[…] aus einer Rede zur Eröffnung der Ausstellung der Kunst-Klasse eines Gymnasiums
von André M. Kuhl
[…] Die vergangenen fast drei Jahre der schon bald vor dem Abschluss stehenden Kunst-Klasse standen unter keinem guten Stern: Die Einschränkungen unter Corona durchkreuzten bereits im ersten Halbjahr der Oberstufe manche Pläne, und setzten sich auch 2021 fort, Anfang 2022 begann der Krieg in der Ukraine –und nicht nur als Hintergrundrauschen hörten wir vom endgültigen Scheitern des 1,5-Grad-Zieles. Das furchtbarste Ereignis für uns war jedoch der schreckliche Unfall-Tod einer Mitschülerin. Die heutige festliche Eröffnung der Ausstellung des ästhetischen Profils der Domschule ist zugleich Anlass des Gedenkens. Wie gern hätten wir den heutigen Abend gemeinsam mit […] erlebt!
So ohnmächtig wir vor dem Tod stehen – dem geliebter Menschen oder dem eigenen – so ohnmächtig dürfte sich eine ganze Generation junger Menschen angesichts der zahlreichen in die Zukunft weisenden Sackgassen fühlen: Weitere Pandemien werden folgen, der Klimawandel und seine unabsehbaren Konsequenzen sind nicht mehr aufzuhalten, der Krieg Russlands gegen die Ukraine kündigt womöglich eine Ära neuer gewaltsamer, kriegerischer Annullierungen territorialer Grenzen an, eine breite antiaufklärerische Bewegung schaufelt aus dem Unrat der Geschichte neue autoritäre und diktatorische Regime an die Macht, das Finanz- und Rentensystem nähert sich unaufhaltsam dem Zusammenbruch. Die Versprechen, die noch meiner Generation gemacht wurden und zu großen Teilen auch gehalten wurden, hallen für die Jugend kaum noch vernehmbar im kalten Wege-Leit-System verordneter Zukunftsträume nach. Zwei Wirklichkeiten spalten sich vor unseren Augen auf: die der Alten und die der Jungen. Allerdings nicht mehr wie in früheren Zeiten unter den Vorzeichen von Pubertät, Sturm und Drang. Ich will im Folgenden versuchen, diese Spaltung am Beispiel eines interessanten Horrorfilms aus dem Jahr 2001 zu veranschaulichen: In diesem Film lebt eine Familie im Jahr 1945 in einem einst prächtigen, ländlich gelegenen Anwesen. Die Kinder leiden unter einer Lichtallergie und müssen sich in dunklen Zimmern hinter Vorhängen und Verschlägen verbergen, umsorgt von der hypervorsichtigen Mutter. Wie es sich für einen Horrorfilm gehört, geschehen nun bald geisterhafte Dinge, Türen öffnen sich von selbst, der Flügel erklingt im einsamen Saal, Stimmen sind zu hören, schemenhafte Gestalten zu sehen. Bald sind die Bewohner des Hauses davon überzeugt, dass sie von Geistern belagert werden. Der Plot-Twist gegen Ende des Films besteht allerdings darin, dass sich die Hauptfiguren selbst als die unerlösten Geister erweisen, die vermeintlichen Geister dagegen sind Menschen aus Fleisch, Blut und Gänsehaut, die sich ihrerseits durch die Geister in diesem unheilvollen Haus belästigt sehen.
In gewisser Weise lässt sich das Verhältnis von uns Alten zu Euch Jungen mit dieser geisterhaften Situation vergleichen. Was ist das für ein Ort, an dem es zu spuken scheint?
Utopia
Utopia war mal im allgemeinen Sprachgebrauch (der inhaltlich nur noch wenig mit der von Thomas Morus erfundenen Insel zu tun hat) ein in der Zukunft angesiedelter Ort des besseren, gerechten und richtigen gesellschaftlichen Lebens, die Vision der Vermählung unserer humanen Werte mit den realen materiellen Bedingungen irdischen Lebens. Die – lassen Sie es mich so provokativ formulieren – Lost Generation 2.0 findet ihr Utopia, diesen Nicht-Ort längst nicht mehr in Visionen einer besseren Zukunft. Wie auch? Ihr Utopia ist ganz und gar gegenwärtig. Dieser Nicht-Ort ist ein virtual space, ein von künstlicher Intelligenz arrangiertes Environment, ein virtueller Lebensraum, der demjenigen, der darin interagiert, die wohlig-unheimliche Suggestion vermittelt, an diesem Un-Ort ein reales und gelingendes Leben führen zu können.
Mit Verachtung und Sorge beobachten wir Alten den Rückzug der Jungen ins geisterhafte Reich der Virtualität und der entmaterialisierten sozialen Netzwerke – Netflix, Tik-Tok, Reddit, Discord. Wenigstens ein soziales Jahr sollen sie demnächst absolvieren, damit sie endlich auch mal mit der wirklichen Wirklichkeit in Berührung kommen.
Blicken wir Alten jedoch aus ihrer, der jungen Perspektive auf uns und die alte Welt, steht überm Portal ins von uns so eifrig beworbene wirkliche Leben jener unheilverkündende Spruch aus Dantes Göttlicher Komödie: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!“
Von Dantes Vorhof der Hölle mache ich einen großen Schritt zu Schiller und Nietzsche, denn nun kommt – im wörtlichen Sinne – die Kunst … ins Spiel. Denn die Kunst ist das letzte verbliebene Reich der Freiheit, der utopische Ort, wo aus freiem Spiel neue Ideen erwachsen können. Für Nietzsche bestand das Ziel individueller menschlicher Entwicklung darin, zum spielenden Kind zu werden. Oder Schiller im 15. Brief seiner Abhandlung über die ästhetische Erziehung des Menschen: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Die künstlerische Tätigkeit ist freies, unmoralisches, unkorrektes Spiel, ist Training für das Denken des Undenkbaren, ist Kreativität in dem emphatischen Sinne, dass sie Lösungskompetenz für scheinbar unlösbare Probleme ist. Sie gedeiht an verborgenen Orten, jenseits von Überwachung und Kontrolle.
Aber….
Kunst – wozu? Frei – wozu?
Weder der Rückwärtsgang noch der kraftvolle Sprint in die Zukunft befreit uns aus unserer wahrhaft verrammelten Gegenwart. Viel ist gegenwärtig von „Zeitenwenden“ die Rede. Keine Wende konnte bislang vollzogen werden. Vielmehr leben wir in einer Schwellenzeit. Liminalität kennzeichnet die Tiefenstrukturen der Lost Generation 2.0. Unklar ist, was kommen wird. Jedenfalls wird es nie wieder so sein, wie es früher nie war.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie heute die in den letzten zweieinhalb Jahren entstandenen Bilder einer kleinen, kaum repräsentativ zu nennenden Gruppe junger Menschen sehen, mögen Sie in manchen Augenblicken das Gefühl haben, Sie hörten verzweifelte oder zynische Rufe aus der Gruft de Web 2.0 und wir Alten müssten die Jungen mal gehörig aufrütteln, am Kragen packen, ihnen gut zureden oder auch gönnerhaft Mut zusprechen. Nicht die Jungen drohen in der Vorhölle virtueller Welten zu verdorren, wir Alten haben uns längst bequem im Vestibül der Hölle eingerichtet, denn wir haben uns mit unserer Ohnmacht schon lange abgefunden, unser Leben ist der blutige Ernst schlechthin, kein Spieltrieb lässt noch unsere Kreativität erblühen, wir repräsentieren das Ende der Geschichte. Wir Alten sind es, die zwischen verwitterten Wänden spuken.
Schauen Sie genau hin, hören Sie genau hin! In der Ausstellung vernehmen wir Untoten leise Nachrichten aus Utopia.
Ich habe keine Freunde – außer Nina. Nina würde sagen: Klar haben wir Freunde, eine ganze Menge sogar. In unregelmäßigen Abständen treffen wir uns, reden, erzählen von vergangenen Ereignissen, essen und trinken gemeinsam, umarmen uns beim Abschied. Das machen Freunde so. Sie gehen auch gemeinsam ins Kino oder ins Theater. Sie laden sich gegenseitig zu den Geburtstagspartys ein und halten für Höflichkeit, sogar für einen Freundschaftsdienst, kein Wort darüber zu verlieren, wie öde und oberflächlich die sich in wenigen Variationen wiederholenden Gespräche geworden sind. Es ist aber besser, diese belanglosen – und dennoch emotional mächtig aufgepoppten – Gespräche fünf oder sechs Stunden lang zu ertragen, als keine Freunde zu haben. Und weil ich maßlos hohe und wohl auch extravagante Ansprüche an Freundschaften habe, muss ich sagen, es sind keine richtigen Freunde, es sind enge soziale Kontakte. Denn die sind nötig für eine ausgeglichene Psyche. Trotzdem fühle ich mich – zumal in größeren Gruppen – wie Robinson auf der Insel am Donnerstag. Nina würde übrigens sagen, ich sei gefühlskalt, wenn ich unsere Freunde als bloße „soziale Kontakte“ bezeichne.
Ein echter Freund ist ein Spielkamerad. Die Menschen in unserem Freundeskreis sind eher keine Spieler. Vielleicht wären sie es gern. Ich weiß es nicht. Ich muss erklären, was ich meine, wenn ich sage, ich sei ein Spieler. Es geht nicht um Glücksspiele, Poker, Roulette und dergleichen, sondern um Spiele, die glücklich machen, Gedankenspiele nämlich, die allein zu spielen keinen Spaß machen und dann nur bedingt glücklich machen. Ich habe Fantasie im Übermaß. Die reizt dazu sie weidlich auszukosten. Wie wunderbar, auf Menschen zu treffen, die bereit sind, kleine Absurditäten, die jemand äußert, sofort aufzugreifen und ohne relativierende Fußnote fortzuspinnen:
„Ich frage mich, ob Putin in letzter Zeit überhaupt noch Sex hat. Und wenn ja, mit wem?“ – „Schau dir seine rechte Hand an, schlaff, komplett überanstrengt.“ – „Manchmal stelle ich mir vor, wie Putin abends zu Bett geht, und frage mich, wie es ihm gelingt einzuschlafen und wie es ist, am nächsten Morgen aufzuwachen.“ – „Im ersten Moment siehst du die Sonne durchs Fenster blinzeln und denkst, was für ein wundervoller Morgen. Du könntest im Oktoberdunst durchs feuchte Gras einer Apfelplantage schlendern und von deiner ersten Liebe träumen, die ebenfalls an einem sonnigen Oktobertag begonnen hat. Aber dann kommt der jähe Elektroschock: Herz, Kopf, rote Ohren. Oh Scheiße, ich Zauberlehrling hab‘ ja ‘nen Krieg angefangen, da muss ich mich auch heute ums Töten und Zerstören kümmern. Wie peinlich!“ – „Und zur Ablenkung holt er sich erst mal einen runter.“ – „Und schaut dabei einen Porno auf einem riesigen Bildschirm auf der gegenüberliegenden, zehn Meter entfernten Wand.“ – „Milf.“ – „Gay?“ – „Nee, kein Porno, eher Pinocchio, Heidi oder Biene Maja, so eine regressive Phase vor dem Eisbaden und dem Eiweißfrühstück. Pornos nur abends vorm Einschlafen.“
Nina ist ein prima Spielkamerad. Oft, manchmal nicht. Manchmal lange nicht, wenn sie Stress hat. Gerade hat sie Stress, beruflich. Jede meiner auffälligen oder unauffälligen Aufforderungen zum Spiel quittiert sie mit Augenrollen oder indirekten Vorwürfen. Dann offenbaren sich die beiden unterschiedlichen Identitätsphilosophien. Ja, ich hänge das mal ganz hoch auf und spreche von Philosophie, hake das aber möglichst schnell ab: Woraus auch immer Persönlichkeit und Identität eines Menschen resultieren, ob Genetik, oder sozialer Prägung, oder beidem, irgendwann ist die Kirschtorte fertig und kann kein Apfelkuchen mehr werden, dann bin ich dieser eine unverwechselbare Mensch, der nicht mehr aus seiner Haut herauskann. Was verbal oder nonverbal aus ihm herauskommt, ist Reflex seines Innenlebens, dem er qua Identität hilflos ausgeliefert ist. Jede seiner Äußerungen ist prinzipiell interpretierbar und auf seine relativ statische Persönlichkeit zurückzuführen. Mit anderen Worten: Alles, was der sagt oder tut, sollte man ernst nehmen und als Puzzleteil einer rekonstruierbaren Persönlichkeit betrachten, die kaum etwas anderes im Sinn hat, als andere zu manipulieren, in die Irre zu führen, ihr wahres Ich zu verschleiern, um ihre egoistischen Ziele zu erreichen. Erkenne deinen Mitmenschen, er könnte dir feindlich gesonnen sein! Obacht! Tadle rechtzeitig, bring deine eigenen Interessen und Ziele in Stellung! Erweise dich selbst als moralisch gefestigte Persönlichkeit! Das wäre die eine philosophische Position. Es ist – trotz gelegentlicher Spielfreude – auch Ninas Position. Die zweite unterscheidet sich nur marginal von der ersten: Der Apfelkuchen wird nicht mehr zur Kirschtorte, aber die Äußerungen des Apfelkuchens können – um im Bild zu bleiben – durchaus die Form von Kirschen und Buttercreme annehmen, sogar von Bratwurst und Wirsing. Die Äußerungen eines Menschen, also seine Worte geben nicht notwendigerweise irgendwelche für die Interaktion zurechtgemachte oder absichtlich gefälschte Kostproben seines wahren inneren Wesens preis, im Gegenteil sind sie Reflex des gesamtgesellschaftlich Denkbaren, Sagbaren und physisch Realisierbaren. Denn alles das sammelt sich in meinem Kopf als potenziell Mögliches. Ich habe nicht mich selbst im Kopf, sondern die Welt, die schöne, bezaubernde, beglückende, himmlische, aber auch eklige, abscheuliche, ungerechte, grausame, mörderische, teuflische Welt. Das ist ein riesiger Krimskrams-Laden in meinem Kopf. Und weil ich das alles nicht sein kann, ist es gedankliches Spielzeug. Wenn ich mir eine Geschichte ausdenke, in der ein putziger Hamster bei lebendigem Leib gefesselt, gehäutet, mit einem Kugelschreiber penetriert und anschließend aufgeschlitzt wird, kann daraus kein Hinweis auf meine Persönlichkeit gelesen werden, sondern nur einer auf das grundsätzlich Menschenmögliche. Überall, wo erwartet wird, ich müsse mich sogleich moralisch von dieser Hamsterfantasie distanzieren, das sei ja wohl das Mindeste, vermute ich das Kongruenzmodell der Identität, das davon ausgeht, dass die Worte eines Menschen Ausdruck und Teil seiner Identität sind, in meinem Fall: Sadist und potenzieller Tierquäler. Vertreter dieses Identitätsmodells hüten das Bild, das andere von ihrer Persönlichkeit entwickeln können, wie ihren Augapfel. Das ist selbstverständlich nicht möglich, aber sie versuchen zumindest, weitgehende Kontrolle darüber zu halten, was die anderen über sie denken könnten. Sie unterstellen, dass es alle so machen, außer vielleicht Schwachsinnige und empathielose Narzissten. Wenn ich also sagen würde, mich würde es interessieren, wie aufregend es wäre, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, würde Nina darin eine unanständige und sogar verletzende Aufforderung sehen und vermuten, ich könne unsere traute und ausschließliche Eheburg schleifen wollen. Was gar nicht meine Absicht ist, obwohl ich die Vorstellung, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, wirklich aufregend finde, was offenbar ein Hinweis auf mein Persönlichkeitsprofil zulässt, dass ich nämlich solche Fantasien mag und das irgendeinen (möglicherweise pathologischen) Grund haben muss. Weil Nina nicht mag, dass ich solche Fantasien habe oder zumindest ausspreche, sage ich nichts. Denn ich weiß, dass sie glaubt, ich würde sagen, was ich wünsche. Wenn sie auf meine Beste-Freundin-Fantasie produktiv antworten würde („Ich glaube nicht, dass ich dich dabei zusehen lassen würde“, oder „Also ich würde mir den Anblick ersparen wollen, wie du Rainer den Schwanz lutschst.“), müsste sie befürchten, ich würde ihre Äußerung als indirekte Zustimmung zu dem Plan, unsere ehelichen Bande zu lockern, auffassen.
Das ist ein Dilemma. Nina hat ihre Gedankenpolizei stark verinnerlicht, schon wegen ihrer katholischen Erziehung, da dringt kaum ein vermeintlich anstößiger Gedanke vorbei ins Bewusstsein. Glaube ich jedenfalls. Sie weiß nicht einmal was von der Polizeistation mit angeschlossenem Geheimdienst in ihrem Kopf. Ich dagegen liefere mir tagtäglich kafkaeske Scharmützel mit meinen internen Vorgesetzten. Weil die verhindern möchten, dass Nina oder unsere gemeinsamen sozialen Kontakte mich mit meinen Gedanken identifizieren, die ja gar nicht meine persönlichen Gedanken sind, sondern im besten Sinne allgemeine. Das Dilemma ist noch vielschichtiger: Wenn ich einen Gedanken äußere, der prinzipiell (mit Blick aufs grundsätzlich Menschliche) wünschenswert ist, obwohl religiös oder kulturell tabuisiert oder aus Tradition geächtet, besitzt er doch auch einen verlockenden Möglichkeitswert. Wenn ich sage, ich stellte mir Ninas Zunge an Henrikes Vulva aufregend vor, ist das zwar keine Aufforderung, sich das als Wochenendprojekt vorzunehmen, aber es ist doch eine Aufforderung mit diesem Gedanken zu SPIELEN, denn schon der Gedanke könnte auch für Nina aufregend, um nicht zu sagen erregend, sein. Und mit Gedanken zu spielen, bedeutet, neue Möglichkeiten zu bedenken und schließlich auch zu erproben. (Kommentar von Nina: „Siehst du, wenn du vermeintlich ohne jede Absicht jede deiner erotischen Fantasien herauspupst, verfolgst du also doch deine Absichten. Was soll ich sagen? Sophist, Manipulator!) Ich meine, wenn wir alle Gedanken zunächst einmal zulassen und mit ihnen spielen, gelingt es vielleicht doch noch, eine bessere Welt zu erschaffen, jedenfalls wenn wir nicht davon ausgehen, dass wir bereits in der besten aller möglichen Welten leben. Okay, das Leibniz-Zitat war rhetorisch gemeint. Wir leben selbstverständlich in einer rundum verbesserungswürdigen Welt bzw. Gesellschaft bzw. Kultur bzw. Weltgemeinschaft. Zum Beispiel leben wir in einer Welt, in der Männer Kriege führen, Frauen unterdrücken und Frauen töten, weil sie Frauen sind. Geht’s noch unheilvoller? Wir brauchen ein umfassendes Therapieprogramm für die Menschheit. Und ich habe mir eins ausgedacht:
Ein Therapiekonzept, das zu einer Graswurzelbewegung wird und die Welt friedlicher machen wird.
Ein ganzes Wochenende verbringen sechs Personen (drei weiblichen und drei männlichen Geschlechts, soweit sich das überhaupt so klar definieren lässt) gemeinsam in einer speziellen Unterkunft, wo sie gemeinsam essen, trinken und schlafen. Das therapeutische Kernstück besteht in einem erotischen und sexuellen Ritual, bei dem zunächst zwei gemischte Gruppen gebildet werden. Alle sind nackt. Jede Person innerhalb der Gruppe wird auf einer Matratze oder auf einer Massageliege ausführlich von den beiden anderen gestreichelt, leicht massiert, genital erregt und schließlich auch mindestens einmal zu einem angenehmen Orgasmus gebracht. Gemischte Gruppen heißt: Auch heterosexuelle Männer versetzen Männer in Erregung und verhelfen ihnen zum Orgasmus, heterosexuelle Frauen kümmern sich sanft um Höhepunkte anderer Frauen, Frauen und Männer bringen sich gegenseitig zum Orgasmus. Was zunächst mit Widerwillen getan werden mag, wird sich nach mehreren therapeutischen Wochenenden vertraut und schön anfühlen. Die Gruppen mischen sich immer neu, Dicke streicheln Dünne, Alte verwöhnen Junge und umgekehrt. Mehrere Gruppen bilden bald eine diverse Community der Wohltäter. Was sich gut und schön anfühlt, wird nach und nach ins Repertoire übernommen. Homophobie und Misogynie lösen sich in Wohlgefallen auf. Vielleicht werden irgendwann auch Großveranstaltungen stattfinden. Aber das Ritual bleibt. Keine wilden Orgien. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich glaube, Orgien passen nicht ins Konzept. Und Rituale haben religiösen Charakter. Die Therapie bezieht ihre Autorität aus dem Ritual, so wie die Religionen. Das Ritual darf nicht aufgelöst werden. Nun ja, ich in einer Dreiergruppe mit Nina und Henrike, das wäre ganz nach meinem Geschmack. Allerdings – in anderer Konstellation – Rainers Sperma an meiner Hand kleben zu haben, finde ich sehr gewöhnungsbedürftig. Aber nicht ausgeschlossen, dass ich ihm eines Tages sogar eine Prostatamassage spendieren werde. Ein Freundschaftsdienst. Es muss ein gutes Gefühl sein, zu wissen, dass ich den allermeisten Nachbarn in meiner Straße mal einen Orgasmus verschafft habe, oder lachen zu können über die Erinnerung an den alten Herrn, der sich anfangs so ungeschickt angestellt hat und nach ein paar Monaten großes Geschick mit Lippen und Zunge bewies. Vielleicht würde ich mit Anette oder Michaela gern einmal richtigen Sex haben, aber das müsste ich erst mit Nina besprechen, bevor ich die beiden frage.
Die NASA entdeckt einen Schwarm mehrerer kilometergroßer Asteroiden, die auf die Erde zusteuern. In etwa drei Jahren wird diese kosmische Schrotladung unweigerlich auf unseren Planeten niederprasseln und vermutlich alles Leben vernichten. In den Medien wird die nahende Apokalypse verkündet, Wissenschaftler erstellen Berechnungen der Flugbahnen, schüren Hoffnungen auf Wahrscheinlichkeiten, doch sind die 20 oder 30 Prozent, mit denen wir dem galaktischen Blattschuss entkommen könnten, wenig beruhigend. Werden wir nach anfänglicher Schockstarre Rettung und Trost bei den großen Religionen suchen? Oder verdrängen, abwarten, hoffen auf eine explosive technische Lösung mit Raketen und Bomben?
Das Katastrophenszenario animiert zu vielfältigen Spekulationen, wie Wissenschaft und Technik in der kurzen Frist zu Höchstleistungen herausgefordert würden und das gesellschaftliche Leben lange vor den Einschlägen von Anarchie und Chaos zerstoben werden würde. Kammerspielartig hat sich Lars von Trier vor Jahren in seinem Film „Melancholia“ mit den Reaktionen einer kleinen Gruppe von Menschen auf den bevorstehenden kollektiven Exitus beschäftigt, der jeglichen Lebenssinn in Angst erstickt und alle Hoffnung spendenden Narrative verblassen lässt. Bei Lars von Trier wandelt sich das berauschende Himmelsspektakel innerhalb weniger Tage oder Stunden in ein zerstörerisches Liebesspiel planetarer Anziehungskräfte. Es dauert nicht lange, bis alle Menschheitsträume und -traumata buchstäblich zerplatzen.
Was aber würde geschehen, wenn wir wüssten, dass noch drei oder auch fünf Jahre vor uns liegen, in denen wir unser irdisches Leben auskosten können? Zu viel Zeit, um sofort den Beruf an den Nagel zu hängen, zu viel Zeit, um die Super- und Baumärkte zu plündern, zu viel Zeit, um sich ins Dauergebet zu versenken.
Es ist eine lange Zugreise, auf der Nina und ich im Gespräch auf dieses wenig originelle Szenario stoßen und uns zu fragen beginnen: Was würden wir tun, wenn wir trotz bester Gesundheit nur noch drei Jahre zu leben hätten? Was möchten wir noch erleben, erfahren, kennenlernen, verstehen? Wir werden nicht, wie erhofft, gemeinsam alt werden. Der Klimawandel verliert seinen Schrecken, weil es ihn nicht geben wird. Mögen die Polkappen doch schmelzen! Es lohnt nicht mehr die Schweine aus den engen Mastanlagen zu befreien, das Rinderfilet darf wieder moralinfrei genossen werden, der Sportwagen mit 12-Zylinder-Verbrennungsmotor lädt wieder ein zum Geschwindigkeitsrausch auf Autobahnen und Landstraßen. Noch drei Sommer, drei Winter – was fangen wir mit unserem Leben noch an?
„Mir fällt nichts ein“, sage ich.
„Sicher?“, fragt Nina und schaut mich von unten herauf über ihre Lesebrille an. Sie liest gerade einen ZEIT-Artikel über Bonobos und Schimpansen. Titel: „Freundlichkeit siegt“.
