
„Aber das könnte doch auch schön sein, wenn alle, Männer wie Frauen, in gleicher Weise Spaß am Sex haben – und eben auch Spaß an Pornografie. Wäre das so schlimm?“
„Das ist wie mit der Prostitution. Wenn Frauen genug Geld zum Leben haben, wenn sie unabhängig und wenigstens in bescheidenem Wohlstand leben können, wenn ihnen alle Berufe und beruflichen Positionen wirklich offenstehen, kommt keine einzige Frau auf die Idee, ihren Körper zu verkaufen, sich erniedrigen zu lassen und für ihre Freier Lust zu heucheln. Mit anderen Worten: Frauen, die in Pornos auftreten sind Frauen, die unterdrückt werden. Oder weniger plakativ ausgedrückt: Solange Frauen in Pornos als Objekte sexueller Begierde auftreten, ist das Ausdruck fortdauernder patriarchaler Strukturen, Beweis der anhaltenden Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen. Sollen die Männer in ihren Pornos doch unter sich bleiben. Das fände ich okay.“
„Schwulenpornos? Lässt du da nicht die komplette Gender-Debatte der letzten Jahrzehnte außer Acht? Ich finde deine Überlegungen ziemlich inkonsequent. Mal angenommen, Frauen haben früher keine Pornos geguckt, weil das eben als so ein Männerding galt, heißt das ja noch lange nicht, dass nicht auch Frauen Pornos gut finden, wenn es dann mal eine andere Art Pornos gibt, die mehr so ein Frauending wäre. Du gehst aus irgendeinem Grund davon aus, dass es diesen Naturzustand gibt, bei dem Männer gern Pornos sehen und Frauen nicht. Dass Frauen meinen, sie würden nicht gern Pornos sehen, könnte ja auch eine Folge der Unterdrückung sein. Und überhaupt: Die Männer in den Pornos prostituieren sich doch auch. Sind das dann auch unterdrückte Männer?“
„Klar, das Patriarchat unterdrückt auch die Männer. Die sind genauso deformiert wie wir Frauen.“
Schwer zu sagen, warum ich mich von Ninas Argumentation angegriffen fühlte, aber es war so. Vielleicht weil ich im Unterschied zu ihr schon hin und wieder Pornos schaue und mich deshalb vielleicht schuldig fühlen sollte. So wie ich eigentlich weniger oder gar kein Fleisch mehr essen, nicht mehr mit dem Auto fahren, auf das Fliegen verzichten und nur noch fair trade einkaufen, keinen Raubbau an der Natur und keine Kinderarbeit unterstützen sollte usw., sollte ich wahrscheinlich auch aufhören Pornos zu schauen. Den Frauen zuliebe, für eine bessere Welt. Dummerweise hatte ich das dringende Gefühl, dass bei mir der Spaß beim Sex aufhört. Hatte der Feminismus für mich eine empfindliche Grenze erreicht, wenn es darum ging, mir meine Lust zu verbieten? Die Lust an schönen Frauen. Die Lust an Frauennasen, Frauenohren, Frauenaugen, Frauenhaaren, Frauenhüften, Frauenhintern – aber auch an Brüsten und Vulven. Was sollte schlecht an diesen Gelüsten sein?
„Niemand will dir deine Lust an den Frauen austreiben. Auch wenn ich es ein wenig verletzend finde, dass dir die eine anzuschauen anscheinend nicht ausreicht.“
Ich hatte da so meine Zweifel und zog mich erstmal zum Nachdenken in mein Zimmer zurück.
Es gibt eine ganze Menge guter Argumente, die gegen Pornografie sprechen: Ist das nicht eine sehr entfremdete Form von Sexualität? Eine ohne Anfassen, ohne Beziehung, ohne echtes Begehren? Werden die Darstellerinnen und Darsteller nicht wirklich ausgebeutet? Haben die Spaß bei ihren stilisierten und manchmal höchst absurden Darbietungen und Verrenkungen? Sind das glückliche Menschen? Muss man nicht einen psychischen Defekt haben, um sich derart zu exhibitionieren? Wie hoch ist die Selbstmordrate unter Pornodarstellerinnen? Wie verbreitet der Drogenkonsum? Was haben Pornos überhaupt mit echter, erfüllender Sexualität zu tun? Sind das nicht falsche Vorbilder? In der Mehrzahl frauenfeindliche Akte? Darstellungen erniedrigter Frauen, die abwechselnd in Arsch und Mund gefickt, gefesselt, deren Gesichter mit Sperma und Pisse bespritzt werden? Alles das schaue ich mir auch nicht gerne an. Was aber wären dann schön anzusehende Pornos? Und wer sollte sie machen? Am ehesten noch authentische Sexfilme mit echter Zärtlichkeit und echten Orgasmen. Pornos von Frauen. Mal abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen kann, selber in einem Pornofilm zu spielen, den dann Freunde, Kollegen und Bekannte anschauen können, ließe sich vielleicht dennoch eine zukünftige Gesellschaft denken, in der es normal ist, sich – unter Freunden? – gegenseitig privat produzierte Filmchen zu zeigen oder nach dem gemütlichen Abendessen gegenseitig dem vergnüglichen Beischlaf beizuwohnen. Warum sollte die schönste Sache der Welt nicht auch die öffentlichste sein? Woher kommt dieses Tabu eigentlich? Ist das nicht auch ein zutiefst patriarchalisches? Der Mann sagt: Das ist meine Frau, die gehört mir. Niemand soll sie ansehen können. Die ist nur zu meinem eigenen Vergnügen da. „Ja, soll denn etwas so Schönes nur einem gefallen? Die Sonne, die Sterne gehör’n doch auch allen.