Liquid Love Archive II

Wovon Donata die Nase voll hat (wenn sie genauer darüber nachdenkt) … und wie die Geschichte auch ganz anders konstruiert sein könnte

Zunächst einmal die gemeinsamen Fernsehrituale mit Thomas. Mehrmals die Woche. Sie hat sich so sehr daran gewöhnt, dass sie sich auch dann vor die Glotze setzt, wenn Thomas nicht dabei ist. Die Nachrichten (Tagesschau), diese komprimierte Welt, abgestimmt auf eine anonyme Mehrheit, die glaubt und glauben möchte, dass nichts sonst in und mit der Welt geschieht, nur das, was dort verhandelt wird, aufgeblasen, für wichtig erklärt. Das ist doch auch nur eine Blase, eine ziemlich mickrige Blase. Wir werden eingelullt und gleichgeschaltet. Wirtschaft ist wichtig, das, was die Reichen bewegt, die Profite der großen Unternehmen, die „to big to fail“ sind. „Dauernd werden Gesichter von Leuten gezeigt, deren Namen ich mir zu merken habe, weil sie angeblich so furchtbar wichtig sind. Das geht immer mehr an mir vorbei.“

„Lügenpresse“ – das wäre zu radikal und maßlos, es so zu nennen. Komfort-Presse wäre das bessere Wort. Die Tagesschau ist die Komfortzone der Information. Tut nie richtig weh. Und dann der Krimi um 20:15 – der tut auch nicht richtig weh. Wir wollen ja nicht so sehr schockiert werden, dass wir danach nicht mehr schlafen können. Oder die gepflegten Dramen, die nicht weniger vorhersehbar gestrickt sind als die Krimis. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich die Erfahrungen, die die Autoren und Regisseure in ihren Filmen verarbeiten, vor allem aus anderen Filmen speisen. Das sieht man unter anderem an den Sexszenen, denn heutzutage müssen die Darsteller für wenigstens eine Minute im Bett landen. Gespielte Leidenschaft, die wohl ganz besonders groß sein muss, wenn die Frau auf dem Mann reitet und den Kopf in den Nacken wirft, damit der Busen straffer sitzt. Vergleichbar mit der Standardszene, wenn ein Darsteller aus einem Alptraum aufschreckt und sich ruckartig im Bett aufrichtet. Ich bin noch nie auf diese Weise aus einem Alptraum aufgewacht. Totaler Schwachsinn. Überhaupt: Alpträume! Die vermeintlich tiefsten und komplexesten Charaktere sind immer die mit ner Macke, einer schweren Kindheit, oder sie sind einsame Wölfe, die jahrelang mit einer Trennung nicht zurechtkommen. Am besten, sie haben Partner und Kinder bei einem Mord verloren und halten sich trotzdem tapfer aufrecht, schauen aber die ganze Zeit sehr melancholisch drein oder sind zu sympathischen Zynikern mutiert. Ich kann mittlerweile innerhalb der ersten zwei Minuten eines Films erkennen, in welche Richtung die Chose geht und mit welchen Klischees ich zu rechnen habe. Ich habe noch nie einen Darsteller heimlich in der Nase popeln gesehen, oder wie sich jemand unter der Dusche die Schamhaare rasiert und dabei in Kauderwelsch vor sich hin singt. Es gibt im wirklichen Leben so oft völlig irrsinnige Situationen und Handlungen, die eigentlich für einen außenstehenden Beobachter überhaupt nicht nachvollziehbar sind und an sich auch gar keine Bedeutung haben, aber eben eine Persönlichkeit ausmachen. Wenn ich zum Beispiel morgens im Bad stehe, nur mit BH bekleidet und mit Cedric über seine Hausaufgaben diskutiere, oder über Gott und die Welt. Vielleicht würde ich lieber so etwas im Fernsehen sehen wollen.

Diese Müdigkeit am Abend. Wenn du keine Energie mehr hast, auch nur irgendwas zu machen. Thomas hat mal vorgeschlagen, stattdessen Karten zu spielen. Wie bitte? Bauernskat, oder was?

Jetzt habe ich das Schreiben, wenigstens das Schreiben, endlich das Schreiben. Ich möchte gar nicht mehr damit aufhören. Aber ich will auch endlich raus! Raus aus dem Mief, aus meinem eigenen und aus Thomas‘ Mief, aus unserer Komfortzone.

Thomas hängt sich in letzter Zeit fast jeden Abend vor seine Computerspiele, WOW, LOL oder was auch immer, genau wie die Jungs. Manchmal fühle ich mich, als sei ich von lauter Autisten umringt, die so langsam mit ihren Computern verwachsen. 3-D-Brille. Sich mit der 3-D-Brille aus der Wirklichkeit herauskatapultieren. Das würde mir nicht genügen. Das ist auch nur ein Gefängnis.

Ich habe mit der Zeit die halbe Wohnung mit Pflanzen vollgestellt. Blumengießen als Hobby. Ich bin eine richtige Orchideen-Expertin geworden, habe mich aber auch eine Zeitlang in meinen Gummibaum verliebt und jedes Blatt einzeln poliert. Jetzt hab ich es satt und würde die Dinger am liebsten irgendwo aussetzen. Wie einen Hund oder eine Katze auf einem Autobahnparkplatz. Bin ich froh, dass wir den Kindern keinen Hund erlaubt haben! Thomas hätten sie sogar fast soweit gekriegt. Und wer hätte den dann immer Gassi führen dürfen? Ich weiß auch nicht, warum es ausgerechnet Hundebesitzer sind, denen ich mit größter Verachtung begegne. Vielleicht, weil mir meine Kinder manchmal zu viel werden und die Hundebesitzer sich freiwillig einen Dauerpflegefall ins Haus holen, deren Häufchen sie in schwarzen Plastiksäckchen auffangen müssen, die die Polster vollhaaren, stinken und in den Kleiderschrank pissen. Gott, war ich froh, als ich das letzte, halbverbrauchte Windelpaket der dreiundvierzigjährigen Nachbarin in die Hand drücken konnte, voller Stolz darüber, dass ich mit der Kinderkacke endlich durch war, als die erst damit anfing, obwohl ich beinahe ihre Tochter hätte sein können. Geiles Gefühl. Aber wenn ich diese aufopferungsvollen Tierhalter sehe, bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich insgeheim schon den Tag herbeisehne, an dem Luis und Cedric aus dem Haus sein werden. Ich muss wohl mehr als nur ein Tierhasser sein. Ich liebe meine Kinder, ganz bestimmt, ich liebe sie über alles, aber sie haben mir auch die wertvollste und vitalste Phase meines Lebens geraubt, oder sagen wir: eingenässt, zugebrüllt, vollgekrümelt. Wie frustriert muss man sein, wenn man sich gleich im Anschluss an die Elternzeit in die Abhängigkeit von einem schwachsinnigen, sabbernden Säugetier begibt, das nicht mal ordentlich aufs Klo gehen kann? „Es gibt nichts Beruhigenderes, als einen Hund zu haben. Nur mit einem Hund kannst du nach dem Stress des Tages wirklich runterfahren.“ Wer sich zu solchen Sätzen hinreißen lässt, wäre wohl der geeignete Kandidat, um nach der Arbeit meine multimorbide und inkontinente Oma zu pflegen. Die freut sich auch sehr über Streicheleinheiten und will gerne mit dem Rollstuhl herumgefahren werden. Der Vorteil: Mit ihr kann man bei Bedarf sogar Mühle spielen.

Einkaufen, kochen, jeden Tag die gleiche Prozedur, immer muss ich mir was ausdenken. Sarah, wie läuft das eigentlich bei euch. In der Woche bist du ja im Prinzip unterwegs. Gehst du da immer essen? Und Justus? Kocht der für sich allein? Würde ich wohl eher nicht tun. Leider bin ich nicht nur für mich allein verantwortlich.

Wäsche sortieren, waschen (macht glücklicherweise die Maschine. Welch ein Fortschritt der Menschheit!), aufhängen (immer noch manuell, der Trockner funktioniert nur für Unterwäsche und Socken, hab keine Lust die T-Shirts zu bügeln, also hänge ich sie halbtrocken auf den Wäscheständer), zusammenlegen, in die Schränke sortieren, nebenbei den Müll in den Kinderzimmern auflesen. Bin ich mit dem Mist durch, liegt schon wieder ein neuer Haufen im Wäschekorb. Mittlerweile meinen auch unsere männlichen Mitbürger, sie müssten jeden Tag die Wäsche wechseln, während ich mir angewöhnt habe, meine Hosen auch mal eine ganze Woche zu tragen, im Wechsel mit einer anderen, damit niemand denken muss, ich sei eine ungepflegte Schlampe. Ich möchte mal einen ganzen Tag lesen können – oder schreiben. Ohne irgendeinen Gedanken an etwas anderes verschwenden zu müssen. Oder fotografieren. Einfach mal wieder einen ganzen Tag raus mit der Kamera – und dann noch die ganze Nacht. Ohne hinterher schief angesehen zu werden oder mir Vorwürfe anhören zu müssen. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wo bist du denn gewesen?“ Sollte eigentlich normal sein, dass man mal für zwei, drei Tage weg ist, einfach so. Finde ich. Ich hab nicht den blassesten Schimmer, was da draußen wirklich vor sich geht. In den Clubs, bei den Tankstellen, die die ganze Nacht geöffnet haben, in den Edel-Restaurants, in die du dich quasi einkaufen musst, um sie besuchen zu dürfen, wie das ja schon lange bei den Golf-Clubs üblich ist. Absteigen, Hotels, die ihren letzten Stern vor zehn Jahren verloren oder im Gulli versenkt haben. Ich möchte Leben einatmen, das ich dann in meinen Texten wieder ausatmen kann. Ich hab davon viel zu wenig, bin abgeschottet in meinem kleinbürgerlichen Mini-Wunderland, dieser Gummizelle, in der man sich weder die Knie noch den Kopf stoßen kann. Wisst ihr, ich habe Lust, mich endlich mal wieder so richtig dreckig zu machen, nicht nur wie in Kindertagen, sondern auch im übertragenen Sinn. Wir sind alle so verdammt moralisch geworden und möchten am liebsten mit einer weißen Weste sterben. Was das Klima und die verdammte Fleischesserei betrifft, möchte ich auch lieber mit weißer Weste sterben, aber es gibt so viele Dinge im Leben, da kommt es auf eine weiße Weste überhaupt nicht an. So viele Dinge, von denen ich noch gar nicht weiß, dass sie möglich wären.

Die scheinbar so wichtigen Dinge im Leben: die Hausaufgaben der Kinder, die Fünf in Mathe, die Sechs in Religion erfüllt mich sogar ein wenig mit Stolz, Toastbrot zum Frühstück, die richtige Marmelade (ohne Stückchen), nie warmes Essen ohne Fleisch, Spülmaschine ein- und ausräumen, saugen, wischen, staubwischen, Fenster putzen. Klar, die Aufgaben ließen sich auch besser verteilen, sind ja vier Personen im Haushalt. Aber sind das überhaupt „Aufgaben“? Wessen Aufgaben? Wofür? Mein Vorschlag: Immer genug Spaghetti, Tomaten, Olivenöl, Toastbrot und Käse im Haus haben. Reicht doch eigentlich. Und Obst. Und Rotwein. Nichts geht über einen kleinen Rausch. Und spätestens ab 19 Uhr haben alle frei. Ich hab oft Lust, nur in Unterwäsche in der Wohnung rumzulaufen, vor allem im Sommer, und wenn mir kalt wird, einfach den flauschigen Mantel drüberzuziehen, irgendeine billige Kunstfaser, aber ich liebe ihn einfach. Die Rotweinflasche auch mal schon am Vormittag öffnen, verrückte Fotos machen, ihr wisst schon, wie in Rumänien, und noch ein bisschen extremer, auf dem Teppich im Wohnzimmer liegen und stundenlang an die Decke starren. Ohne so Sätze hören zu müssen wie: „Mama, geht es dir nicht gut?“ Oder: „Kannst du dir mal was Richtiges anziehen? Ich kriege gleich Besuch.“ Ich müsste auch nackt in meiner Wohnung herumlaufen können. Es ist doch meine Wohnung. Nicht mein Problem, wenn die Besucher damit nicht umgehen können. Ich krieg manchmal so einen Rappel, da würde ich mir am liebsten alle Kleider vom Leib reißen, weil mir darin zu eng wird, weil ich ersticke, Beklemmungen kriege. Ich bin schon lange nicht mehr so gewesen, wie ich eigentlich bin, so, wie ich mich fühle. Eigentlich noch nie. Wie ich mich richtig fühlen soll, versteht ihr? Das Leben kann sich richtig oder falsch anfühlen. Die meiste Zeit fühlt es sich vollkommen falsch an. Ich will produktiv sein, mich für eine Sache verausgaben – und mich dann eine Zeitlang einfach gehen lassen. Ist das ein Privileg der Promis?

Mode: Jede Frau versucht ihren eigenen Stil zu entwickeln. Kann man wahnsinnig viel Energie drauf verschwenden. Aber hast du mal deinen eigenen, ganz persönlichen Stil gefunden, dann ist das eine verdammte Zwangsjacke, aus der du nicht mehr rauskommst. Ich will lieber alles ausprobieren dürfen, mich den einen Tag exzentrisch schminken, mich in ein sexy Outfit werfen, das so enganliegend und sexy ist, dass ich schon fast komme, wenn ich mich im Spiegel ansehe. Nennt man das Autoerotik? Und am nächsten Tag in Omas altem Mantel herumlaufen, der mir viel zu groß ist und aussieht, als bestünde er aus Mäusefell. Ich hoffe nicht, dass dafür wirklich 500 Mäuse dran glauben mussten. Den einen Tag mausgrau, den andren bereit zum Karneval. Lederklamotten. Ich hab immer mal wieder von einem superkurzen Lederrock geträumt, unter dem ich super sexy Wäsche trage. Ich hab mich nie getraut. Was könnte der Herr Oberlehrer denken – und seine Kollegen? Die Nachbarn im Haus? Würde ja bald heißen, ich würde mir auf dem Strich was dazuverdienen. Warum ist mir das nicht scheißegal? Dabei könnte das sogar wirklich eine spannende Erfahrung sein, wenn ich es recht bedenke, mal eine Zeitlang die Edelprostituierte zu geben. Ich möchte einfach nicht mehr festgelegt sein auf eine Rolle. Klar, ich könnte mich einfach über alle Erwartungen hinwegsetzen. Warum tue ich das nicht? Sollte ich! Aber es ist so verdammt schwer, und ich frage mich, warum das so ist. Warum wir nicht tun können, wonach uns ist. Es schadet doch niemandem, es tut doch niemandem weh, wenn ich in der Stadt unter meinem Kuschelmantel nur einen Bikini trage.

Ich hab vor einiger Zeit in einem Anfall vormittags Nacktselfies gemacht. Ich habe alle Vorhänge zugezogen und es genossen, splitterfasernackt durch die Wohnung zu springen. Ich hab Musik angemacht, richtig laut. Trotzdem habe ich die ganze Zeit Angst gehabt, jemand könnte mir zusehen. Oder jemand klingelt an der Tür, um sich wegen der Musik zu beschweren, oder ein Kind kommt vorzeitig von der Schule nachhause, weil es krank geworden ist. Was für ein Irrsinn! Oder jemand entdeckt die Fotos auf dem Apparat oder auf dem PC, Thomas zum Beispiel. Sogar das wäre mir peinlich. Und unter dieser Last, wegen dieser permanenten Unsicherheit weiß ich schon gar nicht mehr, was das für Fotos werden sollen, was ich mir überhaupt dabei gedacht habe. Am liebsten wäre mir, es gäbe jemanden, mit dem ich das zusammen machen könnte, Fotos machen, sich gegenseitig fotografieren, systematisch alle denkbaren Tabus überschreiten. So wie die großen Fotografen und Fotografinnen. Kennt ihr Bettina Rheims? Francesca Woodman? Unangepasstheit als tägliche Übung. Ich glaube, ich weiß gar nicht, wovon ich mich noch, von was allem ich mich noch befreien könnte und müsste, weil ich so wahnsinnig betriebsblind geworden bin. Wir sind doch alle betriebsblind geworden und können schon deshalb nicht mehr wissen, wie wir wirklich leben wollten. Ich jedenfalls fühle mich total berechenbar, sogar für mich selbst. Ich kann mich noch nicht mal selbst überraschen. „Jeder Mensch ist einzigartig“, heißt es immer wieder. Soll wohl ein Trost sein. Aber es stimmt einfach nicht. Ich bin nur das Abbild von den meisten anderen, eine vorprogrammierte Mischung aus vorgegebenen Zutaten, mehr nicht. Wie Curry-Pulver. Da gibt es bestimmt sehr viele unterschiedliche Mischungen, mit mehr oder weniger Knoblauch und Kurkuma, aber es bleibt doch immer Curry und schmeckt nach Curry. Aber ich möchte auch mal Chili sein und Garam Masala und Niespulver. Und Dynamit, Nitroglycerin.

Neulich im Park hat mir so ein Typ hinterhergeschaut, da kam mir der Gedanke, wie es wäre, ihm meine Titten zu zeigen, also mein T-Shirt hochzuziehen und für einen Moment meine Titten zu lüften, nur so. Ich hab eigentlich keine exhibitionistischen Neigungen, es geht auch nicht wirklich um Sex oder Erotik, aber ich fühle diese Gier, alles Einengende von mir weg zu stoßen. Und da fällt mir eben sowas ein. Ich hatte aber einen BH an und außerdem: Was wäre denn passiert, wenn ich es getan hätte? Du darfst ja gar nicht zeigen, wie schön du bist, obwohl die ja irgendwann perdu ist, die Schönheit. Verboten sogar dann, wenn dich jemand wirklich sexy findet und es einfach genießen würde, das zu sehen, für einen Augenblick. Für einen Augenblick des Glücks. Diese – wahrscheinlich sogar berechtigte – Angst, der könnte das als Aufforderung betrachten. Dabei will ich ihm nur eine kleine Freude bereiten – und mir. Diese Panik im Schwimmbad oder am Strand, dass sich vielleicht ein paar Härchen aus dem Slip herauskräuseln. Igitt, wie unanständig! Was sollen die Leute bloß denken! Lieber gleich alles komplett wegrasieren. Dabei finde ich meinen Busch wirklich schön. Was habe ich mich als Kind gefreut, als da endlich Haare zu wachsen anfingen! Und jetzt sind sie auf einmal pfui-bäh?

Die Geschichten, die wir Menschen uns erzählen, handeln fast immer vom verlorenen Paradies. Von der verlorenen Kindheit, der verlorenen Unbeschwertheit. Am Anfang der Dramen schwimmen ihre Helden noch bei Dämmerlicht und sanfter Sommerabendwärme in Seen und Flüssen. Am Ende blicken sie noch einmal wehmütig auf den Anfang zurück, bevor sie untergehen, bevor alles untergeht. Ich träume von einer Geschichte, die umgekehrt aufgebaut ist, einer Geschichte, die mit dem Untergang beginnt und mit dem Schwimmen in Seen und Flüssen endet. Gab es das schon mal? Eine Geschichte, die mit Chaos, Tod, Leid und Verzweiflung beginnt und dann immer besser und besser wird, bis alles gut ist?