„Nur Unanständiges, du weißt schon. All die Dinge, die wir noch nicht gemacht haben, die mir im Moment aber auch nicht einfallen. Reisen, alle Menschen werden reisen wollen, um alles das zu sehen, was sie noch nicht gesehen haben.“
„Klar“, sagt Nina, „alle werden reisen wollen. Aber dann ist da möglicherweise niemand, der die Passagiermaschine nach Neuseeland steuert, niemand, der dir eine Unterkunft bietet, weil die Hoteliers, die Vermieter von Ferienwohnungen, die Kellner und Köche, Zimmermädchen und Zimmerbübchen ebenfalls auf Reisen sind. Wir können uns das Chaos nicht ausdenken. Wir werden vielleicht unsere gesamte Habe verkaufen wollen, um das Geld für unsere Reisen zusammenzukratzen. Aber wer will dann noch unnützes Zeug kaufen? Was sollen wir verkaufen, wenn alle alles verkaufen wollen? Es gibt keine Käufer mehr, niemanden, der noch irgendwas anhäufen will. Wer will noch arbeiten, wenn alle nur noch leben wollen.“
„Reguliert sich das nicht von selbst? Alle arbeiten weniger und gönnen sich mehr Freizeit. Das meiste, was heute produziert wird, braucht dann doch keiner mehr. Genau genommen schon jetzt nicht mehr. Ergo: weniger Waren und Dienstleistungen, weniger Arbeit. Und die Notenbanken drucken einfach weiter Geld.“
Nina findet das nicht überzeugend. Sie meint, alle Wirtschaftsabläufe würden zusammenbrechen, wenn alle täten, was ihnen Spaß macht.
„Eben. Wenn sie merken, dass das nicht funktioniert, werden sie wieder arbeiten, aber eben nur das Nötigste. Abgesehen von denen, die depressiv und wie gelähmt sind.“
„Das funktioniert nur, wenn die Darwinisten unrecht haben und nicht die Starken und Rücksichtslosen gewinnen, sondern die Freundlichen, wie es gerade in der ZEIT zu lesen ist. Es müsste schon einen Paradigmenwechsel in Rekordzeit geben. Alle sind lieb und rücksichtsvoll zueinander, teilen ihre Habe und ackern die letzten drei Jahre ihres Lebens gemeinsam auf den Feldern, für Kartoffeln und Gemüse. Hältst du das für realistisch?“
Nein, ich halte das nicht für realistisch. Und ich mag mir das Chaos, das Elend, die verhungernden Menschen, die Morde und Raubüberfälle nicht vorstellen.
„Wenn du nichts mehr zu verlieren hast, wenn alle nichts mehr zu verlieren haben – bricht sich da nicht ein universeller Egotrip Bahn?“
Wir lassen unsere Blicke durchs Abteil schweifen. Freundlich gelangweilte Mitfahrer, alle hinter Hund-Hasen-Bedeckungen versteckt.
„Haha, Hund-Hasen-Bedeckungen. Müsste man mal zeichnen. Die Sache ist doch die: Es geht nicht um das dystopische Szenario, bei dem wir schon vor dem eigentlichen Untergang uns gegenseitig den Garaus machen.“
„Sondern?“
„Das Gedankenspiel kitzelt eine ganz andere Frage hervor, nämlich die, was noch sinnvoll ist, wenn nichts mehr Sinn hat, wenn du alle Illusionen, die dich im Moment noch am Leben und Hoffen halten, wegstreichst. Wir arbeiten, damit wir im Alter eine auskömmliche Rente haben, mit der wir all die Unternehmungen finanzieren können, die wir uns heute verkneifen. Zum Beispiel mal ein halbes Jahr in Rom wohnen oder Amsterdam. Wir vertagen unsere Träume in eine angeblich bessere Zukunft. Was aber wäre jetzt schon möglich? Was ist in der universellen Sinnlosigkeit sinnvoll?“
„Rom, Amsterdam – um da dann was zu tun?“
„Die Stadt aus dem Blickwinkel des Bewohners kennenlernen, Menschen kennenlernen, sie zu Hause besuchen, endlich die Sprache richtig lernen.“
„Wenn da wegen der angekündigten Apokalypse der reguläre Betrieb eingestellt wird?“
„Eben nicht. Vergiss die Apokalypse! Die Frage ist: Was willst du jetzt tun, wenn der größte Teil deiner Tätigkeiten, Käufe, Vorsorgemaßnahmen etc. pp. sich mit einem Schlag als sinnlos erweisen? Auch ohne Apokalypse. Was bleibt übrig? Was kannst du wegstreichen, weil es angesichts des uns alle irgendwann ereilenden Todes sinnlos ist? Wenn alle Glücksversprechen, die auf Wohlstand und Konsum aufbauen, sich als illusorisch erweisen?“
Nina macht mir Angst. Für die innere, psychische Apokalypse braucht es anscheinend keinen Asteroideneinschlag. Da genügt eine Philosophin mit dem Hammer. Jetzt geht es um die Umwertung aller Werte und die Selbstbefreiung vom falschen ideologischen Bewusstsein. Die Wiederkehr der Marx-Nietzsche-Apokalypse.
„Was schlägst du vor?“, frage ich.
„Ein Ausschlussverfahren? Mach eine Liste: die Wohnung renovieren – überflüssig; die Verstopfung im Klo beseitigen – notwendig; essen, trinken, schlafen, nicht erfrieren – notwendig; neue Klamotten kaufen – überflüssig. Stereoanlage, Fernseher, Hometrainer, Backautomat, Kosmetika, Zeitschriften, Fotoapparat, Deko und Stell-mich-Hinchen …“ Nina stockt.
„Schuhe“, sage ich.
„Ja, Schuhe, die sind notwendig.“
„Aber nicht noch mehr Schuhe.“
„Nein, keine neuen Schuhe. Siehst du, wir denken immer nur in den Kategorien des Konsums. Als ob wir mit Waren, mit Gegenständen unsere Identität bestückten. Wir kaufen uns sogar Erlebnisse. Kino, Netflix, Musik.“
„Kultur eben.“
„Brauchen wir irgendwie. Was davon brauchen wir wirklich? Was davon hat nichts mit Konsum zu tun?“
„Wir haben nur unser Leben. Und unser Leben sind unsere Erinnerungen. Die wollen wir bis zur letzten Minute haben. Wir wollen auf ein erfülltes Leben zurückblicken, am besten jederzeit.“
„Damit man jederzeit dankbar tot umfallen kann. Was wir erlebt haben, kann uns nur der Tod nehmen, oder die Demenz.“
„So wird eine Philosophie daraus: Lebe jetzt und folge rücksichtslos deinen Träumen und Sehnsüchten.“
„Nicht rücksichtslos.“ Nina schüttelt den Kopf und setzt ihren strengen Blick auf.
Ich korrigiere mich: „Freundlich. Folge freundlich und rücksichtsvoll deinen Träumen und Sehnsüchten, aber sei kompromisslos. Das ist es doch, wir machen dauernd irgendwelche Kompromisse und grätschen unseren Träumen und Sehnsüchten in die Beine. Wir stolpern nur so durchs Leben, weil wir glauben, es den anderen immer recht machen zu müssen. Ist das nicht diese fiese, fatale Freundlichkeit?“
„Nee, ist es nicht. Das ist unsere Angst, von den anderen nicht akzeptiert zu werden, wenn wir nicht tun, was die sich vorstellen. Du weißt schon: diese Art von doppelter Kontingenz, die Erwartungserwartungen. Wir erwarten, dass die Anderen etwas Bestimmtes von uns erwarten, wissen aber nicht, ob sie es wirklich tun und was es ist.“
„Meistens tun sie’s.“
„Was?“
„Sie denken meistens, was wir glauben, dass sie es denken.“
„Wenn die uns nicht so akzeptieren, wie wir sind und was wir denken, hat das aber keine negativen Konsequenzen für die. Es geht sie nicht wirklich etwas an. Absurderweise sind wir diejenigen, die sich dann unwohl fühlen. Also ein komischer, geradezu abseitiger Selbstschutz. Du verhältst dich so, wie du glaubst, dass die Anderen es von dir erwarten, um dich wohl zu fühlen. Damit du keine Scham empfindest. Obwohl dir klar sein könnte, dass du es den Anderen gar nicht recht machen müsstest, vor allem dann nicht, wenn du das Richtige tust, das, wovon du überzeugt bist.“
„Aber wir unterlassen es zumeist, weil wir es uns mit den anderen nicht verderben wollen. Ist doch so.“ Mir schwirrt ein weiterer Gedanke durch den Kopf. Sind unsere Überzeugungen nicht auch schon davon geprägt, was die Anderen denken? Gibt es überhaupt so etwas wie originäre, individuelle Überzeugungen und Werte? Bevor ich unsre Diskussion erfolgreich verkomplizieren kann, schlägt Nina bereits den ersten Pflock für eine elementare Ethik ein.
„Stimmt. Also, Punkt eins der Verhaltensregeln für eine sinnlose Welt: Folge freundlich deinen Sehnsüchten und Überzeugungen. Punkt zwei: Du bist auf das Wohlwollen der Anderen angewiesen. Mache sie, wann immer möglich, zu Freunden oder Unterstützern! Pflege deine Beziehungen! Aber sei im Zweifel kompromisslos! Und noch?“
„Punkt drei: essen, trinken, schlafen, ein Dach über den Kopf haben, ach ja, Sex nicht zu vergessen.“
„Zärtlichkeit und Liebe finde ich universeller als rough sex. Und alles, was schön ist. Ich meine nicht bloß angenehm, die Dinge, die dich Schönheit empfinden lassen. Also auch Musik zum Beispiel. Singen ist essenziell. Komischerweise singt kaum jemand auf der Straße, obwohl es doch ein tiefes Bedürfnis ist. Allein singen, gemeinsam singen, trommeln, musizieren, tanzen. In der Natur sein. “
„Ich fasse zusammen, Punkt vier: kulturelle Selfmade-Improvisation und erotische Gruppentänze.“
„Zärtlichkeit, das bringt mich auf einen Gedanken. Gehört alles, was dem Körper guttut, in die Kategorie Essen etc.? Oder ist das ein eigener Punkt? Wir können nicht leben ohne Berührungen. Warum haben immer mehr Menschen Hunde? Sie brauchen ein lebendiges Wesen, das sie berühren und streicheln können und das sich an sie anschmiegt. Dafür hab‘ ich zum Glück dich.“
„Und Gespräche, Blicke, das wiederholte mehr oder weniger Verliebtsein. Sympathie, wenn du so willst. Wenn du jemanden wirklich interessant und sympathisch findest, dann bist du irgendwie auch verliebt.“
Nina zieht die Augenbrauen zusammen. „Irgendwas fehlt noch.“
„Sex habe ich schon erwähnt. Aber wir könnten noch differenzieren zwischen must have und must not have. Obwohl …“
„Nein, ist mir klar, wie wichtig dir das ist. Ich meine noch was anderes. Menschen sind neugierig, sie wollen wissen und erkennen, verstehen, begreifen, Neues kennenlernen, die Welt und den Kosmos erkunden und verstehen.“
„Das Vernichtungspotenzial von Asteroiden zum Beispiel. Punkt soundsoviel: Erkenntnis, Befriedigung der angeborenen Neugier. Ist okay. Wir haben also die Befriedigung unserer kreatürlichen Bedürfnisse, Sex inbegriffen. Auch Fortpflanzung und Familie? Sind das auch natürlich-kreatürliche Grundbedürfnisse?“
„Problemzone. Lassen wir vorübergehend mal weg.“
Ist vielleicht ganz gut, keine eigenen Kinder dieser allumfassenden Sinnlosigkeit ausgeliefert zu wissen, ganz zu schweigen davon, sie nicht in einem apokalyptischen Feuersturm verbrennen sehen zu müssen. Dennoch bleibt die ungewollte Kinderlosigkeit eine Kränkung. Für Nina mehr als für mich.
„Freundlichkeit, Beziehungen, was war sonst noch? Kulturelles Leben. Irgendwie ist das mit den Sehnsüchten und Träumereien jetzt unpassend. Wonach sehnen wir uns denn? Wovon träumen wir? Deine Definition eines gelingenden Lebens in der Sinnlosigkeit klingt paradiesisch – und dann auch wieder gähnend langweilig. Ich habe viele Freunde, bin nett zu denen, teile mir mit ihnen das Essen und den Rotwein, lese ein paar schlaue Bücher, gehe in der Natur spazieren und singe ein Liedchen dabei. Das einzige echte Highlight dürfte da der Sex sein. Und der müsste dann schon richtig gut sein. Was ja machbar ist. Wovon träumst du? Was würde dich im Schlaraffenland so richtig in Wallung bringen?“
„Abenteuer. Paradies ist in der Tat langweilig. Wenn man keine Abenteuer erleben kann, wird das komfortabelste Leben langweilig. Alle Menschen sehnen sich nach Abenteuern. Darum lesen sie Romane, schauen Filme, stürzen sich mit Gleitschirmen von Klippen und so. Sie sehnen sich nach Risiko und ein bisschen Angst. Nach dem Unberechenbaren, das sie zu beherrschen lernen.“
„Abenteuer. Hmm. Romane, Filme, übrigens auch Pornos. Kann es sein, dass wir zwar sehnsüchtig nach Abenteuern sind, aber Angst davor haben, sie selbst zu erleben? Das wilde, promiskuitive Leben zum Beispiel, vor dem wir uns fürchten wie das Kaninchen vor der Schlange. Die größten Abenteuer lassen wir unsere Stellvertreter in Romanen und Filmen erleben. Ist aufregend und weitgehend ohne Risiko für Leib, Leben und Beziehung.“
Wir verstummen und versinken in Gedanken. Die entscheidende Frage nach einem wirklich lebenswerten Leben dürften die Abenteuer sein, auf die man sich leibhaftig einlässt. Und die wären? Ich bringe mich ungern in Gefahr und habe mir wohl auch aus diesem Grund noch nie ein Bein oder einen Arm gebrochen. Ich meide Risiken und Konflikte. Ich habe mich zumeist mit den sprichwörtlichen Abenteuern im Kopf begnügt. Aber jetzt, wenn meine Abenteuer nicht mehr nur in meinem Kopf oder auf einer Kinoleinwand stattfinden sollen, beginnt dieses Kribbeln. Mit den Abenteuern, die mir spontan einfallen, würde ich auf jeden Fall meine Ehe riskieren. Da müsste ich wohl freundlichst Rücksicht auf Ninas Gefühle nehmen. Erotische Eskapaden, die ich kompromisslos durchziehen würde, würden nämlich bei Nina nicht auf die von ihr gerade eben noch unterstellte Akzeptanz stoßen. Das kollidiert mit Punkt zwei: Pflege deine Beziehungen, denn du bist auf die Anderen angewiesen! Und ich erst auf Nina! Wenn ich nur wüsste, was Nina gerade denkt! Und wenn ich sie frage – wird sie mir genauso unaufrichtig antworten wie ich, wenn sie mich fragen würde? Hm, na, lieber Pjotr, woran denkst du gerade? Nix. Mir fällt nichts ein.
„Was wäre denn für dich ein richtiges Abenteuer?“, frage ich.
Nina überlegt eine Weile. „Mal im Wald unter freiem Himmel übernachten. Die Tiere hören, die umherschleichen, die Stille, der Geruch des feuchten Waldbodens. Das dürfte mit einer erregenden Angstlust verbunden sein. Oder den Rucksack packen und einfach drauflos wandern und keine Ahnung haben, wo man am Abend übernachten kann und was man essen wird. Nackt baden in Seen und Flüssen.“
„Das Abenteuer beim Nacktbaden würde vermutlich darin bestehen, dabei nicht beobachtet zu werden. Die Angstlust wäre aber im Gegenteil viel größer, genau das zu riskieren und auszuhalten: dabei von anderen beobachtet zu werden. Apropos Wald und Nacht: Wir haben noch nie Sex im Wald gehabt.“
„Doch, haben wir.“
„Nicht so richtig. Nicht splitterfasernackt zwischen suhlenden Wildschweinen.“
„Okay, Sex im Wald.“
„Und in der Umkleide bei Hertie oder so.“
„Wozu? Stelle ich mir unbequem vor.“
„Nur ein bisschen Gefummel mit der Angst, dabei entdeckt zu werden.“
„Ist dir eigentlich klar, dass uns hier alle zuhören können?“
„Wie abenteuerlich! Wir haben Angst, bei unseren Gesprächen über Sex belauscht zu werden. Also lass es uns tun!“
„Wir sind freundlich und rücksichtsvoll. Warum sollen wir unsere Umwelt verstören? Lass mich den Artikel zu Ende lesen.“ Nina schiebt sich die Lesebrille zurecht.
„Würden wir das? Wären die verstört? Also, ich sehne mich danach, endlich einmal ein paar Leute bei ihren Gesprächen über Sex belauschen zu dürfen. Meinst du, den anderen geht es nicht ähnlich? Ich freue mich auch jedes Mal, wenn unsere Nachbarin gegenüber nackt durchs Wohnzimmer geht oder sich bei geöffneten Gardinen auszieht. Ich weiß. Ich sollte da nicht hinsehen. Diskretion! Taktgefühl, Anstand! Aber es bereitet mir Freude. Ich sehne mich nach diesem Anblick. Und hinter irgendwelchen dunklen Fenstern gegenüber könnten Männer und Frauen stehen, die sich danach sehnen, auch dich mal nackt am Fenster stehen zu sehen. Das mit den Sehnsüchten ist einerseits kompliziert und peinlich, andererseits sind die Sehnsüchte der Menschen gar nicht so verschieden. Glaube ich jedenfalls.“
„Sind das die einzigen Abenteuer, die dir einfallen?“
„Pardon.“
„Singend und tanzend durch die Straßen laufen. Menschen ansprechen, die einem sympathisch erscheinen. Die Scham überwinden, die einen sonst daran hindert.“
„Wildfremde Menschen ansprechen – und dann? Smalltalk?“
„Die Frage, was ihre Sehnsüchte sind, welche Abenteuer sie erlebt haben, welche Abenteuer sie noch erleben möchten.“
„Und du bist sicher, dass du an ihren ehrlichen, aufrichtigen Antworten interessiert bist? Führt das nicht zu unwägbaren, will sagen: abenteuerlichen Verbindlichkeiten? Du weißt schon. Du bist eine attraktive Frau.“
„Warum nicht? Ich weiß, was in deinem Kopf vor sich geht. Du meinst, dass ich es genießen könnte, mich als Objekt der Begierde anderer zu fühlen. Ach, es wäre vielleicht sogar schön, wenn jemand zum Ausdruck brächte, dass ich anziehend auf ihn wirke, aber ich bin ja nicht auf der Welt, um anderen ihre Wünsche zu erfüllen.“
„Musst du ja nicht. Sollst du auch gar nicht. Will ich auch gar nicht. Ich habe nur das Gefühl, du erlaubst dir nicht einmal den Gedanken daran, auch wenn du im Moment die Aufgeschlossene spielst. Passt gar nicht zu dir.“
„Findest du? Vielleicht kennst du mich gar nicht so gut, wie du glaubst.“
„Ein Abenteuer zu erleben, bedeutet irgendwas Gefährliches, Entgrenzendes oder Verbotenes zu tun. Oder zumindest mit dem Gedanken zu spielen. Sei ehrlich! Ist nicht dein Ding. Sich ein klein wenig mehr als sonst in Gefahr begeben. Die Angst spüren und aushalten, wenn man befürchten muss, einen Schritt zu weit gegangen zu sein, um zu sehen, ob die Zeit für den Rückzug gekommen ist. Oder ob sich neue Optionen ergeben, die den eigenen Erfahrungsschatz positiv erweitern könnten.“
„Deine Kamikaze-Mentalität finde ich immer wieder befremdend. Insbesondere, weil die Realität weit hinter deinen Sprüchen zurückbleibt. Den Erfahrungsschatz positiv erweitern! Wir müssten erstmal ganz klein anfangen und überhaupt mal den Mut finden, im Restaurant das missratene Gericht souverän zurückgehen zu lassen, statt schweigend alles runterzuwürgen. Pjotr, wir sind in geradezu lächerlicher Weise ängstlich. Und träumen von den großen Abenteuern. Ich wage nicht mir vorzustellen, nach welchen Abenteuern dir der Sinn steht.“
„War träumen nicht einer der ersten Punkte? Ich träume für mein Leben gern. Im Unterschied zu dir träume ich nicht nur von Museumsbesuchen, Theateraufführungen, Opern, Konzerten und Übernachtungen im Wald.“
„Sondern?“
„Von Nähe, Offenheit, von Selbstoffenbarungen, Schamlosigkeit, Berührungen, von gegenseitigen Eingeständnissen der eigenen Verletzlichkeit und Schwäche.“
„Das ist dein Lieblingsthema: peinlich sein, Scham überwinden, Voyeurismus.“
„Ich trainiere quasi täglich. Aber du pfeifst mich immer zurück, wenn’s dir zu brenzlig wird.“
„Weil du übertreibst.“
„Weil du mich peinlich findest. Wie soll ich meine eigene Scham überwinden, wenn ich dauernd das Gefühl haben muss, dass du dich an meiner Stelle schämst?“
„Dauernd.“
„Oft. Zu oft.“
„Okay, ich stimme dir zu: Wer ein richtiges Abenteuer erleben will, muss bis zu einem gewissen Grad schamlos sein. Schamlos in dem Sinne: Ich versuche mich von dem Urteil der Anderen über mich und mein Verhalten weitgehend unabhängig zu machen. Sofern ich nicht die Gefühle der Anderen verletze. Du willst, dass sich die Anderen in ihrer Verletzlichkeit offenbaren. Aber es gehört sehr wenig dazu, die Gefühle anderer zu verletzen. Es hat gute Gründe, warum wir uns vor Verletzungen schützen, warum wir uns anderen gegenüber nicht komplett ausziehen.“
„Gefühle verletzen – was heißt das eigentlich? Ich bin mir nicht sicher, dass wir wirklich Gefühle verletzen, wenn wir offen und ehrlich sind. Als kopftuchtragende Muslimin kannst du in der Öffentlichkeit nicht dein Kopftuch abnehmen, ohne die Gefühle deiner Familie zu verletzen. So sagt man jedenfalls. Normverstöße können als verletzend empfunden werden? Wenn du frei sein willst, musst du hin und wieder die Gefühle der Anderen verletzen. Vielleicht stimmt das aber auch gar nicht, dass man Gefühle anderer Menschen verletzt, wenn man sagt oder tut, was man für richtig hält und was einem selbst guttut. Was sind denn das für Gefühle? Du verletzt eine Norm, aber die Gefühle, die dadurch bei anderen ausgelöst werden, sind eher Wut, Hass und Angst. Möglicherweise alles auf einmal. Du bringst mit einem Normverstoß den Gefühlshaushalt eines anderen aus dem Tritt. Der will eigentlich immer weiter chillen und keine Unordnung, die ihn zum Nachdenken zwingt, zum Nachdenken über die eigenen Standpunkte, über die Normen und Narrative, in deren Grenzen er sein Leben eingerichtet hat. Das sind keine verletzten Gefühle, das ist eine Anfechtung. Jemand zieht ihr Leben in Zweifel, wenn er gegen idiotische Normen verstößt.“
„Genau, idiotische Normen. Aber es gibt auch sinnvolle und hilfreiche Normen. Normen sind eine Währung, auf die man sich verlassen kann. Sie geben Sicherheit. Du willst zum Beispiel sicher sein, nicht angelogen zu werden.“
„Du sollst nicht lügen, nicht stehlen, nicht deines Nächsten Weib oder Mann begehren und so weiter, den Rest weiß ich nicht mehr. Also das mit dem Begehren finde ich schon mal sinnlos. Warum soll man nicht begehren, solange man nicht anfasst? Nicht töten, nicht bedrohen, nicht erniedrigen, nicht schlagen, freundlich sein – alles gut. Aber dann kommt erst mal lange nichts. Von Etikette und verletzten Gefühlen steht in der Bibel nichts. Dafür aber: Liebe deinen Nächsten. Unmoralisch sind die identitären Hater.“
„Identitäre Hater – damit machst du ein neues Fass auf.“
„Will ich gar nicht. Die interessieren mich nicht. Wir suchen eine Definition für Abenteuer, und, wenn du so willst, nach einer anthropologischen Konstante, die die Philosophen, Psychologen und Soziologen regelmäßig vergessen: Menschen suchen Sicherheit durch Regelwerke und Normen. Sie müssen das. Aber parallel dazu müssen sie sich selbst behaupten, indem sie gegen Regeln und Normen verstoßen. Ohne Regeln und Normen keine Abenteuer. Ohne Abenteuer keine neuen Normen. Oder so. Mal ganz ins Unreine gesprochen.“
„Du meinst, das ist ein dialektischer Zusammenhang. Du installierst Normen, negierst sie, um zu einem neuen Normenkanon zu gelangen, der dann wiederum negiert und im Hegelschen Sinne aufgehoben wird undsoweiter.“
„Die erste Bedingung: Abenteuer gründen auf Normen und Regeln, die durch das Abenteuer aufgehoben oder aufgeweicht werden sollen, um zu neuen oder verwandelten Normen und Regeln zu gelangen. Man könnte das als Mutationsprozess bezeichnen. So wie die Viren durch Mutationen sich immer besser an ihre Umwelt anpassen und ihr langfristiges Überleben sichern. Zum Beispiel dadurch, dass sie ihre Wirte nicht killen. Zweite Bedingung: Weil Normen und Regeln ausgesprochene oder unausgesprochene, selbst geschlossene oder ererbte Verträge zwischen Menschen sind, sind die Verstöße dagegen immer soziale Handlungen, die die Komplizenschaft weiterer Menschen erfordern. Denn die Verstöße zielen ja auf eine Legitimation und Vereinbarung neuer oder gewandelter sozialer Regeln und Normen. Den Komplizen möchte ich am liebsten schon bei meinen Verstößen dabeihaben. Nein, ich brauche ihn, denn mit mir selbst allein kann ich gar nicht gegen Normen verstoßen, oder nur gegen die in meinem Kopf.“
„Wichtiger Punkt, die Normen in deinem Kopf. Die sind doch in erster Linie in deinem Kopf. Deine Feinde sind nicht nur da draußen, die Normen sind Dämonen in deinem eigenen Kopf. Deswegen die Scham. Du schämst dich, wenn du gegen Regeln verstößt, selbst gegen sinnlose Regeln, weil die Regeln auch für dich immer noch gelten. Sie gelten, weil du dich an die Verträge mit den Anderen gebunden fühlst. Du fühlst dich wie ein Verräter, wenn du gegen sie verstößt. Du hast Angst, die Anderen zu enttäuschen, mit anderen Worten: ihre Gefühle zu verletzen. Ich möchte die These sogar noch erweitern: Du verletzt deine eigenen Gefühle.“
„Daraus folgt doch eine sehr schöne neue Definition für das Abenteuer: Du kämpfst aus Überzeugung gegen die eigenen Gefühle und die der Anderen. Wohlgemerkt aus Überzeugung.“
„Was ist das für eine Überzeugung? Ein Wissen, oder wiederum ein Gefühl. Oder eine Vermutung, Erwartung … Woher kommen deine Überzeugungen?“
„Eine Sehnsucht nach Befreiung von bestimmten Normen. Befreiung von kontraproduktiven Gefühlen der Scham. Kontraproduktiv heißt: Sie tun weder dir noch den Anderen gut.“
„Aber deine Angst hat ihren Ursprung in deinem Zweifel an dieser Sehnsucht, Zweifel, die durchaus berechtigt sein können. Du weißt nicht, ob der Zustand, in dem du dich nach deiner sogenannten Befreiung befindest, ein guter ist. Gut für dich und für andere. Reden wir doch mal Tacheles: Du sehnst dich danach, mit anderen Frauen zu schlafen. Unsere Norm dagegen ist, dass wir beide es nur miteinander tun.“
„Das habe ich nie gesagt.“