“ So jedenfalls heißt es in einem berühmten alten Schlager. Ich fand zunehmend Gefallen an dem Potenzial an Toleranz und Liberalität, das in Sachen Sex in mir zu schlummern schien. Dann jedoch kam mir wieder Ninas Vortrag zu notwendigen und hinreichenden Bedingungen in den Sinn. Private Pornofilme tauschen und sich gegenseitig beim Live-Sex zu beäugen, sind ja nur hinreichende Bedingungen für sexuelle Liberalität. Wo das bloße Zuschauen hinreichend sein mag, reichen Mitmachen, Partnertausch und zügellose Promiskuität am Ende nicht weniger hin. Das wäre dann eine bedingungslos hin- und herreichende Bedingung. Nina würde ich ganz bestimmt nicht hin- und herreichen wollen. Weil ich eben immer noch ein waschechter Patriarch mit unumstößlichen Besitzansprüchen bin? Wenn ich als guter (männlicher) Feminist gelten wollte – müsste ich da nicht einerseits auf Pornos verzichten, aber andererseits auch jeglichen Besitzanspruch gegenüber Nina fallen lassen und ihr also vollkommene sexuelle Freiheit gewähren? Weil ich wusste, dass Nina diese Form sexueller Libertinage noch viel grauenhafter finden würde, als mit einem Halb-Feministen zusammenzuleben, der potenziell frauenverachtende Pornos guckt, trug ich ihr am nächsten Tag meine streng logischen Überlegungen vor, in der stillen Hoffnung, sie am Ende doch noch dazu zu bewegen, endlich mit dem empirischen Teil ihrer Forschungen zu beginnen.
„Meinst du das ernst?“
„Es ist nur eine rein theoretische Überlegung. Genauso, wie du rein theoretisch über Pornos nachdenkst, ohne sie dir anzusehen.“
„Natürlich könnte ich mit anderen Männern Sex haben, wenn ich das wollte. Wie solltest du mir das verbieten können? Aber würdest du es wollen, nur damit du dich nicht als Patriarch fühlen musst und du dir so deine Liberalität beweisen kannst?“
„Nein, natürlich nicht. Aber wäre das nicht die logische Konsequenz aus deiner Forderung, Pornos zu verbieten? Jedenfalls unter der Voraussetzung, dass kein Weg daran vorbeiführt, dass Männer nun mal gerne Frauen ansehen? Frauen, überhaupt Menschen beim Sex zusehen wollen? Sex-Fantasien haben?“
Wie erbärmlich, notleidend, meiner eigenen Sexualität ohnmächtig ausgeliefert ich mich bei diesen Sätzen fühlte! Was sollen wir armen Männer denn machen? Ohne Sex sind wir doch nur halbe Menschen. Viertel-Menschen. Minder-Menschen. Soll es denn bald gar kein Erbarmen für uns, das schwache Geschlecht, mehr geben? Nina schaute mich mit einem schwer zu deutenden Blick an. Irgendwas in dem breiten Spektrum zwischen echtem Bedauern und triumphierender, vernichtender Ironie. In meiner aufwallenden existentiellen Verzweiflung gelang es mir nur noch halb- oder viertelwegs Ninas nun folgenden Ausführungen zu folgen. Ich erinnere mich nur noch an einen Satz, der ungefähr folgendermaßen lautete: Es gebe eine besondere Form des logischen Denkens, das vor allem Männern eigne, eine Logik der Sachzwänge, eine Wenn-Dann-Logik der Konsequenz in einer hypothetischen, unterkomplex konstruierten Immanenz, eine Vergeltungslogik, mit der im schlimmsten Fall sogar Kriege gerechtfertigt werden. Wenn ich besser verstehen würde, was sie damit gemeint hat, würde ich es wahrscheinlich überzogen finden.
Letzte Nacht ist Nina sehr spät zu mir ins Bett gekrochen. Und heute Morgen sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln, sie habe sich gestern dann doch entschieden, die eine und andere Sache mal genauer in Augenschein zu nehmen. Leider weiß ich jetzt nicht mehr, wie ich das finden soll. Ich möchte das einfach nicht konsequent zu Ende denken.
Es ist ein von der Neugierde angetriebenes, mithin natürliches Bedürfnis, Entdeckungen zu machen, im Unbekannten oder Unverstandenen das Neue als Ereignishaftes zu erkennen. Das Ereignis sticht als Besonderes aus dem scheinbar Stillstehenden bzw. Undifferenzierten, Wabernden heraus. In seiner Unterschiedenheit von dem Zusammenhängenden, aus dem es für den Erkennenden aufgrund seines Interesses, seiner zielgerichteten Neugierde herausstach, beansprucht das Erkannte schon in seiner Benennung als ein bestimmtes Faktum Sinn als Singuläres aus dem Ganzen für das Ganze.