[Die Umkehrung der Dramaturgie kommt der Sehnsucht nach Zerstörung des Gegenwärtigen gleich. Der darin zum Vorschein kommende Nihilismus ist ein dialektischer, weil er sich selbst zu einem neuen Sinn und zu einer neuen Fülle übersteigen will. Das geregelte, in vieler Hinsicht programmierte Mittelmaß des westlichen Durchschnittslebens kann kaum als ein zu Verbesserndes gedacht und entworfen werden. Es gibt immer nur graduelle und kaum spürbare Verbesserungen. Das selbstverschuldete oder auch schicksalhaft hereinbrechende Unglück bietet in der Phantasie die beste Kontrastfolie für das erdachte bzw. erst noch zu erdenkende Glück. Daher die Sehnsucht nach Zerstörung und Unglück, die irgendwann so überwältigend wird, dass man sich ihr dann auch handelnd unterwirft und das eigene Unglück wie das der anderen heraufbeschwört. Von dieser Art ist Donatas Sehnsucht. Sie findet eine Entsprechung in derjenigen, die Justus umtreibt. Und ist der Grund, weshalb die Autoren die Dystopie bevorzugen. Obwohl Donatas Gedankenspiele eine Lust an der Zerstörung offenbaren (sie nennt es Befreiung), folgt sie darin zugleich einer herrschenden Ideologie, für die das Neue immer besser ist als das Altbewährte. Kleidung, Autos, elektronische Geräte, Möbel, Accessoires werden mit immer höherer Frequenz ersetzt. Auch in bestehende Beziehungen hinein wirkt der Wunsch nach Erneuerung, allerdings ist der Bindungswunsch in der Regel sehr viel höher als die Sehnsucht nach einer neuen Beziehung oder nach außerehelichen Erfahrungen. Eine Beziehung aufzugeben käme dem Versuch gleich, das neue Auto selbst zu fertigen, oder ein besseres elektronisches Gerät selbst zu erfinden und zu bauen. Beziehungen sind kompliziert und stellen ein „Gut“ dar, in das bereits sehr viel „Arbeit“ investiert wurde. Der „Wert“ einer langjährigen Beziehung liegt weit über dem einer anvisierten neuen Beziehung. Bei Beziehungen stehen daher vor allem die Erneuerung bzw. Restrukturierung und die Selbstfürsorge im Fokus. Das können neue enge Freunde sein, die Entscheidung für neue Hobbies, Lektüre und Partnergespräche und das Experimentieren mit neuen sexuellen Praktiken mit dem Partner. Letzteres stellt viele Paare vor Probleme, da schon die Gespräche darüber die Bindung gefährden können. Der Partner, der ein Gespräch darüber beginnt, könnte damit zu verstehen geben, er sei unzufrieden mit dem partnerschaftlichen Sex – und sei es vielleicht schon immer gewesen. Sexuelle Phantasien können nur schwer ausgetauscht werden, weil sie im rückwärtigen Blick das bisherige Einverständnis und die Routine infrage stellen können. Phantasien könnten sich auch auf außerehelichen Sex beziehen und als Andeutung verstanden werden, die bestehende Bindung zu lockern oder gar aufzulösen.

Wenn es um Erneuerung geht, die mit Glücksgefühlen verbunden wird, geht es entweder um eine Erweiterung der häuslichen Produktpalette, um Wellness und Fitness, oder (in den letzten Jahren stark vermehrt) um die Optimierung des Sexlebens, um das herum sich ebenfalls ein großer, expandierender Markt gebildet hat. Auch wenn Donatas Befreiungsphantasien kaum auf neue sexuelle Erfahrungen bezogen sind, spielen sie doch (neben der künstlerisch-beruflichen Selbstverwirklichung) eine zunehmende Rolle, weil sie gerade in der Beglückung durch Konsum keine Lösung mehr sieht.]

Ein Chat: „Wart ihr denn schon mal in einem Pärchen-Club? Ich meine, ihr als kinderloses Ehepaar.“ „Ihr denn?“ „Ich habe mal Fotos in einem Swinger-Club gemacht.“ „Echt jetzt?“ „Sie hat nur in der Off-Zeit fotografiert, also danach, wenn die Putzkräfte die unappetitlichen Überreste beseitigen.“ „Du kannst nicht einfach bei laufendem Betrieb Fotos machen. Ihr würdet euch da ja auch nicht fotografieren lassen wollen. Ich hatte damals als junge Mutter leider keine Traute, mir das als Gast anzusehen. Ich hätte Thomas auch nicht fragen wollen, der fand’s sowieso schon komisch, dass ich diese Fotos gemacht habe.“ „Und jetzt?“ „Ich weiß nicht. Ich wäre ja vor allem an den Fotos interessiert.“ „Du würdest da nicht mitmachen wollen.“ „Erstmal eher nicht vorstellbar. Aber Marie müsste da eigentlich sehr erfahren sein. In der Zukunft könnte es normal sein, dass man mit seinem Partner in einen Swinger-Club geht.“ „Als Paar.“ „Ja, als Paar, weil du deine Partnerschaft ja nicht aufgeben willst. Wenn du einen Partner hast. Aber Marie geht auch solo in Clubs.“ „Gibt es da nicht einen unangenehmen Männerüberschuss?“ „Als Solo-Frau kommst du auch in die Pärchen-Clubs, das ist dann halbwegs überschaubar.“ „Scheinst dich ja auszukennen.“ „Nicht wirklich. Aber ich halte es für realistisch, dass es in Zukunft ein größeres Angebot geben wird und dass das auch wahrgenommen wird. Cybersex wird langfristig eine Nische für die Incels bleiben.“ „Incels?“ „Die unfreiwillig Zölibatären.“ „Und Pornografie?“ „Ich weiß nicht, wie das für Männer ist, aber für Frauen sind Pornos vor allem spannend, weil sie sehen, was möglich ist und was vielleicht für sie eine Erweiterung ihres Repertoires sein könnte. Pornos sind allenfalls Mutmacher, aber kein Ersatz für richtigen Sex, denke ich.“ „Denkst du.“ „Ja, weil ich keine Pornos gucke.“ „Solltest du aber vielleicht, wenn du glaubst, dass es für die Story von Bedeutung ist. Und vielleicht sollten wir einfach mal gemeinsam einen Pärchen-Club besuchen, damit wir wissen, wie das dort läuft. Ich meine, einfach nur zugucken. Wäre mir schon peinlich genug.“ „Das wäre endlich mal ein richtiges Abenteuer. Ich wäre dabei.“ „Ich weiß nicht.“ „Man muss ja nicht mitmachen.“ „Muss nicht?“ „Würden wir natürlich nicht.“ „Natürlich? Wer sich in Gefahr begibt, kommt bekanntlich darin um.“ „Spielverderber. Wer nichts wagt, gewinnt nichts.“ „Muss man wirklich alles hautnah kennengelernt haben, um darüber schreiben zu können?“ „Von hautnah ist ja keine Rede.“ „Aber vom Senken der Hemmschwelle. Wenn du es gesehen hast, willst du beim nächsten Mal vielleicht mitmachen, weil dir diese konkrete Erfahrung eben noch fehlt. Da kannst du das gleiche Argument bemühen wie fürs Zugucken.“ „Bist du eifersüchtig?“ „Nein.“ „Hast du Angst, du könntest selber Gefallen daran finden?“ „Bestimmt nicht.“ „Wo ist dann das Problem?“ „Du könntest Gefallen daran finden. Du hast doch schon Gefallen daran gefunden, oder nicht?“ „Also doch eifersüchtig.“ „Vermutlich. Neue Erfahrungen sind immer eine Bedrohung für ein stabiles System.“ „Was meinst du mit System? Du meinst unsere Beziehung. Die ist ein System? Ein stabiles System? Wenn da jede neue Erfahrung für dich eine Gefahr darstellt, dann sollte man wohl am besten keine neuen Erfahrungen machen, oder was?“ „Doch, schon, aber warum gerade in so einer heiklen Sache?“ „Sex ist eine heikle Sache. Du hast vollkommen recht. Aber warum ist das so? Sollte es so sein? Muss es so sein?“ „Weil an der Frage des Sex Beziehungen zerbrechen.“ „Rein theoretisch gefragt: Müssen Beziehungen daran zerbrechen, oder ist es nur eine Ideologie, die uns dazu verpflichtet, deswegen Beziehungen aufzulösen?“ „Seid ihr eigentlich noch beim Thema? Einen Club zu besuchen, um mal Mäuschen zu spielen, ist doch was ganz anderes als Fremdgehen. Finde ich jedenfalls. Das stünde doch allein unter dem Vorzeichen der Recherche. Naja, eine Portion Voyeurismus wäre auch dabei. Es gehen eine ganze Menge Paare in solche Clubs, ohne was mit anderen zu haben, oder ohne da überhaupt Sex zu haben.“ „Woher weißt du das denn jetzt? Du bist ja anscheinend auch voll auf dem Laufenden.“ „Multitasking. Ich google nebenbei.“ „Ich frage mich ehrlich, warum man sich das in natura ansehen muss. Was da passiert, können wir uns alle doch wohl ziemlich gut vorstellen. Und wir können uns ebenso gut ausmalen, wie die Club-Szene im Jahr 2050 aussehen könnte. Vermutlich sogar spannender als jeder heute existierende Club. Wir wären wohl alle sehr ernüchtert von dem Besuch so eines Clubs.“ „Also lieber kein Abenteuer.“ „Ein Abenteuer wäre es doch nur wegen des Reizes, am Ende doch mitzumachen.“ „Was würde eigentlich dagegensprechen? Nur mal so als Frage in den Raum gestellt, weil das ja offenbar eine echte Tabuzone für uns alle ist. Warum sollte Marie Tabus übertreten, denen wir selbst aus dem Weg gehen wollen?“ „Dann ist Marie eben eine Angst-Büx. Genau wie wir. Aber Marie tickt eben ganz anders als wir.“ „Und wir ticken so, wie wir ticken. Wir können nicht aus unserer Haut.“ „Das ist genau das Stichwort: Wir können nicht aus unserer Haut. Wir wollen keine neuen Erfahrungen machen, weil wir Angst vor den Konsequenzen haben. Deswegen bewegt sich auch nichts mehr in unserem Leben. Wir warten nur geduldig darauf, dass Omas, Tanten, Onkel und Eltern sterben, dass unsere Freunde Krebs kriegen, oder ihre Ehe in die Brüche geht, damit immer mal wieder was Aufregendes passiert. Hauptsache wir selbst sind nicht die Leidtragenden. Die armseligen Abenteuer, die wir noch erleben, sind nur noch die, die uns zustoßen, die wir erleiden. Selbst etwas in Bewegung zu setzen, riskieren wir nicht. Wir haben Angst zu verlieren, was wir zu besitzen glauben. Aber dieser vermeintliche Besitz schrumpft von Tag zu Tag. Wir leben von der Substanz – und den Verlusten, die andere erleiden. Ist es nicht viel sinnvoller zu investieren, was man hat, jedenfalls einen Teil davon? Wenn ich mit 90 Jahren sterbe, oder so, dann bleibt von all dem gut Gehorteten doch auch nichts übrig. Und es geht ja noch nicht mal um Geld und Wohlstand, es geht nur um Erfahrungen. Ich brauche jetzt auch nicht unbedingt die Erfahrung in einem Club, bestimmt nicht, es geht mir grundsätzlich um die Frage, welche Erfahrungen ich noch machen kann und setze dabei vielleicht etwas naiv voraus, dass Erfahrungen auf jeden Fall bereichernd sind. Wir dümpeln doch nur die ganze Zeit vor uns hin, weil wir unsere Komfortzone nicht verlassen wollen. Aber in der Komfortzone zu bleiben, bedeutet immer Stagnation, und Stagnation ist es doch, was uns unzufrieden macht.“ „Wir schreiben einen Roman.“ „Ja, aber wir sollten einen Roman schreiben, in dem die Figuren, oder jedenfalls eine der Figuren ihre Komfortzone verlässt.“ „Und scheitert?“ „Meinetwegen. Wenn sie scheitert, dann gibt man all denen Recht, die beharrlich davor warnen, die Komfortzone zu verlassen. Die erfolgreichsten Menschen haben aber immer irgendwann den Entschluss gefasst, ihre Komfortzone zu verlassen.“ „Und von den Gescheiterten erfährt man leider nichts. Wir kennen immer nur die Erfolgsgeschichten. Und das sind eher wenige.“ „Dann müssen wir in unserem Roman also beschreiben, wie es sich die Mehrheit der Menschen in ihrer schönen neuen Komfortzone bequem gemacht haben? Auch eine Lösung. Ein Roman über das Unglück in der Komfortzone zu leben. Ehrlich gesagt, fände ich das ziemlich langweilig.“ „Oder bedrückend, gruselig. Keiner traut sich mehr was.“ „Oder nur noch die, die die Macht haben. Die können sich alles erlauben.“ „Wird aber auch langweilig.“ „Also doch: Es ist langweilig. Euch geht es doch auch so. Ihr wollt doch auch lieber Geschichten von Menschen lesen, die ausbrechen, die Risiken eingehen, die etwas aufs Spiel setzen. Ist das nicht die einzige Möglichkeit in einer heillosen, rettungslosen Welt, das richtige Leben zu führen? Wir sind gierig nach Abenteuern, aber wir lassen sie nur die Schauspieler in Kino-Blockbustern erleben. Mir reicht das nicht mehr. Wenn ich von Abenteuern schreibe, dann möchte ich mir die nicht ausschließlich ausgedacht haben.“ „Die Abenteuer sind im Kopf.“ „Ich fände es schon sehr abenteuerlich, wenn wir uns gemeinsam ausdenken würden, wie die Clubs beschaffen sind, in die Marie geht, und was die Menschen dort so treiben.“ „Würden wir uns das wirklich zutrauen?“ „Du hast recht, wir sollten es lassen, das würde nur, wie du schon richtig gesagt hast, die Hemmschwelle senken. Wären wir damit durch, würden wir schließlich doch eine Ortsbegehung beschließen, uns über zwei drei Pärchen hermachen und schließlich als geschiedene Prostituierte in der Gosse landen.“ „Und? Wie sähe es denn in Maries Lieblingsclub aus? Wer fängt an?“ Schweigen. „Keine Ahnung. Ich würde doch erst mal auf einschlägigen Websites nachsehen, was heute schon angeboten wird, so als erste Orientierung.“ „Und Swinger-Videos anschauen?“ „Sind das dann nicht gestellte Szenen? Die erzeugen doch ein vollkommen falsches Bild.“ „Oder ein sehr ernüchterndes.“ „Donata, wie sollte der Schuppen denn aussehen, in den Marie wirklich gerne geht?“ „Im Moment habe ich eher sowas wie eine Disko vor Augen, eine Disko mit verschiedenen Darkrooms für unterschiedliche Bedürfnisse. Für ein Luxus-Etablissement hätte Marie doch gar nicht das Geld.“ „So mit Saunalandschaft, Pools, Cocktailbar und Himmelbetten.“ „Ich weiß es wirklich nicht.“ „Wie auch? Du bist ja nicht solo, wie Marie.“ „Was würdest du dir denn wünschen, wenn du solo wärst?“ „Ohne Ehemann und ohne Kinder?“ „Ja, lösch die spaßeshalber mal komplett aus.“ „Geht nicht, vollkommen unmöglich. Das geht nicht so spontan. Absolute Leere in meinem Kopf.“ „Dann haben wir ja eine hübsche Hausaufgabe für dich gefunden.“ „Und ihr? Warum soll das allein meine Hausaufgabe sein? Was ist denn zum Beispiel mit Birthe und Ernest? Die leben doch auch nicht zölibatär. Birthe ist genauso solo wie Marie. Die will doch auch mal ihren Spaß haben.“ „Tja, Birthe ist ja irgendwie das Ebenbild von Sarah. Die kommt ganz gut ohne Spaß aus. Die ist eines der letzten Exemplare einer vergangenen Epoche, in der Frauen Sex schmutzig fanden und für eine lästige Nebensache hielten, wenn sie einen Partner dauerhaft an sich binden wollten. Sarah, hast du nicht selbst gesagt, die Bedeutung von Sex wird massiv überschätzt?“ „Sex ist wichtig. Aber es gibt größere Probleme in der Welt als die, die du für sexuelle Probleme hältst.“ „Sex ist wichtig. Das hört sich an wie ‚Hygiene ist wichtig‘. Genau das meinte ich gerade: Sex ist für manche, haha, ‚antike‘ Menschen ein funktionaler, instrumenteller Aspekt in einer Beziehung, eine Art Steuerinstrument.“ „Da irrst du dich aber gewaltig. Es kommt eben auf die Qualität an. Im Übrigen: Ich hätte keine Probleme damit, in so einen Club zu gehen.“ „Ich nehme dich beim Wort.“ „Moment! Und wenn ich da gar nicht hin wollte? Würdet ihr dann wieder so ein Dreier-Ding daraus machen?“ „Nein Thomas, ohne dich würden wir das natürlich auf keinem Fall machen. Wenn, dann müsstest du schon mitkommen. Oder wir gehen gar nicht. Außerdem: Hatten wir nicht längst beschlossen, dass wir das im Gespräch klären?“ „Die Hausaufgabe für Donata und Thomas? Du machst einen Rückzieher.“ „Nein, ich denke nur darüber nach, was die effektivste Lösung ist. Ich glaube nicht, dass wir nach dem Besuch eines Swinger-Clubs auch nur einen Deut schlauer wären. Die Phantasie hat da sicher weit mehr zu bieten.“ „Deine Phantasie, Sarah?“ „Meinst du, ich könnte in dieser Hinsicht keine Phantasien entwickeln?“ „Keine Ahnung, jedenfalls würdest du dich schwertun, sie auch in Worte zu fassen.“ „Täusch dich nicht!“ „Das ist es! Die Schlüsselszene des Romans: Paul zieht sich eine Dosis Adrenalin oder irgendein Zeug rein und führt Marie in einen Edel-Club aus, den sie sonst niemals bezahlen könnte. Aber Paul hat ja genug Geld. Hey, wer macht noch ein Date im Restaurant? Um sich so richtig in Stimmung zu bringen, geht man in einen Sex-Club für Paare! Und wen treffen die da? Natürlich Birthe und Ernest! Eine ziemlich peinliche Begegnung für Marie und Birthe, von wegen beruflicher Hierarchie und so. Vor allem Birthe fühlt sich nicht besonders wohl. Das reizt Marie dazu, vor ihren Augen Sex mit Paul zu haben, und vielleicht macht sie sich dann auch noch an dem Ding von Ernest zu schaffen. So lernen sich die Vier erst richtig kennen. Vielleicht macht sich Marie dann auch noch an Birthe ran. Sie fesselt sie im BDSM-Raum und genießt es, Macht über ihre sonst so ungeliebte Chefin zu haben.“ „Übertreib’s mal nicht, Justus. Was wäre dann noch mit der Rolle, die Omi in Maries Leben spielt? Wenn sie so draufgängerisch ist.“ „Die hat sich halt was Enthemmendes eingeworfen. Aber das mit Omi droht ja eine festere Beziehung zu werden. Das will Marie auf keinen Fall. Omi hat sehr exklusive Ansprüche an eine Beziehung, das ahnt Marie. Darum gibt sie sich bei Omi sehr viel spröder. Die gehen alle sehr strategisch in der Frage von festen Beziehungen vor. Marie ist ja durchaus nicht lesbisch, aber sie könnte trotzdem Spaß daran haben, bei Birthe einen Orgasmus mit einem Hochleistungsvibrator zu erzwingen. Und Ernest holt sich dabei einen runter.“ „Du schaust echt zu viele Pornos, Justus.“ „Tatsächlich? Dann wärst ja eigentlich du der Kandidat dafür, sich eine Szene im Club auszudenken. Hast deine Phantasie ja schon eifrig spielen lassen.“ „Nee, das könnte vielleicht etwas zu krass werden, ehrlich. Mich interessiert weit mehr, was in euren Köpfen so vor sich geht.“ „Wow, wir sind wirklich eine hübsche Versammlung von Feiglingen. Trotzdem war das jetzt schon ein richtiges kleines Abenteuer. Findet ihr nicht? Es macht echt Spaß, mit euch hemmungslos über alles reden zu können.“ „Sollten wir unbedingt fortsetzen.“