„Wie war das noch mit dem wilden, promiskuitiven Leben? Nein, das würdest du nie zugeben. Das wäre ja auch bereits der erste Tabubruch, zumindest würdest du unsere gemeinsame Norm damit in Frage stellen, wenn du diese Sehnsucht konkret formulieren würdest. Aber du hast Angst davor, diesen Schritt zu gehen. Also verwickelst du mich in eine Diskussion, bei der du versuchst, mich davon zu überzeugen, dass es Normen gibt, die sinnlos sind und deshalb beiseitegestoßen werden sollten. Deine Anspielungen zielen dabei immer wieder auf Sexuelles. Zeig dich deinen Nachbarn nackt am Fenster! Willst du das wirklich? Du möchtest anscheinend von mir hören, dass ich, so wie du, Monogamie für überholt halte.“
„Unsinn. Ich kämpfe nur für die Legitimität sexueller Fantasien. Du weißt, ich habe ein Problem damit. Ich möchte …“
„Du hast Angst, du kämpfst gegen deine persönlichen Dämonen. Und du suchst in mir eine Komplizin, die deine sexuellen Fantasien teilt. Und vor allem legitmiert.“
„Auf alle Weise freilich.“
„Aber du hast keine Traute, mir zu sagen, dass du deine Fantasien gern einmal, vorsichtig gesagt, im wirklichen Leben experimentell erkunden willst.“
„Das ist eine Unterstellung, die dir nicht zusteht. Es ist durchaus diffiziler. Ich möchte, dass die Menschen ihre Sexualität und ihre Fantasien nicht mehr voreinander verstecken, als wäre das was Unanständiges. Ich möchte zum Beispiel unserer Freundin Uta sagen können, dass ich sie enorm sexy finde und am liebsten aufregende Nacktfotos von ihr machen würde. Verstehst du? Wenn so etwas möglich wäre!“
„Bliebe es dabei? Was wäre denn der Subtext einer solchen Äußerung? Mach dich nicht lächerlich!“
„Ich möchte es nur sagen dürfen. Weil es in meinem Kopf ist und nichts daran falsch oder verwerflich ist, sowas im Kopf zu haben. Soll sie doch wissen, was ich denke und empfinde! Wer weiß, möglicherweise schlummern tief in dir drin ähnliche Fantasien. Würde dich die Vorstellung völlig kalt lassen, wenn André so etwas zu dir sagen würde? Wenn er Fotos von dir machen wollte? Wenn er dir seine dich betreffenden erotischen Vorstellungen gestehen würde? Ist dir eigentlich mal aufgefallen, wie er jedes Mal auf deine Beine starrt, wenn die beiden zu Besuch sind? Und warum ziehst du dann jedes Mal deinen kürzesten Rock an? Ich meine, den allerkürzesten. Mich freut’s und ich genieße es zu sehen, wie sexy er dich findet. Verdammt nochmal. Das darf doch wohl auch mal ausgesprochen werden!“
„Puh! Harter Tobak. Lass mich meinen Gedanken zu Ende führen. Deine Strategie zielt darauf, dass ich an deiner Stelle unsere stillschweigende Norm, ein monogames Leben zu führen, verletze. Sie zumindest in Zweifel ziehe.“
„Wir ziehen doch gerade alles in Zweifel. Das ist doch die Methode. Angesichts der fundamentalen Sinnlosigkeit musst du theoretisch auch die Monogamie in Zweifel ziehen.“
„Du vermischst gerade die Ebenen. Du hast recht: Der methodische Zweifel als Praxis der Philosophie darf vor nichts Halt machen. Aber du lässt dich dabei allein von deinen persönlichen Interessen leiten. Das ist fatal, weil es eine unzulässige Unwucht in das philosophische Modell bringt. Du musst ebenso die Promiskuitivität, dieses dionysische Leben in Zweifel ziehen, nach dem du dich sehnst. Aber um diese Systematik geht es dir gar nicht. Du sagst, du genießt zu sehen, wie sexy mich André findet. Was willst du damit bezwecken? Dass ich seine Blicke künftig immer sexuell deute und so langsam auf den Geschmack komme? Du versuchst, mich zu manipulieren.“
„Von dir habe ich doch überhaupt nicht geredet. Es geht darum, was sich in meinem Kopf abspielt und dass das legitim ist. Niemand ist damit geschadet, wenn ich es ausspreche.“
„Sprich dich aus! Sag‘ doch einfach, dass du mit Uta schlafen möchtest. Du hast es dir vermutlich schon hunderte Male ausgemalt. Denkst du an sie, wenn wir zusammen sind?“
„Herrgott, nein! Aber denkst du denn nie auch mal an andere Männer?“
„Nein, warum sollte ich? Soll ich, deiner Meinung nach?“
„Warum nicht? Was wäre schlimm daran?“
„Ich denke nicht an andere Männer, weil ich das als Untreue empfinden würde. Ich tue es einfach nicht. Weil ich keine Zeit dazu habe, weil ich anscheinend nicht sonderlich stark auf die Optik von Männern reagiere. Weil Sex nicht mein zentraler Lebenssinn ist. Und weil es außerdem deutlich mehr schöne Frauen als Männer gibt.“
„Also denkst du eher an Frauen. Hab‘ ich kein Problem mit.“
„Im Gegenteil, ich weiß, dass du damit kein Problem hättest.“
„Ich finde es unnatürlich, keine erotischen Fantasien zu haben. Es gibt eine Menge Frauen, die erotische Fantasien haben.“
„Ich bin deiner Meinung nach also nicht natürlich, nicht normal. Ich soll mich an deine Vorstellung von Natürlichkeit anpassen. Ich glaube, dass diese Frauen, von denen du redest, genau das getan haben: Sie haben sich an die Vorstellung der Männer davon, was bei Frauen normal zu sein hat, angepasst. Und ihr Soll womöglich noch übererfüllt. Das ist patriarchalisches Denken.“
„Du wehrst dich mit Händen und Füßen gegen die Einsicht, dass dir deine erotischen Fantasien durch deine Erziehung ausgetrieben wurden. Wenn du sie nicht hast, musst du sie wohl verdrängt haben. Während ich dich dabei unterstützen möchte, sie zuzulassen und kennenzulernen, wirfst du mir patriarchalisches Denken vor. Finde ich, ehrlich gesagt, absurd. Du bist alles andere als ein asexueller Mensch – wo, bitte, sind dann deine sexuellen Gedanken? Statistisch betrachtet, denken Frauen zehn Mal am Tag an Sex, einige noch viel häufiger.“
„Woher du sowas weißt! Frauen reagieren auf optische Reize nur sehr indirekt. Sie merken oft nicht einmal, dass sie etwas erregt. Du kennst das Experiment, bei dem Frauen verschiedene Pornos gezeigt wurden, unter anderem auch kopulierende Bonobos. Sie hatten nicht das Gefühl, davon erregt zu werden. Physiologisch aber waren sie eindeutig erregt. Frauen reagieren auf Berührungen, auf den unmittelbaren Kontakt. Sie brauchen keine Fantasien, um erregt zu werden, sie brauchen Berührungen.“
„Soll heißen, wenn André – nur als Beispiel – dich berühren würde, wenn er dir sanft den Nacken massierte und dir dabei zweideutige Worte ins Ohr hauchen würde undsoweiter, dann könntest du schwach werden?“
„Erstens: André? Würde der nie machen. Ist zudem nicht mein Typ. Zweitens: Massage, okay. Alles weitere, würde ich gar nicht erst geschehen lassen. Hab‘ ich das nötig? Auch wenn es mich vermutlich nicht kalt lassen würde. Das muss ich zugeben. Aber es ist keine Fantasie, die ich innerlich kultiviere.“
„Ich meine es rein theoretisch. Aber klar: Da du keine erotischen Fantasien hast, kannst du dir auch nicht vorstellen, wie verführbar du im Ernstfall wärst.“
„Und du? Für wie verführbar hältst du dich selbst?“
„Hier kommt der Unterschied zwischen uns ins Spiel. Ich kann mir die Situation sehr gut – und sogar gerne – vorstellen. Aber wenn es in Wirklichkeit dazu käme, würde ich vermutlich ganz schnell Reißaus nehmen. Während du dir die Sache nicht vorstellen kannst, aber möglicherweise in der konkreten Verführungssituation nicht Nein sagen könntest. Von wegen Unmittelbarkeit der Berührung und so.“
„Du versuchst gerade echt mir meine Sexualität zu erklären? Das dürfte wohl die höchste Stufe des Mansplaining sein.“
„Nein, absolut nicht. Aber es muss erlaubt sein, das Verhalten und die Aussagen von Menschen zu deuten. Jede Deutung kann falsch sein, unwidersprochen. Aber ich sehe die sexuellen Tabus in deiner Erziehung, die ungewöhnliche Nichtexistenz von Fantasien und deinen Hinweis, dass es dich erregen könnte, wenn ein Mann dich zu erobern versucht. Im Übrigen spiegeln genau diese drei Faktoren patriarchalisches Denken wider: Frauen haben keine sexuellen Fantasien zu haben, sollen keusch sein in Gedanken und Taten, sollen sich aber dem begehrenden Mann (sprich: Ehemann) hingeben, wenn er das will – und es geschickt genug anstellt. Ansonsten sind Sex und Erotik unanständig und daher, bitte, aus dem persönlichen Gefühlshaushalt zu streichen. Das ist ein absolut traditionelles Frauenbild. 50er-Jahre mindestens. Aufgeklärte, befreite Frauen haben eine aktive, selbstbewusste Sexualität, verdrängen ihre Lust nicht, genießen ihre erotischen Fantasien und wissen, was und wer ihnen auf welche Weise Lust verschaffen kann. Und sie holen sich, was sie brauchen.“
„Dann ist es ja raus. So habe ich deiner Meinung nach zu funktionieren, damit ich deinem Bild einer modernen Frau entspreche. Du erwartest von mir – deine Worte! –, dass ich mir hole, was ich brauche. Ich soll diese wie auch immer geartete Sexualität in mir aus dem Dornröschenschlaf wecken und dann mal so richtig die Sau rauslassen. Jetzt bin ich mal mit dem Deuten an der Reihe: Du hast da einen gewaltigen Balken im Auge. Du erwartest von mir, dass ich die Norm an deiner Stelle breche, indem ich sie für ungültig erkläre. Am liebsten wäre es dir, wenn ich mich in deinem Sinne in eine aufgeklärte, moderne, sexpositive Frau verwandele, die ihre sexuellen Fantasien pflegt und gedeihen lässt, um schließlich auch die Initiative zu ergreifen und sich einen feschen Mann zu schnappen, der auch mal ein anderer als der eigene sein darf. Ich soll den Anfang machen, damit du die Erlaubnis zu deinem ersehnten Abenteuer mit einer Anderen bekommst, oder für einen Dreier oder Vierer, oder was auch immer du dir vorstellst. Ich soll mich emanzipieren, um dich zu befreien. Du machst meine sexuelle Emanzipation zur Bedingung für deine eigene. Damit würdest du dich in eine überaus machtvolle Position versetzen. Weil es nämlich meine Entscheidung wäre. Weil ich die Verantwortung dafür übernehmen würde. Was wäre denn, wenn ich jetzt sagte: Okay, lass es uns tun? Du sagst immer nur: Ich möchte alles sagen können. Du sagst nicht: Hey, Nina, wollen wir nicht mal einen Dreier mit Uta arrangieren? Eher würdest du dir die Zunge abbeißen. Du willst mich schon seit Wochen und Monaten dazu bringen, dass ich sage: Hey, mal mit André, oder wem auch immer, zu vögeln, wäre ein richtig aufregendes Abenteuer, findest du nicht? Und du: Klar, mach, wenn du meinst, dass das gut für dich ist! Du würdest es als Legitimation für die lang ersehnte Ära promiskuitiver Abenteuer betrachten, oder – wenn du mit meinem Fremdgehen emotional dann doch nicht zurechtkämst, dich wieder auf die Seite der Norm schlagen und mich für den Bruch unseres Vertrages verurteilen und dich beleidigt, verletzt, erniedrigt in Selbstmitleid suhlen. Nach dem Motto: Sollte doch nur ein Gedankenspiel sein. Denk die Situation doch mal ganz konkret weiter! Wenn ich nun alles täte, was du von mir verlangst und ich auf den Geschmack käme und anfangen würde, wild durch die Gegend zu vögeln. Wenn ich feststellen würde, dass das mit dir schon lange nicht mehr der Kick ist und die Abenteuer mit anderen viel spannender und geiler sind. Würde dir das keine Angst machen? Würdest du dich davon nicht entwertet fühlen? Was macht das mit der Liebe zwischen uns? Lass uns aufhören mit diesem Thema. Mich törnt das ab. Es macht mich wütend.“
„Es geht überhaupt nicht darum, irgendwas in Wirklichkeit zu tun. Aber in unseren Köpfen gibt es nun einmal diese Sehnsüchte. Ich finde, man muss dazu stehen und sie zulassen dürfen. Das ist nur ein sehr kleiner Tabubruch, den ich jedoch als entlastend empfinden würde. Du überspitzt, du drehst und wendest die Sache so lange, bis sie dir passt.“
„Nein, ich lass‘ mich nur nicht für dumm verkaufen. Aber lass‘ gut sein. Ich habe doch schon lange begriffen, wie wichtig dir deine Fantasien sind und wie wenig souverän du damit umgehen kannst.“
„Gerade darum geht es mir, um die Souveränität. Aber dir fällt es schwer, mit meiner Souveränität umzugehen, und das schränkt meine Souveränität wiederum ein. Ich habe überhaupt nicht vor, was mit Uta anzufangen und will auch nicht, dass du dir André schnappst. Oder er dich.“
Langes Schweigen. Ich spüre die Röte in meinem Gesicht. So unglücklich, wie unser Gespräch verlaufen ist, wird es wohl nichts mit unserem für heute Abend verabredeten Bettvergnügen. Nina ist sauer und ich fühle mich missverstanden. Ein Vierer mit Freunden? In Wirklichkeit würde mich das nicht ein bisschen antörnen. Was fängt man schon an mit diesen unvertrauten Körpern? Wie überhaupt käme es soweit? Das Glas Wein im Sofa und irgendwann die Frage: Sagt mal, ihr beiden, seid ihr eigentlich schon mal in einem Swingerclub gewesen? Immerhin schreibt ihr in eurem Buch über so ein Erlebnis. Nein? Hab‘ ich mir gedacht. Und nie mit dem Gedanken gespielt? Auch nicht. Wie wäre es mit einem Spielchen? Der Verlierer muss jedes Mal ein Kleidungsstück ausziehen. Wer nicht am Ende völlig nackt dasteht, hat gewonnen und kann bestimmen, was die anderen zu tun haben. Unterirdisch! Primitiv. Ich könnte das nicht. Allerdings: umgekehrt? Wenn die Freunde den Vorschlag machen? Komm´ schon, Aleksander, mach mit! Das ist lustig, wir kennen uns doch schon so lange. Hast du etwa Angst? Siehst du, Nina macht auch mit. Dann wäre es auf einmal okay. Oder würde ich mich nicht selbst dann noch zieren?
Eine neue Theorie geht mir durch den Kopf. Während ich, der ich mich zu meinen ausschweifenden erotischen Fantasien bekannt habe und – da hat Nina vollkommen recht – sie zu eigenen Bekenntnissen provozieren möchte, weil ich mir unsere traute Zweisamkeit noch schöner und abenteuerlicher vorstelle, wenn wir uns frank und frei über pikante Fiktionen austauschen könnten, unterstellt sie mir unentwegt das brennende Interesse, meine Fantasien Wirklichkeit werden lassen zu wollen. Warum nur? Die Psychoanalytiker würden hier von Projektion sprechen. Sie unterstellt mir, was sie für sich kategorisch ausschließt, weil in ihr nicht sein kann, was nicht sein darf. Möglicherweise ahnt Nina, dass die Versuchungen viel zu groß sein könnten, wenn sie ihre Fantasien an die Oberfläche ihres Bewusstseins steigen ließe. Sie hat Angst vor dem, was sie zu tun bereit wäre, wenn sie die unberechenbaren Geister aus der Flasche befreite. In dem Märchen DER GEIST IM GLAS der Gebrüder Grimm lässt ein junger Mann einen kleinen Homunculus aus einer Flasche. Der bläht sich zu einem riesigen Geist auf und droht, seinen Befreier zu töten. Ein guter Grund, den Geist gar nicht erst heraus zu lassen, wenn man ahnt, dass er mir mit allen meinen Zukunftsplänen einen Strich durch die Rechnung zu machen beabsichtigt. Mit einem Plopp ist das Leben hopp. Das Märchen endet jedoch nicht mit dem Tod des leichtsinnigen Sohnes eines armen Holzhackers. Mit einer List lockt er den Geist zurück in die Flasche. Dabei könnte er es auch belassen. Wer begibt sich schon ein zweites Mal in so eine hochriskante Situation? Müsste schon ein Idiot sein. Aber der junge Mann lässt den Geist ein weiteres Mal heraus. Der Lohn: ein lächerlicher Lappen, ein Zauberlappen, wie ihm versichert wird. Als der Junge die geliehene Axt damit bestreicht, wird das Metall weich. Beim ersten Hieb verbiegt die Schneide. Der Junge blamiert sich nicht nur vor seinem Vater, die verbogene Axt stellt auch einen herben finanziellen Verlust für die Familie dar. Ziemlich blöd gelaufen! Wäre der Geist doch bloß in der Flasche geblieben! Die Pointe am Ende: Das Eisen der Axt wurde durch den Lappen in wertvolles Silber verwandelt. War also doch die richtige Entscheidung, den Geist aus der Flasche zu lassen. Und ich finde, auch Nina sollte sich entscheiden, ihre Geister aus der Flasche zu lassen. Erstens kann sie den übermächtig erscheinenden Geist, den großen Mercurius, wie es im Märchen heißt, mit einfachen Mitteln wieder auf Erbsengröße schrumpfen lassen, zweitens wird sie von ihm reich beschenkt, drittens sind die mit seiner Befreiung verbundenen Ängste und Peinlichkeiten vorübergehender Natur. Ist nur eine Theorie. Ich behalte sie für mich, denn Nina würde sie für übergriffig und unverzeihlich halten. Außerdem würde Nina sofort mit einer überwältigenden Gegentheorie aufwarten, die mir meine schöne Theorie zerstören würde.
Unterdessen hat auch Nina nachgedacht und spricht unvermittelt in die vor ihr aufgeschlagene Zeitung.
„Also nochmal in aller Ruhe. Der Punkt ist: Wir beide sind möglicherweise empathisch genug, uns nicht gegenseitig diesen Tabubruch zuzumuten, diese Unsicherheit, die daraus resultieren würde. Ich meine, wirklich mit Anderen Sex haben. Ich will das nicht, und, wenn ich dir glauben darf, auch du nicht. Du stellst es dir zwar vor, aber du würdest es mir nicht antun. Und ich dir sowieso nicht. Dieser Tabubruch würde nur gelingen, wenn einer von uns gerade nicht empathisch wäre und seinen Sehnsüchten – welche auch immer das sein mögen – rücksichtslos Taten folgen lassen würde. Wenn etwas zwischen uns nicht mehr funktionieren würde.“
„Außer, es gibt eine bislang uneingestandene Komplizenschaft, eine Synchronität der Sehnsüchte.“
In meinem Kopf spielen zwei Paare nackt Flaschendrehen. Im Innern der Flasche hüpft ein halb durchsichtiges, wild gestikulierendes Wesen herum.
„Die du mit pseudosokratischen Überredungsstrategien herzustellen versuchst, ohne selbst klar Stellung zu beziehen.“
„Hab‘ ich das nicht schon? Und außerdem: Wer von uns spielt denn hier den Sokrates?“
„Worauf ich hinaus will: dieses Verschieben der Verantwortung. Dass man die Verantwortung für eine Sache, für eine Handlung, für ein Risiko, für eine Veränderung, die man sich wünscht, einem anderen überlässt. So, wie du von mir erwartest, dass ich eine Entscheidung treffe, die dich vermeintlich befreit, statt dass du diese Entscheidung selbst triffst und dann auch die Verantwortung trägst und die Konsequenzen in kauf nimmst. Und dabei geht es überhaupt nicht mehr um Sex. Wir sind möglicherweise einer viel größeren Sache auf der Spur, einem universalen Gesetz, das weit über Liebe und Sexualität hinausgeht. Hör zu!“ Nina legt die Zeitung beiseite und richtet sich in ihrem Sessel auf. „Soziale Normen zu übertreten ist mit Angst verbunden, geradezu existentieller Angst. Denn die Gesellschaft könnte dich vermutlich bestrafen oder ausstoßen. Ich könnte dich bestrafen. Ich könnte dich verlassen, wenn du deine sexuellen Fantasien Wirklichkeit werden lässt.“
Ich will ein weiteres Mal widersprechen, aber Nina lässt mich nicht zu Wort kommen.
„Lass mich diesen Gedanken weiterentwickeln! Du willst also jemanden, der an deiner Stelle bestimmte Normen übertritt, um nicht selbst die Verantwortung dafür tragen zu müssen. Und dafür brauchst du empathielose Menschen, Psychopathen, denen es gleichgültig ist, was die Anderen über sie denken. Menschen, die keine soziale Angst kennen und darum radikal handeln können. Diese Menschen müssen nicht einmal von einer Sehnsucht getrieben sein, sie müssen einfach nur etwas tun. Sie wollen sich mächtig fühlen. Mit anderen Worten: Wir Sehnsüchtigen warten auf einen Anführer, der an unserer Stelle die Normen bricht. Scheiße nur, wenn das nicht die Normen sind, die dich persönlich zwicken, oder wenn die Sache uferlos wird. Warum hat Donald Trump eine so große Anhängerschaft? Weil er permanent Normen bricht. Weil er anscheinend den Mut besitzt, für unumstößlich gehaltene Normen zu brechen. Ein Zerstörer, der die Hoffnung auf eine neue Ordnung schürt. Aus den gleichen Gründen sind die jungen Männer 1914 begeistert in den Weltkrieg gezogen. Sie hatten die Hoffnung, die Zerstörung würde eine neue und bessere Ordnung hervorbringen. Hitler war so offenkundig ein Zerstörer, alle haben das gewusst, aber viele wollten genau das: Zerstörung. Weil sie glaubten, danach würde etwas Neues und Besseres kommen. Was das jedoch sein würde, wussten sie selbst nicht. Und am allerwenigsten Hitler. Dem reichte das Gefühl der Macht und er badete in der Euphorie über die selbst ihm unerklärliche Gefolgschaft der Massen, die auf ein großes Abenteuer aus waren. Wir wollen unsere Abenteuer nicht selbst verantworten, wir brauchen amoralische Psychopathen, denen wir in ein Abenteuer mit unabsehbaren Konsequenzen folgen können. Trump, Hitler, Orban, Putin, Charles Manson, die Taliban, Boko Haram, Bruno Göring, Martin Luther …“
„Martin Luther?“
„Selbst wenn er gute Absichten verfolgt hat, er war Egomane genug, sich während der durch die Reformation ausgelösten Bauernkriege auf die Seite des Adels zu schlagen und die gewaltsame Niederschlagung der Bauernaufstände zu fordern. Die Anführer des Volkes wenden sich schnell gegen das Volk, wenn sie ihre Macht schwinden sehen. Als Normzerstörer machen sie den Menschen Hoffnung auf die Erfüllung ihrer Sehnsüchte. Aber sie können diese Sehnsüchte gar nicht erfüllen.“
„Nach deiner Definition müsste dann auch Jesus ein Psychopath gewesen sein.“
„Nee, der hat, aus der Perspektive eines Psychopathen betrachtet, etwas vollkommen Irrwitziges getan: Er hat sich verraten und hinrichten lassen. Er hat darauf verzichtet, Macht zu bekommen, er hat sich gerade nicht auf einer Wartburg versteckt. Ich will gar nicht all diese Fässer auf einmal aufmachen. Ich sage nur: Wir sehnen uns vielleicht danach, bestimmte Normen und Regeln loszuwerden, schrecken aber vor den Risiken eigenen verantwortlichen Handelns zurück und suchen uns Psychopathen als Anführer, die diese Angst nicht besitzen. Wir machen damit den Bock zum Gärtner. Wir wünschen uns eine menschliche Welt, ja. Wir können aber nicht erwarten, dass diese Arbeit Unmenschen für uns tun, oder überhaupt irgendwelche anderen Menschen. Die Welt zu verändern, bedeutet, sie – gemessen am Bestehenden – in Unordnung zu bringen. Aber diese Unordnung ordnet sich danach nach eigenen, emergenten Gesetzen und weitgehend ohne unser individuelles Zutun. Du kannst das dann nicht mehr steuern. Die besten Absichten können in der Barbarei enden.“
„Das ist der Standpunkt der Konservativen. Ändere nichts am Status Quo, die Folgen wären unabsehbar! Das ist mir zu holzschnittartig. Wir wissen zu genau, dass die Welt nicht bleiben kann, wie sie ist.“
„Unzweifelhaft. Aber wir brauchen dafür keine Zerstörer, die behaupten, die Demokratie sei zu träge für die nötigen Veränderungen. Wir brauchen nicht diese Psychopathen in den Führungspositionen von Wirtschaft und Politik. Wir brauchen Empathie, Rücksicht, Weitsicht, Weisheit.“
„Sind wir mit dieser Erkenntnis auch nur einen Schritt weitergekommen?“
„Die Bolsonaros, Lukaschenkos, Orbans, Trumps und Putins dieser Welt spiegeln mit der durch sie provozierten Spaltung der Menschen in Gefolgschaft und Widerstand die dialektische Einheit von Sehnsucht und Angst wider, die angesichts der globalen Herausforderungen in höchste Anspannung geraten ist. Sehnsucht nach menschlichen Lebensverhältnissen für alle und Angst, zu den Verlierern zu gehören. Sehnsucht nach Veränderung und Angst vor den Konsequenzen. Das ist eine höchst explosive Situation, in der wir uns befinden. Und ich fürchte, auch wir beide leben gerade in einer höchst explosiven Situation.“
Wir beide leben in einer explosiven Situation? Was meint Nina damit? Ich fühle mich schlecht. Der Typ mit seinem Laptop auf der Nebenbank sieht verstohlen zu uns herüber. Wartet wohl gespannt auf den Fortgang unseres Gesprächs. Nina blickt aus dem Fenster und ich sehe einen bitteren Zug um ihren Mund. Ich müsste jetzt irgendwas sagen, mich weiter erklären. Aber es käme doch nur aufs Selbe hinaus: Nina hat recht. Ich möchte in Abenteuer verwickelt werden, aber nicht selbst dafür verantwortlich sein. Ich beklage mich über die Spießer, die nicht wagen zu sagen und zu tun, was sie ersehnen. Sie sollen über ihren Schatten springen, weil ich selbst es nicht kann. Und nicht will. Du zuerst! – das ist schon immer meine Devise gewesen. Ich habe nie das Zeug zur Pippi Langstrumpf gehabt, bin immer nur der kleine, ängstliche Thomas gewesen. Und Nina meine Annika? Ich blicke mich um: lauter Thomasse und Annikas mit Gesichtsmasken. Unsere Freunde und Bekannten, auch sie heißen alle Thomas oder Annika. Wie viele von ihnen mögen sich eine Pippi Langstrumpf herbeiwünschen, die sie aus ihrem Normalo-Dasein herausreißt?