Das Ereignis setzt als Beobachtetes eine Marke in der Zeit und damit in der untersuchten Sache.
Der wissenschaftliche Blick auf die Ereignisse, die vor allem anderen den Geist erregen und zu wertvollen Erkenntnissen bringen, ist notwendig und legitim, weil er immer auch zu fruchtbaren Fortschritten führte.
Der wissenschaftliche Positivismus heute macht aus der menschlichen Neugierde, der Begierde auf das isolierbare Ereignis ein wissenschaftstheoretisches Gesetz, das ausschließt, was sich nicht unter das Ereignishafte, eben die Menge des isoliert Beobachtbaren subsumieren lässt. Die naive Prämisse, die hinter der Forderung nach Falsifizierbarkeit in der strengen Wissenschaft steckt, schließt ganz unbegründet von vornherein aus, dass die untersuchten Dinge oder Sachverhalte als komplexe Zusammenhänge ihre Ursachen rekursiv aus ihrer Komplexität beziehen können. Die begriffliche Verbindung von „Ursachen“ und „rekursiv“ verdeutlicht, dass damit der Begriff der Ursache aufgelöst wird, jedenfalls aus der Perspektive des naiven Denkens, wonach ein Ereignis gemeinhin nur eine oder eine überschaubare Anzahl von Ursachen haben kann, demnach komplexe Zusammenhänge nicht ihre eigenen Ursachen sein können. Diese dem wissenschaftlichen Denken zugrunde gelegte Überzeugung rührt aber von der besonderen Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins her, das seine Welt mit den Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität betrachten muss. Das Bedürfnis, immer zunächst das Komplexe verstehen zu wollen, wäre als Anlage für den Menschen evolutionär ja auch nicht erfolgversprechend gewesen.
Der Umkehrschluss, es gebe keine wahre Erkenntnis, die sich nicht vorweg dem Diktat der Kausalität unterwirft, ist damit jedoch keinesfalls gerechtfertigt, schließt ohne jede Begründung alles das aus, was gerne mit dem Begriff der Emergenz versehen wird, einem Synonym für das noch Unerklärte, für Phänomene ohne klare Ursachen.
Unter Laborbedingungen werden in der Hirnforschung nur bestimmte, isolierbare Ereignisse beobachtbar und quantifizierbar. Die Untersuchungen werden jeweils so angelegt, dass sie Ereignisse, Marken in der Zeit, hervorbringen. Die beobachtete Veränderung zuvor isolierter Parameter wird als Lernen oder Vergessen des neurologischen Systems wohl unleugbar beschrieben. Kaum zu leugnen sind auch die mess- und visualisierbaren Zusammenhänge in der Kollektion der beobachteten Parameter. Auch über die Motiviertheit dieser Kollektion sind Zweifel wohl nicht angebracht. Schon aber diese Motiviertheit des wissenschaftlichen Beobachtungsrasters gehört nicht mehr allein ins Reich der Falsifizierbarkeit, sondern speist sich aus Erwartungen, die von lange dauernden, komplexen Gedächtnisprozessen der Forscher und der Forschungsgemeinschaft herrühren.
Die Naivität des wissenschaftlichen Positivismus bzw. derjenigen, die diesen verblendet als ausschließliche Methode betreiben, offenbart sich vor allem dann, wenn die Ereignisse der Erkenntnis, die gewonnenen Daten kurzum zu Hebeln der Einwirkung auf die komplexen Systeme umgemünzt werden, aus denen sie gewonnen wurden. „Unter der Voraussetzung X lernt das System Y nachhaltiger als unter der Voraussetzung Z“: Diese Erkenntnis verleitet die Wissenschaftler zu banalen Hochrechnungen, nach denen alle Systeme Yn unter der Voraussetzung X zu quantitativ (nur im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit auch qualitativ) besseren Lernergebnissen gelangen.
Gemessen an der Komplexität und Kapazität lernender Systeme dürfte die Voraussetzung X im wirklichen, d.h. gesellschaftlichen und natürlichen Lebensvollzug immer in ein Medium oder System von Voraussetzungen eingebettet sein, das eine beinahe endlose Kombination an Voraussetzungen aus der Menge des Alphabets darstellt.
Wenn und während X den Inhalt Y lernt, lernt X zugleich eine nicht beobachtete Unzahl anderer Inhalte. Zugleich muss davon ausgegangen werden, dass X im beobachteten Zeitraum sich in ein anderes, mindestens X1 verwandelt. Während das eine beobachtete Ereignis zu einer bestimmten beobachteten Veränderung im System führt, verändert sich das Komplexe mit seinen kosmischen Dimensionen als Unbeobachtetes aufgrund unbeobachteter oder sogar unbeobachtbarer Vorgänge, die für das menschliche Bewusstsein gar nicht den Status von Ereignissen erlangen können.
Mittelbar – vermittelt nämlich durch die bis in feinste Verzweigungen ausdifferenzierte Sprache – haben sich die Geisteswissenschaften diesen Vorgängen zugewandt, in der Hermeneutik vermutlich angemessener als in der strengen Wissenschaft, als die Husserl die Philosophie, Paradedisziplin der Geisteswissenschaften, gerne gesehen hätte.