*

Donata beginnt kurz nach dem Start des Projektes einen Blog, auf dem sie ihre neuesten Fotos veröffentlicht und kurze Berichte über die Entwicklung des Romans schreibt – aus ihrer Sicht. [Dadurch würden sich die Gewichte zwischen den Autoren allerdings stark verschieben. Das hätte nicht nur Nachteile, sondern vielleicht auch den großen Vorteil, dass eine Figur deutlich in den Vordergrund rücken würde, in diesem Fall Donata. Um Sarah am Ende zur Herausgeberin machen zu können, müsste Donata allerdings irgendwann aus dem Projekt aussteigen und ihr „Ich will endlich raus!“ wahr werden lassen. Vielleicht kommt Donata auf die Idee mit dem Blog auch erst, nachdem ihr Sarah von dem anonymen Blog von Krull&Krull erzählt hat. Hinter diesem Blog könnten sich allerdings auch Sarah und Justus verbergen. Damit wäre die Konstellation des kinderlosen Paares komplett auf den Kopf gestellt. Der Blog von Krull&Krull käme nur in kurzen Zitaten im Roman vor. Sarah und Justus wären dann (wieder) ein eingeschworenes Team, das Donata und Thomas für eine Art soziales Experiment an den Angelhaken genommen hat. Sie spielen dann sowohl gegenüber Thomas und Donata eine verabredete und pseudoauthentische Rolle, als auch auf ihrem Blog. Dort könnten sie auch in verschlüsselter Form über ihr soziales Experiment berichten. Wäre Sarah dann noch die Business-Frau wie zuvor? Wäre Justus dieser erfolglose Jugendbuch-Autor? Oder wären sie in Wirklichkeit glückliche Lottomillionäre, die ihre Berufe bereits vor vielen Jahren aufgegeben hätten? Vielleicht hätte Justus tatsächlich diese Romane geschrieben und wenig Erfolg gehabt. Vielleicht hat Sarah wirklich eine Weile in einem großen Unternehmen gearbeitet. Ein mögliches Szenario: Nachdem Sarah und Justus einen zweistelligen Millionenbetrag im Lotto gewonnen hatten, stellte sich die Frage, wie sie damit umgehen sollten. Ein neues Leben beginnen, nicht mehr arbeiten müssen, aber sich auch nicht langweilen. Zudem wollten sie nicht, dass jemand von ihrem plötzlichen Reichtum erfährt. Sie haben ihren ursprünglichen Wohnort verlassen und sich neue Identitäten zugelegt. Sie bewohnen mehrere Wohnungen, eine davon ist die von „Justus und Sarah“, eine andere die von „Krull&Krull“. In einem neuen Roman, den „Sarah und Justus“ gemeinsam schreiben wollten, sollten ihre erfundenen Charaktere im Zentrum stehen. Um sich mit diesen Figuren wirklich identifizieren zu können, hatten sie begonnen, in der Öffentlichkeit mit ihren erfundenen Backstories aufzutreten. Es war ein verrücktes und dekadentes Spiel, das unter anderem darin bestand, bei Begegnung mit Fremden neue Details ihrer Geschichte spontan zu erfinden und zu improvisieren. Bedingung war, die „Angebote“ des anderen immer zu akzeptieren. Das Projekt „Sarah und Justus“ sollte zunächst auf ein Jahr begrenzt werden und am Ende sollte eine Art Roman daraus entstehen. Ihren Freunden (und ihren erwachsenen Kindern?) kündigen sie eine einjährige Auszeit im Ausland an. Als sie Donata kennenlernen erzählt Justus zwar von seiner Vergangenheit als Jugendbuchautor, sagt aber, der Name, den er damals verwendet habe, sei ein Pseudonym gewesen. Viele Autoren schreiben unter Pseudonym. Als dann Sarah, nachdem sie von Donata gehört hat, sie sei Fotografin, spontan die Geschichte von dem Reiseführer erfindet und dann auch noch leichtfertig von Rumänien spricht, gerät das Paar in Zugzwang, nachdem sich Donata für die Fotos angeboten hat. In Rumänien entsteht die Idee mit dem gemeinsamen Roman. Sarah findet es viel spannender, Donata und Thomas in ihr Spiel fest zu integrieren. Sie ahnen noch nicht, wie fatal sich dieses unmoralische Spiel auf Donata und Thomas auswirken wird. Die Rollenverteilung zwischen Sarah und Justus konkretisiert sich. Sie konstruieren sich als ein höchst problematisches, kinderloses Paar. Justus liebt die Rolle des Provokateurs, Sarah denkt sich ihre Geschichte vor dem Lottogewinn weiter. Was wäre gewesen, wenn sie nicht plötzlich im Geld geschwommen wären? Hätte ihre Beziehung gehalten? Auch diese Frage spielt für sie eine Rolle. Das ist für beide nicht nur angenehm. Das Improvisieren kann für sie auch schmerzhafte Seiten haben, denn bei aller Offenheit, die sie beide seit einigen Jahren pflegen, gibt es doch immer noch wunde Punkte. Aber sie haben auch Spaß daran, ihre unterschwelligen Auseinandersetzungen in den Chats auf die Spitze zu treiben. Die Konsequenz müsste allerdings sein, dass Thomas und Donata bei diesem Experiment am Ende irgendwie auf der Strecke bleiben. Der letzte Teil, den sie schreiben, wäre dann auch möglicherweise etwas wie eine doppelbödige Beichte. Und ja, Thomas hat recht, als er irgendwann anmerkt, er fühle sich wie eine Art Versuchstier. Die Pfade führen immer wieder hinaus in die gefakten Blogs von Donata und Krull&Krull. Zugleich bleibt der Roman über das Vierer-Team in sich homogen. Für Donatas Blog müssten allerdings gefakte Fotos entstehen, für die sich Freiwillige zur Verfügung stellen müssten. Entsprechend würden die Grenzen des Romans radikal aufgesprengt.

Die Geschichte einer Manipulation? Wie würden Sarah und Justus in das Leben von Donata und Thomas verwickelt – und umgekehrt? Was passiert, wenn aus dem Spiel Ernst wird? Nehmen Justus und Sarah ihre Verantwortung wahr? Was, als klar wird, dass Thomas im Burn-out steckt? Was, als deutlich wird, wie sehr Donata ihre Kinder vernachlässigt? Was, als Donata immer stärker von Thomas abrückt? Intervenieren sie? Beginnt Sarah sich um die Jungs zu kümmern? Wie kommen sie aus dieser Nummer wieder heraus? Was ist mit dem Vertrauen, das Thomas und Donata in sie entwickelt haben? Wenn das gemeinsame Romanprojekt scheitert, und dazu auch die Beziehung zwischen Thomas und Donata, dann laden Justus und Sarah zu große Schuld auf sich. Die Hexenmeister können über den Besen, den sie zum Leben erweckt haben, nicht mehr verfügen.

Was kann dann noch im Haus am See geschehen? Sarah und Justus könnten die Figuren des Zukunftsromans am Ende auslöschen, erschießen – und Thomas und Donata ihre Geschichte erzählen, woraufhin Donata und Thomas schließlich Justus und Sarah erschießen.

Die Katastrophe am Ende des Hauptteils müsste dazu führen, dass Sarah alle in ein Haus in Rumänien einlädt, um die Sache, den Betrug aufzuklären. Übrigens dürfte dann zwischen Donata und Justus nichts „Außereheliches“ vorgefallen sein. Oder etwa doch? Ist das vielleicht Teil der Katastrophe, dass Justus und Sarah ebenfalls nicht ungeschoren aus der Geschichte herauskommen? Weil Justus übertreibt, übermütig wird? Weil Sarah tatsächlich eine Affäre mit Pascal hatte? Weil Justus und Sarah bald selbst nicht mehr wissen, was Wirklichkeit und was Fiktion ist?

Umorganisationen: Die erdachte Affäre mit Pascal lässt Sarah schon sehr frühzeitig heraus. Und Sarah wird tatsächlich noch einmal schwanger, allerdings von Justus. Wer hätte das gedacht? Donata hat bei einem Treffen bemerkt, dass Sarah ein Bäuchlein kriegt. Aber Justus erfindet die Beziehung zu Xaver, den sich Sarah einmal im Chat spontan ausgedacht hatte. Wie reagiert der erfundene Justus darauf? Zieht er sich zurück? Welches Drama inszenieren Sarah und Justus dafür? Oder ist Sarahs Schwangerschaft doch nur erfunden? Dann wollen Sarah und Justus nur sehen, wie Thomas und Donata auf dies Drama reagieren, die wie erwartet und erhofft, zu Liberalität und Verzeihen ermahnen. Dann ist wenigstens endlich ein Kind in der Familie? Ist doch nicht so schlimm, wenn es ein braunes ist. Ist es braun? Wer war nochmal Xaver?

Noch einmal das Modell: Dem Paar, das sich die Namen Justus und Sarah gegeben hat, eröffnen sich mit einem Lottogewinn alle Möglichkeiten, ein anderes Leben als zuvor zu führen.  Die beiden beschließen, zunächst für ein Jahr in neue Identitäten zu schlüpfen, ihr Leben gewissermaßen zu einem Roman zu machen. Für dieses Spiel brauchen sie natürlich auch Mitspieler, die zugleich ihr Publikum sind. Eine dekadente Maskerade, die zugleich ein Selbsterfahrungstrip sein soll. Grundsätzlich sehen sie keine moralischen Probleme, denn sie treten ja als „normales“ Paar auf. Dass sie ihre Geschichten und ihre Handlungsmotive erfinden bzw. improvisieren, ist ihr persönliches Spiel. Für die Konsequenzen, die die anderen daraus ziehen, sind sie nicht verantwortlich, oder nicht mehr, als wenn sie sich mit anderen Geschichten ausstatten würden, oder „sie selbst“ wären. Dieses „wir selbst“ haben sie aber grundsätzlich in Zweifel gezogen. Sie sind, was sie aus sich machen. Solange sie nicht direkt in das Leben der anderen eingreifen, oder Profit aus ihren Bekanntschaften zu ziehen versuchen, den anderen schaden, ist das, was sie tun, im engeren Sinne kein Betrug. Jeder Mensch erfindet seine eigene Geschichte, indem er aus Fragmenten seiner Erinnerungen Sinnkonstrukte herstellt und sich so eine Identität verschafft. Diese Neigung jedes Menschen treiben Justus und Sarah spielerisch auf die Spitze. Als zweckfreie Kunst, als gelebte Literatur. Erfinde dein Leben! Sie können es sich erlauben, es ist eine ganz besondere Form des Luxus. Die Menschen verbergen sich doch auch in ihrem scheinbar authentischen Leben hinter Masken. Hinter die Masken der anderen wollen Sarah und Justus schauen, indem sie sich selbst Masken aufsetzen und sich Methoden überlegen, mit denen sie die anderen dazu verführen können, ihre Masken fallenzulassen. So der Plan. Was für ein Vergnügen! Aber aus jedem Spiel wird irgendwann ernst. Justus ist fasziniert von Donata und lässt sich auf eine Affäre mit ihr ein. Justus hat die Grundregel verletzt und auch ihr Bündnis in Gefahr gebracht. Sarah will aussteigen, sie ist verletzt, fühlt sich aber irgendwie auch gebunden an die libertäre Haltung, die sie aus Thomas und Donata herauszulocken versucht haben. Seitensprung? Muss das ein Grund für die Trennung sein? Sarah begibt sich auf eine fiktive Reise nach Rumänien und zieht vorübergehend in die Zweitwohnung, wo sie sich in neue Kapitel für Birthe vertieft. Überhaupt: Justus hat sehr viel mehr Gefallen an dem Spiel mit falscher Identität, und Sarah interessieren immer mehr die Fragen, die sich aus dem Zukunftsroman ergeben. Sie wird ernster und bekommt Skrupel. Sie will, dass der Zukunftsroman seriös wird. Das ist sie den beiden Mitautoren schuldig. Sie sollen wenigstens mit einem Ergebnis aus diesem Spiel gehen, das sie befriedigt. Deshalb schreibt sie auch die Kapitel für Ernest, die Justus nicht in Angriff nimmt. Sie begreift, dass ihr Spiel nur eine schöne Illusion gewesen ist und dass Justus sich nicht verändert hat. Ihr stoßen all die Verhaltensweisen von Justus auf, die sie auch schon vor dem Lottogewinn gestört haben. Und Justus fühlt sich immer noch von Sarah dominiert und beginnt, nur noch seinen Vorteil zu suchen, den Nervenkitzel. Er beginnt immer mehr, seine Macht zu genießen und auszunutzen. Um Schlimmeres zu verhüten, müsste Sarah die ganze Sache auffliegen lassen. Oder kommt ihnen Thomas auf die Schliche? Sarahs Erzählungen von ihren beruflichen Erfolgen entsprechen keine Informationen im Internet. Lügen haben kurze Beine. Das Pseudonym, das Justus angeblich für seine Jugendbücher benutzt hat, ist sein wahrer Name, Justus Stirner das Pseudonym. Thomas und Donata müssen sich ausgenutzt und ausgebeutet fühlen. Aber warum? Zu welchem Zweck?

Peinliche Situation. Der erste Affekt: Schuldeingeständnisse, tiefe Scham, Rückzug. Wollen jetzt alle kapitulieren? Soll der Roman nicht beendet werden? Gehen zwei Ehen in die Brüche? Kann und darf es das Kunstwerk Leben (als gelebte Fiktion, als freies Spiel) nicht geben?

Aber es ist doch auch ein spannendes, aufregendes Spiel gewesen! Ist der Gedanke, das Leben als Spiel aufzufassen nicht nach wie vor reizvoll und sogar sinnvoll? Was spricht gegen das Erproben immer neuer Rollen? Ist das nicht die einzige Möglichkeit der Befreiung: sich an die eigene Geschichte gebunden zu fühlen? Sartre meinte, wir hätten „unsere Geschichte zu sein“, aber erschrieb ebenfalls, dass das Wesen des Menschen Freiheit sei. Noch der Gefangene habe die Freiheit, gegen die Gefängnismauern anzukämpfen, auf den Entwurf in die Zukunft käme es an. Es gibt die Möglichkeit, dass sich die vier Autoren erneut verbünden und in eine neue Phase des Spiels übergehen, für das keine Masken mehr nötig sind.

 

Die literarischen Motive und ihre dramaturgische Bedeutung:

Der Lotto-Jackpot und das gute Leben: Wenn es um die Frage geht, „wie wir leben wollen“, dann fallen uns viele Hindernisse ein, die verhindern, dass wir so leben könnten, wie wir wollten. Es sind zumeist wirtschaftliche Einschränkungen, die uns daran hindern, immer das zu tun, was wir wollen und für richtig halten. Wenn es um das gute und vor allem richtige Leben geht, also der moralische Aspekt in den Vordergrund gerückt wird, geht es oft nicht mehr um das angenehme und bequeme Leben, sondern um die Harmonie aller mit der Natur, mit sich selbst und dem Planeten Erde. Es erscheint illusorisch, auf eine Revolution oder eine weltanschauliche bzw. religiöse Massenumkehr zu hoffen, die allen Menschen ein menschenwürdiges Leben in und mit der Natur ermöglichen würde. Die moralischen Ansprüche derer, die sich eine solche Revolution wünschen, verschwinden nicht mit der Einsicht in die Unwahrscheinlichkeit, dieses Ziel jemals erreichen zu können. Die individuelle Lösung besteht in einer Mischkalkulation, bei der die Vorteile der unausweichlichen Einbindung in eine kapitalistisch organisierte Gesellschaft mit einigen wenigen signifikanten Elementen kombiniert werden, die den Lebensweisen und Einstellungen im moralisch-ökologischen Utopia zu entsprechen scheinen. Wenigstens graduell in geringerem Maß das eigene Leben nach den Maßgaben des raubbauenden Kapitalismus zu gestalten, beruhigt das Gewissen und bedient damit die Sehnsucht danach, ein moralisch richtiges Leben zu führen. Die Elemente können im Bereich der Ernährung liegen (Bio-Produkte, Vegetarismus, Konsumvermeidung, Umweltaktivismus etc.), im caritativen Bereich (Spenden, soziales Engagement, Menschenrechtsorganisationen etc.) oder im Bereich des politischen Aktivismus. Die Aktivitäten können aber immer nur auf der Grundlage einer gewissen wirtschaftlichen Potenz aufrechterhalten werden. Entweder man arbeitet für eine Umweltorganisation, oder man ist zum Beispiel ein politischer Abgeordneter. Wenn nicht, muss das moralisch motivierte Ausgleichsverhalten durch die Beteiligung an genau dem Wirtschaftssystem erkauft werden, gegen das sich die moralischen Bemühungen in letzter Konsequenz richten müssen.

Bei den wenigsten Menschen stehen vermutlich die moralischen Grundsätze und Ziele als Handlungsmaximen an erster Stelle, sogar für die wenigsten Aktivisten. Das wirtschaftliche Fundament für das Handeln muss in jedem Fall gelegt und gesichert werden. Wer kein Geld besitzt, ist in jeder Hinsicht ohnmächtig und könnte allenfalls noch zum Märtyrer werden. Menschen, für die das gute und richtige Leben in hohem Maße ein moralisch richtiges ist, leben daher trotz aller Bemühungen in einem Widerspruch zwischen ihren Werten und der Eingebundenheit in einen vermutlich zerstörerischen und teils unmoralischen Wachstumskapitalismus. Der Widerspruch lässt sich nur zu einer Seite hin auflösen, nämlich in die Richtung eines hemmungslosen Hedonismus, der das kapitalistische System ohnehin antreibt. Zur Seite eines mit wahrnehmbaren Effekten verbundenen moralisch richtigen Handelns gibt es nur graduelle Steigerungsmöglichkeiten, die mit hohem persönlichen Aufwand erreicht werden können – oder auf der Grundlage eines größeren Vermögens (Bill und Melinda Gates). Wer wenig hat, empfindet dagegen die meisten moralischen Ansprüche als Luxus.

Bei der Frage, wie sie sich ein gutes und optimales Leben vorstellen, würden die meisten Menschen als erstes an das wirtschaftliche Fundament denken: Geld. Geld öffnet alle Türen. Der Lotto-Jackpot von 25 Millionen Euro (für wirklich Reiche ein lächerlicher Betrag) eröffnet für den Otto-Normalverbraucher viele neue Möglichkeiten, die für ihn mit dem guten Leben in Verbindung stehen. Wenn man den Betrag erst einmal auf seinem Bankkonto weiß, verblassen die guten Vorsätze, einen großen Teil davon für gute Zwecke zu spenden. In den Vordergrund rücken vergangene unerfüllte und neue ungeahnte Konsumwünsche, zu denen im Prinzip alles gehört, was bezahlt werden muss, also auch z.B. Reisen, das Haus am See, teure Restaurants – alles das, was sich auch Ernest leisten kann. Er ist der Superreiche, der sich seinen Reichtum erarbeitet hat und seine moralischen Ansprüche auf individuelle Weise mit den Notwendigkeiten des kapitalistischen Systems vermittelt hat. Er hat wie die meisten Anderen persönliche Schuld auf sich geladen (das „Findelkind“) und ist in kollektive Schuld verwickelt, der er aber zu entkommen versucht hat. Birthe hat für sich eine Nische gefunden, in der sie ihre Verwicklung in kollektive Schuld weitgehend ausblenden kann. Daher hält sie sich für moralischer als Ernest.

Das gute Leben auf der Grundlage eines großen Vermögens kann auch noch einige Aspekte im Randbereich der Konsumkultur aufweisen: Freizeit, Zeit für kreative Tätigkeiten, die Lösung aus belastenden bzw. lästigen Bindungen etc. Das Paar mit dem Lottogewinn muss sich nicht mehr als Zugewinngemeinschaft verstehen, dessen wirtschaftliche Situation durch eine Trennung gefährdet werden würde. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit (12 Millionen für jeden) wirft die Frage auf, ob die Partnerschaft unter diesen Bedingungen weiter aufrechterhalten werden soll. Abgesehen davon, dass man sich die Liebe und Anerkennung des Partners wünscht und benötigt, bietet der Reichtum die Möglichkeit, eine bestehende Partnerschaft weitgehend risikolos zu gefährden, etwa durch Seitensprünge oder die Uneinigkeit über weitere Ziele und Konsumwünsche (der Wohnsitz in der Karibik oder am Gardasee? Ich hier, du da?). Man muss keine Kompromisse mehr machen. Und wie viele Kompromisse man früher gemacht hat, bemerkt man erst mit dem unverhofften Reichtum.

Es gibt viele Fallstricke für die neuen Lottomillionäre: Das Geld ist schnell sinnlos ausgegeben, Freundschaften zerbrechen, nachdem man mit dem neuen Reichtum geprahlt hat und die fordernden falschen Freunde zahlreicher geworden sind. In einer Kleinstadt wie Parchim oder Pocking gäbe es auch viele Bittsteller aus Politik und Kultur, die lästig werden könnten. Die Angst vor Überfällen und Entführung steigt (wenn auch eher unbegründet). Es ist ratsam, den Millionengewinn geheim zu halten und den Konsum nur sehr moderat zu steigern.