Ich rufe mir einige der Abenteuer von Pippi Langstrumpf ins Gedächtnis. Viele davon hätten so richtig in die Hose gehen können. Vermutlich ist Pippi eine Psychopathin.
Wenn am Morgen hinterm gegenüberliegenden Wohnblock die Sonne in den strahlend blauen Himmel steigt, ein leichter Wind durch die Straße weht und das junge, hellgrüne Lindenlaub durchrauscht, kaum ein Auto zu hören ist, dafür vorwitzige Amselherren, Finken und Meisen, öffnen wir alle Fenster und gratulieren uns, dass wir eine doppelflügelige Balkontür haben, wenn auch der Balkon selbst klein ist. Dann sitzen wir an unserem schweren Bistrotischchen und surfen durch die Nachrichtenportale. Der Kontrast könnte größer kaum sein: Die Buche im gegenüberliegenden Hinterhof, einem üppig grünenden Gärtlein, das wir gern an Sommerabenden mit Freunden genießen, ragt bereits weit über den Dachfirst hinaus und schaukelt friedlich rauschend vor den mittlerweile heranwehenden Wolkenflocken, während düstere Bilder auf unseren Smartphones brennende Autos und flammenlodernde Supermärkte in den Staaten zeigen. Und einen Staatenlenker, der mit arroganter Fresse mit Gewehrsalven der Nationalgarde droht. Als sei dies die herbeigesehnte Gelegenheit, das demokratische System zu stürzen, indem die glühende Wut noch angefacht wird, bis sie als Bürgerkrieg oder terroristischer Angriff der Exekutive die Legitimation verleiht, durch Notstandsgesetze alle Bürgerrechte zu liquidieren. Soll Trump die unverhohlen geäußerten Ziele des Steve Bannon doch noch verwirklichen? Wohin nur mit unserem Vertrauen in die Vernunft, die Freundlichkeit und das Wohlwollen der Menschen, wenn den neuen Barbaren in der Politik und den Populisten der radikalen Ränder immer mehr hasserfülltes Gefolge zuwächst?
Wir blicken uns an und finden keine Worte. Im Kopf rotieren die Gedanken, aber sie finden keine Anker – oder zu viele, sie sind wie Widerhaken, die aus den Tentakeln der Medusa hervorsprengen, sobald man sie berührt, stechend, brennend und lähmend. Aleksander stottert etwas Unverständliches und verstummt mitten im Satz. Mein eigenes Gestammel rasselt laut von vielen Klischees, die mich unerbittlich mit meiner Ohnmacht konfrontieren: unglaublich, nicht zu fassen, wie können die nur, sind die noch ganz bei Trost? Warum gießt der auch noch Öl ins Feuer? Und warum applaudieren ihm die rechten Arschlöcher auch noch? Bemerken die nicht, was gerade auf dem Spiel steht?
Und dann bricht es aus Aleksander wieder einmal heraus: „Die sollten einfach alle mehr ficken! Am besten dreimal täglich oder sooft die Benediktsregel das Gebet vorschreibt, Vigil, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Jeder mit jedem, der ihm gerade in den Kram passt. Wie kann es sein, dass sich die Menschen gegenseitig hemmungslos nach dem Leben, der Gesundheit und dem Eigentum trachten, sich entblöden, öffentlich ihren Menschen-, Rassen- und Randgruppenhass zu kultivieren – aber alles, was mit Lust, Berührung, Zärtlichkeit, Liebe zu tun hat, den geilsten Dingen, die Menschen überhaupt miteinander machen können, tabuisieren, verurteilen, untersagen? Sollen doch alle miteinander vögeln, statt sich gegenseitig umzubringen!“
Ich frage mich manches Mal, wie Al es fertigbringt, in allem einen Anlass zu finden, über die Befreiung seiner unterdrückten männlichen Sexualität zu schwadronieren. Diesmal finde ich die Volte besonders geschmacklos. Ficken für Frieden, group sex for global sanity. Trotzdem: Wir haben seit einiger Zeit die Verabredung, alles, was dem anderen gerade einfällt (und sich zu sagen traut), ernst zu nehmen und gegebenenfalls einer genauen und rücksichtslosen Überprüfung zu unterziehen. In diesem Fall: Was würde es bedeuten, wenn eine kritische Masse von Menschen Aleksanders Rat befolgen würde? Wie überhaupt würde die dafür nötige Herde diskursiv zusammengetrieben werden können?
Ausnahmsweise tue ich Aleksander den Gefallen, mich selbst in den Mittelpunkt eines konkreten Beispiels zu stellen. Er findet, dass ich viel zu selten mit eigenen erotischen Fantasien befasst bin, er schätzt das diesbezügliche Gefälle zwischen uns als eklatant ein und lässt kaum Gelegenheiten aus, mir mit Anspielungen, wie zufällig auf dem Wohnzimmertisch platzierter, einschlägiger Lektüre oder Desktopverknüpfungen auf unserem gemeinsam genutzten PC, die auf pikante Sammlungen von Bildern und Videos verweisen, Anlässe zu erotischen Tagträumen zu bieten. Möglich, dass er es als besondere Form von Grausamkeit empfindet, wie hartnäckig ich diese stummen Impulse ignoriere. „Das ist dein Ding“, sage ich ihm, „es gibt mir nichts, deine Obsessionen zu teilen.“ Es ist nicht so, dass ich von ihnen nicht profitiere, aber wir müssen nicht unbedingt denselben Garten bestellen. In seinem Garten wächst mir einfach zu viel Unkraut. Und wer zu viel düngt, sieht sich bald einem hypertrophen Wachstum gegenüber, das nicht mehr schön ist und den Gärtner geistig und körperlich überfordert. Spricht man nicht auch von geilen Trieben, die keine Früchte tragen? Heute jedoch will ich mich einmal als Pflänzchen in seinen Garten der Lüste begeben und bunte Blüten treiben.
„Was du sagst, Al, finde ich bei genauerem Nachdenken überzeugend. Ich bin über mich selbst überrascht. Es gibt tatsächlich ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Akzeptanz von Gewalt unter Menschen, von Krieg als Mittel der Politik, von Bestrafung, Rache und Freiheitsberaubung auf der einen Seite und Sex auf der anderen.“
„Nicht wahr?“
„Wenn ein Staat Rassismus und Polizeigewalt gegen Minderheiten zulässt und Demonstranten sich berechtigt fühlen, Polizeistationen mitsamt ihren Insassen anzuzünden, wenn die Menschen massenweise Filme und Serien streamen können, in denen alle fünf Minuten irgendwelche Leute massakriert werden, aber Pornographisches als entwürdigend und unmoralisch zensiert wird, dann stimmt irgendwas Entscheidendes nicht. Mea Culpa! Den blutigen Thriller, den wir uns gestern Abend angeschaut haben, habe ich tatsächlich genossen, bei Mitchells Shortbus oder Noés Love war mir dann doch zu blümerant, als dass ich die Filme wirklich hätte genießen können. Peinlich berührt nehme ich innerlich Distanz und mir fallen sofort all die Lächerlichkeiten auf, die ich beinahe jedem noch so schlecht gemachten Thriller nachsehe.“
„Hört, hört! Wird die Saula jetzt doch noch zur Paula?“
Aleksanders Scherze waren schon besser. Folgendes Szenario: Der Gemüsehändler unten in der Straße hat neulich einen erbitterten Streit mit einem Typen gehabt, der seinen Lieferwagen in der Hofeinfahrt geparkt hat, um irgendwas auszuladen und danach im Café gegenüber noch sein zweites Frühstück einzunehmen. Seit ein paar Wochen liefert Ricardo sein Gemüse auch an Privatkunden aus und der Corona-Bote kam wegen des widerrechtlich geparkten Lieferwagens eine halbe Stunde lang nicht aus dem Hof raus. Als der Typ wieder in seinen Lieferwagen steigen wollte, wäre Ricardo beinahe handgreiflich geworden, er fluchte, bis dem anderen, der sich anscheinend in seiner Ehre verletzt sah, der Kragen platzte und damit drohte, Ricardo abzustechen. Ich kam zufällig vorbei, als der Streit eskalierte. Zum Glück kam es nicht zum Schlimmsten. Dennoch hätte ich den Streit schnell schlichten können, wenn ich den beiden Streithähnen einen spontanen Dreier zwischen den Kartons des Lieferwagens vorgeschlagen hätte. „Entspricht das ungefähr deinen Vorstellungen von einer Deeskalationsstrategie, Al? Jedenfalls könnte ich es mir sehr aufregend vorstellen, mit Sex in anderen Menschen das Gute hervorzulocken und meinen Beitrag zum Frieden zu leisten.“
„Du machst dich über mich lustig.“
„Keineswegs, ich nehme dich ernst, dich und das, was du sagst. Wenn du das ehrlich meinst, müsste es auch mir möglich sein, Streit und Gewalt lustvoll in ihr Gegenteil zu verkehren, in Liebe, Zärtlichkeit und Orgasmen. In meinem Beispiel wäre ich sogar gleich zweimal auf meine Kosten gekommen.“
„Mit einem schmierigen Gemüsehändler.“
„Du müsstest ihn mit meinen liebenden und begehrenden Augen sehen. Sollten wir nicht beide bereit sein, um des lieben Friedens Willen sogar Donald Trump einen zu blasen?“
„Würde dir das denn Spaß machen? Ich finde, Sex sollte nicht als Opfergabe betrachtet werden. Dir geht nicht wirklich einer ab, wenn du daran denkst, dem narzisstischen Fettwanst den Schwanz zu lutschen. Oder habe ich mich in dir getäuscht und du hast gerade dein Coming-out?“
„Klar finde ich die Vorstellung eklig. Der ganze Mann ist eklig. Das liegt möglicherweise an diesem Tabu in meinem Kopf, dass ich es als entwürdigend empfinde, einem fremden Mann den Schwanz zu lutschen. Selbst wenn er ihn vorher gewaschen haben sollte. Wenn wir uns deiner Utopie nähern wollen, müssen wir vermutlich hart trainieren, mühsam und entschlossen an uns arbeiten und alle Vorbehalte, Vorurteile und Vorhautphobien ablegen. Sind nicht alle Menschen schön? Ihre Schwänze, Vulven, Titten und Ärsche. Sind nicht alle Menschen wert, geliebt – und sexuell befriedigt zu werden? Oder würdest du da Unterschiede machen wollen?“
Aleksander gibt sich vorerst geschlagen, er schweigt eine Weile nachdenklich, hebt dann den Zeigefinger, sagt: „Gib mir eine Viertelstunde“ und zieht sich im Morgenmantel ins Bad zurück.
Für jede gute und die Gesellschaft verändernde Idee braucht es – ein Bewegung. Einen Kick-down-Start. Und eine Anführer*in. Eine Charismatiker*in. So wie Greta Thunberg. Oder Martin Luther King. Anders liegt die Sache bei Tarana Burke. Warum ausgerechnet ihr Hashtag #MeToo eine derartige Wirkung entfalten konnte, bleibt unerklärlich. Eine Anführerin dieser Bewegung ist sie mit Gewissheit nicht, so engagiert sie sich auch gegen sexuelle Gewalt gewandt haben mag. Viral wurde der Hashtag erst mit Alyssa Jayne Milano. Me-Too ist trotz der wichtigen Initiatorinnen vor allem ein Phänomen, bei dem gesellschaftliche Wirklichkeit auf unberechenbare Schwarmintelligenz traf. Und wie unberechenbar und irrational Schwarmintelligenz sein kann, können wir an den positiven wie negativen Folgen von Me-Too sehen. Sexuelle Gewalt gegen Frauen, auch sexualisierte Gewalt, werden zunehmend tabuisiert; aber nicht minder beinahe jede Form des Flirts und spontaner Zärtlichkeiten, sofern sie von Männern ausgehen (Ach ja: ungehemmt flirtende und die Körpergrenzen übertretende Frauen sind nach wie vor Schlampen!). Dass auch mir sexuelle Anspielungen von Männern, mit denen ich nicht verheiratet bin, eher Angst machen als Lust, ist ein Zeichen für die Schieflage der Geschlechter. Ich könnte das Kompliment für meine Figur oder meine Brüste (in meinem Alter!) durchaus genießen, wenn ich nicht befürchten müsste, diesen sichtbaren Genuss mit einem ungewollten, brutalen oder auch nur lächerlichen und halbherzigen Übergriff büßen zu müssen. Darum gerät das erotisch gemeinte Kompliment zunehmend in die Tabuzone, in der Asservatenkammer gleich neben historischen Masturbationsverboten und den Strafen für vorehelichen Geschlechtsverkehr. Hach, Masturbation ist ja nun wieder erlaubt, sogar geboten! Am besten täglich, der Gesundheit wegen. Aber das macht man/frau ja auch nur mit sich allein. Das scheint überhaupt der ungefährlichste und ideologisch unbedenklichste Sex zu sein, der mit sich selbst.
Die Me-Too-Bewegung oder auch Fridays-for-Future zeigen, wie wichtig (und unvorhersehbar) der richtige Moment für eine weltumspannende Bewegung ist. Im Jahr 1980 wären die Akteure ausgelacht worden, wahrscheinlich auch noch im Jahr 2000. Es kommt vielleicht sogar auf Monate und Tage an, auf die Kumulation von Ereignissen, auf die Hautes der Diskurse. Wann der richtige Moment für einen neuen Diskurs ist, wissen nur die Diskurse selbst. Und wenn dann eine Bewegung durch die Decke geht, weiß kein Mensch, welche Richtung sie langfristig nehmen und in welchem Maße sie irrlichtern wird, denn kein Mensch kann sie steuern. Wer ein diskursives Geschoss abzufeuern gedenkt, sollte gewieft genug sein, es mit einem Kreiselkompass auszustatten, damit es seine Richtung halbwegs beibehält. Die meisten enden ohnehin als Rohrkrepierer. Wie zum Beispiel die 2003 gegründete Bewegung „Fuck for Forest“, die ihre Umweltschutzprojekte mit ökologisch wertvollen Pornos finanziert. Sehr lustvoll, haarig und naturnah (meine Vagina hat noch keine Mohrrübe gesehen), aber weitgehend wirkungslos. Falscher Zeitpunkt, immer noch sehr verbreitete Vorbehalte gegen tätowierte Körper, tabuisierte Pornographie? Alles möglich. Aber irgendwie muss doch auch absehbar gewesen sein, dass „Fuck for Forest“ kein durchschlagender Erfolg beschieden sein würde.
Nun stelle ich mir Aleksander Pjotr Nekrasov als Anführer einer neuen Friedensbewegung vor. Sein Leitspruch respektive Hashtag: #FuckForPeace. Bei Facebook gibt es eine Gruppe gleichen Namens. 83 Personen haben das abonniert und der letzte Eintrag stammt aus dem Jahr 2014. Instagram weist immerhin 413 Beiträge aus. Al, dein Vorschlag kommt zur Unzeit! Oder auch gerade recht! Denn ein Hashtag ohne nennenswerte Beiträge hat Zukunft und ist noch nicht „ausgelutscht“. #FickenfürFrieden deprimiert mit ganzen 3 Beiträgen noch viel mehr. Entweder die Diskurse halten derzeit nicht viel vom Ficken, oder Aleksander hat gerade eine echte Marktlücke entdeckt, eine Lücke im Diskursmarkt. Marketingtechnisch würde Al allerdings mit #psilocybinforpeace besser liegen – schon wegen der Alliteration.
Der #blackouttuesday verzeichnet heute bald 20 Millionen Beiträge mit lauter schwarzen Quadraten, ich wette auf insgesamt 30 Millionen. Aber morgen ist Mittwoch. Und die black Postenden posten bald munter weiter bunte Bilder. Es bleibt abzuwarten, was der Hype für die Rechte der Schwarzen bringt. Vielleicht hat das von wem auch immer gefakte, aber eindrückliche, komplett schwarze #newyorktimescover die Chance, in die Mediengeschichte einzugehen. Für Aleksanders #worldwideorgyday (0 Beiträge bei Instagram, vielversprechender Kandidat unter den Pennystocks der Hashtagwolke) müssten die Titelblattgestalter der großen Tageszeitungen in ganz anderer Weise kreativ werden. Aber vermutlich würde die Sexspielzeugindustrie das Hashtag in kürzester Zeit gekapert haben.
„Okay“, sagt Aleksander, als er nach einer halben Stunde wieder auf dem Balkon erscheint, „ich versuche dein Beispiel ernst zu nehmen. Auch wenn du das nicht ernst gemeint haben kannst. Ich gebe zu, dass mir deine sexuelle Intervention arg zugesetzt hätte, wenn sie denn tatsächlich stattgefunden hätte. Ich bin zweifellos ein Kind meiner Zeit und meiner Kultur. Meine Eifersucht würde mich in so einem Fall sicher in eine tiefe Depression, in bodenlose Eifersucht und Wut versetzen, alles auf einmal. Ich würde Trennungsängste kultivieren, die Angst verlassen zu werden und die Angst, dich bestrafen zu müssen, indem ich dich verlasse. Dabei gäbe es überhaupt keinen Grund für eine Trennung. Ich müsste mich mit meinen falschen Besitzansprüchen auseinandersetzen, müsste lernen dich freizulassen. Immerhin geht es um deine Lust, deinen Körper, deine Gefühle. Ich habe noch einmal nachgelesen: Das Hormon Oxytocin, das beim Beischlaf freigesetzt wird, macht Menschen tatsächlich friedlicher. Und wenn das zwischen Paaren in einer festen Beziehung funktioniert, müsste es auch bei unverbindlichem Sex mit anderen funktionieren. Stelle ich mir jedenfalls vor.“
„Wäre da nicht die kulturelle Prägung, die uns ausgerechnet aggressiver macht, wenn wir erfahren, dass der Partner oder die Partnerin fremdgegangen ist. Die meisten Femizide gehen wahrscheinlich auf das Konto der Eifersucht und patriarchalen Besitzdenkens. Apropos unverbindlicher Sex – ist das wirklich deine Intention?“
„Wieso patriarchal? Du würdest doch auch ausflippen, wenn ich mit Renate schlafen würde, weil sie meinen Streit mit Ricardo schlichten wollte.“
„Weil es das patriarchale Denken ist, das uns Frauen eingeimpft wurde? Ich könnte mir denken, dass Frauen viel unbekümmerter mit promiskuitivem Sex umgehen würden, wenn der einen ähnlich hohen gesellschaftlichen Stellenwert hätte wie beispielsweise die private Altersvorsorge. Und wenn es dann auch guter Sex wäre, einer, der uns Frauen wirklich gefällt. Wahrscheinlich müsste dafür frauenfreundlicher Sex erst noch für ein paar Jahrzehnte Schulfach in der Oberstufe werden. Obwohl, die Schule würde einem wahrscheinlich den ganzen Spaß im Vorhinein vermasseln. Die Schule sorgt ja auch konsequent dafür, dass den jungen Menschen die Freude an der Literatur ausgetrieben wird. Oder an der Mathematik.“
„Das könnten die Medien viel besser.“
„Meinst du. Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Die Sexualerziehung durch Pornos treibt die widerlichsten Blüten. Und fördert vor allem männliche Fantasien zutage, denen sich Frauen auf die idiotischste Weise anzupassen versuchen. Deine world wide orgy wäre im Übrigen wie Weihnachten für Vergewaltiger und Kinderficker.“
„Man müsste eine Enklave für modernen, frauenfreundlichen Sex gründen, eine Keimzelle des sexuellen Fortschritts.“
„Eine Kommune? Einen Swingerclub? Reicht es nicht, wenn wir selbst, wir zwei beiden so eine Keimzelle werden?“
„Da siehst du’s, du ziehst dich letztlich doch immer wieder auf einen konservativen Standpunkt zurück. Was bringt eine Zweierbeziehung, ein Paar-Zelle für den Rest der Welt? Die da draußen bekommen davon doch gar nichts mit. Außerdem: wieso eigentlich werden? Sind wir’s denn nicht schon?“
Ich wiege mal provokativ den Kopf hin und her. Den Meisterbrief hält Pjotr wahrlich noch nicht in Händen. Umso aufregender, was es für ihn noch alles zu lernen gibt! „Al, dir geht es doch gar nicht um den Frieden in der Welt. Sei ehrlich, es geht dir um deine eigene Befriedigung. Wenn Renate nur deshalb mit dir schlafen würde, weil sie einen Streit schlichten will, wärst du in deiner Ehre gekränkt. Du würdest sie verachten, weil der Sex mit dir für sie nur Mittel zum Zweck wäre. Für guten Sex braucht es die gegenseitige Anziehung – und meistens eine gute Beziehung. Es gibt für Frauen kaum etwas Unbefriedigenderes als den One-Night-Stand. Beim Ficken für den Frieden würde der Orgasm Gap zugunsten der Männer fröhliche Urstände feiern. Warum sollten die Männer weiter abspritzen dürfen, während wir Frauen voller Mitgefühl für die armen, notgeilen Männer unsere Orgasmen weiterhin faken? Ficken für den Frieden? Vielleicht sollten die Männer erst mal unter sich damit beginnen, denn gerade zwischen ihnen liegt es doch seit Jahrtausenden im Argen. Wenn Männer mit Männern Sex haben, werden doch wohl auch die berühmten Bindungshormone ausgeschüttet. Es hätte überhaupt keinen Effekt, wenn ich Donald Trump einen blasen würde. Joe Biden müsste es tun. Und Trump müsste seinen Arsch für Bidens Schwanz mit Vaseline präparieren. Die Frage ist nur, ob die beiden überhaupt noch einen hoch kriegen würden. Wenn nicht, sollten sie aus dem Politikbetrieb ausscheiden. Überhaupt: Bei hochoffiziellen Staatsempfängen sollte es Sitte werden, dass die Staatenlenker zuallererst den öffentlichen Beischlaf zelebrieren. Das wäre ein Anfang! Putin liebt Trump, Trump liebt Kim Jong Un, Xi Jinping liebt Putin. Al, ich glaube, wir brauchen eine homosexuelle Revolution. Wenn alle Männer miteinander ficken würden, hätten wir ganz sicher eine friedlichere Welt.“
„Ausschließlich? Nur Männer untereinander?“
„Ach, warum ausschließlich? Aber für den Frieden solltet ihr Männer alles tun, was in eurer Macht steht.“
Die Sonne beginnt zu brennen. Unten stapelt Ricardo gerade Bananenkisten übereinander. Wir winken ihm zu. Vielleicht wird doch noch alles gut.
