[…] aus einer Rede zur Eröffnung der Ausstellung der Kunst-Klasse eines Gymnasiums

von André M. Kuhl

[…] Die vergangenen fast drei Jahre der schon bald vor dem Abschluss stehenden Kunst-Klasse standen unter keinem guten Stern: Die Einschränkungen unter Corona durchkreuzten bereits im ersten Halbjahr der Oberstufe manche Pläne, und setzten sich auch 2021 fort, Anfang 2022 begann der Krieg in der Ukraine –und nicht nur als Hintergrundrauschen hörten wir vom endgültigen Scheitern des 1,5-Grad-Zieles. Das furchtbarste Ereignis für uns war jedoch der schreckliche Unfall-Tod einer Mitschülerin. Die heutige festliche Eröffnung der Ausstellung des ästhetischen Profils der Domschule ist zugleich Anlass des Gedenkens. Wie gern hätten wir den heutigen Abend gemeinsam mit […] erlebt!

So ohnmächtig wir vor dem Tod stehen – dem geliebter Menschen oder dem eigenen – so ohnmächtig dürfte sich eine ganze Generation junger Menschen angesichts der zahlreichen in die Zukunft weisenden Sackgassen fühlen: Weitere Pandemien werden folgen, der Klimawandel und seine unabsehbaren Konsequenzen sind nicht mehr aufzuhalten, der Krieg Russlands gegen die Ukraine kündigt womöglich eine Ära neuer gewaltsamer, kriegerischer Annullierungen territorialer Grenzen an, eine breite antiaufklärerische Bewegung schaufelt aus dem Unrat der Geschichte neue autoritäre und diktatorische Regime an die Macht, das Finanz- und Rentensystem nähert sich unaufhaltsam dem Zusammenbruch. Die Versprechen, die noch meiner Generation gemacht wurden und zu großen Teilen auch gehalten wurden, hallen für die Jugend kaum noch vernehmbar im kalten Wege-Leit-System verordneter Zukunftsträume nach. Zwei Wirklichkeiten spalten sich vor unseren Augen auf: die der Alten und die der Jungen. Allerdings nicht mehr wie in früheren Zeiten unter den Vorzeichen von Pubertät, Sturm und Drang. Ich will im Folgenden versuchen, diese Spaltung am Beispiel eines interessanten Horrorfilms aus dem Jahr 2001 zu veranschaulichen: In diesem Film lebt eine Familie im Jahr 1945 in einem einst prächtigen, ländlich gelegenen Anwesen. Die Kinder leiden unter einer Lichtallergie und müssen sich in dunklen Zimmern hinter Vorhängen und Verschlägen verbergen, umsorgt von der hypervorsichtigen Mutter. Wie es sich für einen Horrorfilm gehört, geschehen nun bald geisterhafte Dinge, Türen öffnen sich von selbst, der Flügel erklingt im einsamen Saal, Stimmen sind zu hören, schemenhafte Gestalten zu sehen. Bald sind die Bewohner des Hauses davon überzeugt, dass sie von Geistern belagert werden. Der Plot-Twist gegen Ende des Films besteht allerdings darin, dass sich die Hauptfiguren selbst als die unerlösten Geister erweisen, die vermeintlichen Geister dagegen sind Menschen aus Fleisch, Blut und Gänsehaut, die sich ihrerseits durch die Geister in diesem unheilvollen Haus belästigt sehen.

In gewisser Weise lässt sich das Verhältnis von uns Alten zu Euch Jungen mit dieser geisterhaften Situation vergleichen. Was ist das für ein Ort, an dem es zu spuken scheint?