Gehirne werden aufgrund der Beobachtung ungemein schneller kognitiver Prozesse fast ausschließlich im Hinblick auf Ereignisse in kurzen Intervallen untersucht. Geht es um Erkrankungen, werden auch länger dauernde Prozesse interessant, dann aber vor allem die gut beobachtbaren physiologischen.
Was jedoch ist mit den lange dauernden Prozessen im Hirn eines Menschen, der im Alter von vielleicht fünf Jahren in einem Moment des Erfolgs und des Glücks von der Mutter einen wie auch immer zu erklärenden hasserfüllten Blick erntete? Wie lange und bis in welche Synapsen hinein wirkt dieses Erlebnis? Wie wird es psychisch und physiologisch überhaupt zum Erlebnis? In welchem Maße bestimmt es die „Bildung“ dieses besonderen Menschen? Welches Gewicht haben die Millionen Wahrnehmungen und Denkprozesse, die langfristig unbewusst bleiben und weder die Kraft hatten, in den Status von ERLEBNISSEN zu gelangen noch je zu wissenschaftlich isolierbaren EREIGNISSEN zu werden, aber als wirksam betrachtet werden müssen? Was ist – mit einem Wort – Bildung im Verhältnis zum überprüfbaren Lernen? Welche Ziele und Methoden sollte demgegenüber die Lehre haben, die Bildung bewirken will?
Alle diese Fragen zielen auf die lang andauernden Prozesse, bei denen das einzelne Datum als künstlich Isoliertes zerfließt in den mit anderem verwobenen rekursiven Prozessen, in denen das Hirn sich strukturiert und den Input, mit dem es einmal umgegangen ist, nach und nach verwandelt. Diesen Prozessen verwandt ist das Verstehen als kontrollierter Bewusstseinsprozess in der Hermeneutik. Im übertragenen Sinne parallel verlaufen so vermutlich die psychischen Vorgänge – unbewusste, vorbewusste wie bewusste – zu den hirnphysiologischen.
Urteile – auch moralische – über die Wirklichkeit entspringen den lang andauernden komplexen Wahrnehmungen, den damit verbundenen Reflexionen, der unbewussten Verarbeitung (Denken im Sinne einer Gesamtheit psychisch-biologischer Prozesse), den gesellschaftlich und sprachlich vermittelten Sinnkonstruktionen der psychischen Systeme, in denen kaum ein Datum oder ein Bit eine berechenbare Ursache für einen Sinn, ein Urteil oder eine Überzeugung darstellen. Die Leistungsfähigkeit und die Resultate des Denkens sind strikt zu unterscheiden von den wissenschaftlichen Einsichten in die Gebundenheit des Denkens an physiologische Vorgänge. Aus der fragmentarischen Beobachtung isolierter bzw. begrenzt komplexer Vorgänge im Hirn erwächst kaum eine Erkenntnis für den Lebensvollzug, die nicht schon ohne sie und lange vor ihr gefunden worden wäre, und ohnehin in beiden Fällen in Sprache gefasst und in den unberechenbaren Diskurs geworfen werden muss. Die Schlüsse, die Hirnforscher aus ihren Erkenntnissen für Lernen, Erziehung und Bildung ziehen, sind daher fast durchweg banal, selbstverständlich und in die Geisteswissenschaften längst integriert, viel schlimmer: Sie sind fast alle haarsträubend naiv in ihrer Unkenntnis dessen, was in den Geisteswissenschaften bereits geleistet wurde – nur neue naturwissenschaftliche Nano-Schläuche für den alten Wein der nicht-falsifizierbaren Geisteswissenschaften.
Die Erfolgsgeschichte des wissenschaftlichen und technologischen, überhaupt des zivilisatorischen Fortschritts scheint zugleich eine der institutionalisierten Bildung zu sein. Ob als Korrektiv oder als Beschleuniger hatte die schulische Bildung von Anfang an die Aufgabe, die im Zuge der bahnbrechenden Erfindungen und Entdeckungen von Dampfmaschine bis Verbrennungsmotor, von Elektrizität bis Elektronik, von Chirurgie bis Virologie, vom Atommodell bis zu Kernspaltung (usw.) explodierende Dynamik technologischer Ausdifferenzierung zu kontrollieren, sie gezielt zu hemmen oder zu befeuern, je nachdem ob sie als beängstigend oder berauschend empfunden wurde. Den großen Erfindern sollte eine kenntnisreiche Armee an kleinen Erfindern zur Seite gestellt werden, diesen gegenüber die Bewahrer überlieferter Kultur und mit ihnen folgsame Wachmannschaften. In der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft wiederholt sich das Verhältnis von zügellosem technologischen Fortschritt einerseits und bremsender Metakognition (die, als Reflex der nach wie vor geltenden Überzeugung, bei allem Fortschritt gehe es doch immer um „den Menschen“, den Anspruch erhebt, dem schnell wachsenden Geschwür Grenzen und legitime Expansionsgebiete zuweisen zu können) bis ins kleinste Element hinein, wie bei der im grafischen Fraktal visualisierten Mandelbrot-Menge, dem Apfelmännchen.