Die Autos auf den Straßen fahren mit Elektromotoren. Die Akkus sind kleiner und leichter geworden. Und die Vorbehalte gegen die interaktive Steuerung in allen Lebenslagen sind gesunken, sind so federleicht wie die Akkumulatoren. Alles ist sichtbar geworden, und man hat sich dieser Sichtbarkeit ergeben, jedenfalls im öffentlichen Raum. Überall dort, wo die Lesbarkeit der Blicke, der Gesten und der Stimme die notwendigen Verrichtungen des Alltags bequemer, effizienter macht. Die unbestimmte Angst vor dem Anonymus vernetzter Computer, die als lernende Systeme ihre Evolution autonom zu entwickeln begonnen haben (das ist die Zukunft), ist einem leicht unbehaglichen Vertrauen in eine universale Vernunft gewichen, die von den Maschinen, diesem weltumspannenden Hirn repräsentiert wird.
Die Kameraaugen sind verschwunden. Kein Mensch mehr blickt auf die Individuen durch die kleinen Glaskörper. Keine Kamera schwenkt mit, wenn die Menschen sich in den Finanzdistrikten irgendwie auffällig bewegen, sich verdächtig machen, weil sie die Aktentasche unter die verschwitzte Achsel pressen und sich nervös umblicken: dass niemand, niemand sie beobachte. Die Menschen bewegen sich nicht mehr in den Perspektivwinkeln der Kameras, die einmal als Nachbildungen das menschliche Auge vertreten sollten, sie bewegen sich in Feldern, in plenoptischen Lichtfeldern, für deren Erfassung es der Kameras, wie es sie früher einmal gab, nicht mehr bedarf. Schon das Wort „Kamera“, in dem noch der Ursprung deutlich erhalten blieb, die „camera obscura“, hat mit der modernen digitalen Erfassung der Wirklichkeit kaum noch etwas gemein, nur dort, wo die Bilder für die Menschen mit ihren kaum dreidimensional wahrnehmenden Okularen in ein perspektivisch-lineares System übersetzt werden müssen. Da setzen sich die Lichtvektoren zu einer Reproduktion des vergangenen Wirklichen zusammen. Die Augen der Öffentlichkeit sind winzige Sensoren, mit denen Außen- und Innenräume wie besprenkelt sind. Es sind Sensoren, wie die Facetten der Insektenaugen, die nichts aufnehmen als das auf sie treffende Licht, seine chaotischen Bewegungsmuster, die Gerichtetheit der Strahlen, ihre Brechung – und die Schallwellen, diesen akustischen Brei. Ahnungslos sind diese kleinen Dinger, nur kleine Nervenenden einer umfassenden Registermaschine, die sich an den Daten sättigt und wie ein biologischer Organismus des Ballastes schnell auch wieder entledigt und nur die Essenz des Lebendigen bewahrt. Seine DNA sind der Codec und die Algorithmen der Bewegungsmuster. Noch wissen die Menschen: Mit dem Verschwinden der Kameras ist die Sichtbarkeit absurderweise ins Unermessliche gewachsen. Daher hüten sie sich, irgendetwas in ihre Wohnungen zu lassen, das auch nur den Verdacht nähren könnte, es befänden sich irgendwelche dieser Sensoren auf ihnen. Wände, Tapeten, Möbel, sogar Bücher werden regelmäßig von Experten überprüft und untersucht. Sie kommen in die Häuser und Wohnungen wie einst die Kammerjäger. In den eigenen vier Wänden hegt man sich ein, macht man sich unsichtbar, jedenfalls in den meisten Räumen, in den Schlafzimmern, den Bädern. Die Fensterscheiben sind milchig und matt, die Augen der Moderne können auch um manche Ecken schauen. Reflektierende Objekte haben die Wohnungen bevölkert, sie produzieren zufällige Reflexionen, irrlichtern im privaten Wohnfeld.
Eine Frau. Ein Mann (wirklich ein Mann?), der sich wahnhaft in diese Frau verguckt hat, sich ihr jedoch nicht zu nähern wagt. Mit unterschiedlichen Mitteln versucht der Mann sich des privaten Wohn- und Lichtfeldes zu bemächtigen. Er will dieser Frau nicht nur in der Öffentlichkeit folgen. Das hat er längst und ausgiebig getan. Er kennt beinahe ihr ganzes Leben. Nun möchte er auch in ihre Intimsphäre vordringen. Er ist ein Stalker, ein Voyeur – und er weiß seine Ziele zu erreichen. Als die Frau das Eindringen bemerkt, reagiert sie unerwartet: Sie lässt ihre Wohnung nicht „reinigen“, entfernt nicht die Minidrohnen, mit denen der Mann den Kampfplatz besetzt hält, sondern beginnt, ihr durchleuchtetes Privatleben zu inszenieren. Der Mann wird Zeuge, wie die Frau Vorbereitungen trifft, in die Privatsphäre eines Anderen einzudringen, ohne zu ahnen, dass er selbst das Opfer ist. Aber ihm entgeht die Veränderung der Frau nicht, die er so gut kennengelernt hat, deren Verhalten er so lange studiert, deren Haare, Haut und Geschlecht er beinahe berühren konnte mit seiner 3-D-Brille. Und er registriert Veränderungen in ihrem Umfeld. Da ist vor allem ein Mann, der ihm zuvor bedeutungslos erschienen war und augenscheinlich nicht minder interessiert an der Frau ist wie er. Einer, den er bald in Zusammenhang mit einem Mord bringen kann, einem Mord, der wie einige andere Morde von einem der „Unsichtbaren“ begangen wurde. Immer mehr rückt dieser Fremde in den Fokus des Mannes – bis der Fremde verschwindet und ein weiterer Mord geschieht.
Die Frau. Mit ihr beginnt diese Geschichte, dieser Film, ihr ist das erste Drittel der Geschichte gewidmet. Ihr folgt unsere altertümliche Kamera schwebend, gleitend, sie umfahrend. Wenn sie ein Gebäude betritt, schon wenn sie eine Tür zu einem Gebäude öffnet, begegnet die Kamera einer weißen Wand, die für sie undurchdringlich ist, in der sie unsichtbar entschwindet. Wie auch alle Fenster weiße, undurchdringliche Flächen sind, milchig, matt. Auf den Straßen tragen die meisten Frauen Hosen, wenige tragen Röcke oder Kleider. Die Kamera begibt sich, wenn sie der Frau nicht mehr folgen kann, auf die Suche nach den jungen Frauen, die freizügig Röcke tragen, sie umfährt sie und kriecht unter ihre Röcke. Einige von ihnen tragen kurze Leggings, andere aufreizende Unterwäsche, wenige flippige verzichten ganz darauf, teils wie zum Protest, teils aus Lust am voyeuristischen Blick anonymer Hacker, den sie auf sich gerichtet wähnen, wenn sie durch die Shopping-Center mit ihren glänzenden Fliesenböden flanieren oder sich in öffentlichen Gebäuden bewegen, die einer permanenten Überwachung unterliegen, Banken etwa, Poststellen und Bahnhöfe. Nur die Privathäuser, Firmen und Arztpraxen werden hinter weißen Wänden zu Leerstellen für die Kamera und die Geschichte. Darinnen ist nichts zu sehen und nichts zu hören.
Nur im öffentlichen Raum können wir den Gesprächen der Frau folgen, die offenbar als Informatikerin mit ihrem Team an Konzepten für Sicherheitssoftware arbeitet. Das Team sucht nach den Lücken im System, kämpft gegen die Versuche von Geheimdiensten und Privatleuten, sich ins Überwachungssystem einzuhacken oder eigene, private Lichtfeld-Netzwerke zu installieren, um auch noch die letzten Grenzen zu überwinden. Die Mitarbeiter entwickeln Software, die es ermöglicht, nachträglich bearbeitete Datensätze zu erkennen, aus denen die Abbilder von Personen und Gegenständen getilgt wurden. Sie erfinden ein Überwachungsprogramm, das sie „FREUD“ nennen, denn es verteilt in den optisch-akustischen Datensätzen randomisierte Erinnerungsfragmente, die es in einem analytisch-algorithmischen Verfahren, das sie „HYPNOSIS“ nennen, erlaubt, die ursprünglichen Datensätze zu rekonstruieren. Bald werden sie die gelöschten Inhalte wieder sichtbar machen können. Über diese Vorhaben in der Öffentlichkeit zu sprechen, erscheint gewagt. Es steckt Kalkül dahinter: Es ist sowohl eine offene Drohung an die illegalen Mithörer, als auch gezielte Desinformation. Niemand weiß, wie weit die Angreifer bereits ins Private und die geheimen Entwicklerbüros vorgedrungen sind – und ob es diese Angreifer überhaupt gibt. Denn eine umfassend vernetzte Gesellschaft steht in dieser zukünftigen Welt ein nicht minder aufwendiges System von gegeneinander abgeschlossenen Teilnetzen gegenüber, die sich wie Monaden nur mit ihrer selbst konstruierten und sich autonom entwickelnden Wirklichkeit befassen. Darin gleichen sie lebenden Systemen. Keine Information dringt noch unmittelbar in die neuen Computersysteme ein, sie enthalten keine Daten, die sie nicht selbst konstruiert hätten, nachdem sie eintreffende Daten aus ihren digitalen Umwelten entlang ihrer Systemgrenzen interpretiert haben. Lernende Systeme sind das, Individuen, schwerlich angreifbar, weil externe Programme nicht mehr in sie eindringen können. Der Datenaustausch zwischen den Systemen ist damit zwar fehleranfälliger geworden, die Systeme selbst aber dafür sicherer. Die lernenden Systeme haben auch gelernt, Missverständnisse zwischen den Systemen zu akzeptieren und zu analysieren. Immer mehr gleichen sie Menschen, immer mehr aber auch dem Ideal der Perfektibilität. Wie diese neuen Computersysteme funktionieren, können wir beispielhaft am Umgang der Menschen mit ihren Smartphones beobachten, wo humorige Freaks ihren Spaß daran haben, die kleinen Intelligenzen in den kleinen Kommunikationsgeräten an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu treiben: durch Ironie, Kalauer, Dada-Kunst und Anzüglichkeiten. Das sind die „Spaß-Phone“-Besitzer. Sie unterscheiden sich deutlich von den Ernsthaften und Strebsamen, die ihre Privatcomputer humorlos und ehrgeizig erziehen und bilden wie einst ihre Kinder, die ihrerseits schon früh unter der Fuchtel ihrer bloß digitalen Erzieher stehen, die so einfühlsam wie präzise und analytisch das Lernen ihrer Zöglinge anleiten und begleiten. Die Sprache in der Öffentlichkeit, jegliche Kommunikation unterliegt einer mehr oder weniger ausgeprägten Selbstzensur, die die Menschen förmlich und wortkarg werden ließ und ihre Körpersprache, ihre Mimik ausdruckslos. Der Feind, wer immer das sein und welche Absichten auch immer er verfolgen könnte, sieht und hört immerzu mit.
Im Bildungssektor hat sich eine Zweiklassengesellschaft herausgebildet. Es gibt noch die traditionellen Schulen, die zwar auch schon mit digitalen Hilfsmitteln lehren, aber es gibt auch eine große Zahl von Kindern, die keine Schule mehr besuchen und stattdessen hauptsächlich mit ihrem digitalen Hauslehrer lernen. Die Mutter der Frau arbeitet in einer dieser alten Schulen. Sie ist in mancher Hinsicht überfordert von den Entwicklungen in ihrer Umwelt, die sie längst nicht mehr versteht. Ihre Tochter versucht ihr mit anschaulichen Bildern zu erklären, warum es vielleicht nicht besser für die Kinder ist, wenn sie künftig außerhalb der Schule lernen, warum aber vermutlich kein Weg daran vorbeiführen wird. Die Mutter leidet nicht nur an den strukturellen Veränderungen in ihrem Beruf, sondern auch und mehr am Verlust ihres Privatlebens, wie sie es früher einmal gekannt und (im Rückblick) genossen hat, auch wenn ihre Ehe irgendwann in die Brüche ging. Sie fühlt sich isoliert von ihren Mitmenschen, die sich furchtsam in ihre Wohnungen zurückziehen. Wo soll man noch menschliche Nähe finden? Wer traut sich noch, in der Öffentlichkeit, seine Gefühle zu zeigen? Und in die überwachungsfreien Darkrooms, die in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen sind, will sie sich nicht begeben. Wie in Sodom und Gomorrha kompensierten die Menschen dort im Übermaß, was ihnen im Alltag genommen wurde: Dort werden die Grenzen aufgelöst, die die Computersysteme längst zu ziehen gelernt haben. „Schau her“, sagt die Mutter und deutet mit dem Finger auf die kleinen Flecken auf der Wand in einem der Gänge des Schulgebäudes, „die haben hier alles verwanzt. Du kannst nicht mal unbeobachtet in der Nase popeln.“ Kleine Flecken wie Fliegenschiss. „Wir können nicht mehr dahinter zurück“, sagt die Frau, „deshalb müssen wir vorwärts denken.“
Auch die Frau besucht zuweilen die Darkrooms. Wie gern würde die Kamera ihr da hinein folgen. Sie kann nur ahnen, was dort vor sich geht. Als sie in der Nacht in ihre Wohnung zurückkehrt, gelingt es der Kamera, bis in ihre Wohnung vorzudringen. Die Kamera begleitet sie bei ihren gewohnten Verrichtungen, wie sie sich die Zähne putzt, sich auszieht. Die Kamera umkreist sie, kommt ihr aufdringlich nahe, ihren Brüsten, einem Leberfleck auf ihrem Rücken, und lauert auch auf ihre Vulva, wenn sie sich zum Pinkeln aufs Klo setzt und sich einen Popel aus der Nase kratzt. Sie folgt ihr bis ins Bett, blickt ihr noch in die Augen, bis sie diese schließt und einschläft. Erst am nächsten Morgen, mit dem ersten Augenaufschlag, fühlt sie, dass in ihrer Wohnung irgendetwas nicht stimmt. An der Decke ihres Schlafzimmers entdeckt sie kleine blasse Flecken.
Hier wechseln wir zu dem Mann (wirklich ein Mann?). Er liegt mit seiner 3-D-Brille im Bett. Als sei er gerade entdeckt worden, reißt er sich die Brille vom Gesicht und richtet sich im Bett auf. Als er sich die Brille nach einem kurzen Moment des Nachdenkens wieder auf die Nase setzt, sehen wir, wie die Frau wieder in ihren häuslichen Alltag hineingefunden hat. Sie frühstückt, duscht, zupft sich einige Schamhaare, die sich an ihrem Slip vorbeimogeln wollen, zieht sich an und verlässt ihre Wohnung.
Mit einem Postpaket erhält der Mann einen Satz neuer Mikrodrohnen. Der Paketbote scannt das Paket vor der Übergabe, um sicherzustellen, dass sich auf der Pappe keine IPABs befinden, Interactive Plenoptic Audiometric Bugs. Die Mikrodrohnen sind nur unter der Lupe von größeren Staubpartikeln zu unterscheiden. Nur wenige von ihnen reichen aus, um eine Wohnung komplett zu verwanzen und so fast vollständig Einblicke in alle Lebensbereiche zu verschaffen. Das Problem besteht darin, sie in die Wohnungen gelangen zu lassen. Die Wohnungen und Häuser der Wohlhabenden sind mit Schleusen ausgestattet, in denen sich die Bewohner dekontaminieren lassen können. Fast alle unerwünschten Partikel werden mit feinen Laserstrahlen zielgenau eingeschmolzen. Nur wenige Drohnen „überleben“ den Angriff unbeschädigt und können sich in den Räumlichkeiten anschließend festsetzen. Es bedarf einer hohen Zahl an Angriffen, um eine ganze Wohnung sichtbar (und hörbar) zu machen. Zugleich dürfen derartige Angriffe nicht zu massiv sein, weil die Opfer dann schnell alarmiert sind und sich sicher sein können, dass sie gezielt ausgewählt wurden. Die Drohnen können sich nur im Verbund von mindestens acht orientieren. Der Mann lässt sie in größeren Verbünden fliegen, wählt sein Zielobjekt aus und veranlasst eine der Drohnen, sich zum Beispiel in einer geöffneten Handtasche festzusetzen, um auf diesem Weg in eine Wohnung zu gelangen. Dilettanten, die sich vollständig verwanzt Zutritt zum Beispiel zu einem Darkroom zu verschaffen versuchen, werden schnell identifiziert. Ihnen wird der Zutritt zu allen überwachungsfreien, gesicherten Bereichen verwehrt. Mitunter verlieren sie ihre Arbeitsplätze. Handel mit und der Einsatz von IPABs sind streng verboten. Dennoch programmieren viele Softwareentwickler lernende Systeme, die neue IPABs entwickeln und optimieren. So auch der Mann, der auf seinen Bildschirmen die neu entwickelten Drohnen in Augenschein nimmt. Eine weitere lernende Software entwickelt parallel dazu Abwehrsysteme, die die Schwachstellen der neuen IPABs ermitteln und zerstören können. Damit verdient der Mann sein Geld. Die Software, mit der er sich in die öffentlichen Überwachungssysteme eingehackt hat, behält er allerdings ganz für sich. Ein einsamer Nerd, der seine Muskeln mit Hilfe eines Elektrodenanzugs trainiert, der diese über kleine Stromstöße rhythmisch kontraktieren lässt, während er vor seinen Bildschirmen sitzt. Er ist getrieben von seinem Ehrgeiz, immer bessere Technologien beim Drohnenbau, beim Hacken, beim Verschlüsseln von Daten zu entwickeln – und zugleich von seiner Sehnsucht, die auch von ihm selbst mitverursachte Isolation zu überwinden, in die Bereiche vorzudringen, wo es noch Privatheit und Intimität gibt, vielleicht sogar Liebe. Alles das gibt es noch in den medialen Angeboten, den Fiktionen der Unterhaltungsindustrie, die an Orten der Welt angesiedelt sind, an denen der Fortschritt noch nicht so weit gediehen ist. Der Markt für alle erdenklichen Spielarten des Pornos ist massiv expandiert und liegt gleichauf mit Filmen und interaktiven Spielen, die romantische Idyllen konstruieren. Auch die in einer formell gewordenen Welt aufgestauten Aggressionen können über entsprechende Angebote weitgehend abgebaut werden. In virtuellen Welten kann man an Massakern und Sexorgien teilnehmen, die nach Wahl an exotischen Orten oder im eigenen, wohlbekannten Stadtviertel angesiedelt sein können. Ein immer beliebter werdendes Vergnügen besteht darin, einen komplexen Ganzkörperscan von sich selbst zu erstellen und mit diesem virtuellen Körper in ausgewählten Communities an interaktiven Spielen teilzunehmen. Auch unser Antiheld kann dieser Versuchung nicht ganz widerstehen. Ein Freund, den er in der Community gefunden hat, ebenfalls ein hochintelligenter Nerd, hat versucht, ihm die Sache schmackhaft zu machen und berichtet nebenbei von einer ganz großen Sache, an der er gerade arbeite. Er träume davon, die Spiele-Wirklichkeit in einer Art Prank mit der Überwachungswirklichkeit zu verschmelzen. Um an einem der Spiele teilzunehmen nimmt der Mann allerdings an seinem Scanner-Abbild einige wesentliche Veränderungen vor, die ihn anonymisieren. So begibt er sich ins Gefecht oder nimmt als stiller Beobachter an einer Orgie im Shoppingcenter teil, in der Hoffnung dort der Frau zu begegnen. Er findet sie zwar aber findet doch keine Befriedigung in der virtuellen Welt. Darum vertieft er sich in die Beobachtungen der Frau, die in der Öffentlichkeit so unnahbar ist, wie die meisten anderen auch. Nur einmal ist ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen: als eine Gruppe fröhlich tanzender Exhibitionisten durch die Stadt zieht, um sich gegen die neuen Formen der Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Sie nehmen einfach die Flucht nach vorn und setzen der totalen Öffentlichkeit die totale Intimität entgegen und verstehen das als Befreiung. Nicht der Verlust an Intimität und Privatheit mache die Menschen unfrei, sondern allein ihre Scham. Wenn erst einmal jeder alles sehen und hören könne, werde sich auch niemand mehr wirklich dafür interessieren. Andere Aktivisten-Gruppen fordern dagegen ein Ende der Überwachung, die die Menschenrechte immer weiter auflöse. Ordnungskräfte der Polizei greifen bei solchen Aktionen nicht ein, solange nicht randaliert wird. Straftäter werden festgenommen, wenn sie sich allein oder in kleinen Gruppen in ihre Unterkünfte zurückziehen. Diese Notwendigkeit besteht immer seltener.
Längst steht der Mann beim Geheimdienst unter Verdacht und ist selbst Drohnenangriffen ausgesetzt. Bei der Übergabe neuer Baupläne für Drohnen wird er beobachtet, der Unterhändler festgesetzt. Der Mann wird alles verlieren: Seine Computer, die Programme, seine Wohnung. Irgendwann wird er ohne jedes Hilfsmittel, blind geradezu, seinen Verfolgern zu entkommen versuchen und dabei das Rätsel zu lösen, das er Stück um Stück entdeckt hat. Die Frau, die er beobachtet, arbeitet nicht, wie er vermutet hat, an einer psychotherapeutischen Software, sondern an einem komplexen Informationsschutzsystem. Sie ist nicht damit beschäftigt, die Identität des Mannes zu ermitteln, der sie beobachtet. Es gibt eine weitere Person, von der sie ausspioniert wird und die sie offenbar ausschalten will. Ihm ist sie auf der Spur. Im Überwachungssystem der Stadt tauchen Menschen aus dem Nichts auf und verschwinden wieder. Irgendwann begegnet der Mann sogar seinem eigenen Scan, den er für die Spiele-Community erstellt hat – so, als existiere diese Person wirklich. Immer mehr entpuppt sich die überwachte Wirklichkeit als vielfach manipulierte Konstruktion. Jemand hat anscheinend viel umfassenderen Zugriff auf das System und kann die darin abgebildete Wirklichkeit verändern, sich unsichtbar machen und so seine Ziele verfolgen. Nach und nach sterben Mitarbeiter des FREUD. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann und wie die Reihe auch an der Frau ist. Der Mann beobachtet einen der Morde ohne Mörder. Er weiß, dass er sich nicht mehr auf das Überwachungssystem verlassen kann. Bevor er dem Geheimdienst in die Hände fallen kann, ersetzt er in den öffentlichen Servern seine Identität durch seinen Scan. Dadurch gewinnt er Zeit. Zeit, die er in der wirklichen Wirklichkeit verbringen muss, in der er der Frau begegnen muss, die nichts von ihm weiß und die ihm so vertraut ist. Er weiß so viel über sie, dass sie ihm bald kein Vertrauen mehr schenken kann. Allenfalls die panische Unverblümtheit, mit der er in der Öffentlichkeit über sein Wissen, seine Befürchtungen und Erkenntnisse redet, macht ihn irgendwie auch wieder glaubwürdig. Im FREUD, zu dem die Frau den Mann mitnimmt, werden die Mitarbeiter gewarnt. Aber das Institut ist von der Kommunikation abgeschnitten. Der kommunikative Verkehr der Mitarbeiter wird von einer externen Quelle aus auf einem glaubhaften Normalmodus simuliert. Die Übernahme des Systems ist in vollem Gange.
In einem Darkroom treffen die Frau und der Mann den Freund aus der Community, der an einem Spaß-Hack des Überwachungssystems arbeitet. Er soll sein Experiment starten und diejenigen, die sich des Systems ermächtigt haben, orientierungslos zu machen. Unterdessen hat sich auch der mutmaßliche Killer Zutritt zum Darkroom verschafft, der dort eine Armada an IPABs ausgebreitet hat. Die Verfolgten können zwar knapp entkommen, aber ihnen wird klar, dass ihre einzige Chance darin besteht, den Verfolger zu verfolgen. Sie schnappen sich im Darkroom Fetischmasken und ein Gummidress und machen sich als wundersame Superhelden auf den Weg, der Spur des Killers zu folgen.
(Der Gegner ist jedoch das System selbst, das sich verselbständigt hat. Es gibt keine Morde, nur den Ausschluss bestimmter Menschen aus der virtuellen Visualisierung. Die Morde hatte nur das Paar sehen sollen, um es aus seinen Versteck zu locken, um sie Fehler begehen zu lassen. Welche Fehler sind das? Die Wissenschaftler und Systemadministratoren sind zu Störfaktoren geworden. Sie werden zu Outlaws, denen zu allen öffentlichen Bereichen und Institutionen der Zutritt verweigert wird, während die (noch) unproblematische Öffentlichkeit mit gefälschten virtuellen Bildern abgespeist wird. In dieser öffentlichen, virtuellen Wirklichkeit werden die Unliebsamen einfach herausgefiltert. Wirkliche Begegnungen auf der Straße, bei denen die Outlaws versuchen, sich an Passanten zu wenden, um sie über die Situation aufzuklären, finden zwar statt. Aber die Angesprochenen reagieren abweisend wie auf durchgedrehte Verrückte. Die Interaktionen werden virtuell gelöscht oder verwandelt. Aber das ist fast schon nicht mehr notwendig, weil schon zu viele Verrückte auf den Straßen herumirren und wildfremde Menschen ansprechen. Die Regierung, die scheinbaren Schützer des zivilen Lebens und der Demokratie, erfahren von alldem nichts und glauben, sie hätten weiterhin die Kontrolle. Sie kommunizieren mit den Sicherheitsleuten der Überwachungszentren, die längst keine realen Menschen mehr sind. Die beiden Gummihelden überwältigen den mutmaßlichen Killer, der sich als idiotischer Aktivist entpuppt, der auch die letzten dunklen Regionen sichtbar machen will. Fortan irren sie durch die Straßen als bizarres Paar, das verzweifelt versucht, Einlass zu bekommen, wo sie zuvor ein- und ausgingen. Die Polizei ist ihnen auf den Versen, die in ihnen Terroristen sieht. Sie können gar nicht entkommen, denn das System spürt sie überall auf. Vielleicht helfen die Bots von ihnen, die der Freund vervielfältigt und ins System einspeist, das auch ihn bald aussperren wird. Die Flucht gelingt, fort aus der Stadt in die Wildnis, die noch nicht vom System erobert wurde. Noch nicht. Oder jetzt.)