Für Sarah und Justus stehen mit dem Gewinn (in diesem Modell) wichtige Entscheidungen an. Wollen sie ihr Kapital durch Arbeit und Investitionen weiter vermehren? Oder nutzen sie es für die Ausgestaltung eines guten Lebens? Wollen sie weiter eine Wochenend-Ehe führen? Will Sarah jetzt doch noch ein Kind? Justus will sich angesichts der neu gewonnenen Freiheit nicht unnötig einschränken. Nicht durch ein Kind. Über ihre Träume sind sie sich anfangs noch nicht wirklich klar. Wird Justus weiter Romane schreiben und auf den großen Erfolg hoffen? Die Ruhe zum Schreiben hatte er doch auch schon zuvor. Will Sarah weiter in ihrem Beruf arbeiten? Oder kauft sie sich in das rumänische Mode-Label ein, das ihr bisheriges Unternehmen, für das sie arbeitete, aufkaufen oder untergehen lassen wollte? Spenden die beiden eine beträchtliche Summe ihres Vermögens für gute Zwecke? Das würde sie sympathisch machen. Als Teilhaberin von HEDDA/Irascible und Mitglied des Managements müsste sie nicht mehr so viel Zeit mit echter Arbeit zubringen wie zuvor. Sie hat Zeit. Und Justus hatte immer schon Zeit. Was wollen sie mit dieser Zeit anfangen? Alle wirtschaftlichen Hindernisse sind aus dem Weg geräumt. Sie können ihr Leben gestalten, wie sie wollen, solange sie das Geld nicht für Überflüssiges ausgeben. Und das will Sarah auf keinen Fall. Justus verfällt erst einmal dem Kaufrausch und plappert gegenüber Freunden und Bekannten aus, dass sie sich über Geld keine Sorgen mehr machen müssen. Justus feiert Partys und gibt das Geld mit beiden Händen aus. Bis die ersten Bittsteller auf der Matte stehen und die Freunde zu Trittbrettfahrern mutieren. Irgendwann steht für beide fest, dass sie in sich gehen müssen (vor allem Justus) und ihr weiteres Leben, wenn es denn ein gemeinsames bleiben soll, planvoll gestalten müssen. Sie machen sich sehr viele Gedanken über ein „gutes Leben“ in einer „schlechten Welt“. Mit Spenden ist es nicht getan, auch nicht mit einer Minimierung ihres Konsums auf das Allernötigste. Und lebt der Mensch, um weite Reisen zu machen? Sie spüren, dass ihnen eine ideelle Grundlage für das gute Leben fehlt, die über den Anspruch hinaus geht, das Leid anderer Menschen zu lindern und die Zerstörung der Natur zu verzögern und ansonsten einen Beitrag zu gesellschaftlichen Aufgaben durch ihre Arbeit oder ihr Geld zu leisten. Was macht ein gutes Leben jenseits der kulturell vermittelten Werte aus, denen Justus und Sarah nicht abschwören wollen? Was ist Freiheit? Freiheit des Geistes, Freiheit des Handelns. Justus findet, die Kunst, die Literatur und die Musik seien die letzten verbliebenen Reiche der Freiheit. Genaugenommen alles das, was Hegel als „den seiner selbst bewussten Geist“ definiert: Die Künste, die Religion und die Philosophie. Schreiben, denken, Kunst machen. Das eigene Leben zu einem Kunstwerk machen, zu einem freien Spiel, zu einem literarischen Kunstwerk. Das menschenwürdigste Leben ist das im freien, sorglosen Spiel. Hat man die Möglichkeit (qua Lotto-Jackpott) einmal gewonnen, dieses freie Spiel zu spielen, dann ist man dazu auch verpflichtet. Und was ist mit einem Kind? Justus findet Sarah zu alt dafür und würde die Möglichkeit des freien Spielens massiv einschränken. „Denk nur daran, dass wir für mindestens 13 Jahre an eine Schule und an eine Stadt gebunden wären!“

Sarah und Justus machen einen neuen Anfang in einer anderen Stadt. Hier entwickeln sie ihren Plan, ein in ideeller Hinsicht freies Leben zu führen. Teil dieses Plans ist die spielerische Fiktionalisierung ihrer Geschichte und ihrer Identität. Die Kunst speist sich aus der Improvisation, deren Hauptregel darin besteht, „Angebote zu akzeptieren“ und Hochstatuswettkämpfe möglichst zu vermeiden (Keith Johnstone), sowie der geplanten Lüge unter dem Vorbehalt, dass dadurch niemand übervorteilt, ausgebeutet, physisch verletzt, seelisch traumatisiert oder in anderer Weise seiner Menschenwürde beraubt wird. Bei genauerer Betrachtung dieser Regeln wird deutlich, dass alle die Regeln einschränkenden Begriffe ohne Definition zu schwammig bleiben – ebenso wie schon der Begriff der Freiheit. Wo endet die Freiheit und wie wird sie eingeschränkt durch die Verantwortung?

„Definitionen:

Freiheit: absolute Gedankenfreiheit, bedingte physische Freiheit, die die physische Freiheit Anderer nicht beschneidet. Die Gedankenfreiheit ist nicht automatisch auch schon eine Freiheit, diese Gedanken auszusprechen. Vor allem kann das Aussprechen von Gedanken als sprachliche Handlung die Freiheit Anderer beeinträchtigen. Dabei lässt sich selten eindeutig voraussagen, welche sprachlichen Handlungen eine derartige Beschränkung der Freiheit Anderer darstellen. Wir berufen uns auf die Meinungsfreiheit, die sicherstellt, dass Meinungen frei geäußert werden dürfen. Verboten sind Beleidigungen, verbale Erniedrigungen, sprachliche Handlungen in täuschender Absicht, sofern sie Andere zu Handlungen veranlassen, die sie in Gefahr bringen oder materielle Schäden verursachen würden.

Frage: Den Verlauf eines Gespräches derart zu beeinflussen oder zu manipulieren, dass zum Beispiel der eheliche Friede zwischen zwei Partnern „durch sie selbst“ gestört oder zerstört wird – wäre das ein durch sprachliche Handlungen verursachter Schaden? Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, mit anderen Menschen „therapeutische Gespräche“ zu führen. Nichts anderes wären sie, wenn wir stets darauf bedacht wären, die Konflikte Anderer durch unsere Interventionen zu entschärfen oder zu verhüten. Einen Konflikt zwischen Anderen zu verschleiern kann nicht das Ziel unserer Auffassung als Künstler entsprechen. Im Gegenteil: Konflikte und Lebenslügen müssen die Chance erhalten ans Tageslicht zu kommen, denn nur dann können sie auch aufgelöst werden. Die künstlerischen Ziele sind „Drama“, Bewegung, Veränderung, Hilfe zur Selbstaufklärung. Justus sieht ihre Rolle in der Nähe des Abbé aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, der aus dem Hintergrund die Geschicke Wilhelms lenkt. Ein weiteres Vorbild ist in Émiles Erzieher aus Rousseaus berühmten Werk über die Erziehung zu sehen. Justus meint: Die Menschen müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. Es kommt aber darauf an, sie in die dafür geeigneten Situationen zu locken. Entsprechend ist der Künstler, wie ihn sich Justus und Sarah vorstellen, ein Katalysator, der Arrangements schafft, durch die die Anderen hindurchgehen (oder es sein lassen, denn sie sind frei) und die sie am Ende als Verwandelte wieder verlassen.

Über die eigene Identität befindet allein das Individuum. Die Identität als Künstler wird durch das künstlerische Konzept bestimmt, sofern dieses Konzept als performative Kunst die Fragen der Identität berührt. (Gedankenfreiheit, Selbstbestimmungsrecht)

Übervorteilung und Ausbeutung finden immer dann statt, wenn eine Person aufgrund der Vorspiegelung falscher Tatsachen zu einer Handlung veranlasst oder gezwungen wird, die sie ohne den Täuschungsversuch unterlassen würde. Einen Anderen über seine Identität im Unklaren zu lassen, stellt in dieser Hinsicht keinen Tatbestand der Übervorteilung oder Ausbeutung dar, solange die zum Ausdruck gebrachten Gefühle aufrichtig sind und Verbindlichkeiten und Versprechen gehalten werden. Die Aufrichtigkeitsregel berührt auch die Frage sexueller Handlungen. Prinzipiell wären sexuelle Handlungen möglich, aber wir verpflichten uns dazu, sexuelle Handlungen zu unterlassen, da diese Verbindlichkeiten erzeugen könnten, für deren Einhaltung keine Gewähr gegeben werden kann, psychische Verletzungen nicht auszuschließen wären und die Beziehungen Anderer in unvorhersehbarer Weise gefährdet werden könnten. Die eigene Lustbefriedigung soll zwar auch Teil des Spiels sein, aber sie darf nicht auf Kosten anderer entstehen. Berührungen und Küsse sind im Zweifelsfall erlaubt.“

Teil der Dramaturgie wäre, dass Donata und Thomas den beiden ab einem bestimmten Zeitpunkt auf die Schliche kommen. Sarah und Justus machen es ihnen auch leicht, denn Zazie und Roman Krull beschreiben in ihrem Blog das Modell dieses performativen Kunstwerkes ausführlich. Der Chat wird nach und nach zu einem Detektivspiel, bei dem das Künstlerpaar überführt werden soll. Vielleicht ist es zunächst auch nur Donata allein, die Nachforschungen anstellt und peinliche Fragen stellt. Vielleicht verbünden sich aber auch Thomas und Donata, um den beiden eine Falle zu stellen. Sie wollen Gewissheit. Die Regel der sexuellen Enthaltsamkeit bei diesem Spiel, die in Rumänien beinahe gebrochen wurde, fordert Donata in besonderer Weise heraus. Sie ist es, die Justus in dieser Hinsicht aus der Reserve zu locken versucht. Sie will sehen, wie viel Widerstand Justus gegen ihre Verführungsversuche aufbringt. Justus, der sich ihr nur schwer entziehen kann und große Schwierigkeiten hat, ihrem Drängen nicht nachzugeben, hört aus ihren Bemerkungen heraus, dass sie das Spiel durchschaut hat. Entweder er gibt die Täuschungen zu, oder er übertritt die Regel, um Donata den Wind aus den Segeln zu nehmen. Justus wird es Sarah als „tragische Situation“ schildern. Sarah wird enttäuscht sein und sein Verhalten als Schwäche deuten. Er hätte sich nicht in diese Situation bringen lassen dürfen. Wie sollen sie nun damit umgehen?

Auf der Blog-Seite formulieren Krull&Krull ihr performatives Konzept als künstlerisches Manifest. Indem sie Thomas und Donata den Blog zugänglich machen, geben sie, Justus und Sarah, ihnen die Möglichkeit, das Spiel zu durchschauen und decken damit ihr Lügenspiel in einer Weise auf, die Thomas und Donata die Chance einräumt, in dieses Spiel auf Augenhöhe einzusteigen. Sollten sie darauf direkt angesprochen werden, werden sie leugnen, dieses Spiel zu spielen, „auch wenn es eine sehr verlockende Idee“ sei. Oder sie bejahen es zunächst offensiv, um es indirekt wieder zu entkräften. Es gibt genügend Argumente, die dagegen sprechen, zum Beispiel, dass sie ja wirklich gemeinsam einen Roman schreiben, was ja neben all der Arbeit einen erheblichen Aufwand darstellt.

Donata könnte auf die provokativ gemeinte Idee kommen, Marie ein ähnliches Spiel beginnen zu lassen, bei dem sie Paul manipuliert, oder sie schlägt vor, Paul und Marie könnten sich verbünden um gemeinsam die „Lebenslügen“ von Birthe und Ernest aufzudecken. Denn in dem künstlerischen Manifest wird unter anderem als Ziel angegeben, „sowohl die eigenen Lebenslügen mit neuen Mitteln zu entdecken und zu bekämpfen, als auch die derjenigen, mit denen sie in guter Absicht in Kontakt treten, indem sie durch die eigene Offenheit und Wahrhaftigkeit, die Anderer zu bewirken“ trachten. Als Lebenslüge betrachten sie normative Einstellungen und die unreflektierte Befolgung von Konventionen, die die eigene individuelle Ohnmacht gegenüber der Gesellschaft als Ganzer verschleiern und daher nicht mit der Moral des freien Spiels vereinbar sind.

Die Ohnmacht des Individuums angesichts des expansiven Kapitalismus und der Allmachtsphantasien des menschlichen (und vor allem männlichen) Geschlechts verhandelt Sarah in den Kapiteln über Birthe und Ernest. Justus schreibt in der Tat nicht und verfällt zunehmend in alte Schemata. Er gefällt sich immer mehr als „pädagogischer Provokateur“ und genießt das Machtgefälle. Sarah versucht ihn immer wieder zurückzupfeifen und zur Mäßigung aufzurufen und wirkt daher oft gouvernantenhaft, was ihrem wahren Wesen und ihrem Selbstbild widerspricht. Thomas entwickelt provokativ das Bild des technisch optimierten Übermenschen. Ist der Mensch angesichts der problematischen und auf eine Katastrophe zusteuernden Entwicklungen in der Welt wirklich so ohnmächtig, wie Sarah und Justus behaupten? Lässt sich das Heil wirklich nur noch in der Kunst bzw. mit den Mitteln der Kunst bewirken? Und ist es ein rein individuelles Heil? Ginge es nicht doch eher darum, politisch aktiv zu werden? Wird die Wissenschaft die Menschheit retten? Sarah und Justus sind sich in dieser Frage nicht einig. Justus beharrt darauf, dass Kunst und die Literatur in gewisser Weise auch eine Form des politischen Handelns sind.

Nach dem sexuellen Zwischenfall zwischen Justus und Donata gerät das gesamte Konstrukt ins Wanken. Einige der wichtigen Fragen des Romans betreffen ja die Ehe, langfristige Bindungen, die bürgerliche Kleinfamilie als Keimzelle der Gesellschaft, die Reproduktion mit technischen Mitteln, die Frage nach der Natürlichkeit oder kulturellen Vermitteltheit des Konzeptes der Mutterschaft und der Vaterschaft, sowie die Probleme in einer immer älter werdenden Gesellschaft, die mit dem ewigen Leben liebäugelt. Alle diese Fragen berühren das Problem der zunehmenden Eindämmung von Humanität zugunsten einer radikalen und falsch verstandenen Individualisierung. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von „Selbstbewusstsein ohne Selbst“. Theoretisch vertreten Justus und Sarah den Standpunkt, dass es in Zukunft neben der klassischen Kernfamilie auch andere soziale Gemeinschaften geben sollte, die die Fortpflanzung und die Erziehung von Kindern human und liebevoll organisieren (Illouz). Die bürgerliche Kleinfamilie ist ein Auslaufmodell, dass die Selbstbestimmung und Gleichstellung der Frauen weiterhin untergräbt. Sie liegen mit ihren Ansichten in einem wachsenden Trend. Künstliche Geburten und institutionalisierte Erziehung sind für sie keine Option. Auch für Thomas und Donata nicht. Aber eine Entlastung der Frauen von der klassischen Mutterrolle hält Donata für absolut notwendig. Sarah hingegen sehnt sich nach wie vor danach, diese Mutterrolle einnehmen zu können. Nachdem Justus die Verhaltensregel gebrochen hat und sich weiterhin weigert, ein Kind zu adoptieren, beschließt Sarah, sich ein Kind auf anderem Wege zu beschaffen. Jedenfalls will sie es riskieren. Justus weiß weder etwas über ihre Abtreibung vor vielen Jahren, noch etwas über den Liebhaber, den sie vor dem Lottogewinn gehabt hat. Sie hat sich von ihm losgesagt, als sie beschlossen, mit ihrer künstlerischen Performance zu beginnen und in dieser Idee wieder zueinander fanden. Nun aber nimmt sie erneut Kontakt zu Xaver auf. Ihre Absichten verrät sie Xaver nicht. Muss sie angesichts des Manifestes auch nicht, weil es ihr Kind sein wird und Xaver durch die Geburt eines Kindes, von dem er nichts erfahren wird, nicht beeinträchtigt sein wird. Hat ein Vater „Anrecht“ auf ein Kind? Als Besitz? Nie und nimmer. Das wäre altes patriarchalisches Denken. Wäre Justus durch das Kind beeinträchtigt? Nur wenn auch er diese patriarchalische „Lebenslüge“ für sich aufrechterhält. Was das Fremdgehen betrifft, sind die Beiden aus ihrer Sicht quitt. Und was einmal gewesen ist, soll ja laut Manifest keine Geltung mehr für das haben, was sie in der Gegenwart und in Zukunft aus ihrem Leben „als Kunst“ machen. Für niemanden entsteht ein Schaden, allein die alte Ideologie wird beschädigt.

Als Thomas von Donatas Seitensprung erfährt, gesteht er seinerseits einen Seitensprung. Donata rechtfertigt sich damit, die Absicht verfolgt zu haben, das Lügenspiel von Sarah und Justus aufzudecken, und Thomas beruft sich auf Donatas Ideen von einem „abenteuerlichen Leben“ (siehe oben), die sie als Folge der spielerischen Interventionen entwickelt hat und die ein offenes Modell von Ehe, Beziehungen und Familie ins Zentrum stellen. Gleichzeitig eskalieren die Probleme mit Luis, die offenbaren, dass Donata ihre Ehe und vor allem ihre Rolle als sorgende und versorgende Mutter innerlich bereits fast aufgekündigt hat. Thomas radikalisiert das Konzept des Übermenschen und kündigt die Zusammenarbeit auf. Und auch Sarah sieht das Projekt zunächst als gescheitert an. Aber sie fühlt sich weiterhin an ihr Manifest und die darin formulierten Regeln gebunden: Ehen dürfen nicht zerstört werden, Verbindlichkeiten müssen eingelöst werden. Das gemeinsame Projekt muss zu einem guten Abschluss gebracht werden. Dazu lädt sie alle in ein Haus nach Rumänien ein. Vielleicht lassen sich die Verletzungen wieder heilen, die Risse kitten. Erst in Rumänien offenbart Sarah Justus ihre Schwangerschaft. Im letzten Teil des Romans verschmelzen die fiktionalen Ebenen miteinander. Es bleibt unklar, ob der Roman ein Dokument des Scheiterns oder das eines Neuanfangs ist.

 

 

Inhalte des Manifestes

  • Sich von seiner Geschichte lösen, sich davon unabhängig machen.
  • Eine „liquid identity“ (Zygmunt Bauman) entwickeln. Die Fiktionalisierung des Ich. In der Zukunft bin ich immer auch als ein anderer denkbar. Mit anderen Gewohnheiten, Zielen, Wünschen und Lüsten.
  • Die Romane, Erzählungen und Spielfilme stellen für die meisten Menschen einen Ersatz für das eigene nicht gelebte Leben dar (Lutz Mommartz). Wir selbst und diejenigen, auf die wir uns bewusst einlassen, sind die Figuren eines humanen, moralischen Dramas und gestalten gemeinsam eine Lebensabschnittsgeschichte, die im echten Leben das hervorbringt, was wir sonst in Romanen nur lesen oder zu lesen wünschen.
  • Das Leben der meisten Menschen wird reguliert durch eine Vielzahl oft sinnloser oder sinnlos gewordener Normen und Konventionen, die sie daran hindern, es bewusst wie eine Romanhandlung zu gestalten. Sie und wir selbst als Performer sollen ihre bzw. unsere Lebensbedingungen, ihre bzw. unsere Körper, Gedanken und Ideen als das frei formbare und bewegliche Material zu begreifen lernen, mit dem sie/wir ihr/unser Leben vorwärts gestalten können. Dazu müssen wir, müssen sie die Automatismen, Schemata, Normen und Konventionen, nach denen sie bisher gelebt haben, aufdecken, hinterfragen und wenn möglich auflösen, wo sie die Fähigkeit und den Mut einschränken, in das Rollenspiel der Selbstfiktionalisierung einzutauchen.
  • „Vorwärts gestalten“ bedeutet: Das Leben nicht mehr erleiden und es im Rückblick als notwendige und nicht anders denkbare Faktizität begreifen, sondern die eigene Geschichte als Rollenspiel in die Zukunft entwerfen und gestalten.
  • Die Performance orientiert sich nicht an der kapitalistischen Konsumkultur, die unsere Begehrlichkeiten durch ihre materiellen und ideellen Verkaufsgüter konstruiert und uns davon zu überzeugen versucht, dass es unsere eigenen Begehrlichkeiten sind. Durch den Konsumkapitalismus werden wir aufgefordert, unsere Lebensgeschichten als eine Folge vorgegebener Akte des Konsums zu begreifen, die zu den bestimmenden und mit falschen Glücksversprechen gekoppelten Lebensereignissen werden sollen, die am Ende unsere Lebensgeschichte darstellen: der Kauf von elektronischen Geräten, Fahrzeugen, Einrichtungsgegenständen, der neuen Wohnung, von Reisen, Wellness-Aktivitäten, Therapien jeder Art, Unterhaltungsangeboten, Accessoires etc.
  • Die Welt lässt sich nicht retten. Die Logik des Kapitalismus, der unausweichlich geworden ist, erlaubt keine weltweite Revolution, die nötig wäre, um ihn in einen humanen und nichtexpansiven Kapitalismus zu verwandeln. Die Klimaziele werden verfehlt, Kriege und Ausbeutung von unterprivilegierten Menschen werden kein Ende nehmen, wissenschaftliche Erkenntnisse werden in erster Linie für ein weiteres Wirtschaftswachstum genutzt, das die Ressourcen unseres Planeten immer weiter und schneller ausbeutet. Dies alles geschieht, weil wir unsere Lebensgeschichten als die Geschichte unseres Konsums verstehen und uns diese Geschichte von eben diesem Kapitalismus erzählen lassen, um sie nachzuspielen. Die damit verbundenen Glücksversprechen werden immer nur für kurze Zeit erfüllt. Die Gier nach neuen käuflichen Ereignissen steigt immer weiter an. Der Kapitalismus schreibt das Buch unseres Lebens.
  • Arbeit ist das zentrale Element unseres Lebens. Arbeit sichert unser Einkommen und dieses Einkommen investieren wir für die Ausstattung unseres Lebens mit materiellen Gütern und käuflichen Events. Gesellschaftliche und kulturelle Normen und Konventionen regulieren die Abläufe des Arbeitens und Konsumierens und erzeugen immer neue Zwänge, die die Palette dessen, was zu konsumieren ist, um ein gutes und richtiges Leben zu führen, unaufhörlich erweitert.