Parallel zur sozialen und technologischen Differenzierung differenzierte sich auch das Bildungssystem aus, nicht als vages Abbild des Ganzen, sondern als Fabrikationsstelle zur Bereitung der für den Fortschritt für unabdingbar gehaltenen Kompetenzträger: energetische Quellen für’s Antreiben und Zügeln des sichtbar gewordenen Fortschritts, der wie ein lebendiges Wesen zu züchten, zu trainieren und zu bändigen erscheint, seit sein Organismus, sein Herz-Kreislauf-System seiner gestiegenen Geschwindigkeit wegen – spätestens im 19. Jahrhundert – wahrnehmbar geworden ist. Aus der parallelen Entwicklung von sozialer, wissenschaftlicher und technologischer Differenzierung mit einem immer weiter veränderten, nämlich stetig reformierten Bildungssystem beziehen Schule und Universität ihr Selbstbewusstsein, eigentlich ihre Selbstsicherheit, weil sie ein Bedingungsverhältnis unterstellen: Ohne sie müsste der Fortschritt ins Stocken geraten oder sogar ganz zum Erliegen kommen. Mit welchen Ängsten und wie misstrauisch das Bildungssystem als konstitutives Element des Fortschritts beäugt wird, lässt sich daran ermessen, mit welcher Gewalt – trotz Abschaffung der Prügelstrafe – noch immer den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen beizubiegen versucht wird, was als Wissen und Kompetenz im funktionalen Ganzen für unentbehrlich gehalten wird. Interessant ist demgegenüber, dass die Unternehmen und Forschungsinstitute fortgesetzt die Dysfunktionalität des ihnen überlassenen Humanmaterials beklagen und sich genötigt sehen, bei der Ausbildung sogar vieler Grundlagen selbst Hand anzulegen.
Den Lehrern und Ausbildern, die sich noch der humanistischen Tradition Humboldts halbherzig verpflichtet fühlen, ist das ganz recht, denn sie gehören zu den Bewahrern und Zügelnden, die ihre Zöglinge ja gerade nicht als Rädchen einem sich blindwütig selbst herstellenden Räderwerk überlassen wollen, das den Wert des Einzelnen nur in seiner Funktionalität für das Ganze sieht, mithin den Menschen seiner Würde, seiner Freiheit beraubt. Angesichts der funktionellen Minderwertigkeit vieler Absolventen kann sich der Humanist immerhin einbilden, er habe, abseits des Funktionalismus, seine Zöglinge noch halbwegs zu einem aufgeklärten Selbstbewusstsein verholfen, sie zu sich selbst befreit.
Die anderen, die – allerdings auf dem anderen Auge blind – den ideologischen Selbstbetrug der Humanisten ahnungshaft durchschaut haben, ziehen in der Schule und in den Universitäten die Daumenschrauben nur umso fester an, als ließe sich die Effizienz der Ausbildung im Verhältnis zu der sich weiter beschleunigenden gesellschaftlich-technologischen Entwicklung immer weiter steigern. Die darin sich ausdrückende – durchaus ehrliche – Sorge hat in der Hauptsache eine ideologisierende Wirkung, die nämlich, in die jungen Hirne nachhaltig die Überzeugung zu verankern, es gehe in ihrem individuellen Leben darum, nur sich fortgesetzt selbst optimierende Funktion im undurchschaubar komplexen funktionalen Ganzen zu sein. Noch das diese Überzeugung begleitende Unbehagen der Beschulten, das von einem instinkthaften Wissen um die eigene Kreatürlichkeit und wesensmäßige Freiheit herrührt, wird (Hegels unglücklichem Bewusstsein ähnlich) als Ungenügen an den für legitim gehaltenen Forderungen an ihr Funktionieren gedeutet. Wo diese Ideologie total geworden ist, weil die Deutungshoheit des sich seiner selbst unbewussten Systems bis in die Individuen hineinreicht, die die äußeren Zwänge über das Gefühl der Sorge – empathisch, imitierend – zu den eigenen gemacht haben, ist das zentrale Ziel des Bildungssystems erreicht: Selbst wer in der Schule oder im Studium an den in „Aufgaben“ verwandelten Inhalten scheitert, weil der letzte und immer noch beste Selbstschutz das Vergessen des Zugemuteten ist, hat doch als fortdauerndes schlechtes Gewissen über die eigenen Unzulänglichkeiten die unbezweifelbare Notwendigkeit verinnerlicht, seine Bestimmung nicht in der Teilhabe als Subjekt am objektiven Ganzen, sondern allein in der fügsamen Verschmelzung mit dem Ganzen zu finden, indem er die eigene Autonomie an dieses abtritt. Und wo sich im Subjekt noch Widerwille oder gar Verzweiflung regt, werden diese Gefühle als persönliche Schwäche, als charakterliche Unvollkommenheit, Krankheit, als rätselhafte Fehlfunktion gedeutet. Das Rückzugsgebiet, das reflektierte Subjektivität immer noch darstellt, bietet in seinem ohnehin schon kleinen Reich Raum nur noch für Überlegungen, wie die individuelle Autonomie bis zur völligen Reibungslosigkeit, bis zur Bewusstlosigkeit optimiert werden kann. Selbstbewusstsein ist zum Störfaktor geworden – nicht mehr nur für das gesellschaftliche System, auch für die Subjekte selbst. Es muss in Trance versetzt werden – mit Wellness, Meditation, Sport, Unterhaltung.