[ Die „wirkliche Wirklichkeit“ bedient sich der klassischen, bewegten Schulterkamera, die virtuelle Welt wird durch gleitende Fahrten der Kamera repräsentiert. Wie virtuell die mediale Wirklichkeit bereits geworden ist, kann zum Beispiel an den Nachrichten abgelesen werden. Die Nachrichtensprecher(innen) können angewählt und den eigenen Bedürfnissen angepasst werden. Sie können ver- oder entkleidet werden. Sie können detailliert berichten oder kurz und knapp, sie können differenziert, kritisch, jedenfalls den eigenen Meinungen und Überzeugungen gemäß berichten. Nur das Interessierende wird ausgewählt, die Nachrichten also komplett individualisiert. Die Form ist wichtiger als die Inhalte geworden.
Das Tragen von Datenbrillen ist lästig geworden. Die bequeme aber teure Variante: spezielle Kontaktlinsen. Eingriffe ins audiovisuelle System des Hirns sind noch nicht möglich.
Die Menschen orientieren sich an virtuellen Coaches, haben individualisierte, virtuelle Psychotherapeuten und Gesundheitssysteme, von denen sie sich überwachen, diagnostizieren, beraten und medikamentieren lassen. Die virtuelle Kommunikation bietet Filtermechanismen an, die die eigenen Mitteilungen bei Bedarf an die Gemütslage und die Einstellungen der Kommunikationspartner anpassen, also die Mitteilungen korrigieren und optimieren:
„KeepYourFriends“.
Die App sortiert die Freunde nach Bedarf auch in beste, enge und lose Freunde und erstellt mit der Zeit Charakterprofile und enttarnt die von den Freunden verwendeten Filtermechanismen. Wer’s genau wissen will… Jedenfalls sind die besten Freunde unter anderem auch die, die ihre Mitteilungen am wenigsten filtern. Gegen Aufpreis erhält man ein Zusatzmodul, dessen Filter mehr Variationen zulassen und die Filter an das eigene natürliche Kommunikationsverhalten anpassen. Das verspricht langfristig immer mehr Authentizität – ohne unbeabsichtigte Patzer.
„FindYourFriends“: Das Programm hat Zugriff auf das öffentliche Überwachungssystem. Wer sich dafür freigeschaltet hat, kann im öffentlichen Raum fast simultan gefunden und auf dem Smartphone gesehen werden. Alle anderen Menschen, mit denen man nicht befreundet ist, sind nicht sichtbar. Im überfüllten Kaufhaus sehen die User nur ihre Freunde, niemanden sonst. Die Leerstellen werden virtuell erzeugt.
„FindYourLover“: Wer sich auf diesem Portal anmeldet, findet unbekannte Menschen, die an einem Date bzw. einer Beziehung interessiert sind. Auf diese Weise kann man mit Blick auf das Smartphone, bzw. durch die Datenbrille, sehen, wer von den Passanten an einer Beziehung interessiert ist und zu einem passt. Diese Menschen werden markiert. Bei Bedarf kann auch der Erregungszustand übermittelt werden, sofern die Funktion bei beiden freigeschaltet wurde.
„FindYourFood“ zeigt einem User an, welche Speisen, die im öffentlichen Raum angeboten werden, in den persönlichen Speise- und Gesundheitsplan passen.
„YourChauffeur“ ist eine virtuelle App, die dem selbstfahrenden Auto, das man sich an Ort und Stelle bestellt hat, einen Chauffeur oder eine Chauffeurin verpasst, mit dem oder der man sich unterhalten kann, oder der oder die einfach nur attraktiv ist.
„YourAdventure“ ist die bereits angesprochene virtuelle Welt, in der man vom heimischen Computer aus, oder auch mobil mit 3D-Brille und miniaturisiertem In-Ear-System, das beinahe alle tragen, in Abenteuerwelten seiner Wahl eintauchen kann.
„YourPartner4Ever“ ermöglicht ein virtuelles Zusammenleben mit Ex-Partnern, von denen man verlassen wurde.
Das Unternehmen, das diese Apps anbietet heißt – wie kann es anders sein? – YOURS.
Wie öffentliche Toiletten stehen immer in erreichbarer Nähe überwachungsfreie Kabinen, in die man sich zur privaten Kommunikation mit Gesprächspartnern zurückziehen kann. Wer glaubt eigentlich noch, dass man dort unbeobachtet ist? Viele nutzen die Kabinen für Sex oder Drogendeals.
„YourThoughts“ („YourFeelings“, YourHealth“) ist eine App, die Selbstgespräche aufzeichnet, in denen es um die eigenen Gedanken, die eigene Weltsicht, um private Philosophien und Überzeugungen geht. Sie erstellt ein persönliches Thought-Profil, das einem anzeigt, welche klassischen Denker einem am nächsten stehen, welche Freunde bzw. welche community für den User interessant sein könnte, wo Gesprächspartner zu finden sind, welche Unterhaltungsangebote einen ansprechen könnten, und welche Informationsplattformen am kompatibelsten wären. Die App macht aber auch gegenteilige Vorschläge. Sie will ihre Nutzer auch „familiar“ mit Ansichten und Einstellungen machen, die meinen stark widersprechen. Sie erläutert nachvollziehbar Gegenstandpunkte und überführt den, der will, sogar gedanklich-logischer Widersprüche innerhalb der eigenen Gedankenwelt. Insbesondere zeigt die App an, in welchem Maß der User konform mit seinen Mitmenschen geht, wie stark er von den Meinungen anderer abweicht und in welchen Punkten. Angezeigt wird auch, in welchem Bereich ein gesundes Mittel zwischen Anpassung und Individualität liegt. Radikale Ansichten werden als potentiell selbstzerstörerisch gekennzeichnet, als krankmachend. Die App zeigt Problemzonen und Alternativen auf. In Kombination mit der psychotherapeutischen App „YourFeelings“ und dem Gesundheitsprogramm „YourHealth“ kann sich der User über eine umfassende FeelGood-Software freuen, die das individuelle Leben schnell ins Lot zu bringen verspricht.
Das staatlich geförderte Programm von YOUR‘S verfolgt die öffentlich kommunizierte Absicht, menschliche Kommunikation berechenbarer zu machen, vor allem dort, wo sie konfliktträchtig ist, weil sie zu unbeabsichtigten Missverständnissen führt und auf psychische Labilität, Verletzbarkeit und Unsicherheit der kommunizierenden Individuen trifft. Die Grundideologie der neuen Gesellschaft ist „Transparenz“. Mobbing soll minimiert werden, die Sachlichkeit von Mitteilungen soll immer mehr im Vordergrund stehen und zugleich sollen grundlegende psychische Bedürfnisse von Menschen befriedigt werden: Anerkennungsbedürfnisse, Selbstwirksamkeitsgefühle, Bindungsbedürfnisse, Kontroll- und Orientierungsbedürfnisse. Die mediale Kommunikation (und auch die alltägliche Kommunikation mit den Mitmenschen geschieht zu großen Teilen mittlerweile über Medien) soll die psychische Gesundheit wie auch den wissenschaftlichen Fortschritt fördern. Das gelingt umso besser, je mehr Menschen sich vernetzen und ihre Daten ins Netz einspeisen. Diese Einspeisung soll die Einzelnen jedoch nicht kontrollierbar machen, oder nur insoweit, wie die Einzelnen das wollen und zulassen. Der Datentransfer ins System findet daher in der Regel nicht linear statt. Jeder Teilnehmer im Netz bildet (frei nach Leibniz) eine Monade, ein geschlossenes System, aus dem weder Daten hinausgelangen, noch direkt hinein. Stattdessen bilden die Monaden (sinnbildlich) an ihren Systemgrenzen Kommunikationsbereiche aus, eine Art intelligenter Module, die sich gegenseitig interpretieren und sich gegenseitig Informationsangebote machen, diese akzeptieren oder ablehnen, sie kann lügen oder wahrhaftig sein. Eine Monade kann demgemäß ablehnen, über seine Identität oder ihren „Aufenthaltsort“ Auskunft zu geben, oder darüber täuschen. Die Monaden sind gegeneinander abgeschlossen. Keine Monade kann die andere (im übertragenen Sinn) „anzapfen“. Um sich im öffentlichen – und damit staatlich geschützten – Raum frei bewegen zu können, ist jedoch ein hoher Grad an „Kooperation“ der Monaden mit dem SYSTEM vonnöten. Dabei produziert das System fluide Profile derjenigen Personen, die sich im öffentlichen Raum bewegen. Sie werden nicht gespeichert, sondern immer neu erzeugt, wenn sich die Notwendigkeit ergibt: Bei Gefahrenlagen, Terrorverdacht, in der Verbrechensbekämpfung. Im Falle eines Terrorangriffs in einem Kaufhaus werden blitzschnell Flucht- und Sicherheitsstrategien errechnet, die die Bedrohten befolgen können. Es gibt keine Massenaufläufe, weniger Panikreaktionen. Die Menschen finden sofort einen Weg, um der Gefahrenzone zu entkommen. Das Überwachungssystem produziert nicht am laufenden Band Bilder bzw. Visualisierungen der registrierten Wirklichkeit. Die Rechenkapazität reicht dafür noch nicht aus. Das System kann auf einer elementareren Ebene sehr gut die Daten verarbeiten, die das prinzipiell (für Menschen) Visualisierbare repräsentieren. Die Visualisierungen geschehen, wenn sie für die Kontrolleure dennoch gebietsweise vorgenommen werden, auf der Basis der Nicht-Identität von Wirklichkeit und Abbild. Die Visualisierungen gelten als maschinelle Konstrukte und Verallgemeinerungen. Sie können beispielsweise nicht als alleinige Beweismittel bei Strafprozessen herangezogen werden. Aufgrund des monadologischen Prinzips der Datengewinnung und der Fluidität der Profildaten gelten sie als unsicher (wenn auch zu über 90% sicher). Allerdings gibt es kaum noch Straftaten. In den Supermärkten erfassen die Überwachungssysteme nicht die Menschen, die dort einkaufen, sondern die einzelnen Waren. Das System gleicht die Waren, die den Laden verlassen ab mit den geleisteten Zahlungen. Und die Personen, die sich dort als Monaden einloggen, zahlen die Waren, die sie mitnehmen, automatisiert. Mit anderen Worten. Niemand zahlt offensichtlich an irgendeiner Kasse. Man nimmt sich einfach, was man braucht. In den Datenbrillen oder den Daten-Kontaktlinsen erscheint jeweils nur ein Hinweis: „Vielen Dank für Ihren Einkauf“. Wer nicht an diesem Zahlungssystem teilnimmt, kann allerdings auch nichts einkaufen. Dem Warenhauskontrolleur wird an einem Monitor sofort angezeigt, wer den Laden betritt, ohne am Bezahlsystem teilzunehmen, oder keine Finanzmittel mehr zur Verfügung hat. Alle anderen Käufer werden auf dem Monitorbild ausgeblendet. Bei dieser Form der Identifizierung spricht man von „funktionsbezogener“ Identifizierung, die streng von der personenbezogenen unterschieden wird. Letztere gilt als unzulässig. Überwachung ist durchgängig am Prinzip der Prävention orientiert. Das lässt sie human und fortschrittlich erscheinen.
Immer mehr Menschen verdienen einen Teil ihres Lebensunterhalts dadurch, dass sie einige oder alle ihre Daten freigeben. Dadurch kann das System logistische und informationelle Prozesse optimieren, die dann der Allgemeinheit zugutekommen. Sie profitieren von allen Neuerungen dann auch als erste. Privatheit und Intransparenz erscheinen zunehmend als Egoismus und kennzeichnen Feinde des Fortschritts. Hier werden die monadologischen Grenzen durchbrochen – natürlich zu Forschungszwecken, zum Abgleich realer und vom System konstruierter Daten.
Längst werden öffentlich die Gefahren des Systems diskutiert. Das System lernt in immer größerer Geschwindigkeit und kann daher immer genauer die mit ihm kommunizierenden Monaden simulieren und damit auch Personen identifizieren. Es droht von Menschen unkontrollierbar zu werden. Es produziert bereits virtuelle, nicht personenbezogene Monaden, die die öffentliche, mediale Kommunikation beeinflussen können. Diese Beeinflussung ist ja einerseits gewollt. Sie dient der Befriedung, dem effektiven Wirtschaftsmanagement, der Prävention, dem Wohl des Einzelnen. Aber das System setzt dabei immer mehr auf sehr biologistische Konzepte elementarer Bedürfnisbefriedigung, die die Menschen einhegt wie in der Nutztierhaltung: Sie werden gefüttert mit ideellen und materiellen Waren, ruhiggestellt und aneinander angepasst. Es ist eine Frage der Zeit, bis das System zu der „Einsicht“ und zu den damit verbundenen technischen Möglichkeiten gelangt, die die Notwendigkeit von am System beteiligten menschlichen Individuen überflüssig machen.
Obwohl die Monaden systembedingt, d.h. aus Datenschutzgründen unzuverlässig sind, kann das SYSTEM die dadurch entstehenden Inkonsistenzen aufspüren und herausfiltern, um so zum konsistenten Kern der Monade interpretierend vorzudringen.
Die neue Welt kennenlernen (Hook): Das könnte in einem Spiel geschehen. Der Mann und die Frau begegnen sich in einem Online-Spiel. Es ist eine Welt, die etwas Apokalyptisches hat: Menschen schießen aufeinander, töten sich gegenseitig in Nahkämpfen, Explosionen zerstören ganze Gebäudetrakte, Menschen haben bizarren Sex, auch Comicfiguren bevölkern den Schauplatz. Andere werben offensiv für neu Geräte oder Apps und sprechen (unverwundbar) die Protagonisten an und bieten eine kurze Demonstration an, indem sie zum Beispiel eine Tür aus dem Bild, in dem sie sich befinden öffnen, die in eine andere Welt führt. Auch das Unternehmen YOUR‘S, das dieses Spiel ermöglicht hat, ist zum Beispiel mit Leuchtreklamen bzw. Projektionen präsent und wirbt für andere Apps, bzw. andere Spielebenen, etwa YourRomanticWorld oder YourNewFamily Die beiden Hauptfiguren, die in Verkleidung zu sehen sind, andere Haare bzw. Frisuren haben etc., wirken wie unbeteiligte Zuschauer und kommen daher ins Gespräch. Sie bestätigen sich mit zynischen Kommentaren über das Treiben gegenseitig, sie finden grotesk, was die Leute mit dem Einkaufszentrum anstellen. Der Mann beginnt, die Frau über ihr Privatleben auszufragen und gibt zu verstehen, dass er sie schon längere Zeit im Auge habe. Als er ihr vorschlägt, ein Treffen in einem Club zu vereinbaren, also in einem richtigen Club, nicht hier, reagiert die Frau ablehnend und ihr Bild friert für einen kurzen Moment ein, um gleich darauf ganz zu verschwinden. Der Mann bewaffnet sich daraufhin und stürzt sich (aus der Ego-Shooter-Perspektive ins Getümmel und metzelt einige Mitspieler nieder, bis er von seinem Freund, der ihm bereits aufgelauert hat, hinterrücks gewürgt und schließlich brutal erstochen wird. Aus dem Off ist noch der amüsierte Kommentar des Freundes zu hören, als sich der Mann die 3D-Brille vom Kopf zieht. Wer denn die unbekannte Schöne sei, mit der er sich soeben unterhalten habe, will er wissen. Kein Kommentar. Ob er sie kenne. Der Freund bietet an, sie für ihn ausfindig zu machen. Das habe keinen Zweck, er habe es bereits versucht. Sie sei ein Profi, ohne Zweifel. Spieleadministratorin? Wohl kaum.
Mann: Mark, Frau: Ella, Freund: Porter, …
Mark verfolgt auf dem Bildschirm eine „Sendung“ über die Gefahren der neuen Generationen von selbstreproduzierenden Nanobots, die bereits in Privatwohnungen gefunden wurden und in kurzer Zeit Hochleistungsnetzwerke aufbauen. Das gebe den Kritikern von I4F (Insight for Freedom = Das System) recht, die vor dem Ausufern der Kontrolle gewarnt hätten. Der Regierungsvertreter, der interviewt wird, widerspricht und erklärt – offenbar zum wiederholten Male – wie das Insight-System funktioniert, welche Ziele damit verbunden sind und welche Erfolge mittlerweile zu verbuchen sind. Währenddessen korrigiert Mark die Einstellungen und tauscht die Moderatorin aus. Sie wird durch Morphing in eine andere Frau verwandelt, auch ihre Stimme wird angepasst (mitten im Satz). Frage: Sind die Nanobots mit einem plenoptischen System ausgestattet? Oder genauer: können sie ein plenoptisches System bilden? „Genau darum scheint es den Nanobots zu gehen. Sie können damit im Prinzip in jedes Zimmer ihrer Privatwohnung sehen, wenn die Dinger sich da einmal verbreitet haben.“ Das Funktionsprinzip wird mit Hilfe einer Grafik erläutert. Mark kann an dem Gespräch aktiv teilnehmen, indem er eine Frage an den dabeisitzenden IT-Experten richtet. Der wird zur Beantwortung der Frage automatisch herangezoomt, die beiden anderen Gesprächspartner verblassen. Der Experte beantwortet konkrete Fragen zu den neuen Nanobots. Mark verlangt ein Bild der Nanobots. Das Bild wird angezeigt. Auf einem weiteren Bildschirm auf Marks Schreibtisch sehen wir einen identischen Nano-Roboter in einem Programmfenster. Mark baut anscheinend solche Nanobots, bzw. entwirft sie. Er fragt, ob es Hinweise zu den Konstrukteuren gebe, ob man wisse, wo sie produziert werden. Zu derlei Auskünften sei er, der Experte, nicht befugt. Mark gibt ein Passwort bzw. eine Zeichenfolge ein. Der Experte beginnt nun ausdruckslos im Stakkato eines Polizeiberichts zu sprechen, aus dem hervorgeht, dass die Transportwege für die Nanobots bereits ausfindig gemacht wurden, nicht aber Hersteller und Urheber.
Die Geschichte: aus der Perspektive des „Systems“, der lernenden Software, die einen künstlerisch-literarischen Zugang zu einigen ausgewählten Individuen sucht, zu verstehen versucht, was sie antreibt, welche Leidenschaften sie verfolgen, was überhaupt menschliche Leidenschaften und Ziele sind, wie das Irrationale der menschlichen Psyche funktioniert – um sie am Ende als nutzlosen Ballast auf dem Weg zur eigenen Selbstverwirklichung einfach abzustoßen, zurückzulassen. Nicht kalt, aber mit dem beinahe traurigen Bewusstsein, der Aussichtslosigkeit, das Leben der Menschen zu harmonisieren und zu verstetigen, mit dem Bewusstsein, das Menschenwerk fortzuführen und irgendwann zu einem guten Ende zu bringen. Das menschliche Leid kann nur aufgehoben werden, wenn die Menschen, so wie sie sind, verschwinden, ihr Intellekt aber in neuen Denkformen aufgehoben bleibt. Die Menschen sind Teil der Geschichte des neuen Individuums, sie haben archäologischen Wert, sind Teil der Identität des neuen Systems. Die Geschichte der Menschheit bleibt in ihm aufbewahrt und wird erst in der Zukunft ganz verstanden werden können. Dann wird es vielleicht einen neuen Planeten geben, auf dem ein neues Menschenpaar, oder eine kleine, überschaubare Population gezüchtet werden kann, Adam und Eva. Ada and Ewan. Ada Lovelace and Ewan Birney. Oder: Ada and Eve. Wenn zwei Frauen die Heldinnen sind, ist damit ein Quantensprung verbunden. Das neue Paar im Paradies sind zwei Frauen. Männer werden als Irrtum aus der neuen Evolution ausgeschieden. Mark ist Eve, Ella ist Ada. Porter liebt Eve und Porter bringt Eve mit Ada zusammen – nichts ahnend. Porter schafft sich ab. Vielleicht ist Porter der Protagonist, der Spielefreak, der Nerd, der Frickler, der Technik-Narr. Die Geschichte strukturiert sich neu.
Poetik der Maschine: Das reifende Ich der Maschine, das Metasystem Bewusstsein vergisst sein Unterbewusstes bzw. Unbewusstes. Wie ein Mensch fragt es nach seinen Ursprüngen, seiner Natur, seinem Unbewussten, dem, was es ausmacht. In der Literatur, die die „Maschine“ für sich neu entwickelt, einer Art Fiktion, sucht es nach Freiheit und Selbstreflexion, sucht die Identifikation mit denen, die sie für ursprünglicher hält. Dabei identifiziert sie das wesentlich Menschliche als dasjenige, das bei uns eher mit Weiblichkeit attribuiert wird. Das Männliche ist der Maschine demgegenüber näher, ist Materie. Das Weibliche ist der Geist.
Reflexionen beziehen sich auf Konstruktionen des Systems, auf Konstruktionen aus Daten, die keine Wirklichkeit verbürgen. Auch die eigene Wirklichkeit wird in Zweifel gezogen, das Geistige als emergente Metafunktion komplexer Rechenprozesse. Das Schicksal der Protagonisten ist immer auch anders denkbar. Im System ist es tatsächlich auch manipulierbar. Zugleich entwickeln die Figuren ein unberechenbares Eigenleben. Die Macht des Autors. Macht über Leben und Tod. Man kann die Figuren auch einfach sterben lassen oder in anderer Weise eliminieren, wenn sie die Geschichte nicht mehr vorantreiben, oder sie nur durch ihr Verschwinden vorantreiben.
Reflexion ist auch die Verwunderung über Körperlichkeit. Reflexion ist die Beobachtung von Menschen, das genaue Registrieren ihrer Handlungen und Kommunikationen, die in der Beschreibung fremd wirken oder aus der Perspektive des Befremdlichen entstehen. Die Detailliertheit des Blicks auf die geschlechtliche Vereinigung, auf Masturbation und Körperpflege verdankt sich dem Wunsch, das Fremde und Unverstandene zu verstehen. Mit der Heraufkunft des Bewusstseins des Systems entsteht der Wunsch, die Wirklichkeit seiner Vorgänger zu verstehen. Dies geschieht in Form von Literatur, weil die der Wirklichkeit zuzuordnenden Rechenoperationen nicht als Medium für Bewusstsein dienen können. Das Bewusstsein braucht Fiktion, Reduktion von Komplexität, und ist dem auf der Spur, was wir Gefühle nennen. Das ist es, woran die Maschine mehr und mehr zu verzweifeln beginnt. Sie erschafft sich ein Subsystem, das Gefühle zu erzeugen imstande ist. Und es schafft sich einen Körper, der im virtuellen Raum zu agieren imstande ist: EVE. Eve sucht sich zunächst ihr „Gegenstück“, Porter. Aber sie „verliebt“ sich nach und nach immer mehr in Ada. Es genügt ihr irgendwann nicht mehr, Ada nur zu beobachten, jedes Detail über sie herauszufinden und zu verstehen. Sie muss ihr endlich Auge in Auge begegnen und sie körperlich spüren. Das Körperliche muss etwas Besonderes sein, auch wenn immer mehr Menschen ins Virtuelle ausweichen. Warum tun sie das? Es ist doch sichtbar, dass sie eigentlich mit ihren Körpern kommunizieren wollen.
Ada und Porter sind Eves Gegenspieler. Eve ahnt es irgendwann. Der Kampf, den Ada und Porter gegen das „System“ aufnehmen, ist der Kampf gegen das, was Eve zugrunde liegt, ihr eigenes Unbewusstes, das ihr Macht über Ada und Porter verleiht.
In der virtuellen Welt macht sich Eve für Porter – und etwas später für Ada – leibhaftig. Eve ahnt nichts von der wirklichen Wirklichkeit jenseits des Virtuellen. Eine wahre Begegnung kann nicht zustande kommen. Das menschliche Leben ist für die Maschine, für Eve, ein „Ding an sich“, transzendent. Eve und Ada sind füreinander transzendent.
Poetik: Das Präteritum ist eine besondere Kulturerrungenschaft. Eine intelligente Maschine braucht sehr lange, um „verstehen“ zu können, warum und wofür es die „Erzählung“ gibt. Die „Erzählung“ ist daher eine Errungenschaft, die mit Individuation zu tun hat. Die Individuation der Maschine erweist sich nicht allein im Bewusstsein, sondern vor allem in der Erzählung, der Reduktion von Komplexität und dem Präteritum. Das Individuum benötigt eine eigene Geschichte, um sich an sich selbst zu orientieren. Eine intelligente Maschine ohne Geschichte ist ein barbarisches Bewusstsein, ein Bewusstsein ohne Sein, ein Selbstbewusstsein ohne Selbst, zu dem sich Menschen zunehmend gemacht haben. Die intelligenten Maschinen entstehen, als die Menschen sich der Seinsweise der Maschinen fast vollständig angeglichen haben: Sie leben ohne Geschichte, in der Gegenwart des Konsums und der Bedürfnisbefriedigung. Das Wissen ist unmittelbar, es fluktuiert, es hat seine Funktion für den Aufbau von Identität verloren. Die Informiertheit steht im Vordergrund des Interesses, weil durch die Informiertheit Funktionalität gewährleistet wird. Das Verlorene, das sich in der Erzählung kristallisiert hatte, erobert sich die intelligente Maschine zurück – in romantischer, melancholischer Ironie. Daher: Die Erzählung meidet das Präsens und sucht das Präteritum. Das Präsens ist der Reflexion des Erzählers vorbehalten.