Liquid Love

Mal ehrlich – oder besser: im Ernest! – viele Köche verderben den Brei, oder? Besonders wenn der Topf, in den man seine Zutaten wirft, ein Roman ist. Könnte man meinen. Aber wenn man das Gewese und Geraune der Pseudoexperten um den modernen Roman vorübergehend ignoriert, die Apologeten romantischer Genialität links liegen lässt und den verderblichen Brei zurück in die Metaphernschatzkiste stopft, können wir uns genügend Platz für ein üppiges Buffett verschaffen, zu dem viele Hände, jedenfalls mehr als zwei oder vier beitragen können. Denn auch ein gelungenes und erfülltes Leben lebt keiner für sich allein. Und an einem Roman – sei er noch so druckfrisch und seine Autorin so jung wie Büchner, Jesus oder Sally Rooney – haben schon Dezennien vor seiner Entstehung ungezählte Hände geschrieben. Eine Tatsache, die die Frage aufwerfen könnte, ob eine Autorin mehr Köchin oder mehr Konsumentin im Supermarkt der sprachlichen Diskurse ist. Wir fragen aber nicht und beschließen an dieser Stelle mal in autoritärem Ton, dass der Geniekult, der gegenwärtig die Eigentümlichkeiten der Schaumgeborenen aus dem diskursiven Meer an die Ufer der Buchläden spült, obsolet ist. Schon lange. Haben aber ein paar Leute, die es besser wissen müssten, leider wieder vergessen.

Also noch einmal zurück zum Bild: Im Sternerestaurant legen wir uns brav die Serviette auf den Schoß, nippen kundig und kompetent am Burgunder, geraten außer uns beim Anblick einer Mikrokomposition aus Mousse, Juice, Filet und glasierter Zuckererbse und steigern uns autosuggestiv in gustatorische und olfaktorische Ekstase, während wir die augeklügelte Komposition zu Brei kauen. Kann man machen, ist geil und ist vergleichbar mit dem Besuch eines exquisiten Swingerclubs, in dem du auch an einem Abend ein halbes Monatsgehalt lassen kannst. Die Party kannst du aber auch gut und gerne zuhause haben, wenn du dich traust: Jeder bringt mit, was er hat und kann. Und alle kosten von allem und jedem. Rezepte werden ausgetauscht, der Wein fließt in Strömen, man lacht, schweigt, hört zu, diskutiert, tanzt, umarmt sich, tröstet, nimmt die letzte Olive und teilt sie mit den feuchten Lippen dieser Person mit der zerlaufenen Wimperntusche und dem nass verschwitzten T-Shirt. Fühlt sich gut an. Für beide.

Einen Roman nicht allein zu schreiben, nicht der „Einzige und sein Eigentum“ sein zu wollen, bietet eine große Chance, die nämlich, am Leben der Anderen in viel größerem Maße und weitaus intensiver Anteil zu nehmen, als wir es uns in unserer Schamkultur gemeinhin erlauben. Klingt nach faulen Kompromissen? Stimmt nur, solange man weiter einem Geniekult anhängt, der heute ein Marketing-Gag des kapitalistisch organisierten Buchmarktes ist: Was sich als Unterhaltung für die breite Masse nicht verkaufen lässt, preist man eben als einzigartiges Machwerk eines ebenso solitären Machers an, dessen Genialität (oder Singularität) eben nur diejenigen Leser begreifen und genießen können, die sich selbst für verkappte und unverstandene Genies halten. Funktioniert. Besonders gut funkt’s zwischen den jugendlich-übermütigen (oder besser: übermutigen) Schreiberinnen und den überjugendlichen Mittfünfzigern, die sich als Leserinnen unterkomplexer Pubertätsprosa wieder so richtig jung fühlen können. Unsere Zeit ist einfach zu liquide geworden, um in ihr noch Platz für die Alten und Weisen einzuräumen, deren Wissen und Gewissheiten uns bereits gestern als vorgestrig erschienen, während unsere Kinder doch die Zukunft sind, seien es nun die Literaten, Informatiker oder Ingenieure. Klar ist, dass sie unsere Zukunft bauen werden. Wir folgen ihnen blind.

„Liquid Love“ heißt der Roman, den uns vor wenigen Wochen unsere Freunde zur Probelektüre überlassen haben. Die Sache ist durchaus pikant, denn in der Anfangsphase haben wir selbst an diesem Experiment teilgenommen, das vor etwa drei Jahren begonnen hat. Da war es noch ein Projekt von „UtaundAndré“ und „NinaundAleksander“ gewesen. Auf die Umstände, die dazu führten, dass UtaundAndré vor einem Jahr beschlossen, die Geschichte noch einmal neu aufzurollen und etwa siebzig bis achtzig Prozent neu zu schreiben, können und wollen wir an dieser Stelle nicht eingehen. Aber wir weisen in aller Deutlichkeit darauf hin, dass es andere Umstände waren als die, die das Autorenteam in „Liquid Love“ auseinandertrieb. Denn in der Tat: „Liquid Love“ handelt von zwei Paaren, die sich als höchst heterogenes Kollektiv an das Experiment wagen, einen gemeinsamen Roman zu schreiben. Das war das Schöne und Aufregende an dieser Konstellation: dass wir selbst wagten, was unsere fiktionalen Figuren taten. Und es gab eine klare Vereinbarung: no more autofiction. Davon kriegen wir nämlich mittlerweile das Kotzen. (Also geht uns auf unserem Blog bloß nicht auf den Leim!)

In ausgedehnten Chats, Spiegelfechtereien in den Nächten und an freien Wochenenden konstruierten wir im freien Spiel unsere Alter Egos (sagt man so im Plural?), die wiederum – jetzt wird’s kompliziert – die Figuren zweier Liebesgeschichten im Jahr 2050 entwerfen. Pjotr und ich halten diese Konstruktion nach wie vor für „genial“, wenn man „genial“ ausnahmsweise als ungeplantes und emergentes Produkt betrachtet, das aus vergleichsweise chaotischer, tabuverletzender und überhaupt regelwidriger Kommunikation hervorgeht. Wer redet schon mit seinen Freunden über heimliche sexuelle Vorlieben, die persönlichen Mechanismen des Selbstbetrugs, die offenen flanken des eigenen Narzissmus, die den eigenen Alltag und die darin wimmelnden Mitmenschen beschädigenden Fehlleistungen, denen lange antrainierte Verhaltensschemata zu Grunde liegen? Doch, es gibt sie: Charlotte und Martin! Die haben auf Spotify Freundschaft mit dem Rest der deutschsprachigen Welt geschlossen. Aber wir waren dann doch was anderes als „CharlotteundMartin“ und „BarbaraundMarkus“.

Wir waren „SarahundJustus“ und „DonataundThomas“ oder auch „ThomasundSarah“, „JustusundDonata“, oder SarahJustusThomasDonata. Und dann auch PaulMarieBirtheErnest at Zwanzigfünfzig. Ah, ja, dürfen wir’s an dieser Stelle verraten? Ernest verdankt seinen Namen nicht, wie Sarah schreibt, einer Laune, sondern dem Widerwillen von Justus, die Verantwortung für eine der vier Hauptfiguren der Zukunftsgeschichte zu übernehmen. Wir alle haben ihn anfangs nicht sonderlich gemocht. Nach Egon und Erwin hieß er der Alliteration wegen irgendwann Ernest. Eine vorübergehende Notlösung. Aber im Ernst: Irgendwann fing der Name Ernest an uns Spaß zu machen.

Wie jetzt? Wer jetzt? Fassen wir die Geschichte mal kurz zusammen, ohne zu viel zu verraten, und zwar in der Version, die wir in den letzten Wochen mit großem Vergnügen und vielen Überraschungsmomenten gelesen haben: Sarah erzählt uns ihre Geschichte. Das ist wichtig (und neu gegenüber der letzten Version, bei der wir noch deutlich mehr unsere Finger im Spiel hatten). Sarah ist die fiktive, autofiktional erzählende Hauptfigur, die das gesamte Material arrangiert – und vermutlich auch manipuliert (letztlich eine unzuverlässige Erzählerin). Es ist die Geschichte einer kinderlosen Ehe mit Justus, einem wenig erfolglosen Schriftsteller in einer auf Dauer gestellten Schaffenskrise, die Sarah erzählt. Soweit das Klischee. Als erfolgreiche Geschäftsfrau, die seit Jahren ihren einkommensschwachen Mann aushält, aber den Vorteil hat, die meiste Zeit beruflich im Ausland (Rumänien) zu verweilen, könnte durchaus zufrieden sein und sich als moderne, emanzipierte Frau wähnen, würde sie im Alter von etwa vierzig Jahren nicht Torschlusspanik befallen und ihr die fixe Idee einimpfen, jetzt noch schnell ein oder zwei Kinder zu kriegen. Justus ist not amused, sieht er sich doch schon als Kindermädchen für die dauergestresste, dauerabwesende und dauerberufstätige Mutter. Da könnte er wohl die eigene Karriere vollständig knicken. Kennt man. Allerdings: Justus ist ohnehin unfruchtbar. Glück im Unglück, könnte man sagen. Aber Sarah ist zu allem entschlossen. In der Überzeugung, seine hassgeliebte Angetraute und solvente Ernährerin befinde sich bereits in den Wechseljahren und mit einer nachhaltigen Konzeption sei nicht mehr zu rechnen, beginnt Justus erotische Ränke zu schmieden. Er sieht die – gerade für einen Spätfünfziger – belebende Gelegenheit, gemeinsam auf dem verruchten Parkett des Partnertauschs zu debütieren. Eine unrühmliche Episode, die Sarah längst vergessen hat, als sie beide anlässlich eines Projekts für Sarahs Modelabel die Fotografin Donata kennenlernen. Justus jedoch sieht endlich die Gelegenheit für ein amouröses Abenteuer gekommen, mit Donata und ihrem Mann Thomas. Während er die Schnapsidee befeuert, gemeinsam einen Roman zu schreiben, verfolgt er systematisch sein Ziel, Sarah mit Thomas zu verkuppeln – und sich selbst mit Donata. Kann natürlich nicht gut gehen.

2050 sind die Konstellationen andere. Dort schlüpft die temperamentvolle und als Mutter zweier pubertierender Jungs frustrierte Donata in die Rolle der Fotografin Marie, die in den Zwiespalt gerät, einerseits genetisch eine „Premiummutter“ zu sein, andererseits auch mit 35 Jahren weiter ihre Freiheit auszukosten und ein künstlerisches Dauerprojekt zu verfolgen, in dem es um das ewige Leben, den biologisch-medizinisch ermöglichten Jungbrunnen geht. Marie lernt einen jungen Wissenschaftler kennen, ist ganz hin und weg von dem smarten Typen, kämpft aber beharrlich gegen ihre retrospektiven, antifeministischen Bindungs- und Unterwerfungswünsche an. Eine Stoßmich-Ziehdich-Beziehung, bei der Marie erst viel zu spät mitbekommt, welche Interessen der Angehimmelte tatsächlich verfolgt hat, als er sich ihr näherte. Paul ist nämlich ein … Okay, wir wollen nicht zu viel verraten.

Dann sind da noch Birthe und Ernest. Neben der Liebe, die sie verbindet, gibt es ein Thema, das sie trennt. Und das hat mit Afrika zu tun, mit medizinischen Menschenversuchen, die in einem zukünftig überbevölkerten Nigeria durchaus glaubwürdig angesiedelt sind. Schon heute gelten Menschen in Westafrika oft viel unverblümter als hierzulande als handelbare Ware – insbesondere Kinder. Und Ernest scheint da seine Finger im Spiel zu haben – oder gehabt zu haben. Die Afrikakennerin Birthe, einst Mitglied einer Hilfsorganisation in Nigeria, wo sie Augenzeugin der Leiden beschnittener Frauen wurde, gerät während ihrer Recherchen zwischen die Fronten. Und zweifelt immer mehr an dem Bild, das Ernest von sich gezeichnet hat.

Die Fäden der beiden Liebesgeschichten werden erst recht spät zusammengeführt und sie haben vor allem mit der Frage der künftigen menschlichen Fortpflanzung zu tun. Werden KI-gesteuerte Automaten den Frauen das mühevolle, schmerzhafte Gebären von Kindern abnehmen? Werden die neuen Menschen genetisch designt? Wird es nicht darauf ankommen, die Menschen in einem Zeitalter, das für prinzipiell jeden Menschen ewiges Leben verspricht, die problematischen Individuen, wie wir sie kennen (und jeder für sich ist) mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Methoden zu optimieren? Die Menschen werden nicht nur ewig leben, sie werden auch zu KI-gesteuerten Hybriden werden müssen, weil sich der Kampf aller gegen alle weiter verschärfen wird.

Da bahnt sich also was an. Aber alle Figuren des Romans, auf beiden Zeitebenen, 2018 und 2050, sehnen sich angesichts ihrer Liquidisierung oder Fluidisierung ihrer Identitäten, angesichts ihrer, einer radikalen Individualisierung geschuldeten, Einsamkeit, nach Nähe, Geborgenheit, nach Befreiung aus normativen Zwängen ebenso wie nach Elternschaft und dem ruhigen und reduzierten Leben im „Haus am See“.

Das Haus am See: Ihm gehört der überraschende zweite Teil des Romans. Dieser Sehnsuchtsort wird der Schauplatz der vollständigen Zerrüttung und Auflösung. Sogar die beiden Zeitebenen stürzen ineinander. Wie zu hören war, haben bislang alle Probe-Leser über diesen zweiten Teil geklagt. Warum werden die spannenden Geschichten nicht aufgelöst? Warum dieser formale Bruch in der Erzählhaltung? Die Autoren hätten es sich damit zu einfach gemacht, der zweite Teil sei einfach zu clever – oder zu komplex.

Ihr Lieben, UtaundAndré, klar, dass Ihr Euch diese Kritik zu Herzen nehmt und überlegt, ob ihr ein weiteres Jahr dranhängen sollt. Unsere klare Empfehlung: Kriecht Euren Lesern nicht voreilig in den Arsch, indem Ihr sie mit auserzählten Geschichten und klischeehaften Kausalitäten befriedigt. Ihr kennt Eure zukünftigen Leser gar nicht. Kriecht vor allem nicht einer Buchbranche in den Arsch, die – ob U oder E – doch bloß ohnmächtig wie größenwahnsinnig den emergenten Marktmechanismen hinterherschielt. Habt Ihr zum Glück nicht nötig. Hey, das seid Ihr uns schuldig: Bleibt standhaft!

 

 

PS:

In 2017 und 2018 sind einige Romanpassagen und Episoden aus unserer Hand entstanden, die aus der aktuellen Fassung komplett oder weitgehend verschwunden sind. Einige dieser Dokumente kollektiven Schreibens möchten wir gern in nächster Zeit an dieser Stelle veröffentlichen. Sie bilden vielleicht so etwas wie eine Parallelwelt zu einem liquide gewordenen Roman, dessen Autoren unscharf werden im unberechenbaren Meer der Diskurse und Kommunikationen.

Das Haus am See

Im Rückblick wird immer deutlicher, dass die beiden es von Anfang an darauf angelegt hatten, uns auszuhorchen, uns zu taxieren, abzuschätzen, wie weit sie mit uns würden gehen können. Wir hatten Eric und Claudia auf einer After-Work-Party eines Freundes kennengelernt und waren uns spontan sympathisch gewesen. Es hatte nicht lange gedauert, bis wir es uns abseits des Gewimmels in der weitläufigen Büroetage, weit genug weg von der viel zu lauten Musik, auf einer Couchgarnitur bei schummrigem Kerzenlicht bequem gemacht hatten. Wir waren uns schnell einig über unsere Skepsis, was die Statusspiele betraf, zu denen die Party nicht bloß Anlass bot. Es war ihr unmissverständlicher Zweck. Wer auch nur ansatzweise eine einflussreiche Position in unserer kleinen Stadt besaß, wer eine hinlänglich wichtige Rolle im gesellschaftlichen oder kulturellen Leben im Umfeld des Gastgebers einnahm oder noch zu gewinnen versprach, war eingeladen. Die Gespräche waren oberflächlich, weil sie von Vorsicht bestimmt waren, von der Angst, in den Augen der anderen etwas von der eigenen Bedeutung einzubüßen. Keine heiklen Themen, keine Extravaganzen beim Tanzen und Flirten, mit einem Wort: langweilig. Eric und insbesondere Claudia waren offenbar mit dem Entschluss hergekommen, gegen die unausgesprochenen Normen, den selbstauferlegten Small-Talk der meisten Gäste aufzubegehren. Es war Zufall, dass wir schon früh am Abend ins Gespräch kamen. Vielleicht hatten sie uns aber auch unsere Zurückhaltung angesehen, mit der wir das Treiben mehr beobachteten als daran teilzunehmen. Mehrmals hatte Claudia uns angelächelt, beim opulenten Buffet, auf der Tanzfläche, an der auf dem Empfangstresen improvisierten Cocktail-Bar. Eric und Claudia waren bereits seit vielen Jahren verheiratet und hatten zwei fast erwachsene Kinder. Eric hatte eine mäandernde Berufslaufbahn hinter sich. Als gebürtiger Schwede war er als Jugendlicher mit seiner Mutter nach Deutschland gezogen, hatte kurz vorm Abitur die Schule abgebrochen, sich eine Zeitlang als Leiharbeiter verdingt, dann das Abitur nachgeholt, Psychologie studiert, das Studium abgebrochen, als Barmann gearbeitet und sich im Laufe einiger Jahre zum Coach und Yogalehrer ausbilden lassen. Claudia hatte von Anfang an auf die Laufbahn als Psychotherapeutin gesetzt und betrieb nun mit Eric gemeinsam eine Praxis mit unterschiedlichen Angeboten. Und seit drei Jahren böten sie auch eine Sexualtherapie für Singles und Paare und Tantra-Massage an, sagte Claudia und lächelte spitzbübisch zu Eric hinüber, der keine Miene verzog und beinahe wie ein grätiger Yogi im Sessel saß, als sei das Polster ein Nagelbett.

„Die Entscheidung, unser Angebot zu erweitern, war ein echtes Risiko. Das war uns bewusst. In einer Kleinstadt wie dieser ist das leicht ein No-Go. Anfangs ist uns tatsächlich ein Teil der Klienten weggebrochen, als wir mit einer neuen Website die Sache klargemacht haben. Aber mittlerweile läuft’s ganz gut. Wir sind angekommen und einigermaßen akzeptiert. Deshalb sind wir hier wohl auch eingeladen.“

„Weil Rainer das Angebot wahrgenommen hat?“, fragte Sina ironisch.