Gelänge es tatsächlich, die Reibflächen zwischen Subjekt und objektiver gesellschaftlicher Wirklichkeit optimal zu schmieren oder die Einzelnen wie zum Beispiel kleine Metallkugeln in ein vieldimensionales Kugellager einer großen Fortschrittsmaschinerie einzubinden, könnte auch alles gut sein: In einer zukünftigen schönen neuen Welt wird es – nicht nur medizinische und mediale – Technologien geben, die das widerständige Subjekt beruhigen können ohne es ganz und gar auszulöschen. Vielleicht sogar für alle Menschen auf dieser Erde? Ein Wettlauf mit der Zeit und den irdischen Ressourcen, der möglicherweise zu gewinnen ist? Der gegenwärtige, sich immer weiter beschleunigende technologische Fortschritt ist wie ein riesiges Versprechen. Auf welchen anderen Gott könnten wir sonst noch hoffen, als auf das, fortschreitend in der Zeit, zur Allmacht hin sich selbst verwirklichende, überindividuelle System, das Materie und Geist in ferner Zukunft ganz zu versöhnen verspricht?
Dermaßen hat sich das Schulehalten mittlerweile zum Gottesdienst zurückgebildet, als das es – in gewisser Weise – als klösterliche Lateinschule einmal begonnen hat. Das Credo ist der sich selbst verwirklichende technologische Fortschritt, dem alles in Subsystemen (bis hinunter zu den psychischen Systemen) untergeordnet ist, die Geißeln, die die religiösen Gesetze spürbar werden lassen, der Unterricht selbst – für Schüler wie für Lehrer.
Dieser neue Gott duldet keinen Gott neben sich. Und so arbeiten die Geistes- und Sozialwissenschaften ihm längst nur noch zu, statt ihn kritisch zu kontrollieren. Ohnehin war die Hoffnung, ihn unter die Herrschaft der Vernunft zwingen zu können naiv, berechtigt darum schon die Befürchtungen, die zur Gründung der humboldtschen Lehranstalten führten.
Wie wenig Vernunft die Schulen und Universitäten noch hervorbringen oder je hervorgebracht haben, ließe sich experimentell erkunden: Gäbe der Staat seine Hoheit über die Schulen und Universitäten auf und striche auch die Schulpflicht aus dem Gesetz, würde die Gesellschaft, dieses ausdifferenzierte System aus Subsystemen, das Subsystem Bildung in kurzer Zeit rekonstruieren und mit großer Sicherheit weitaus effektiver gestalten, weil der auf Funktionalität schielende Zugriff auf bereits vorgeprägte Kompetenzen sehr viel früher und zielgerichteter geschehen könnte, dem Anschein nach sogar humaner, denn es würde darum gehen, die Stärken der Individuen zu fördern und die Schwächen da zu ignorieren, wo sie sich für die funktionale Zuordnung, und das Funktionieren überhaupt, nicht hinderlich auswirken. Lesen, Rechnen, Schreiben blieben die zentralen Grundlagen, darüber hinaus aber müsste nicht mehr jeder alles in der Schule lernen, was derzeit nur noch fadenscheinig als für die Allgemeinbildung unverzichtbar postuliert wird. Die auf bloßes Allgemeinwissen heruntergekommene Allgemeinbildung besorgt auch heute schon ein weit gefächertes, medial organisiertes Edutainment weitaus zuverlässiger als der Schulunterricht. Die Zurichtung der Individuen für die ihnen fremden Zwecke gelänge – und gelingt schon längst – ganz ohne die Schulen, wie wir sie kennen und für nötig halten. Was an Resten emanzipatorischer Bildung in den Schulen noch zu vermitteln versucht wird, hat schon immer nur die Form des Appells gehabt, der den Inhalten nur angeheftet wurde, ohne dass sich aus den Inhalten selbst und aus der Reflexion darüber vernünftige Urteile und Moral ergeben hätten. Das, woraus sich aufgeklärte Subjektivität, kritischer Verstand, Vernunft und Moral bilden könnten, die Individualität, die frische, überbordende Kreativität bei der Welterkundung, die Selbstentdeckung in der mußevollen und oft scheinbar ziellosen Reflexion, die Lust an Spiel, Experiment und am eigenen Körper, die übermütigen Grenzerkundungen wurden in der Schule immer schon der Disziplin, der Ruhe, dem Stillsitzen, der Systematik des Lehrens und den Lernkontrollen geopfert.
Dabei sind die Bemühungen der Lehrerinnen und Lehrer ja durchaus ernst- und gewissenhaft. Sie haben den Kindern und Jugendlichen etwas beizubringen. Und dass dies wirklich gelingt, soll messbar sein. Mit den mindestens befriedigenden Ergebnissen der ihnen Anvertrauten liefern sie den Nachweis dafür, dass das immer umfassender werdende Bildungssystem den Fortschritt der ganzen Gesellschaft sichert. Gelingende Bildung ist die Wurzel unseres Wohlstandes, heißt es. Misslingt die Bildung, ist der Wohlstand (qua Fortschritt durch Technologie, Wissenschaft und Wirtschaftswachstum) im Kern bedroht. Mindestens entsteht ein sogenannter Wettbewerbsnachteil.