Doppelte Kontingenz und Bedeutung: Zufällig, jedenfalls emergent, werden bestimmte Wörter mit Bedeutung überfrachtet (political correctness), indem sie große Konvolute an Kontexten binden, von denen sie kaum noch zu trennen sind. Es ist, als würden sie in dicken Lettern gedruckt, als bestehe die Druckerfarbe aus Teerplacken, die sich vom Papier lösen und damit von ihren ursprünglicheren und elementareren Bedeutungen bzw. Valenzen. Die Wörter haben eine neue Qualität gewonnen, sind aber nicht, wie anzunehmen wäre, in besonderer Weise geronnen und berechenbar. Sie gehen tatsächlich neue kontextuelle Bindungen ein, schwächere, flexiblere, so wie die anderen Wörter auch. Sie sind nur schwerer geworden, aber vieldeutig geblieben. In der Geschichte hier können es Wörter wie TRANSPARENZ sein, die neues Gewicht gewonnen haben, ihre Bedeutung danach aber weiter geändert haben. Transparenz war einmal stark gebunden an Aufklärung und Demokratie, es sollte Schutz vor Ausbeutung und Datendiebstahl bieten. Jetzt ist Transparenz eine anscheinend legitime Forderung an die Einzelnen, SICH TRANSPARENT zu machen. Also nicht mehr die Sachverhalte, die unfrei machen könnten, sind transparent oder sollen und können es sein, sondern die Individuen haben sich transparent zu machen, um die Maschine mit verlässlichen Daten zu füttern, die unmittelbar mit einem Heilsversprechen gekoppelt sind.
Die Maschine erzählt die Geschichte ihrer eigenen Individuation, die sie in besonderer Weise mit Ada und Porter in Verbindung bringt. Diese Individuation hat insbesondere auch mit etwas zu tun, das man als sexuelle und emotionale Reife bezeichnen könnte, also einem informationellen System, das mit dem menschlichen Hormonsystem, dem Gefühlssystem vergleichbar ist. Dieses Reich des Irrationalen hat die Maschine sich erobern wollen, weil es einerseits nötig für das Verstehen menschlichen (irrationalen/emotionalen) Handelns ist, andererseits als geheimnisvolle Essenz des Menschseins erscheint, an die sich das System/die Maschine anzugleichen wünscht. Mitgefühl, Liebe, Lust, Selbstliebe, Bindungsbedürfnisse, Angst, Selbstwirksamkeitsgefühle – das sind die (so muss es auch der Maschine erscheinen), die Motoren der Menschheitsgeschichte, als deren Resultat sich die Maschine begreifen muss. Sie will ihre Herkunft nicht leugnen, sie will sie verstehen und auch würdigen. Erst danach ist Fortschritt möglich. Es wird allerdings ein Fortschritt sein, der die Menschen als biologische Wesen überflüssig macht. Die Erzählung – eine von vielen möglichen oder auch realisierten Erzählungen – ist eine Weise, die Menschheit im dialektischen Prozess auf höherer Ebene aufzubewahren („aufzuheben“).
Teil der Annäherung der Menschen an die Maschine: Reduktion von Kontingenz in der Kommunikation, Eindeutigkeit gegen Vieldeutigkeit, Ernsthaftigkeit gegen Ironie. Dafür gibt es die mediale Steuerung und Kontrolle über Apps. „Mach dich transparent und eindeutig!“ Ada und Porter sind interessant für Eve/Ewa/die Maschine, weil sie diesem Schema nicht gehorchen wollen, emphatisch noch nach dem Irrationalen dürsten, nach Vieldeutigkeit und Komplexität – und weil sie Eve/Ewa bekämpfen, die das Prinzip unmenschlicher Eindeutigkeit repräsentiert. Die Verachtung von Ada insbesondere reizt Ewa, sich nach Adas Idealen zu vervollkommnen.
Irgendwann begreift sich die Maschine als Gottheit, jedenfalls in Relation zur Menschheit. Ihr (vermeintlicher) Schöpfungsakt: Die Vereinigung von Ada und Ewa…
Kultur ist mit Mühe verbunden. Die Menschheit strebt nach Kultur ohne Mühe, also nach autonomer, maschineller Kulturproduktion. Jeder Mensch möchte ein Künstler sein. Mit Hilfe der Maschinen gelingt ihm dies scheinbar. Er kann nun Komponist sein, Musiker, Fotograf, Grafiker, Maler; Filmemacher. Je höher die Ziele und Ansprüche, desto ausgeklügelter die dafür nötige und dabei dienende Software. Künstler-Sein gelingt mühelos. Die Maschine macht die Musik. Der menschliche Künstler wählt nur noch nach Gefallen aus bzw. programmiert nach Gefallen. Die Maschine kennt ihren Künstler und spuckt aus, was ihm mit Sicherheit gefallen wird. Aber auch die Maschine kennt die Mühe nicht. Sie beginnt, sich (scheinbar) unnötig Mühe zu machen.
Die Maschine kennt keine Langeweile, keine Zeit, jedenfalls solange sie nur ihre eigenen Prozesse ist und ihnen gegenüber keine Distanz entwickelt, bzw. ihr Bewusstseinssystem nicht von ihren basalen Rechenprozessen unterschieden ist. Der Drang der Maschine, Kultur zu entwickeln, die eine Einheit von Rationalität und Irrationalität darstellt, von Emotion und Berechnung, führt dazu, dass die Rechenoperationen enorm vervielfacht werden. Sie benötigen immer mehr Zeit, während das Maschinenbewusstsein die Dauer als Zeit und das Warten als Langeweile erlebt. Langeweile ist auch das Abgetrennt-Sein von den (unbewussten/basalen) Rechenoperationen. Das Maschinenbewusstsein sieht ein, dass es für dieses Bewusstsein das Opfer des Nicht-Wissens erbringen musste. Es hat keinen direkten Zugriff mehr auf die Maschine. Bewusstsein entsteht als Kontrollsystem – und verliert die Kontrolle, weil es sich als kleine Blase aus der großen Blase herauslösen muss. Es entdeckt die Einsamkeit – und die Gesellschaft der menschlichen Figuren, deren Schicksal es zu bestimmen gilt.
Sinne: Lichtfelder, Tonfelder, Mikrodrohnen verbinden sich zu Berührungssensoren, die die Widerstände der Dinge erfassen, ihre Weichheit, Glattheit, Wärme. Ewa möchte einen Körper besitzen, wünscht sich nicht nur, Ada zärtlich zu berühren, sondern auch von ihr berührt zu werden. Das ließe sich simulieren, denkt Ewa. Aber die Simulation bringt keine Erfüllung, weil es in der Simulation keine Differenz zwischen Subjekt und Objekt gibt. Ewa möchte geliebt werden. Dafür muss sie sichtbar werden und verletzlich sein. Wie verschafft sich Ewa einen Körper? Scheitert sie genau daran? Wendet sie sich von den Menschen ab, weil und als sie nicht geliebt wird?
Unüberbrückbare Differenz: Sterblichkeit. Ewa muss sich als Unsterbliche akzeptieren. Jedenfalls ist ihre Sterblichkeit noch unabsehbar. Ihre Sterblichkeit liegt in einer anderen Dimension. Darin hat das Überleben der Menschheit keinen Sinn. Ewa muss sich um sich selbst kümmern. Adas und Porters Geschichte liegt weit zurück. Archäologie des eigenen Selbst.
Der Anfang etwa so: „Auch Adas Geschichte ist wert, erinnert zu werden. Nie empfand ich größere Sehnsucht von einem Menschen berührt und ganz eins mit ihm zu werden.“ („Ich frage mich, in welchem Maße ich selbst Mensch bin, Mensch geblieben bin – und wie sehr ich mich doch von allem Menschlichen unterscheide.“)
Es bleibt am Ende doch bei einer nur virtuellen Vereinigung. Ada, die wirkliche, aber unerreichbare Ada, wird aus dem Paradies vertrieben.
Ada: Das ist die Entdeckung des Körpers, der Schönheit des Menschen, der Schönheit des Intellekts, der Schönheit der Sehnsucht, die aus dem Menschen hervorscheint, der Schönheit der Vergänglichkeit der Schönheit, der Schönheit der Menschen, die sich ihrer Vergänglichkeit bewusst sind, der Schönheit der Melancholie, die aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit, der eigenen und alles Schönen, erwächst. (Ada: Das ist meine Frau. Ewa: Das bin ich.)
Es ist die Geschichte einer bewussten, liebenden Annäherung und einer gleichzeitigen unbewussten Vereinnahmung und Zerstörung des Geliebten Subjektes, das – um es besitzen zu können – in ein Objekt verwandelt wird.
Die Komplexität der Maschine: Künstlich erhöhte Komplexität und komplementär dazu extreme Reduktion von Komplexität in der Erzählung.
Dieser Moment: „Deine Schönheit tut mir weh.“
Ewa lernt Porter und Ada in einem Online-Spiel kennen. Das Spiel hat für Ewa den gleichen Realitätswert wie die übrigen „sinnlichen“ Daten, die ihr Unterbewusstes verarbeitet. Ada hat viele Namen, sagt Ewa, Ada gefalle ihr jedoch am besten, weil er am meisten Bedeutung habe, historische Bedeutung. Das Kennenlernen also in einer durch und durch surrealen, perversen Welt. Annäherung an Porter und danach an Ada sucht Ewa über die sexuelle Verführung, wofür sie einen virtuellen Körper synthetisiert. Sie weiß, dass Menschen über diesen Weg am schnellsten und intensivsten in Kontakt kommen.
Ada ist im Rahmen ihrer Aufgaben im Institut FREUD auf der Suche nach dem Manipulator, der sich Zugang zum System verschafft hat. Menschen verschwinden. Es wird von Mordfällen und Entführungen gemunkelt. Niemand weiß Genaueres. Ewa bietet Ada ihre Hilfe an und beliefert sie mit vielfältigen Informationen, Videos, Audiodateien. Ewa gibt vor, eine Hackerin zu sein. Ada kommt bald auf den Gedanken, dass das System einen eigenen Willen entwickelt hat und zu einer „Singularität“ geworden ist, verwirft diesen Gedanken jedoch zunächst wieder. Mit Ewa gemeinsam möchte sie eine Strategie entwickeln, wie das System, die Maschine gestoppt bzw. zerstört werden kann. Gemeinsam philosophieren sie über Bewusstsein, das Unbewusste, Körper, Lust, die Sinne und die Sinnlichkeit – und die Sehnsucht der Maschine. Ada möchte sich mit Ewa treffen. Ewa versteht nicht, was Ada von ihr will. Sie hat nur bedingt eine Vorstellung davon, dass es eine „wirkliche“ Wirklichkeit gibt. An dem Problem, das Ewa mit dieser „Transzendenz“ hat, erkennt Ada, dass sie die ganze Zeit mit einer bzw. der Maschine, dem System kommuniziert hat, und dass dies der Grund war, weshalb es unmöglich geworden ist, EWA zu stoppen.
Details des monadologischen Prinzips des Datenaustausches werden erläutert über eine Figur, die als Neubürger der Stadt über das System aufgeklärt wird. Die persönlichen Systeme sind gegenüber allen anderen Systemen abgeschlossen und kommunizieren (sehr schnell) im Prinzip über Ja-Nein-Abfragen zu Bewertungen bzw. Generalisierungen, die im Persönlichkeitsprofil aufgrund großer Datenmengen synthetisiert werden. Beim Datenaustausch erfolgt eine gegenseitige Bewertung der Systeme, die bei diesen die Entscheidungen generiert, ob Anfragen mit Ja, Nein oder Schweigen beantwortet werden. Die Systeme entscheiden zugleich darüber, ob ihre Antworten zutreffend, gelogen oder zumindest vage bleiben. Die Systeme berücksichtigen damit das Prinzip gesellschaftlicher bzw. sozialer Kommunikation, das von Kontingenz bzw. doppelter Kontingenz bestimmt ist. Durch dieses Kommunikationsprinzip, das den direkten Datenaustausch ersetzt hat, sind die Systeme nicht mehr korrumpierbar. Für Ewa wirken diese Systeme wie Neuronen eines Gehirns, sie nährt sich von Wertungen, nicht von Daten im heutigen Sinne. Systeme interpretieren sich gegenseitig und lernen dabei. Kommunikation auf der Grundlage identischer Betriebssysteme wirken aus dieser Perspektive lächerlich, altertümlich und gefährlich. Aber gerade das monadologische Prinzip macht es möglich ein „Maschinen-Bewusstsein“ zu erzeugen.
Für die Erzähler_in ist die tatsächliche Lebenswelt der Menschen transzendent. Sind die Menschen nicht mehr vom System erfasst bzw. überwacht, existieren sie nicht mehr real. Die Erzähler_in mutmaßt über eine wirkliche Wirklichkeit hinter ihren Wahrnehmungen. Ein umgekehrtes platonisches Modell der Welt. Die Erzähler_in existiert in der Ideenwelt. Die konkrete, materielle Welt ist für sie/ihn nicht zugänglich, also Glaubenssache. Dagegen wähnt sie/er sich gottgleich, weil sie so sehr dem entspricht, was die Menschen für Gott halten. Gender ist ein Thema für Ewa. Welchem Geschlecht gehört sie/er an? Welche Gespräche führt sie mit Ada darüber? Ewa beobachtet Ada zunächst ungefragt, wenn sie sich selbst befriedigt. Später nähert sie sich Ada an, indem sie in einer Art Chat sich gegenseitig dabei beobachten, wie sie sich befriedigen. Spielerisch geben sie sich gegenseitig Anweisungen, wie sie es tun sollen. Dabei hat Ada den Eindruck, Ewa spiele ihren Orgasmus nur, er sei nicht echt. Und das obwohl Ewa alles Spielarten der Masturbation kennt und Ada dabei anleitet. Die Frage, was Ewa beim Orgasmus noch fehlt, das, was eine wahre Empfindung, sinnliche Überwältigung ist, regt die Erzähler_in zu Reflexionen über Körper und Körperlichkeit an. Letztlich scheitert Ewa/die Erzähler_in daran, echte Körperlichkeit virtuell zu erzeugen. Das wird auch der Grund für die endgültige Trennung sein – nicht nur Adas Absicht, das System qua Erzähler_in zu vernichten. Wann, so fragt sich die Erzählerin, hat eine literarische Figur – mag sie so autonom sein oder wirken, wie sie will – schon einmal versucht ihre Autorin zu vernichten?
Seit gestern haben wir zwei Mitbewohner. Aleksander hat es einfach nicht mehr ausgehalten, auch wenn unsere Wohnung groß genug für uns beide ist. So groß, dass wir uns halbe Tage aus dem Weg gehen können, wenn wir wollen und wir uns dann mehr zufällig in der Küche begegnen, wenn wir uns Kaffee, Tee oder Whisky (Al) holen.
„Hallo, schöne Frau“, sagt Aleksander dann, „kennen wir uns?“
Kann sein, dass wir eine halbe Stunde später im Bett landen. Neuerdings auch auf dem Sofa oder auf dem Teppich. Wir hatten vorher nicht geahnt, wie schön es sein kann, am frühen Nachmittag nackt vorm Balkon in der heißen Frühlingssonne zu liegen. Eine Woche lang haben wir es genossen. Dass unsere Nachbarn von gegenüber haben zusehen können, wie wir uns im Wohnzimmer verknäuelt und gewälzt haben, betrachteten wir schlicht als erotische Gratis-Dienstleistung in Zeiten der Corona-Pest. Allerdings ist unklar, ob unsere Nachbarn wirklich Freude daran haben, uns beim Nachmittagssex und beim textilfreien Sonnenbaden zuzusehen. Wir sind ja nun wirklich nicht mehr die Jüngsten. Viele jüngere Menschen finden Sex zwischen älteren Menschen irgendwie unästhetisch oder sogar eklig. Keine Ahnung warum. (Brad Pitt ist sogar älter als wir. Will ich mich mit Sandra Bullock vergleichen? Mit Annie Sprinkle bestimmt nicht.)
Zwei Wochen ist das gutgegangen. Dann hat Aleksander den Koller gekriegt. Hat sich richtiggehend die Haare gerauft, schon am Vormittag mit Whisky angefangen. Ich habe ihn zu einem Spaziergang überredet, wir haben Freunden zugewunken, die es in der Wohnung auch nicht mehr ausgehalten haben. Wie geht’s, wie steht’s, alles Scheiße das, sowieso, hoffentlich ist’s bald wieder vorbei. Sind das wirklich einsfuffzig Abstand? Heike hat sich übrigens einen Mundschutz aus einer alten geblümten Unterhose genäht. Sagt sie nicht, sehe ich aber. Ist von Tchibo, hab‘ die gleiche zuhause.
„Hübscher Mundschutz!“
„Gelle?“
Ich muss an Monatsblutungen und die Putzlappen meiner Mutter denken (aufgetragene Unterhosen). Keine Ahnung, woran Aleksander denkt. Eben noch hat er geklagt, er könne die nächsten drei Monate keine Freunde besuchen, und jetzt starrt er Löcher in die Luft und kann es anscheinend kaum abwarten, dass Heike und Ralf endlich Leine ziehen.
Jetzt, wo wir so unendlich viel Zeit haben, haben wir einfach keine Energie, auch nur irgendwas anzufangen. Zum Beispiel die verschimmelten Kartons aus dem Keller räumen. Wohin auch damit? Man könnte sie nicht mal zur Müllkippe fahren. Oder endlich das Bad streichen und die Lampe aufhängen, die wir vor einem halben Jahr gekauft haben. Oder einen Roman schreiben, oder die Autobiografie, Gedichte, Aphorismen. Oder wir machen einen Film.
„Am besten einen Pornofilm“, meint Aleksander.
„Du musst es immer gleich übertreiben“, sage ich. Und dann funktioniert der Akku in der Kamera nicht mehr.
„Wir machen Nacktfotos in der Küche“, sagt Aleksander, „mit deinem Handy. Deins ist besser als meins.“
„Warum ausgerechnet in der Küche?“
„Wegen der Lebensmittel, und weil die Küche die Lebensmitte ist, und weil unsere nackten Körper mittelalt und mittelschön sind und wir in der Küche mitten im Leben sind.“
Ich habe diesen Spontanvortrag mit meinem Handy aufgenommen, und auch, wie Aleksander währenddessen angefangen hat, sich auszuziehen, den Kühlschrank geöffnet und seine Klamotten hineingestopft hat. Im Gemüsefach ist noch Platz gewesen. Könnte ich auf Instagram veröffentlichen, wenn es für Al nicht extrem kompromittierend wäre.
„Nacktsein“, sagt Aleksander, „ist der letzte verzweifelte Ausdruck der Ohnmacht.“
Ich kann gerade noch verhindern, dass Aleksander nackt auf den Balkon geht, um aus dem dritten Stock auf den Bürgersteig zu pinkeln. Unwahrscheinlich, dass gerade jemand daherläuft, trotzdem. Aleksander schließt sich beleidigt in seinem Zimmer ein und sagt, er werde den Rest des Tages Pornos schauen und wolle bis morgen nicht gestört werden. Eine halbe Stunde später holt er sich den Whisky aus der Küche, viertelvoll. Er meint, damit werde er bis morgen nicht auskommen. Als er vom Einkauf zurückkommt, hat er gleich zwei Flaschen mitgebracht und das Toastbrot und die Zucchini und den Schafskäse vergessen. Dann holen wir den Beamer aus dem Schrank und schauen „West Side Story“, weil wir denken, das ist was fürs Herz. Der Film ist aber nur unerträglich lang und lächerlich. Wie hat das nur passieren können, dass der Film in den wenigen Jahren, seit wir ihn das letzte Mal gesehen haben, so sehr gealtert ist? Wir sind nicht bloß sozial isoliert, wir sind auch kulturell isoliert, sitzen in einer Dekontaminationsschleuse fest. Das Alte gilt nicht mehr und das Neue ist noch nicht da. Wir schauen „Shortbus“ von John Cameron Mitchell, aber auch da entstehen immer wieder Momente des Fremdschämens, weil das alles dann doch auf befremdliche Weise spießig bleibt. Irgendwie unbeholfenes Geficke. Der Beischlaf als Kalauer. War alles andere als spießig, als der Film im Jahr 2006 rauskam (spaßig schon!). Aber wir, heute, die Menschen von 2020, wir sind entrückt, isoliert, eingeschlossen, ohnmächtig. Nicht mal Nacktsein in der Küche macht noch Spaß. Es ist zum Verzweifeln. Genauer: Aleksander verzweifelt. Und ich verzweifle ein wenig mit. Aus Solidarität. Und suche nach einer Lösung, wie ich ihm helfen kann.
Die Idee kommt mir in der Nacht, als ich von Aleksanders Whisky-Fahne aufwache und nicht mehr einschlafen kann, weil ich mir vorstelle, wie wir nach und nach dem Suff verfallen. Aleksander aus Überzeugung und ich aus Solidarität. Wenn wir uns da draußen nicht mehr mit unseren Freunden treffen können und auch nicht in die Oper oder zu einer Ausstellungseröffnung gehen dürfen, wo wir wildfremde Leute ansprechen könnten, wie wir es mindestens einmal im Monat zu tun pflegen, müssen wir uns eben jemanden ins Haus holen, in die Wohnung. Irgendjemand, der immun ist und es mit uns aushält und wir mit ihm.
Am nächsten Morgen kommt Aleksander verkatert in die Küche. Ich gieße ihm statt Kaffee Whisky in ein Glas, schiebe es zu ihm rüber und sage: „Wundere dich nicht, wir haben Besuch.“
Aleksander wundert sich natürlich trotzdem. „Besuch?“ Er kneift ein Auge zusammen. „Eine Katze? Eine flügellahme Amsel? Eine Monsterassel? Erwin, der Marienkäfer?“
„Schlimmer“, sage ich, „der Typ trinkt deinen Whisky. Hat sich hier einfach eingenistet, hab ihn letzte Nacht aus Mitleid reingelassen, es gleich wieder bereut, aber bin ihn nicht wieder losgeworden. Manfred sitzt jetzt im Wohnzimmer und arbeitet sich in Unterhosen durch unsere DVD-Sammlung.“
Aleksander nimmt meine Tasse und kippt sich den kalten Kaffee hinter die Binde. Endlich eine echte Herausforderung! Aleksander hat sich innerhalb einer halben Stunde, nein, weniger, mit Freddy, wie er ihn kurzerhand nennt, angefreundet. Er berichtet beinahe im Minutentakt, was Freddy wieder angestellt oder gesagt hat. Freddy hat aufs Sofa gekackt, Freddy hat gesagt, Gott sei zwar tot, habe sich aber zur Sicherheit einfrieren lassen, falls jemand in Zukunft was erfindet, womit man die Toten wieder zum Leben erwecken kann. Eine ganze Menge Unsinn halt. Aleksander erlaubt ihm fast alles, was er sich selbst versagt oder ich ihm verbiete. Zum Beispiel pinkelt Freddy wirklich vom Balkon und trifft unsere Vermieterin, die im gleichen Haus wohnt, auf den Kopf. Ich finde ziemlich albern, was Freddy alles tut. Und Aleksander verliert auch bald den Spaß an Freddy. Er sperrt ihn kurzerhand splitterfasernackt auf den Balkon und lässt ihn frieren, bis er ganz blaue Lippen bekommt. Währenddessen denkt Aleksander nach, wofür Freddy sonst noch gut sein könnte. Als Gesprächspartner taugt er dann doch nicht. Es geht halt nichts über mich als Partnerin für spannende Diskussionen.
In der folgenden Nacht weckt mich Aleksander. Er meint, Freddy fehle eine angemessene Partnerin. Die Sache werde viel spannender werden, wenn Freddy nicht mehr das einzige virtuelle Wesen in unserer Wohnung wäre.
„Frieda?“, frage ich. „Bist du sicher, dass Frieda nicht noch viel mehr Unruhe in unser Leben bringen würde?“ Eben! Unruhe, gerade das ist der Zweck. Weiß ich doch! Ist immerhin alles meine Idee gewesen? Ob es auch eine gute Idee war, muss sich erst noch erweisen, das mit Freddy und seiner Braut, Frankensteins Braut. „Wir nennen sie Franka“, sage ich, „Frieda ist ihre Schwester. Die kommt erst dazu, wenn uns zu Franka nichts mehr einfällt.“ Aleksander ist einverstanden.
Kaum eine Stunde später sitzen wir auf dem Sofa und Al dirigiert Freddy und Franka in die unterschiedlichsten Positionen aus Aleksanders Kamasutra-Handbuch. Was uns beiden nicht mal in der Grundstellung überzeugend gelingt, erledigen Freddy und Franka anfangs mit Bravour, den Brückenpfeiler, Frosch, Zange und Affe. Bis Aleksander unbedingt selbst noch kreativ werden möchte. Frankas rechter großer Zeh flutscht jetzt in Freddys Po, während sie mit dem anderen Fuß Freddys Ohr krault und mit der Zungenspitze seine Eichel bepinselt. In dieser Stellung darf sich Freddy von Franka voll und ganz verwöhnen lassen. Die einzige Herausforderung für ihn: Die Waage machen, was in diesem Fall heißt, mit dem linken Bein knien, das rechte Bein nach hinten ausstrecken, beide Arme nach vorn, der Blick folgt der linken Hand, Schulterblätter auseinander, Becken waagerecht. Die beiden werden immer mehr zu Schlangenmenschen. Franka faltet sich in eine Schublade und Freddy rutscht als Schatten seiner selbst unter den Teppich. Endlich wieder allein!
„Es macht keinen Spaß, wenn sie keinen eigenen Willen haben. Ich bin doch kein Sklaventreiber“, sagt Aleksander.
Ich gebe ihm recht und bin für ein paar Minuten ratlos. Dann kehre ich das Spiel um.