„Rainer nicht, aber seine Frau.“

„Beate? Beate geht zur Sex-Therapie?“

„Nein, aber zu den Tantra-Massagen. Oh, dass hätte ich jetzt vielleicht nicht sagen sollen. Die meisten Menschen sind in dieser Hinsicht ja immer noch sehr heikel. Sobald es um Sex geht, erstarren sie. Das ist zu persönlich, das ist immer noch was Verbotenes, Peinliches. Dabei ist Sex das Natürlichste auf der Welt. Außerdem geht es bei den Massagen ja nicht im Kern um Sex. Das ist ja das Problem, dass alle glauben, das sei auch nur eine besondere Form der Prostitution. Gegen diese Vorstellung anzukämpfen, ist nicht leicht. Es gibt einfach zu viele Vorurteile. Bei unseren Tantra-Massagen geht es um tiefe Entspannung, um die Rückbesinnung auf den Körper, das Eins-Sein von Körper und Seele. Ich habe wirklich viele Jahre damit zugebracht, meine Klienten in der Gesprächstherapie von ihren Ängsten und Neurosen zu befreien. Ich muss zugeben mit sehr wechselndem Erfolg. Erst viel zu spät habe ich bemerkt, dass es bei den meisten Problemen um die fehlende Vertrautheit mit dem eigenen Körper geht, um Scham. Die Menschen haben Probleme mit sich und der Welt, weil sie irgendwann aufgehört haben, auf ihren Körper zu hören. Das Reden über die Probleme, das Verhaltenstraining, die wöchentlichen Hausaufgaben – das geht alles über den Kopf. Aber der Körper wird da meistens nicht mitgenommen. Du kannst in der Therapie fragen: Was können Sie sich in der nächsten Woche Gutes tun? Was lässt Sie die Angst eine kurze Zeit vergessen? Wie können Sie sich regelmäßig gute Gefühle verschaffen? Da fällt denen alles Mögliche ein: Kaffeetrinken, Shoppen, Musik hören, mal Essen gehen, statt kochen zu müssen. Wellness spielt zwar schon eine Rolle, von Meditationstechniken, die ich gut und wichtig finde, bis hin zu Sport, Tanzen und einem Wochenende in einer kommerziellen Wellness-Oase. Aber auf Sex und – ich sag’s jetzt mal ganz frei heraus – Masturbation kommt da natürlich keiner. Was sag ich: natürlich? Es ist eben nicht natürlich, den Sex bei so einer Frage außen vor zu lassen. Oder nicht?“

Wir nickten. „Und das ist jetzt so etwas wie ein Verkaufs- oder Werbegespräch“, sagte ich scherzhaft.

Eric erwachte unvermittelt aus meditativen Tiefen. „Nein, das nicht gerade. Es ist uns nur ein Anliegen, zunehmend Transparenz zu schaffen, die Akzeptanz zu erhöhen, weil wir die Sache einfach wichtig finden.“

Claudia fiel ihm beinahe ins Wort: „Gar nicht! Überhaupt nicht! Im Gegenteil! Ihr wart uns auf Anhieb sympathisch, weil ihr den Eindruck erweckt, total eins mit eurem Körper zu sein. Da ist eine sehr starke Vertrautheit zwischen euch zu spüren, die ja – finde ich jedenfalls – irgendwo herkommen muss. Das sieht man bei vielen anderen eben nicht. Was meinst du, Eric?“

Eric schmunzelte. „Wenn ich das in diesem Rahmen hier so sagen darf: Man sieht den Menschen an, ob sie von innen heraus entspannt sind, man sieht ihnen den guten und vor allem auch den schlechten Sex an.“

„Weißt du, Sina“, setzte Claudia fort, „wieviel Prozent der Frauen beim partnerschaftlichen Geschlechtsverkehr einen Orgasmus haben?“

„Das habe ich in den Zeitschriften beim Zahnarzt schon mehrfach gelesen“, antwortete Sina prompt.

„Nicht wie viele Frauen in Prozent,“ wandte Eric ein, „das sind ja nur Statistiken. Aber im Mittel, also, wenn man auf alle Frauen blickt und den Durchschnitt berechnet, dann haben Frauen beim Geschlechtsakt nur jedes dritte Mal einen Orgasmus. Also nicht dreißig Prozent der Frauen haben überhaupt keinen.“

„Aber die gibt es eben auch, muss man dazu sagen. Und ich habe festgestellt, dass die meisten davon dann irgendwann bei mir in der Gesprächstherapie landen.“ Claudia breitete mit beiden Händen eine Ebene vor sich aus. „Und um damit jetzt einen Strich unter dieses Thema zu ziehen: Die Massagen haben eine viel tiefere und nachhaltigere Wirkung als all das Gerede. Und deshalb ist das zu meinem, ich meine zu unserem, Erics und meinem therapeutischen Credo geworden: dem sexuellen Elend ein Ende zu bereiten.“ Claudia lachte. „Genug davon! Ich neige dazu, bei diesem Thema immer etwas zu euphorisch zu werden. Ich finde es viel interessanter, etwas mehr über euch zu erfahren.“

Mir lag auf der Zunge, provokativ nach den Details der Tantra-Massagen zu fragen, aber ich sah Sina an, dass sie ganz dankbar war, das Thema endlich wechseln zu können. Wäre es bei diesem Monolog von Claudia geblieben, wäre sicher nicht so etwas wie eine Freundschaft zwischen uns entstanden, oder was immer es ist oder sein wird. Erst in den darauffolgenden Stunden, bis tief in die Nacht hinein, entstanden die Vertrautheit und Zuneigung, die darüber entschieden, dass wir uns in anderer Umgebung wiedersehen und unsere Gespräche fortsetzen wollten. Wir redeten über Kinder, die Erziehung im Allgemeinen, wir teilten unsere eher liberalen Überzeugungen, mit denen wir unsere Kinder begleiteten, Autonomie von frühester Kindheit an, Grenzen, wo sie wirklich nötig sind, Geborgenheit und Freiheit im Wechselspiel. Wir sprachen über Religion und wie sich unsere religiösen Vorstellungen und Bedürfnisse mit zunehmendem Alter gewandelt hatten und sich eher einer universelleren Spiritualität angenähert haben, über die Prüderie der Siebzigerjahre, in denen wir heranwuchsen, die unangemessene Bedeutung, die dem Beruf in Fragen von Selbstverwirklichung und Lebenssinn heute zugemessen wird, wobei Eric in dieser Hinsicht einiges zu erzählen hatte. Lebensweisheit hatte er vielleicht in seinen wechselnden Berufen gewonnen, aber ohne dass der Beruf selbst das Zentrum dargestellt hätte. Wir teilten unsere Lust am Kochen, am Tanzen und auch was die Filme betraf, die wir uns im Kino angeschaut hatten, fanden wir viele Übereinstimmungen. Musik war ein Thema, von Klassik bis Post-Rock spielten wir einander kenntnisreich Namen und Titel zu, vor allem waren wir uns einig, dass die Musik eine der segensreichsten Erfindungen der Menschheit sei. Am Ende des Abends tauschten wir Telefonnummern und Email-Adressen aus. Erst auf dem Heimweg kamen Sina und ich wieder auf den Anfang des Gesprächs zurück und fragten uns, ob es nicht ein komisches Gefühl sei, den ja wahrscheinlich meist eher beleibten, unansehnlichen und vollkommen nackten Klienten die Schmerbäuche mit Öl einzureiben, erigierte Penisse zu massieren und – das hatte ich mal gesehen – die Finger in fleischige Mösen zu schieben und den sagenumwobenen G-Punkt zu stimulieren. Letzteres konnte ich mir sogar noch irgendwie vorstellen, aber gehemmten, haarigen Männern reihenweise nach fünfunddreißig oder siebzig Sekunden beim Ejakulieren zusehen zu müssen, nachdem man ihren Schwanz in die Hand genommen hat, stellten wir uns mehr als gewöhnungsbedürftig vor. Ob das wirklich so heilsam war?

Am Ende der folgenden Woche rief Claudia unerwartet an. Wir hatten unsere Begegnung am Wochenende fast vergessen. In der Regel bleibt es ja bei der bloßen Verabredung, sich einmal wiederzutreffen und bei der nächsten zufälligen Begegnung wird das Versprechen bar jeder Konsequenz wiederholt. Wir jedenfalls waren nicht auf den Gedanken gekommen Claudia und Eric wegen einer Einladung anzurufen. Es war ein gelungener Abend gewesen, der sich so nicht würde wiederholen lassen. Sina nahm den Anruf entgegen, während wir vor dem Fernseher saßen und wie jeden Abend die Tagesschau ansahen. Zunächst begriff Sina gar nicht, mit wem sie sprach. Claudia? Welche Claudia? Natürlich, die Claudia vom letzten Wochenende! Ein Haus am See? Wie wunderbar! An Mittsommer. Und die Kinder?

Claudia und Eric luden uns zu einem Wochenende in einem idyllisch gelegenen Wochenendhaus ein, das ihnen fast jedes Jahr an Mittsommer ein Freund gegen ein kleines Entgelt überließ. In diesem Jahr wollten sie gemeinsam mit uns hinfahren, sie würden sich sehr freuen, wenn wir zusagen würden. Ihre Kinder seien längst nicht mehr dabei, die Mittsommernacht gehöre allein ihnen als Paar. Es spräche zwar nichts dagegen, wenn wir unsere Jungs mit dorthin nähmen, aber die könnten genauso gut auch bei ihren Jungs übernachten, die zwar etwas älter seien, aber ziemlich gute Babysitter. Sie könnten Filme gucken und Pizza bestellen. Sina blickte mich an. Nächstes Wochenende mit Eric und Claudia am See? Mit Übernachtung? Ich zuckte die Schultern. Meinetwegen. Ja, sagte Sina, das klappt!

„Wusstest du eigentlich, dass das schon immer mein Traum war? Ein Haus am See. Ich freue mich wahnsinnig, wir freuen uns. Und wenn das Wetter gut wird…“

…dann würden wir selbstverständlich baden gehen, sagte Claudia. Das Wasser werde bestimmt nicht mehr so kalt sein. Eine Sauna sei auch da. Ein kleines Problem gebe es allerdings: Zwar seien sechs Betten im Haus, allerdings nur ein großes und ansonsten Etagenbetten. Kein Problem, meinte Sina, wir nehmen auch ein Etagenbett. Ich verzog mein Gesicht. Sina lachte und horchte, was Claudia in ihrer Euphorie noch über den Ausflugsort zu berichten hatte.

Die ganze Woche über schien die Sonne und die Luft erwärmte sich ungewöhnlich auf hochsommerliche Temperaturen. Jeden Morgen, der uns mit Sonne begrüßte, wurde Sina aufgedrehter. Wenn das Wetter doch nur bis zum Wochenende hält! Das wäre wunderbar! Jeden Abend sprach Sina davon, wie sehr sie sich auf das Wochenende freue, auf das Baden vor allem. Wir liebten uns häufiger als in den vorausgegangenen Wochen. Was genau war es eigentlich, worauf wir uns so sehr freuten, fragte ich mich. Ein Wochenende nur für uns, würde Sina sagen, und mit netten Leuten. Mehr als einmal stellte ich mir vor, wie Eric und Claudia sehr bald nach unserer Ankunft die Katze aus dem Sack ließen und versuchten uns zum gemeinsamen Sex zu überreden. Das war es, was ich insgeheim erwartete und, um ehrlich zu sein, irgendwie vielleicht auch erhoffte. Und was ging in Sinas Kopf vor? Ich wagte nicht, danach zu fragen. Würde ich meine vage Vermutung offenbaren, würde Sina vielleicht einen Rückzieher machen, oder zumindest ihre ausgelassene Vorfreude verlieren und später reserviert auf jede kleinste Andeutung von Claudia oder Eric reagieren, die meine Vermutung bestätigen konnte. Was wäre denn, wenn das Ganze tatsächlich ganz harmlos blieb und gemeint war? Sina würde sich trotzdem nicht wohlfühlen. Ich würde ihr das Wochenende versaut haben.

Am Freitagabend war Sina schon feucht, als sie zu mir ins Bett stieg. Sie kniete sich mit gespreizten Beinen über mir hin, führte meine Hand zu ihrer Möse, ließ sie an ihren Lippen entlanggleiten und grinste mich herausfordernd an. Warum war sie derart aufgegeilt? Was nur ging in ihrem Kopf vor? Hatte sie ähnliche Phantasien, was den kommenden Tag und in der Nacht passieren könnte? Stellte sie sich vor, wie Eric seinen Schwanz in sie hineinstoßen würde? Hatte sie sich das auch schon die ganze Woche vorgestellt, wenn wir zusammen waren? Ich wurde diese Gedanken einfach nicht los und musste mir eingestehen, dass ich durchaus eifersüchtig war, eifersüchtig auf Sinas Phantasien, die mich auszuschließen schienen? Und welche Rolle hatte sie dabei mir zugewiesen? Die des Beobachters? Stellte sie sich vor, wie ich Claudia ficken würde? Mein Herz schlug immer schneller. Auch, als Sina nervös begann, an meinem Schwanz zu lutschen, bekam ich keinen hoch. Es gehe nicht, sagte ich, heute gehe es einfach nicht. Was mit mir los sei, wollte sie wissen und klang dabei bemüht verständnisvoll.

„Ich bin mit meinen Gedanken einfach noch zu sehr bei der Arbeit, glaube ich.“

Und ich erfand ein paar Probleme, die sich an dem Tag im Büro ereignet hatten, oder zumindest hätten ereignen können. Wir nahmen unsere Bücher, lasen noch ein wenig und schalteten bald das Licht aus. Eine ganze Weile noch ging mir nicht aus dem Kopf, wie Eric Sina seinen prallen, aufgereckten Schwanz entgegenhielt und Sina ihn mit vor Ekstase verdrehten Augen in den Mund nahm und mit ihrem Speichel benetzte. Dann wechselte das Bild, angetrieben von Rachegelüsten. Da war auf einmal Claudia, die mir ihre behaarte Muschi entgegenstreckte. Ich presste meinen Mund fest dagegen, leckte sie, züngelte in ihre nasse Vagina hinein, griff ihre Brüste und knetete sie, während ich ihre rot geschwollene Perle mit Zunge und Oberlippe bearbeitete. Ich bekam unvermeidlich einen Ständer. Aber jetzt konnte ich Sina nicht mehr stören, sie schien bereits eingeschlafen zu sein. Ich versuchte mit tiefen Atemzügen, diese Zwangsvorstellung loszuwerden, aber da erhob sich Claudia aus dem weißen Laken, wies mich an, mich auf den Rücken zu legen und hockte sich dann auf mich, indem sie mir ihren Hintern entgegenstreckte, damit ich sie weiter lecken konnte. Ihr Saft troff mir entgegen. Ich konnte nicht anders, als meine Zunge tief in sie hineinzustecken, ihre Klitoris mit einem Finger zu massieren und mit der anderen Hand eine der festen, weißen Pobacken wegzuspreizen, damit ich mehr von ihr sehen konnte. Unterdessen ließ Claudia ihren Mund auf meiner harten Eichel langsam vor- und zurückgleiten. Jetzt war ich zu weit gegangen. Es gab kein Zurück mehr. Ich schnappte mir ein Taschentuch, befeuchtete Daumen und Zeigefinger mit so viel Spucke, wie ich gerade zur Verfügung hatte, und formte sie zu Claudias Mundöffnung, die auf meiner Eichel vor- und zurückglitt. Nur wenige Augenblicke später füllte sich das Taschentuch mit dem Saft von zwei, drei Stößen. Und mit diesen Stößen quoll auch das schlechte Gewissen hervor, das dumpfe und beschämende Gefühl, Sina betrogen und ihr meine Lust vorenthalten zu haben.

In diesem Moment spürte ich, dass Sinas entgeisterter Blick auf mich gerichtet war.

„Was machst du da? Holst du dir einen runter?“

„Ich? Nein.“

„Doch, hast du, ich kann es doch sogar riechen.“

„Ich dachte, du schläfst schon.“

Sina ließ an ihrer Enttäuschung und ihrem Missfallen keinen Zweifel und drehte sich wieder zur Seite.

„Entschuldigung“, sagte ich.

„Was hast du dir denn vorgestellt? Claudia etwa? Bist du deshalb schon die ganze Woche über so euphorisch? Weil du dir vorstellst, dass du Claudia ficken wirst? Weil sie eine offenherzige Sex-Therapeutin ist?“

„Wie kommst du darauf?“

„Irgendetwas musst du dir ja vorgestellt haben. Irgendwas, wo ich nicht vorkomme.“

„Ich habe an dich gedacht. Aber ich dachte eben, du schläfst schon.“

„Hättest ja mal vorsichtig fragen können.“

„Tut mir leid. Die Wahrheit ist, dass ich gedacht habe, du denkst die ganze Zeit an Eric, wenn wir miteinander schlafen. Das stimmt ja vielleicht gar nicht. Aber ich war eifersüchtig. Warum warst du denn schon feucht, als du ins Bett kamst? Und außerdem bin nicht ich derjenige, der schon die ganze Woche über euphorisch ist.“

Sina wandte sich wieder zu mir um.

„Soll das heißen, dass du ein Problem damit hast, wenn ich feucht werde, weil ich mich auf Sex mit dir freue? Das ist doch krank.“

„Nein. Das hatte nur damit zu tun, dass ich mir vorgestellt habe, was du dir vielleicht gerade vorgestellt hast. Aber das hat allein mit mir zu tun. Mit meiner Eifersucht.“

„Und was, bitte, soll ich mir vorgestellt haben?“

„Das willst du nicht wissen.“

„Doch, sag es mir!“

„Dass du seinen Schwanz lutschst.“

„Dass ich Erics Schwanz lutsche? Da käme ich im Traum nicht drauf.“

„Was hast du dir denn vorgestellt?“

„Gar nichts, ich habe mir gar nichts vorgestellt. Ich hatte einfach Lust.“

„Aber wo kam diese besonders große Lust her?“

Sina schüttelte den Kopf.

„Ach, ich habe keine Lust mehr, mich für irgendwas verteidigen zu müssen, das nur in deinem Kopf passiert. Gute Nacht!“

 

Am nächsten Morgen packten wir wortkarg und mit erstarrten Mienen unsere Sachen und trieben die Kinder mit harschen Worten zur Eile an. Wir vermieden es, uns in die Augen zu sehen, als wollten wir uns gegenseitig bestrafen. Sina mich, weil sie glaubte, ich hätte sie verschmäht, weil ich an Claudia gedacht hätte, ich sie, weil ich fest davon überzeugt war, dass sie mir die Wahrheit über ihre Phantasien verschwieg und mich auf diese Weise bloßstellte.  Auf der gut einstündigen Fahrt in Erics und Claudias Wagen änderte sich an unserer bitteren Erstarrung wenig. Claudia versuchte immer wieder, ein Gespräch zu beginnen, aber ich konnte nicht anders, als zu schweigen, und auch Sina blieb kurz angebunden. Am Himmel zogen sich dunkle Wolken zusammen. Wir schwitzten, weil es immer noch schwül-warm war.

Als wir bei dem Wochenendhaus ankamen, das tatsächlich idyllisch an einem See gelegen war, ein einsames, geräumiges Holzhaus mit einer kleinen Wiese davor, einem schmalen Sandstrand und einem Steg, der ins Wasser führte, der See eingehegt von hochgewachsenen Kiefern, wandelte sich Sinas Stimmung schlagartig. Wie zum Trotz, dachte ich mir. Sie will sich von mir das Wochenende, auf das sie sich so gefreut hat, einfach nicht vermiesen lassen. Sina lief begeistert den Steg hinunter, blickte auf die fast regungslose Wasserfläche, folgte links und rechts der Horizontlinie und hob dann den Blick zum Himmel. Claudia schlenderte ihr hinterher und legte einen Arm um Sinas Schulter, während Eric begann, einige Taschen aus dem Kofferraum zu heben. Die ersten Tropfen fielen aus den immer dunkler werdenden Gewitterwolken. Da wandte sich Claudia zu uns Männern und rief, wir sollten die Zeit nutzen und gleich sofort baden gehen, bevor das Gewitter losbrechen würde. Eric trug zwei Taschen ins Haus und Sina lief aufgeregt zum Auto, um ihren Badeanzug aus dem kleinen Koffer zu wühlen, der noch im Auto lag. Da hatte Claudia sich bereits ausgezogen und sprang nackt ins Wasser. Als Sina das sah, hielt sie kurz inne, blickte mir einen Moment in die Augen, die nicht verrieten, was sie mir damit sagen wollten, begann sich auszuziehen und ihre Kleider in den Kofferraum zu werfen. Dann lief sie hinunter zum Steg und ließ sich ebenfalls ins Wasser gleiten. Sie machte einige große Züge, johlte leicht auf und erreichte lachend Claudia, die sich ihr zuwandte und ebenfalls lachte. Ich konnte nicht hören, worüber sie sprachen. Ich stand da und fühlte mich auf seltsame Weise ausgeschlossen. Ich nahm Sinas Kleider und den Koffer und trug sie ins Haus. Da kam mir auch Eric, bereits nackt, entgegen und machte einige fröhliche Zischlaute, mit denen er den Moment vorwegnahm, in dem er seinen Körper in das frühsommerlich kühle, dunkle Wasser eintauchen lassen würde. Am Ende des Steges blieb er eine Weile stehen und beobachtete vergnügt die beiden Frauen, die näher zu ihm hinschwammen. Ich konnte nicht verstehen, worüber sie redeten, als ich in der Tür stand, immer noch mit Sinas Kleidern im Arm. Jedenfalls schien das Gespräch einen Moment lang etwas ernster zu werden. Sina gestikulierte im Wasser. Dann wandte sich Eric zu mir um und rief, ich solle doch auch kommen. Ich nickte und hielt Sinas Kleider hoch, die wolle ich noch irgendwo ablegen. Eric machte einen Hechtsprung ins Wasser, genau in die Mitte zwischen den beiden Frauen, die wie kleine Mädchen quietschten und lachten. Zu dritt schwammen sie mit ruhigen Zügen zur Mitte des Sees, während immer mehr dicke Regentropfen auf die Wasseroberfläche fielen. Im Haus fand ich zuerst das Zimmer mit dem großen Ehebett, gleich daneben befand sich das erste Kinderzimmer mit einem Etagenbett. Am Ende eines dunklen Ganges befand sich das zweite Kinder- oder Gästezimmer. Dorthin trug ich unser Gepäck, weit genug weg von Claudias und Erics Schlafzimmer. Ich würde nicht zuhören wollen, wie sie möglicherweise in der Nacht miteinander schliefen. Ein Wochenende nur für uns, dachte ich, als ich Sinas Kleider auf der unteren Matratze des Etagenbettes ablegte. In einem Etagenbett! Das passt! Der Raum war karg, das Fenster ging zur Seite des düster erscheinenden Kiefernwaldes hinaus. Es gab zwei Bäder, ein kleines mit einem winzigen Waschbecken und einer Toilette, das andere war groß und wirkte mediterran, mit weißen Fliesen, ochsenblutroten Wänden und einem alten Schrank aus dunklem Holz. Die Badewanne war üppig groß, neben der freistehenden Dusche befand sich der Eingang zur Sauna, in der gut und gerne sechs Personen Platz fanden.