Darum stehen Unterricht und Schule immer mehr unter der Fuchtel von (Unterrichts-) Technologie und wissenschaftlicher Transparenz, die Lehrerinnen und Lehrer glauben unter dem Druck und der Verantwortung ihrer Aufgabe sich die Erfolgsrezepte des technologischen Fortschritts zu eigen machen zu müssen und vermehren dadurch doch nur die Quälerei – für sie selbst wie für die Schülerinnen und Schüler, die sich immer früher danach sehnen, sich endlich (wo auch immer) als Rädchen im großen Getriebe einrichten zu dürfen, wo sie sich mehr Ruhe und weniger Gängelung erhoffen.
So ausgeklügelt und überzeugend die wissenschaftlich ausgearbeiteten Stundenentwürfe für den Unterricht, als Beispiele für die allgemeingültige Technik des Lehrens, auch wirken mögen, die sich die auszubildenden Lehramtsanwärter zum Vorbild nehmen, so resistent erweisen sich die hölzernen Werkstücke, denen lange Nasen wachsen, weil sie die Gelehrsamkeit nur heucheln – und heucheln müssen. Bald ist das mühsam Gelernte wieder vergessen, Pinocchio neugierig vom Weg abgekommen. Was dagegen mühelos hängenblieb, hätte der methodisch versierten Lehre kaum bedurft. Und diejenigen, die im emphatischen Sinne als „Gebildete“ die Schule oder die Universität verlassen, haben meist trotz und nicht wegen der Schule früh genug zu fruchtbarer Autonomie gefunden. Ihnen reichten allenfalls einige der Inhalte, die ihr Interesse wecken konnten. Schon die Methoden der Vermittlung waren kaum von Belang. Dass die Mittelmäßigkeit der Vielen immer schon am meisten über die Qualität der Schule verrät, die gelungene Bildung der Besten jedoch gar nichts, war schon immer bekannt. Dennoch misst die Schule ihren Erfolg ungern an den Mittelmäßigen und den Versagern und viel lieber an den Erfolgreichsten. Zugleich zielen die Unterrichtstechnologien auf die Mittelmäßigen, ohne dabei überzeugende Ergebnisse zu zeitigen, die Fortschritt indizierten. Das Versagen wird den Versagern selbst zugeschrieben, ihrer Dummheit oder ihrem bösen Willen. Wie seltsam, dass sich dennoch die Mär von der Essentialität des Bildungssystems für den Fortschritt so hartnäckig hält und alle Welt mit Sorge auf die Bildung der nachwachsenden Generationen blickt. Immer schon war nur der Wunsch Vater des Gedankens, die Phantasie nämlich, man habe an entscheidender Stelle alles unter Kontrolle. Noch nie aber war – das ist vielleicht etwas holzschnittartig gesprochen – das Bildungssystem der Motor des technologischen und wirtschaftlichen Fortschritts, nie das Instrument vernünftiger Steuerung künftiger Entwicklungen, als das es immer noch gern ausgegeben wird („Unsere Zukunft ist die Bildung unserer Kinder!“)
Das Bildungssystem hatte immer nur marginal etwas mit Fortschritt und Wirtschaftswachstum zu tun, nachdem es im 19. Jahrhundert tatsächlich mit großer Wirkung die Zahl der Hochschulabsolventen vervielfacht und damit die Wirtschaftskraft in Deutschland ganz enorm befeuert hatte. Mit der gymnasialen Ausbildung und dem daran anschließenden Studium waren neue Kanäle geöffnet worden, Zugänge zu den Instrumenten der Technologisierung und Rationalisierung. Damals wie heute hat das Bildungssystem jedoch kaum etwas mit wahrer Bildung zu tun, wenn man mit Bildung reife, kritische Subjektivität, Vernunft und Moral verbindet. Verdienstvoll zeigen sich Schule und Universität heute vor allem darin, dass sie absichtslos die Nachwachsenden erfolgreich für ihre Selbstaufgabe trainieren und ihren Glauben an den neuen Gott festigen.
Unterdessen überspült der technologische Fortschritt, eigentlich das autonom gewordene und darum von keiner zivilen Macht zu bändigende globale Gesellschaftssystem, der sich selbst erzeugende und selbst erhaltende, sich von menschlichem Bewusstsein – und mehr noch: dem Unbewussten – ernährende Golem, die Grenzen der Subjektivität, im Begriff, als Sintflut alles Leben, allen Geist zu ertränken.