Utopia

Utopia war mal im allgemeinen Sprachgebrauch (der inhaltlich nur noch wenig mit der von Thomas Morus erfundenen Insel zu tun hat) ein in der Zukunft angesiedelter Ort des besseren, gerechten und richtigen gesellschaftlichen Lebens, die Vision der Vermählung unserer humanen Werte mit den realen materiellen Bedingungen irdischen Lebens. Die – lassen Sie es mich so provokativ formulieren – Lost Generation 2.0 findet ihr Utopia, diesen Nicht-Ort längst nicht mehr in Visionen einer besseren Zukunft. Wie auch? Ihr Utopia ist ganz und gar gegenwärtig. Dieser Nicht-Ort ist ein virtual space, ein von künstlicher Intelligenz arrangiertes Environment, ein virtueller Lebensraum, der demjenigen, der darin interagiert, die wohlig-unheimliche Suggestion vermittelt, an diesem Un-Ort ein reales und gelingendes Leben führen zu können.

Mit Verachtung und Sorge beobachten wir Alten den Rückzug der Jungen ins geisterhafte Reich der Virtualität und der entmaterialisierten sozialen Netzwerke – Netflix, Tik-Tok, Reddit, Discord. Wenigstens ein soziales Jahr sollen sie demnächst absolvieren, damit sie endlich auch mal mit der wirklichen Wirklichkeit in Berührung kommen.

Blicken wir Alten jedoch aus ihrer, der jungen Perspektive auf uns und die alte Welt, steht überm Portal ins von uns so eifrig beworbene wirkliche Leben jener unheilverkündende Spruch aus Dantes Göttlicher Komödie: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!“

Von Dantes Vorhof der Hölle mache ich einen großen Schritt zu Schiller und Nietzsche, denn nun kommt – im wörtlichen Sinne – die Kunst … ins Spiel. Denn die Kunst ist das letzte verbliebene Reich der Freiheit, der utopische Ort, wo aus freiem Spiel neue Ideen erwachsen können. Für Nietzsche bestand das Ziel individueller menschlicher Entwicklung darin, zum spielenden Kind zu werden. Oder Schiller im 15. Brief seiner Abhandlung über die ästhetische Erziehung des Menschen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Die künstlerische Tätigkeit ist freies, unmoralisches, unkorrektes Spiel, ist Training für das Denken des Undenkbaren, ist Kreativität in dem emphatischen Sinne, dass sie Lösungskompetenz für scheinbar unlösbare Probleme ist. Sie gedeiht an verborgenen Orten, jenseits von Überwachung und Kontrolle.

Aber….

Kunst – wozu?                    Frei – wozu?

Weder der Rückwärtsgang noch der kraftvolle Sprint in die Zukunft befreit uns aus unserer wahrhaft verrammelten Gegenwart. Viel ist gegenwärtig von „Zeitenwenden“ die Rede. Keine Wende konnte bislang vollzogen werden. Vielmehr leben wir in einer Schwellenzeit. Liminalität kennzeichnet die Tiefenstrukturen der Lost Generation 2.0. Unklar ist, was kommen wird. Jedenfalls wird es nie wieder so sein, wie es früher nie war.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie heute die in den letzten zweieinhalb Jahren entstandenen Bilder einer kleinen, kaum repräsentativ zu nennenden Gruppe junger Menschen sehen, mögen Sie in manchen Augenblicken das Gefühl haben, Sie hörten verzweifelte oder zynische Rufe aus der Gruft de Web 2.0 und wir Alten müssten die Jungen mal gehörig aufrütteln, am Kragen packen, ihnen gut zureden oder auch gönnerhaft Mut zusprechen. Nicht die Jungen drohen in der Vorhölle virtueller Welten zu verdorren, wir Alten haben uns längst bequem im Vestibül der Hölle eingerichtet, denn wir haben uns mit unserer Ohnmacht schon lange abgefunden, unser Leben ist der blutige Ernst schlechthin, kein Spieltrieb lässt noch unsere Kreativität erblühen, wir repräsentieren das Ende der Geschichte. Wir Alten sind es, die zwischen verwitterten Wänden spuken.

Schauen Sie genau hin, hören Sie genau hin! In der Ausstellung vernehmen wir Untoten leise Nachrichten aus Utopia.

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