Als ich wieder vor das Haus trat, grollten in der Ferne bereits Donner, am Horizont erhellte sich die Wolkenmasse zuckend von Blitzen und der Regen hatte zugenommen. Die beiden Frauen stiegen gerade vergnügt lachend aus dem Wasser, Claudia sammelte ihre Kleider vom Steg auf und trug sie vor der Brust zum Haus. Sie lächelte mich an und fragte, wo ich denn geblieben sei. Sina blieb noch einen Moment auf dem Steg stehen und blickte mit vor der Brust verschränkten Armen in den Himmel, während Eric noch im Wasser blieb, beide Hände am Steg, direkt unter Sina, und lächelnd zu ihr aufblickte. Sie sog noch einmal tief atmend die Landschaft in sich auf. Sie musste wissen, dass Eric gerade alles von ihr sehen konnte. Es schien ihr nichts auszumachen. Genoss sie sogar seine Blicke?

„Wolltest du nicht schwimmen?“, fragte Claudia, als sie an mir vorbei ins Haus huschte. „Es war wunderbar, und gar nicht so kalt. Aber jetzt kommt das Gewitter immer näher.“

Warum nur wollte ich so in Trübsinn versinken? Warum war ich innerlich so fest entschlossen, dieses Wochenende einfach nur grauenhaft und enttäuschend zu finden? Kurzentschlossen zog ich mich in der Tür aus, warf meine Kleider in den Flur und marschierte zum Steg hinunter. Sina kam mir entgegen und musterte mich von oben bis unten.

„Gehst du jetzt doch noch schwimmen?“

„Dafür sind wir doch hergekommen, oder?“

Das Wasser hatte sich wirklich in den letzten Tagen so sehr aufgewärmt, dass ich beim Schwimmen, wenn ich mit den Beinen die tieferen, kühleren Schichten aufwirbelte, spüren konnte, wie warm die Wasseroberfläche geworden war. Und doch war es erfrischend, es reinigte den Kopf. Jetzt konnte auch ich den Blick zum Horizont genießen, das Gewittergrollen, die näher kommenden Blitze. Eric war nicht aus dem Wasser gestiegen und folgte mir. Eine Weile schwammen wir stumm nebeneinander her.

„Es ist wunderbar“, sagte ich irgendwann und wandte mich um. Im Haus gingen die Lichter an. Claudia trug, anscheinend immer noch nackt, Jutetaschen in die Küche und lugte dann, die flache Hand über den Augen, damit sie besser sehen konnte, aus dem Fenster hinaus. Es war kaum Mittag, aber beinahe dunkel wie in der Nacht.

„Das verzieht sich hoffentlich noch wieder“, sagte Eric.

„Ja, hoffentlich.“

In diesem Moment zuckte ein heller Blitz hinter dem Kiefernwald zur Erde. Das sekundenschnell folgende laute Krachen machte deutlich, wie nah der Blitz eingeschlagen war.

„Jetzt aber nichts wie raus“, meinte Eric und kraulte aufs Ufer zu. Ich folgte ihm langsamer mit kräftigen Zügen. Vom Wald her rauschte ein mächtiger Schauer heran. Der plötzlich stark auflebende Wind wirbelte die Baumkronen wirr durcheinander. Als schüttelten sie sich vor Abscheu. Als schüttelten sie sich vor wilder Lust.

Als wir ins Haus zurückkehrten, verschwand Eric eilig ins Bad, um sich abzutrocknen und hinterließ eine Spur von nassen Fußabdrücken auf dem Parkett. Claudia hatte sich ein helles Sommerkleid übergezogen und befüllte den Kühlschrank in der Küche.

„Willst du dich nicht abtrocknen?“, fragte sie, als sie mich neben der Tür stehen sah. „Ich habe Sina Handtücher gegeben.“

In unserem Zimmer packte Sina gerade den Koffer aus und sortierte die Sachen überflüssigerweise in den schmalen Schrank. Wir würden doch nur eine Nacht bleiben. Wozu da den Koffer auspacken? Sina warf mir ein Handtuch zu.

„Das war aber ganz schön riskant, noch ins Wasser zu gehen. Der Blitz war verdammt nahe. Hier haben die Gläser im Schrank geklirrt von dem Donner.“

„Ja, aber Eric war auch noch draußen.“

Ich trocknete mich ab und sah Sina bei ihrer Arbeit zu. Ich spürte auf einmal das große Verlangen, sie zu umarmen und an mich zu drücken. Aber ich blieb stehen und starrte auf ihre eiligen Handbewegungen.

„Es tut mir leid“, sagte ich endlich, „wegen gestern. Ich wollte dir nicht den Spaß verderben.“

„Ist schon gut“, sagte sie, ohne mich anzublicken.

Zu Mittag aßen wir Brötchen, Aufschnitt und etwas rohes Gemüse, das wir mitgebracht hatten. Am Abend wollten Eric und Claudia gemeinsam mit uns kochen. Immer wieder sprachen sie ihr Bedauern darüber aus, dass das Wetter nicht so mitspielen wollte, wie erhofft. Aber wir würden uns sicher auch so ganz gut vergnügen können. Am Nachmittag wollten sie die Sauna anschalten. Und wenn das Gewitter vorübergezogen sei, würden wir dann auch wieder in den See hüpfen können, um uns abzukühlen. Im Verlaufe des Nachmittags konnten wir leicht an unsere Gespräche bei Rainer und Beate anknüpfen. Manches wiederholten wir, kauten es noch einmal durch, mit kleinen Variationen. Ein wenig schien es, als sei uns bereits bei unserer zweiten Begegnung der Gesprächsstoff ausgegangen. Wir spielten Karten, gingen paarweise in die Sauna, erst die Frauen, dann wir Männer. Eric und ich sprachen kaum ein Wort in der Sauna. Ich tat so, als versinke ich in tiefe meditative Entspannung und Eric tat es mir gleich. Wie anstrengend es sein kann, nicht zu sprechen! Nach den Saunagängen sprangen wir johlend und brüllend in den See, während Sina und Claudia schon wieder, in große Handtücher geschlagen, auf dem Sofa saßen und sich unterhielten. Nichts, was an dem gesamten Abend geschah oder gesprochen wurde, deutete auf irgendwelche Absichten hin, die ich Eric und Claudia die Woche über insgeheim unterstellt hatte. Wir kochten gemeinsam eine Gemüsepfanne mit Steaks, aßen, unterhielten uns, tranken Wein, lachten. Es würde einfach nur ein nettes Wochenende gewesen sein, ein wenig abenteuerlich vielleicht, auf angenehme Weise auch dezent erotisch aufgeladen. Immerhin hatten wir gemeinsam nackt gebadet und hatten kaum Scham voreinander verspürt. Vielleicht war das ja doch der Beginn einer wunderbaren, langen und engen Freundschaft. In der Nacht klarte der Himmel wieder auf. Lange standen wir mit unseren Weingläsern draußen auf der kleinen Wiese und blickten in den hellen Mittsommerhimmel, an dem nur der Abendstern zu sehen war. Die Luft war kühl und klar.

Als wir wieder ins Wohnzimmer traten, wollte sich nicht mehr das Gefühl einstellen, dass die Nacht noch mit weiteren Gesprächen und mit noch mehr Wein gefüllt werden konnte. Wir verabschiedeten uns bald zum Schlafen, bedankten uns gegenseitig mehrfach für den schönen Abend und nahmen uns vor, gleich morgen früh noch einmal schwimmen zu gehen.

„Wann ungefähr steht ihr so auf?“, fragte Claudia.

Sina und ich blickten uns an.

„Ist neun Uhr zu früh?“

„Kein Problem, neun Uhr passt. Schlaft gut!“

 

In unserem Zimmer zogen wir noch einmal kurz Bilanz. Ja, es sei ein sehr schöner Tag gewesen und Eric und Claudia furchtbar nett, gescheit und locker. Wir bestätigten einander, dass wir uns sehr wohl gefühlt hätten mit den beiden. Dann umarmten und küssten wir uns kurz und Sina meinte, sie sei jetzt auch ziemlich müde geworden. Sie schlüpfte schnell unter ihre Bettdecke und ich stieg zur oberen Etage hinauf.

„Liest du noch etwas?“, fragte Sina.

„Kurz“, sagte ich, schaltete das Lämpchen über der Kopfseite des Bettes an, stieg noch einmal hinunter und zog das Buch aus meinem Rucksack.

„Ich lese auch nur noch ein paar Zeilen“, sagte Sina und zog ihr Buch unter dem Kopfkissen hervor. „Gute Nacht!“

„Gute Nacht.“

Wenige Minuten später schaltete Sina ihre Lampe aus und nestelte geräuschvoll ihre Bettdecke zurecht. Ich blätterte in meinem Buch weiter und stellte fest, dass ich kein Wort von dem, was ich in den letzten Minuten gelesen hatte, behalten hatte. Ich fing noch einmal am Anfang des Kapitels an.

Plötzlich klopfte es leise an der Tür. Claudia öffnete sie leise und fragte: „Schlaft ihr schon?“ Sie trug ein langes Nachthemd aus T-Shirt-Stoff, durch das sich ihre Nippel deutlich abzeichneten.

Sina drehte sich im Bett um und antwortete prompt: „Nein, noch nicht.“

„Wir können einfach noch nicht schlafen“, sagte Claudia. Wir haben noch eine Flasche Sekt aufgemacht und wollen uns einen Film ansehen. Wollt ihr noch einen Moment zu uns rüberkommen?“

Ich beugte mich über die Bettkante zu Sina hinunter, um ihre Reaktion zu sehen. Sie blickte zu mir herauf, zog die Lippen zusammen und zuckte zustimmend mit einer Schulter. „Ein bisschen noch?“

„Dann bringt eure Bettdecken mit. Wir kuscheln uns in unserem Bett einfach zusammen. Wir haben ein sehr, sehr großes Bett und einen sehr, sehr großen Fernseher im Zimmer“, sagte sie verschmitzt lächelnd.

Das war wie auf einer Klassenfahrt, bei der die Jungs in der Nacht verbotenerweise noch einmal das Mädchenzimmer aufsuchen, um heimlich Flaschendrehen zu spielen. Sina und Claudia kicherten, als wir zu Eric ins Bett krochen und uns in die Bettdecken einmümmelten. Ich ging noch einmal zurück ins Zimmer, um auch noch die Kopfkissen zu holen. Als ich zurückkam, stand Eric in Unterhose vor dem DVD-Player und legte eine Scheibe ein. Sina blickte mich leicht entsetzt an und wirkte wie erstarrt. Was war in meiner kurzen Abwesenheit geschehen?

Claudia verteilte Sektgläser und goss Sina ein, die das Glas regungslos vor sich in die Höhe hielt.

„Ich hoffe, es macht euch nichts aus, wenn der Film zu so später Stunde etwas wenig Spielhandlung enthält“, sagte Claudia und kicherte. „Das machen wir jedes Jahr so. Ich weiß nicht mehr, wann genau wir damit angefangen haben. Aber es gehört jetzt irgendwie dazu, wenn wir Mittsommer feiern. Für die Auswahl des Films ist immer Eric zuständig. Ihr habt hoffentlich keine Probleme damit. Wir schauen uns sowas sonst auch nur eher selten an. Die Berührungsängste sind allerdings von Jahr zu Jahr gesunken. Und seit wir auch beruflich jede Woche mehrmals mit nackten Menschen zu tun haben und letztlich auch sehr vertraut geworden sind mit der unmittelbaren sexuellen Erregung dieser Menschen, sind unsere Vorbehalte dagegen, anderen Menschen beim Sex zuzusehen, mehr oder weniger verblasst.“

Ich reichte Sina ihr Kopfkissen, das sie sich hinter den Nacken stopfte, wobei sie etwas Sekt auf der Bettdecke verschüttete, schlüpfte schnell neben ihr unter meine Bettdecke und drückte mich fest an ihre Seite. Claudia reichte mir ebenfalls ein Glas und schenkte sich selbst zuletzt ein, während sie weitersprach und breitbeinig in der Mitte des Bettes kniete.

„Es ist ja nun auch nicht so, dass wir bei unserer Arbeit völlig empfindungslos bleiben, auch wenn wir dabei immer professionelle Distanz wahren. Alles andere wäre Missbrauch. Ich hasse das Wort Pornographie, jedenfalls wenn es sich um Filme wie die handelt, die Eric sehr zielsicher aussucht. Also keine widerwärtigen Rammelfilme, sondern sehr viel humane Zärtlichkeit. Aber eben auch das, was man in handelsüblichen Filmen nicht zu sehen bekommt. Keine Angst! Entspannt euch und genießt es, solange es euch gefällt.“

Unter unseren Bettdecken fassten Sina und ich unsere verschwitzten Hände wie Hänsel und Gretel im dunklen Wald.

„Prost und Film ab!“

Sina stieß mit entgeisterter Miene mit Claudia an. Ich richtete mich auf und stieß mit Claudia und Eric an, der auf die Starttaste der Fernbedienung drückte.

„Es ist einfach so“, sagte Eric mit Blick auf den Fernseher, „dass wir gedacht haben, dass ihr am ehesten die Menschen seid, mit denen wir das hier wagen können.“

Dann blickte er mich an. „Wir haben noch nie mit einem anderen Paar einen Pornofilm geguckt oder zusammen in einem Bett gelegen, obwohl wir es mittlerweile eigentlich selbstverständlich finden würden, wenn man solche Filme gucken würde, so, als wenn es ganz normale Filme wären, Krimis, Thriller, Komödien. Warum wird der Sex immer ausgespart? Ich meine, der richtige Sex. Wir begehen ja auch keinen Mord, wenn wir in einem Film einen Mord sehen.“

Ich stutzte. Die Logik seines letzten Satzes wollte mir nicht spontan einleuchten.

„Und manchmal können wir sogar noch was lernen, beruflich und privat“, fügte Claudia hinzu und lächelte Eric an, der es sich jetzt ebenfalls unter der Bettdecke gemütlich gemacht hatte und sich das Kopfkissen hinter den Schultern zurechtknetete .

Sina nippte vorsichtig an ihrem Sektglas und starrte auf den Fernseher, der auf einer großen Anrichte vor dem Bett stand.

„Der Film ist von Jennifer Lyon Bell“, sagte Eric, „einer amerikanischen Regisseurin, die in Amsterdam ihren Abschluss in Psychologie gemacht hat. Damit hat sie den Feminist Porn Award gewonnen.“

Wir sahen zwei junge Frauen vor einem Bücherregal in einer lichtdurchfluteten Privatwohnung. Die eine Frau war anscheinend gekommen, um irgendwelche Schuhe, silberne Schuhe, nach denen der Film benannt war, abzuholen. Sie kamen sehr schnell ins Gespräch über die Unterwäsche, die die Frau, der die Wohnung offenbar gehörte, trug. Sie trage sehr gerne Männerunterwäsche, das gebe ihr ein Gefühl der Überlegenheit, einer irgendwie männlichen Überlegenheit. Die kleinere Frau mit einem etwas rundlichen Gesicht wirkte zunächst verstört, ließ sich jedoch nur wenige Augenblicke später bereits von der größeren berühren. Dann küssten sie sich und die Frau mit der Herrenunterwäsche zog der Besucherin den BH aus. Dann machten sie es sich im Schlafzimmer auf dem Bett bequem. Die Kleinere ließ sich rücklings auf das Bett fallen, die andere kniete sich lächelnd zwischen ihren Beinen hin und ließ eine Hand über ihren Slip gleiten. Sie stimulierte die Kleinere ganz sanft, zog ihr dann den Slip aus, wobei die Kleinere ihr dabei bereitwillig half, und begann sie langsam zu lecken, während sie mit großen Augen vergnügt beobachtete, wie die Reaktionen ausfielen: Stöhnen, sich winden.

„Das ist schon ziemlich unglaubwürdig“, sagte Claudia mit einem Anflug von Missbilligung in der Stimme. „Die lässt sich viel zu schnell darauf ein, das geht alles viel zu schnell. Ziemlich unrealistisch. Findet ihr nicht auch?“

Wir nickten einträchtig und ich spürte, wie sich mein Penis zu regen begann. Wir hielten weiter unsere Hände unter der Bettdecke. Konnten wir jetzt einfach aufstehen, unsere Bettdecken und Kissen nehmen und uns ins Bett verabschieden? Zu diesem Zeitpunkt hätte ich noch problemlos hinausgehen können. Aber schon wenige Minuten später hatte die Kameraposition gewechselt und wir konnten sehen, wie die Größere der Kleinen einen Finger in die Vagina steckte und mit der anderen Hand weiter ihre Klitoris massierte. Ich konnte nichts dagegen ausrichten, dass sich mein Schwanz immer weiter aufrichtete und zu pochen begann – im Gleichtakt mit meinem wild schlagenden Herz. So wäre es schon nicht mehr so einfach, das Zimmer zu verlassen. Ich würde die Bettdecke vor meinen Körper halten müssen, um meine offenkundige Erektion zu verbergen. Ich blickte Sina an und wartete auf ein Zeichen von ihr, das „Aufbruch“ bedeutete. Und dann? Abreisen? Ohne eigenes Auto? Am nächsten Morgen einfach so tun, als ob nichts geschehen sei? Sina hielt immer noch, genau wie ich, das Glas krampfhaft in der Hand. Sie presste die Lippen zusammen und nickte mir zu. Wir setzten die Gläser an die Lippen, tranken sie mit einem Schluck aus und setzten sie auf dem Nachttischchen ab. Ich hatte bereits einen Fuß auf dem Boden abgestellt und holte Schwung, um mich mitsamt der Bettdecke von der Matratze zu katapultieren, da fragte Claudia umsichtig, ob sie noch nachschenken solle. Nein, danke. Der Impuls, schnell und ohne viel Aufhebens das Zimmer zu verlassen, war irgendwie verpufft. Ich zog mein Bein wieder unter die Bettdecke und sah zu, wie die Größere das Schlafzimmer verließ und nach wenigen Augenblicken mit einer Art Doppeldildo zurückkehrte, der am unteren Drittel im Neunzig-Grad-Winkel umgebogen war. Die Größere steckte sich das kürzere Ende in die Vagina und begann, die Kleinere, die sich auf alle Viere begeben hatte, mit dem längeren Ende zu penetrieren, erst in dieser Stellung, danach in weiteren, bei denen die Größere, an die Rückenlehne des Bettes gepresst, die Brüste der Kleineren massieren konnte, während diese sich rhythmisch auf und ab bewegte, sich immer mehr ekstatisch dem zweiten oder dritten Orgasmus näherte, dabei die ganze Zeit „fuck“ sagte und sich dabei mit den Schneidezähnen auf die Unterlippe biss. Jetzt erst bemerkte ich, dass sich unter Claudias Bettdecke etwas gleichmäßig auf und ab bewegte. Sie hatte offenbar angefangen, vorsichtig zu masturbieren. Zwischendurch schloss sie immer wieder für längere Zeit die Augen und irgendwann lagen ihre Lippen nicht mehr aufeinander, ihr Unterkiefer sank immer entspannter herab und ich konnte ihre weißen Zähne sehen. Eric blickte sie immer wieder an und lächelte. Er war anscheinend mehr als einverstanden, mit dem, was Claudia da tat. Ich stupste Sina an und deutete mit dem Kopf auf die Beiden. Sina begriff zunächst nicht, nahm dann aber ebenfalls die Bewegungen unter der Bettdecke wahr. Jetzt begann Eric, seine rechte Hand über ihre rechte Brust gleiten zu lassen, zwischendurch fasste er sie auch mit einem festen Griff. Das hatten sie also auch von Anfang an geplant. Sie wollten Sex miteinander haben, während wir neben ihnen im Bett lagen. Das mindestens. Und was noch? Sina fasste sich ein Herz.