Der Spruch, man solle nicht mit dem Strom schwimmen, oder auch nur das im Ton zarten Protestes geäußerte Bekenntnis, man schwimme nicht mit dem Strom, hat ausgedient, seit jedem halbwegs gescheiten Menschen klargeworden ist, dass gegen den Strom zu schwimmen längst nicht mehr mit irgendeiner Anstrengung verbunden ist: Schwimmt man nicht mit diesem Strom, schwimmt man eben mit einem anderen. Es liegt auch gar keine Anfechtung mehr darin, sondern ist ein Reflex der sogenannten Meinungsfreiheit, die kaum noch mehr meint als eben diejenige Freiheit, die dem einen diese und dem anderen eine beliebig andere Meinung gewährt – keine saure Übung in Toleranz ist damit verbunden, nur Isolation der zum geistigen Stillstand tendierenden Individuen. Dabei ist die Melange aus Desinteresse an der Meinung anderer und ängstlicher Einhegung der eigenen Meinung die beste Voraussetzung dafür, wie ein Korken auf dem breiten Strom hinabzutreiben, der dann endlich doch nur eine Richtung kennt.
Der heimliche Totalitarismus, der in den unbewussten Köpfen nistet, weil in falscher Toleranz niemand mehr ernsthaft noch die dümmste Ansicht eines anderen zu zerpflücken wagt und die eigene Identität zu schützen sucht, indem er seine Meinungen nicht einmal mehr dem eigenen Verstand zur Prüfung vorlegt, hat – als ideologischer Bastard aus Golem und Leviathan – im flüchtigen Vergleich Ähnlichkeit mit dem, den wir gerne den Ameisenvölkern unterstellen. Der Ehrfurcht, die der gewaltige Ameisenbau einfordert, weil kein Herrscher einen Befehl erteilt und kein Architekt den Plan dafür erdacht hat, und doch alle emsig und scheinbar zielstrebig an seiner Vollendung und seiner funktionellen Instandhaltung arbeiten, folgt die bemitleidende Überheblichkeit derer, die sich im Besitz von Verstand und Bewusstheit wähnen, weil sie nicht bloß ein unbewusstes und genetisch vorgeprägtes Programm abspulen, wie die kleinen Krabbeltiere, sondern denkend über ihr eigenes Ich, als Gegenwärtige über Vergangenes und Zukünftiges stolpern – darum Pläne schmieden, Allianzen bilden, gegen Ströme schwimmen können.
Wer als Kind oder auch als neugierig gebliebener Erwachsener sich einmal für die Wege vereinzelter Ameisen interessiert hat (und die, die vom Wege abkamen, sind immer die sympathischsten gewesen), weiß um die anscheinend unsinnigsten Abwege, die sie nehmen können. Wie orientierungslos laufen sie abseits der Straße, wo die Masse wandert, wenn man sie als Masse betrachtet. Sie laufen quer, ein Stück vor, ein Stück des Weges zurück, irren umher, als suchten sie etwas, finden zuweilen sogar etwas, das sie mühsam ein kleines Stück zu tragen beginnen, bald wieder verlieren und sofort vergessen oder ignorieren, bis zufällig eine andere die Arbeit fortsetzt. Manch eine Ameise unternimmt eine weite, sinnlose Reise, die zu verfolgen dem Betrachter die Geduld fehlt, ahnend, dass sie von der Art sei, die sie an einem nahen oder fernen Sommertag durch seltsame Geheimwege quer durchs Wohnzimmer führt, von wo aus sie zielstrebig die Küche mit ihren süßen Vorräten erobert. Ob nun Unbewusstheit, göttliches oder natürlich komplexes Programm oder ein der menschlichen Wissenschaft unzugängliches Bewusstsein das soziale Kunstwerk hervorbringt – Ehrfurcht gebietet die Unschuld der Ameisenvölker; noch dann, wenn sie sich bekriegen und neben Sammlern auch Jäger sind, vergleichbar mit dem „paradiesischen“ Menschentum vor dem Sündenfall.
Die Religionen haben einiges ersonnen, um die Menschen, nachdem sie vom „Baum der Erkenntnis“ gegessen hatten, zu erretten, nämlich die „Trennung von Gott“ aufzuheben. Dass Ich und Welt, Ich und die Anderen, Ich und Gott auseinanderfielen, ist aber schon deshalb kaum zu revidieren, weil das Ich seiner geistigen Natur nach von jeglichem anderen unterschieden bleiben möchte – und muss. Der Mensch wird nicht mehr zur Ameise – wenn er auch zugleich, umherirrend wie sein irdischer Lebensgenosse, Großes miterschafft, das extraterrestrische Beobachter gönnerhaft anerkennen mögen. Er irrt, reflexiv, auf höherem Niveau. Und plant, und koaliert, und widersteht – das sind jedenfalls einige seiner wichtigsten Fähigkeiten.
Und er schwimmt in einem breiten Fluss: Lethe.
Was, wenn es auf höherer Stufe, wie in einer dialektischen Versöhnung von Natur und Bewusstsein, ein neues Ameisenleben geben könnte, in dem die aufgeklärten Ameisenmenschen sich mutig und ungeschützt auf Abwege begäben, Meinungen und Überzeugungen nicht mehr gegen Argumente abschotteten und sich nicht mehr höflich von der peinlichen Blöße fremder Ansichten abwendeten? Würde nicht auch dann eine Straße, ein großer Staat erkennbar werden? Würden nicht alle in einem großen Strom schwimmen, in dem zu schwimmen sich lohnte? In dem die Schuld des Menschengeschlechts sich verringerte?