„Wisst ihr was, wir sind jetzt, glaube ich, müde genug“, sagte Sina und erhob sich.

Claudia fasste ihre Hand und blickte sie mit einem milden Lächeln an.

„Bleibt noch! Es ist Mittsommer und alles ist gut. Alles ist so, wie Gott es erschaffen hat. Warum könnt ihr es nicht zulassen? Eric schaltet die DVD ab. Ist es dann gut?

Sina schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt in unser Bett gehen. Ihr könnt den Film gerne weiterlaufen lassen. Nichts dagegen. Es war trotzdem ein schöner Tag mit euch. Ganz bestimmt. Aber ich glaube, das hier ist nichts für uns.“

Eric richtete sich ebenfalls im Bett auf und machte ein betroffenes Gesicht. Er griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

„Warte noch“, sagte Claudia, „tu mir einen Gefallen noch, bitte. Sina. Lars hat zweifellos einen Ständer. Fass ihn bitte einmal an. Du wirst es sehen.“

„Und wenn er einen Ständer hat, wir werden trotzdem jetzt gehen.“

„Und du, liebe Sina, bist zwischen den Beinen ganz feucht geworden. Eure Körper sagen euch, was jetzt zu tun ist, aber ihr wollt nicht darauf hören. Warum nicht? Was ist so verwerflich daran, wenn wir hier gemeinsam im Bett liegen? Wenn ich mit Eric schlafe und du mit deinem Lars? Was ist daran, wenn wir uns dabei zusehen, wie wir uns liebhaben und zärtlich zueinander sind? Wir haben gemeinsam gebadet, wir haben gemeinsam gegessen, getrunken, geschwitzt und gelacht. Wir haben uns in die Augen gesehen, wir haben uns nackt gesehen. Was ist so Besonderes am Sex, dass er allein im Dunkeln bleiben muss?“

Dabei ließ Claudia langsam ihre Hand an Sinas Oberschenkel hinaufgleiten. Sie schob, wie mir schien, ihre Hand in Sinas Schlafanzughose und berührte ihre Scham. Sinas Augenlider zitterten, ihre Hände bebten.

„Keine Angst“, sagte Claudia, „ich habe Übung darin, Frauen da zu berühren.“

Langsam zog Claudia ihre Hand zurück und hielt mir ihre schlanke Hand entgegen. Ihr Mittelfinger glänzte von Sinas glasklarem Saft, der ihre Schamlippen schon fast völlig benetzt haben musste. Claudia führte ihre Hand zum Mund, steckte den Mittelfinger in den Mund und leckte Sinas Saft genüsslich ab.

„Ihr könnt auch unter der Decke bleiben, wenn ihr euch dann wohler fühlt“, sagte sie weiter lächelnd. „Nicht böse sein! Nachher werdet ihr euch einfach nur noch wohl fühlen. Und irgendwann vielleicht auch dankbar.“

Claudia streifte sich das Nachthemd mit einer schnellen Bewegung über den Kopf, ließ sich breitbeinig auf dem Bett zurückfallen, stützte sich mit einem Ellenbogen auf Erics Bein auf, ließ den Finger, mit dem sie zuvor Sina berührt hatte, zwischen ihren Schamlippen von unten herauf bis zur Klitoris gleiten, indem sie den Saft, der aus ihrem Loch quoll, aufsammelte und auf ihrer Klitoris in sanft kreisenden Bewegungen verteilte. Dann schob sie den Finger tief in ihre Vagina hinein, fingerte darin ein wenig nach weiteren Lusttropfen, sog den nassen Finger wieder heraus und bot ihn Eric hin, der ihn seinerseits genussvoll mit seinen Lippen umschloss. Jetzt wandte sie sich Eric zu, schlug die Bettdecke zur Seite und zog ihm die Unterhose herunter, die sich mit seiner Erektion weit aufgespannt hatte. Sein Penis wippte auf und nieder, nachdem er aus der engen Unterhose befreit worden war. Claudia hockte sich auf Eric, ganz genau so, wie ich es mir in der Nacht zuvor vorgestellt hatte. Sie nahm seinen Penis zwischen ihre Lippen und Erics Nase und Mund verschwanden in ihrem üppigen Busch zwischen den Pobacken. Unvermittelt packte Sina unter der Bettdecke meinen harten Schwanz. Sie hatte einen Ausdruck von Panik im Gesicht, oder was immer es auch war. Sie fasste mit der anderen Hand meine Hand und führte sie in ihre Schalfanzughose. Im Schritt war sie ganz nass und klebrig geworden. Als ich ihre warme, feuchte Möse berührte, glitten ihre Schenkel weit auseinander und sie ließ sich in ihr Kopfkissen zurückfallen. Wenige Augenblicke später zog sie sich unter der Bettdecke ihre Hose aus und zog mich an meinem Schwanz an ihren Körper heran. Sie rupfte ungeduldig meine Hose ein Stück runter und schob meinen Schwanz in ihre warme, weite, beinahe triefende Höhle. Ich kam fast augenblicklich und sie nur wenige Momente später. Als wir kurze Zeit später die Augen wieder öffneten und uns in unsere erröteten Gesichter blickten, bemerkten wir, dass Eric und Claudia aufgehört hatten, sich zu lieben. Sie hockten nebeneinander auf dem Bett, die Hände in den Schößen und blickten uns liebevoll an.

„Es ist so schön, euch zu sehen“, sagte Claudia, „wie ihr euch liebt. Das war ein wunderbarer Anfang. Findet ihr nicht?“

Wir wussten es nicht. Wir wussten es beide nicht, ob das ein „wunderbarer Anfang“ war. Irgendwie entspannt waren wir schon. Ermattet lagen wir in unseren Schlafanzügen auf unseren Bettdecken und schauten nun – verwundert über uns selbst – dabei zu, wie Eric sich über Claudia beugte, die mit locker gespreizten Beinen vor ihm lag, und langsam seinen harten, schlanken Penis in sie hineinschob, sich behutsam vor- und zurückbewegte, sich dabei mit einer Hand aufstützte und mit der anderen ihre Brüste abwechselnd streichelte und knetete. Immer wieder machte er eine kurze Pause, wenn Claudia fast vorm Höhepunkt zu sein schien. Er zog seinen Penis aus ihrer Scheide heraus und führte stattdessen zwei Finger in sie ein, massierte kurz mit der anderen Hand ihre Klitoris, wie wir es eben noch in dem Film gesehen hatten und verteilte den Saft, den er nun an den Fingern hatte, auf ihren Brustwarzen. Er drang wieder in sie ein und leckte ihren Saft von den aufgerichteten Brustwarzen ab. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis Claudia kam. Erst nachdem sie gekommen war, erhöhte Erik das Tempo seiner Stöße. Er knetete ihre Brüste nun heftiger und packte mit einer Hand zwischen ihre Pobacken. Wie in Trance sagte Claudia mit steigender Tonhöhe immer nur ja, ja, ja, ja, im Rhythmus seiner Stöße, bis sie ein weiteres Mal kam und dabei heftig aufschrie und Eric seinerseits unter Zuckungen einen Orgasmus hatte. Ermattet blieben sie eine Weile schwer atmend aufeinander liegen. Dann wandte Claudia ihren Kopf uns zu und lächelte.

„War es schön?“

Wir wussten es nicht. Es fühlte sich alles an, als seien wir auf einem anderen Planeten gelandet, auf dem wir weder Flora noch Fauna kannten, geschweige denn die Gepflogenheiten des hiesigen gesellschaftlichen Lebens. Welche Spielregeln galten hier? Gab es überhaupt irgendwelche Regeln? Sina legte sich auf den Rücken und starrte ausdruckslos an die Decke. Ich schob ihr das Schlafanzugoberteil nach oben und begann, ihre Brüste zu streicheln. Wie schön Sina war, wie wunderbar diese weichen Brüste! Sina ließ meine Berührungen geschehen. Ich zog ihr die Hose aus und entkleidete mich selbst ganz. Während ich sie mit einer Hand weiter streichelte, versank mein Mittelfinger in ihrer Vagina. Es klebte von meinem Sperma. Aber das störte mich nicht, ekelte mich nicht. Mein Daumen kreiste auf ihrer Klitoris. Sina warf den Kopf hin und her, ihr Becken bäumte sich auf in ihrer Lust. Ihre Vagina verschlang drei Finger meiner Hand, die in sie hineinstießen. Sina schien einen fast endlosen Orgasmus zu haben, sie schrie lauf auf, krampfte sich zusammen und schob meine Hände von sich weg. Mein Penis stand aufrecht. Ich wollte unbedingt noch einmal in sie eindringen. Aber Sina winkte mit hochrotem Kopf ab, legte sich in sich zusammengekrümmt auf die Seite und atmete weiter schwer.

„Nein, nein, noch nicht,“ seufzte sie.

Ich kniete aufrecht vor ihr, mein Penis zielte gespannt hinauf zur Decke. Erst jetzt wurde mir wieder bewusst, dass Eric und Claudia am anderen Rand des Bettes lagen und uns zugesehen hatten. Sie sahen mich mit meiner Erektion und lächelten zufrieden. Ein lächerliches Bild, stellte ich mir vor. Sollten diese beiden seltsamen Menschen von jetzt an unsere Freunde sein? Unsere allerengsten Freunde? Die, mit denen wir ab jetzt jedes Jahr gemeinsam Mittsommer feiern würden? Wie weit würde das noch gehen? Wie oft würden wir dies hier noch gemeinsam tun? Wozu würden wir uns irgendwann auch noch hinreißen lassen? War nicht ein Damm gebrochen? Hätten wir nicht gehen müssen, als alles noch gut hatte ausgehen können? Sina blickte mich an. Dann schaute sie zu Eric und Claudia hinüber und lächelte. Sie begann zu kichern, hielt dann plötzlich inne und legte in stillem Entsetzen die Hand vor den Mund und schaute mich an. In meine Augen, auf meinen aufgereckten Penis, der langsam zu erschlaffen begann.

 

Etwas von diesem Gesichtsausdruck nahm ich auch noch am nächsten Morgen bei ihr wahr. Sina stand in der Morgensonne lange auf dem Steg und schaute ernst in die Ferne. Nach Schwimmen war ihr nicht mehr gewesen. Nach einem späten, wortkargen Frühstück warteten wir noch, bis Waschmaschine und Trockner durchgelaufen waren und machten uns dann auf den Heimweg. In Erics und Claudias Wohnung erfuhren wir, was die Kinder gesehen und gegessen und wie gut sie sich verstanden hatten. Zum Abschied umarmten wir uns lang und eng. Wir wussten nicht wann und ob wir uns überhaupt jemals wiedersehen würden.

Von Häusern an Seen

Aleksander hat jetzt wieder angefangen kurze Erzählungen zu schreiben. Eine davon heißt „Das Haus am See“. Es sei nur ein erster Versuch. Was für ein Versuch? Ein Versuch in pornografischer Literatur. Er wolle einmal für sich persönlich erkunden, ob in einem durchaus verklärten Sinne so etwas wie „schöne“ Pornografie möglich sei, feministische Pornografie. Oder ob am Ende doch nur wieder eine klassische, misogyne Männerphantasie dabei herauskomme. Das würde ich dann zu entscheiden haben. Kein Problem, mache ich gern. Aber es ist doch ein großer Unterschied, ob jemand einen pornografischen Text schreibt oder pornografische Videos produziert, in denen Darsteller_innen in entfremdeten Produktionsprozessen zu bloßen Objekten gerinnen und mit den zur Schau gestellten Pseudo-Intimitäten ihre Subjektivität, ihre Einzigartigkeit zum Verschwinden bringen. Darum nämlich drehte sich unsere Diskussion der vergangenen Tage. Der Kurzschluss zwischen dem literarisch gestalteten erotischen Reiz und dem individuellen Phantasie-Getriebe im Hirn der Leser­_in ist immer ein mittelbarer, humaner, frei von Gewalt, wie sehr der Text möglicherweise auch Gewalt zur Darstellung bringen mag. Sinnt der Autor zwar unmittelbar auf die sexuelle Erregung seiner Leser_in, muss der fiktionale Inhalt doch den Umweg über die individuelle Anreicherungsmaschinerie der Leser_innen-Fiktionalität gehen. Der Kurzschluss zwischen dem fotografischen oder filmischen Abbild einer physischen Realität mit pornografischer Intention und dem Assoziations- und Erregungsapparat des Betrachters dagegen ist ein unmittelbarer und darum weitgehend unreflektierter. Er erzeugt die Illusion unmittelbarer Verfügbarkeit über die ins Bild gesetzten Körper, die einer Enteignung der vor der Kamera agierenden Individuen gleichkommt. So subjektiv und lustvoll der abgelichtete Geschlechtsakt während des Vollzugs auch gewesen sein mag, das Produkt ist am Ende doch nur ein ausgehöhltes Surrogat, das die Darsteller_innen ihrer Würde beraubt und dem Zuschauer als bloßes Mittel, Hilfsmittel zur eigenen sexuellen Erregung und Befriedigung dient. Es ist ein ausbeuterisches Verhältnis zwischen den – einen fragwürdigen Mehrwert produzierenden – Sexarbeiter_innen und dem Konsumenten, das vor allem dem am Profit interessierten Produzenten in die Hände spielt, der in seinen Darsteller_innen wie in den entstandenen Abbildern nur „Material“ sieht. Die blutig durchschossene Lunge des Helden in einem Actionfilm bleibt immer noch Spiel in einem Spielfilm, weil ihm die Wunde doch nicht wirklich zugefügt wurde und sich nur illusionärer kinematografischer Techniken verdankt. Wenn eine Frau aus einer möglichst alles sichtbar machenden Kameraperspektive von einem erigierten Penis penetriert wird, ist das dagegen längst kein Spiel mehr. Der – nicht selten aggressive – filmisch oder fotografisch festgehaltene Akt geschieht in Wirklichkeit und steht damit auf einer Stufe mit den von Schaulustigen aufgenommenen Handy-Videos versehrter oder verstorbener Unfallopfer. Mögen die unveröffentlichten Videos, die etwa Paare von sich selbst beim Sex aufnehmen, noch legitimer Teil ihres (auch schon irgendwie entfremdeten) Liebesspiels sein – sobald derlei private Videos aber der kapitalistischen Verwertungskette zugeführt werden, selbst in scheinbar dem monetären Markt enthobenen privaten Foren, verwandeln sie sich in Snuff-Videos, die die in ihnen handelnden Individuen auslöschen.

Wenn Aleksander sich also in pornografischer Literatur versucht, mag sich das Ergebnis unter Umständen zwar als misogyn, antifeministisch oder grundsätzlich inhuman und barbarisch erweisen, was ich allerdings nicht erwarte. Aber der Blowjob und das Spermaschlucken bleiben doch so virtuell und spielerisch wie der Lungendurchschuss im Actionfilm. Aleksander hatte wohl die Absicht, mich mit seinem literarischen Vorhaben ein wenig zu provozieren. Die Herausforderung nehme ich gerne an, vielleicht sogar mit einer kurzen eigenen Erzählung.

Unscheinbar und jenseits aller provokativen Absichten wirkt dagegen auf den ersten Blick der Arbeitstitel der pornografischen Übung: „Das Haus am See“. Ich muss gestehen, selbst immer mal wieder von einem eigenen kleinen Haus am See geträumt und davon während unserer Spaziergänge an Frühlingstagen hemmungslos geschwärmt zu haben. Mein lieber Pjotr pflichtet mir zwar immer wieder gerne bei, wie schön das einsame Leben in so einem Haus am See sein könne, aber ins Schwärmen gerät er eher nicht, denn er bevorzugt dann doch das Leben in der Großstadt mit all seinen Möglichkeiten und kleinen wie größeren Verführungen. Aber hin und wieder dem Großstadttrubel entfliehen können? Das wäre schon sehr angenehm. Abgesehen davon, dass wir uns ein eigenes Haus finanziell ohnehin niemals werden leisten können, es wäre dann doch auch eine Last, wie jede Form von Eigentum. Wie oft würden wir uns wohl auf den vermutlich viel zu weiten Weg zu unserem Auszeit-Refugium machen? Und kämen wir wirklich zur Ruhe, wenn Rasen, Sträucher und Bäume in unserer Abwesenheit wucherten und uns jedes Mal in flehentlichem Ton empfingen, wir möchten sie doch schneiden, stutzen kürzen und kompostieren? Und im Winter müssten wir gegen Muff und Schimmel anheizen, selbst während unserer Abwesenheit, im Sommer die Klärgrube leeren lassen und auf Strom, fließend Wasser und Internet möglicherweise ganz verzichten. Der Traum, den ich und anscheinend viele andere träumen und sich in unzähligen Romanen, Erzählungen und Filmen eingenistet hat, geht so: Das Haus am See liegt einsam und verlassen in einem Sommerland jenseits der Zivilisation. Seine Bewohner haben mit der Welt da draußen weitgehend abgeschlossen, sind ihr – jedenfalls zeitweise – entflohen. In ihm befinden sich nur die allernötigsten Gegenstände. Ein alter Holztisch, zwei Stühle, eine kleine Küchenzeile, ein paar einfache Teller, Becher, Gläser Küchenutensilien, ein Sofa, zwei kleine Schreibtische, ein großes Bett für das Paar, zwei schmale Betten für Gäste. Die benötigte geringe Menge Strom liefert eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach, für warmes Wasser und die Heizung gibt es einen Holzofen oder eine Erdwärme-Anlage. Das Wasser wird aus dreißig Metern Tiefe heraufgepumpt und im Garten wachsen Gemüse und Früchte. Mit einem Wort: Im Haus am See lebt man autark. Aber woher kommt diese Sehnsucht nach dem autarken Leben in einem Haus am See? Warum träumen wir von diesem reduzierten, auf die elementarsten Bedürfnisse zurückgekürzten Leben, abgeschnitten von Medien, Konsum und Kommunikation?

In Häusern an Seen findet das wahre und richtige Leben statt. Da ist immer Sommer, das Wasser warm und klar. Wir lassen unsere nackten Körper ins Wasser gleiten, wir liegen in den Armen des geliebten Menschen, wir baden und lieben am Morgen und am Abend. Nur die geliebten und begehrten Menschen kommen uns besuchen. Sie kommen als Wanderer mit ihren leichten Rucksäcken. Wir essen frisches Brot und trinken roten Wein. Die Mücken stechen nicht, sie summen nur. Das Lagerfeuer wärmt Gesicht, Brust und Füße. Am Schreibtisch lädt die Stille zu tiefen Gedanken ein. Bücher entstehen, Romane und Welterklärungen, tröstende und lustvolle Gedichte. Das Glas Wasser ist kühl und erfrischend, ein bunter Schmetterling setzt sich auf seinen Rand. Die Blicke der Liebenden sind klar und verstehend. Kein Wort tut Not, nur ein zufriedener Seufzer. Noch die Sitzung auf dem Plumpsklo ist reine Meditation. Wir sind bei uns, bei uns selbst und beieinander, der Beischlaf tantrisch im Moos, der Waldboden warm und weich, wenn wir nackt zur Felsenquelle schleichen. Wir sehen das Gras wachsen und hören den Elch rufen. Die Nacht ist so still wie der Himmel schwarz und von der Milchstraße umschlungen. Nichts drängt, nichts muss, nichts will. Ein lauer Wind umhaucht die Haut. Fast ein Nichts, diese Häuser an Seen.

Wenn man „Haus am See“ googelt, findet man fast ausschließlich Hotels, Restaurants und Ferienwohnungen, lauter falsche Versprechen. Wir kommen nie bei ihnen an, nie bei uns selbst. Wir bleiben für immer unbehaust. Deshalb muss auch Aleksanders „schöne Pornografie“ ein falsches Versprechen bleiben, eine schöne Illusion, die ihre Entsprechung in der Wirklichkeit vergeblich sucht.