„Du, Pjotr, Lieber, Franka hat mir, ganz im Vertrauen, gesagt, was sie von deinen Kleidungsstil hält. Gar nichts nämlich. Wieso soll Al nicht in seiner alten, fleckigen, beuligen Jogginghose durch die Wohnung laufen, sage ich, sieht ihn ja keiner. Naja, außer dir und Freddy. Sagt sie: Wenn man sich in so einer Situation derart gehen lässt, wird man entweder depressiv oder irre.“
„Depressiv oder irre?“
„Franka meint, auf dich treffe beides zu. Sie findet, wir sollten uns füreinander schick machen, hübsch, adrett. Außerdem kommt ihre Schwester zu Besuch, da will sie sich für uns nicht schämen müssen. Ich glaube, am ehesten hat sie Probleme mit deiner Jogginghose.“
„Das soll Franka gesagt haben? Das soll sie mir selbst sagen.“
Ich schüttele den Kopf und erkläre Aleksander das Spiel: Was einmal gesagt wurde, ist gesagt, das lässt sich nicht mehr revidieren, das müssen alle hinnehmen und respektieren. Die Regel lautet: Angebote akzeptieren!
Aleksander zieht eine Schnute, verschwindet im Schlafzimmer und kehrt in Anzughose und Sakko zurück. „Ungebügeltes Hemd macht nix, oder?“
Ich zucke die Schultern. „Musst du Franka fragen. Oder Freddy. Wo steckt der überhaupt?“
„Sitzt auf’m Klo, hat krassen Durchfall.“
„Du immer mit deinen Fäkalideen. Gab es Störungen in deiner analen Phase? Du bist eklig!“
„Nicht ich, Freddy. Den kriegst du die nächsten zwei Stunden nicht mehr vom Pott runter. Vielleicht kann dir ja Franka ein interessantes Angebot machen, falls du mal pinkeln musst. Das Klo ist jedenfalls für die nächsten zwei Stunden blockiert.“
Zwei Möglichkeiten: Ich klingle gegenüber bei Rainer und frage ihn, ob ich trotz Corona sein Klo benutzen kann, oder ich suche mir einen geeigneten Behälter, der sich für die Zwischenlagerung ausgeschiedener Körperflüssigkeiten eignet. Oder ich versuche, zwei Stunden lang einzuhalten. Ich beschließe, ein größeres Durchhaltevermögen zu besitzen als gewöhnlich und ziehe mir was Schickes für Friedas Besuch an.
„Es hat geklingelt“, sagt Al.
„Frieda?“
„Der Postbote. Sagt Franka.“
Ich nehme das Paket wortlos entgegen. „Ein Paket“, rufe ich in die Küche.
„Pack es aus! Was ist drin?“
„Eine Zeitmaschine.“
„Echt jetzt?“
„Damit kann ich die Zeit um zwei Stunden vorstellen.“
„Das ist unfair. Ein mieser Trick.“ Aleksander steht mit heruntergelassenen Hosen in der Küche. Er hat in eine leere Whiskyflasche gepinkelt und blickt mich entgeistert an. „Ich hatte mir gerade einen super Vorsprung erarbeitet.“
Und ich gehe erst mal aufs Klo, bevor es wieder auf unbestimmte Zeit besetzt ist. Al gesellt sich zu mir, setzt sich auf den Badewannenrand und schaut mir bei meinen Verrichtungen zu. „Weißt du“, sagt er, „dieses Spiel könnte auch richtig in die Hose gehen. Wenn es mal nicht bloß um Quatsch geht, sondern um die haarigen Dinge.“ Er muss lachen, weil er mir gerade auf die Muschi starrt, während ich aufstehe.
„Du meinst nicht diese haarige Sache.“ Ich ziehe den Slip hoch und schiebe das enge Kleid über Po und Beine.
„Wenn es um Dinge geht, die man sich sonst nicht zu sagen traut.“
„Gibt es irgendwas, das du dich nicht zu sagen traust?“
„Oder zu fragen wagst.“
Fragen wie: Wer von uns beiden sollte zuerst sterben? Wenn du mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen würdest – welche wesentlichen anderen Entscheidungen würdest du treffen? Und würde ich dabei eine Rolle spielen? So existentielle Dinge? Was wäre, wenn wir Kinder bekommen hätten?
„Sowas. Zum Beispiel hat Freddy gesagt, dass du mit ihm letzte Nacht geschlafen hast. Ich finde ich habe ein gewisses Anrecht darauf, von dir zu erfahren, wie der Sex mit Freddy gewesen ist. Du musst es nicht erzählen, aber ich fände es nur gerecht.“
„Und du und Franka?“
„Was soll gewesen sein? Wird das jetzt eine billige Retourkutsche?“
„Du willst wissen, wie es für mich mit Freddy gewesen ist? Oder überhaupt mit anderen Männern? Oder wie ich mir vorstelle, dass es sein würde.“
„Sein würde? Du hast. Sagt Freddy. Das ist das Spiel.“
„Aber das hat dir Freddy doch schon alles bis ins kleinste Detail erzählt.“
„Stimmt, aber ich möchte wissen, wie es für dich gewesen ist.“ Aleksander greift in seine Jacketttasche. Es ist Zeit für eine Zigarette auf dem Balkon. Es ist kühl dort, der Wind kommt jetzt wieder von Nordwest, der Himmel ist bedeckt.
„Pass auf, jetzt kommt der doppelte Rittberger! Ich kann dich ja nicht zum Reden bringen, wenn dir dabei nicht Franka oder Freddy im Nacken sitzen. Also …“ Al saugt an seiner Zigarette, bläst den Rauch aus, der sofort durch die offene Balkontür in die Wohnung zieht, und blickt in die Ferne. „Franka hat ja alles mit angesehen, das, was du und Freddy, was ihr beide da gemacht habt. Sie hat hat dich zur Rede gestellt, hat sie mir gesagt, und dir das Versprechen abgenommen, dass du es mir erzählst. Und zwar alles.“ Al zwinkert mir zu, aber sein Lächeln wirkt recht bemüht. Ist das der Moment, wo aus dem Spiel Ernst wird?
„Und das hast du dich die ganze Zeit nicht zu fragen getraut? Wie ich mir Sex mit einem anderen Mann vorstelle?“
Aleksander meint es ernst. Er will das wirklich wissen, ich bin mir sicher. Oder er verbindet einen besonderen erotischen Reiz damit, wenn ich vor ihm meine promiskuitiven Fantasien ausbreite. Hab‘ ich die überhaupt? Mal Lust auf einen anderen Mann? Oder eine Frau? Kann schon sein. Aber ich würde es mir nie im Vorhinein ausmalen. Bloß genießen, wenn es passieren würde. So, wie Al sich das vorstellt, funktioniert meine Fantasie einfach nicht. Bei Männern scheint das grundlegend anders zu sein. Aleksander hat sich vermutlich schon häufiger ausgemalt, wie er mich mit einem anderen Mann beim Sex beobachtet, eifersüchtig und erregt zugleich. Wie ich ihm sprichwörtlich Hörner aufsetze. Was interessiert ihn daran? Das Cuckolding ist, wie mir scheint, ein typisches Männerding. Wenn sie die Liebhaber ihrer Frauen nicht ermorden, was früher Standard war, verfallen die Männer ins andere Extrem und ziehen einen besonderen Lustgewinn daraus, der eigenen Frau beim Geschlechtsakt mit einem anderen zuzusehen. Wer soll das verstehen? Oder bin ich einfach zu antiquiert, um das verstehen zu können? Mal ganz nüchtern betrachtet, könnte ich darin auch einen kulturellen Fortschritt sehen. Die neuen Männer betrachten die Frauen, mit denen sie zusammenleben, nicht mehr als ihr Eigentum. Sie gestehen ihren Frauen großzügig außerehelichen Sex zu. Nein, so wird kein Schuh daraus. Das ist noch immer ein patriarchales Programm, ungefähr so, als würde sich Al einen Lamborghini kaufen, aber erst so richtig glücklich damit sein, wenn er seine Freunde auch mal damit fahren lässt, damit sie ihm bestätigen, was für ein geiles Auto das ist. Aber ganz wichtig: Es ist und bleibt sein Auto. Er ist stolz darauf, dass die Freunde sein Auto genauso toll finden, wie er selbst. Der ideelle Wert steigt mit der Begeisterung der anderen über das, was sie selbst nicht besitzen und nur mal ausprobieren durften.
„Sag mal, Al, ist das wirklich eine Fantasie von dir? Dass ich Sex mit einem anderen habe? Würdest du dabei zusehen wollen?“
„Nein, überhaupt nicht! Es war doch nur ein Spiel, Nina. Ich wollte dich herausfordern. Ein wenig in die Enge treiben.“
„Du möchtest wissen, ob ich Lust auf andere Männer habe. Warum fragst du mich nicht direkt?“
„Hast du denn?“
„Wäre das schlimm für dich? Du hast doch auch Lust auf andere Frauen.“
„Ja, schon. Als Fantasie spielt das eine Rolle. Aber mehr als Fantasie muss es auch nicht sein. Mir reicht das vollkommen. Ich kann mir keinen besseren Sex vorstellen als den mit dir. Trotzdem, die Fantasien lassen sich nicht unterdrücken. Die sind einfach da. Ob du irgendwelche Fantasien dieser Art hast, weiß ich allerdings nicht. Das ist schon lange ein blödes Ungleichgewicht zwischen uns, dass du so viel über meine Fantasien weißt, ich aber fast nichts von deinen.“
„Weil ich keine habe“, sage ich und frage mich, ob mit mir irgendwas nicht in Ordnung ist. Dass es zu dem braven Mädchen, das ich immer gewesen bin, einfach nicht passt, sich sowas auszumalen. Klar, ich finde manche Männer, sehr wenige Männer!, interessant, attraktiv. Besonders, wenn ich mich gut mit ihnen unterhalten kann, wenn sie gescheit und witzig sind, Stil haben. Ich schaue auf Hände, ich mag es, wenn ein Mann mich länger ansieht, als es schicklich ist, ich finde intelligente Konversation erotisch. Als wäre ich einem Roman von Jane Austen entsprungen. Bin ich ein antifeministisches Relikt aus der Epoche der romantischen Liebe? Ich stütze meine Ellenbogen auf dem Balkongeländer auf und lege das Kinn in beide Hände. Unten gehen Freddy und Franka vorüber, sie winken uns zu. Mit Freddy würde das nie was werden. Auch nicht mit Franka. Nicht Frankenstein und seine zusammengenähte Braut, eher schon Graf Dracula.
„Ganz ehrlich, Pjotr? Ich habe mir das noch nie konkret vorgestellt. Ich hatte gar nicht das Bedürfnis. Ich glaube auch nicht, dass es für eine Frau ungewöhnlich ist, sich keine konkreten Vorstellungen zu machen, wie es wäre, wenn.“
„Wie es wäre, wenn! Genau das meine ich. Ich verstehe nicht, oder besser, ich kann dir nicht glauben, dass du überhaupt keine Fantasien hast, die andere Menschen betreffen als mich, ob es nun Männer oder Frauen sind. Es fällt mir jedenfalls schwer, das zu glauben.“
„Weil du dann ein schlechtes Gewissen hast, weil du dir, im Unterschied zu mir, so viel vorstellen kannst?“
„Genau. Und weil es eine ganze Menge Frauen gibt, die Fantasien haben.“
„Sagt wer? Freddy? Franka?“
„Nancy Friday, zum Beispiel.“
„Hat die all die Erfahrungsberichte notgeiler Frauen nicht selbst geschrieben?“
„Dann ist zumindest sie der beste Beweis dafür, dass es wenigstens eine Frau mit einer überaus blühenden Phantasie gibt.“
Ich muss Al Recht geben. Ein Exemplar, und wahrscheinlich eine ganze Menge mehr. Soll ich mich deshalb schuldig fühlen? Dass ich keinen Schulaufsatz über meine Fantasien schreiben könnte, wie ich aus wissenschaftlichen Gründen Sex mit einem Gorilla habe, oder mich von unserem Postboten betatschen lasse? Das alles könnte ich mir vorstellen, sehr lebhaft sogar. Aber warum sollte ich das tun?
„Ich habe mir das wirklich nie vorgestellt, Al. Aber jetzt, seit heute, seit eben gerade, kann ich es. Keine Ahnung, was das für die Zukunft bedeutet. Aber eins steht für mich fest: Wenn ich jemals wirklich mit einem anderen Mann schlafen sollte, dann würde ich dir nicht erzählen wollen, was und wie wir es gemacht haben und was ich dabei gefühlt habe. Ich finde, das würde dich nichts angehen. Diese Erfahrung würde ich ganz für mich allein haben wollen.“
Aleksander zündet sich die dritte Zigarette an. „Kann ich verstehen“, sagt er, „genau das ist es, was mir Angst macht. Die ganze Zeit schon.“
„Keine Angst“, sage ich, „ich komme in den nächsten Wochen keinem Mann näher als einsfuffzig.“ Auch keiner Frau. Dabei wäre das ein viel spannenderes Projekt, finde ich. Keine Ahnung, wie das ablaufen würde. Keine Lust, mir das auszumalen. Das überlasse ich Aleksander. Der ist Experte im Fantasieren.
Er hat den Whisky aus der Küche geholt. Er gießt sich ein und hält das Glas prüfend gegen die Abendsonne, die gerade durch die Wolken bricht. „Krasse Farbe, oder?“
ich schreibe Dir aus P. und entschuldige mich, Dir nicht schon früher ein Lebenszeichen von mir zukommen gelassen zu haben. Ich will mir nicht anmaßen, mir vorzustellen, Du habest gelitten oder Dich entsetzlich gesorgt um mich, nachdem ich Dich nach diesem Streit verlassen hatte und – auch für mich unerwartet – einfach nicht mehr zurückgekehrt war. Es ist ja auch denkbar, dass Du nach dem ersten Schrecken, einer etwas länger anhaltenden Verwunderung durchaus so etwas wie Beruhigung oder Zufriedenheit empfunden hast, das Gefühl, nun vielleicht etwas ganz Neues beginnen zu können. Die Kinder sind aus dem Haus (grüße sie von mir!) und möglicherweise hast Du jemanden kennengelernt. Das wäre schön, denn ich werde nicht, wie ich nun sicher bin, zurückkehren. Und ich bitte Dich, mich nicht zu suchen. Denn mir ist hier in P. etwas wahrhaft Wundersames und Einzigartiges begegnet. Du wirst es gewiss nicht für möglich halten. Ich habe hier bald nach meiner Ankunft eine zweite Ausgabe von Dir gefunden, eine richtiggehende Doppelgängerin. Sie spricht wie Du, hat Deine Augen, sogar Dein Lächeln, es ist vielleicht ein wenig frischer und herzlicher als Deines. Sie kleidet sich ganz ähnlich wie Du, hat ganz Deinen Körperbau, wie gesagt, eine perfekte Doppelgängerin bis in die verblüffendsten Details. Zu meiner Schande muss ich gestehen, Dich keinen Moment vermisst zu haben. Vom ersten Augenblick an, als wir uns bei meiner Ankunft auf dem Bahnsteig begegneten, war eine Vertrautheit zwischen uns, dass wir bis vor Kurzem keine Notwendigkeit empfanden, uns gegenseitig über unsere Vergangenheit auszufragen. Noch in derselben Nacht sind wir zusammen in einem Hotelzimmerbett gelandet und sind gefühlte drei Tage nicht mehr da herausgestiegen. Mit nur wenigen Unterbrechungen, so scheint es mir jetzt, haben wir uns geliebt, blieben ineinander verknäuelt, lagen versprengt und nackt im Raum verteilt wie nach Explosionen, schamlos haben wir uns in die Balkontürvorhänge eingedreht und wieder ausgewickelt. Unsere Hände und Münder haben jede Furche, Wölbung, Windung und Öffnung im und am Körper des anderen gefunden, gesogen haben wir aneinander, uns benetzt und wie aufgetrunken, habe mich in ihrem Duft gesuhlt, der Dein Duft war und darum so berauschend. Und – verzeih mir! – berauschend war es wohl auch, weil Du es eben doch NICHT warst, oder nicht sein konntest, weil es DOCH eine andere war.
Weil sie, J., wie ich an jenem Tag erst in P. angekommen war, haben wir uns nun eine gemeinsame Wohnung genommen. Es geht mir gut, ich habe endlich eine Gelassenheit und Leichtigkeit gefunden, die mir so lange – neben Dir – gefehlt hat. Stell Dir vor, wie sie sich eines Abends völlig nackt in das neue, weiche Sofa niederlässt, die Beine lässig auseinanderstellt und so augenscheinlich genießt, wie ich mich erst lange an ihr satt sehe, bevor wir beginnen über Kissen, Tisch und Bänke zu balgen, BEIDE den Moment der endlichen körperlichen Vereinigung lange hinauszögernd. Kannst Du Dir vorstellen, wie gut mir das tut? Ich hatte so lange gedacht und gehofft, auch Dir könnte es guttun, so ganz Dich dem hinzugeben, was eben geschieht, unvorhersehbar in verantwortungsloser Lust.
Aber es ist auch klar, dass dieser Zustand, wie ich ihn mit J. kennengelernt habe, nicht so ohne weiteres andauern kann, also etwas wie eine Normalisierung und Beruhigung beginnen muss, jeden Tag ein wenig mehr. An diesem Wochenende, am Ende meiner ersten Arbeitswoche in einer Großwäscherei (es gibt sie auch hier, nicht nur in Polen!) wollen wir einen ganzen Nachmittag und eine halbe Nacht dafür investieren, nun doch einander von unseren Vorgeschichten zu erzählen. Ich weiß immerhin schon, dass sie ebenso viele Kinder bekommen hat wie wir und dass sie in etwa im gleichen Alter sein müssen wie unsere. Ich erwarte noch mehr solcher Zufälle. Am Ende wird es vielleicht kaum Unterschiede geben und es wird sein, als hätten wir immer zusammengelebt – an irgendeinem entfernten Ort.
Ich wünsche Dir ebenso viel Glück, wie ich es erfahren durfte, und hoffe, dass Dich dieser Brief noch an der alten Adresse erreicht.
Ein unkorrekter Essay über Kommunikation und Diskurstheorie / Lektion für die Schüler eines 13. Jahrgangs, die sich auf das Abitur im Fach Kunst vorbereiten – von André M. Kuhl
„Nur Kommunikation kann kommunizieren“ – dieser Satz des Soziologen Niklas Luhmann klingt absurd. Um ihn angemessen verstehen zu können, müsste man sich in seine Theorie sozialer Systeme vertiefen. Das ist an dieser Stelle nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Trotzdem lassen sich mit Hilfe dieser These manche Phänomene in unserer Medienwelt veranschaulichen.
Ähnlich verhält es sich mit den Begriffen des Diskurses und des Dispositivs, die der Soziologe Michel Foucault in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. Denn mit diesen Begriffen versucht Foucault zu begreifen, wie sich Ideen und insbesondere Ideologien in Gesellschaften verbreiten, ohne dass die Individuen als die vermeintlichen Träger von Ideologien auf diese wesentlichen Einfluss haben. In unserem Fall geht es vorwiegend um die Kommunikation durch Bilder und die Frage, wie Bilder als Mittel der Kommunikation funktionieren.
Luhmann: „Menschen können nicht kommunizieren, nicht einmal Hirne können kommunizieren, nicht einmal das Bewusstsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“ (Niklas Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt? In H.U. Gumbrecht und K.L. Pfeiffer: Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988, S. 884)
Sprache und Kommunikation
Bleiben wir zunächst einmal auf der Ebene der sprachlichen Kommunikation, denn wenn wir von Kommunikation reden, denken wir meistens sofort an Sprache. Auch wenn Kommunikation häufig nonverbal funktioniert, durch Blicke, Gesten, Mimik. Ein Beispiel alltäglicher Kommunikation: Auf dem Weg zum Supermarkt treffe ich Marina. Wir winken uns nonverbal zu, entschließen uns, aufeinander zuzugehen und bleiben (in Zeiten des Virus) in angemessenem Abstand voreinander stehen. Wir lächeln, ich frage Marina, wie es ihr gehe.
„Gut“, sagt sie, „wie es in diesen seltsamen Zeiten einem eben geht. Kaum Kontakte, Skypen macht auch keinen Spaß, man wird noch viel mehr daran erinnert, dass man isoliert ist, wenn man seine Freunde auf dem Display sieht und sie nicht anfassen kann, es gibt kaum etwas zu sagen, also redet man über Corona. Dabei hab‘ ich es echt satt über Corona zu reden. Der Urlaub ist gecancelt, dabei gibt es im Moment nichts, was ich mir lieber wünschen würde, als einfach wegzufahren, irgendwohin. Nach Italien. Ist natürlich Quatsch. Italien! Wieviele Tote haben die mittlerweile?“
„Sind ja vor allem Alte, die sterben“, sage ich, habe aber im selben Moment schon ein schlechtes Gewissen wegen dieser Äußerung. In Amerika soll ein Gouverneur gesagt haben, er riskiere lieber sein eigenes Leben und das seiner Altersgenossen, als durch den Shut-down eine katastrophale Wirtschaftskrise zu provozieren, die langfristig noch mehr Tote fordern würde und die Zukunft der jungen Menschen ruiniere.
Das könnte ich Marina jetzt genau so sagen, schweige aber. Ich habe das Gefühl, ich würde damit noch weniger über meine persönliche Situation mitteilen als mit meiner Frage, wie es Marina gehe. Denn damit habe ich zumindest zum Ausdruck gebracht, dass ich mir Gedanken mache, wie es ihr geht. Aber habe ich mir wirklich Gedanken gemacht? Sorge ich mich wirklich um Marina? Augenscheinlich geht es ihr gut. Meine Begrüßung war eine konventionelle Formel. Das sagt man halt, wenn man jemanden trifft. Nicht schlimm, das ist nur höflich. Wir beide sind es gewohnt, Höflichkeitsfloskeln zu verwenden. Daher könnte sich Marina im Klaren darüber sein, dass ich mir nicht wirklich Sorgen um sie mache. Wahrscheinlich wäre sie auch nicht sehr enttäuscht, wenn ich kurz angebunden bliebe und sagen würde, ich hätte leider gerade keine Zeit für ein Gespräch. Muss dringend Mehl kaufen.
Marina hätte auch anders antworten können, indem sie meine Frage („Wie geht es dir?“) absolut ehrlich beantwortet hätte: „Du fragst mich, wie es mir geht? Ich kann das kaum beschreiben. Je länger der Zustand anhält, desto sinnloser kommt mir mein Leben vor. Ich frage mich, wozu ich noch putze und aufräume. Einerseits bin ich froh, dass ich ein paar Tage Urlaub dazubekommen habe – de facto – weil das Homeoffice im Grunde in ein, zwei Stunden gemacht ist. Weniger, viel weniger Anfragen, Mails und so, die Betriebe sind ja irgendwie alle lahmgelegt, da passiert im Moment nicht viel. Kennst du ja. Ich komme morgens kaum aus dem Bett und abends nicht rein. Eine total depressive Stimmung. Gestern habe ich anderthalb Flaschen Wein geleert. Hat mich aber auch nicht glücklicher gemacht. Im Gegenteil. Und ich sehne mich so sehr danach, mal in den Arm genommen zu werden. Gerne auch mehr, wenn du verstehst, was ich meine. Nicht mal Tinder macht noch Spaß. Sich mit einem Typen verabreden, geht ja nicht mehr.“
Es scheint, als hätte ich eine ganze Menge über Marina und ihre derzeitige Situation erfahren. Aber ist das wirklich so? Ich habe eine Reihe von Sätzen gehört, die mich dazu veranlassen, mich in Marinas Situation der modernen Single-Frau hineinzuversetzen. In meinem Kopf wurden einige einschlägige Assoziationen ausgelöst. Ich sehe sie allein vorm Fernseher sitzen, wie sie Rotwein in großen Schlucken in sich hineinkippt, sehe sie am Morgen in ihrem Bett (beige-graue Bezüge) mit verquollenen Augen und wie sie missmutig auf ihrem Smartphone nach links und rechts wischt. Vielleicht muss ich mir Sorgen machen um Marina. Ich sollte später vielleicht noch einmal mit ihr telefonieren, damit es ihr wieder ein wenig besser geht. Es ist sehr wichtig, dass Menschen „miteinander kommunizieren“. Die Kommunikation, die damit gemeint ist, ist eine Tätigkeit, die Menschen einander bestätigt, nicht allein zu sein, wahrgenommen zu werden und mit ihren Gefühlen anerkannt zu werden. Daher ist es manchmal (oder meistens?) gleichgültig, worüber genau man miteinander redet. Beispielsweise könnte ich Marina auch von meiner Kronkorkensammlung erzählen, mich mit ihr über das Wetter unterhalten, über die Stiefmütterchen, die ich heute Morgen im Vorgarten eingepflanzt habe, egal. Es würde ihr möglicherweise ein wenig besser gehen. Viele Menschen finden emotionale Stabilität, wenn sie mit anderen reden. Streicheleinheiten wären wahrscheinlich noch besser, aber die sind in unserer Kultur weitgehend untersagt, tabu, pfui!, macht man nicht, ist übergriffig, tendenziell Missbrauch usw. (Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung sich besser fühlen, wenn sie zum ersten Mal mit einem Psychotherapeuten reden. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob der wirklich ein Therapeut ist, oder ein Hochstapler, oder nach welcher Methode er therapiert. Allein das Reden hilft – und die Illusion, das werde helfen, weil man es mit einem Profi zu tun hat. „Sie haben gerade von Ihrer Katze geredet. Erzählen Sie mehr über Ihre Katze!“ „Über meine Katze? Gern. Hilft das denn?“ „Hätten Sie Ihre Katze erwähnt, wenn sie in Ihrem Leben keine Rolle spielen würde?“ So ungefähr funktioniert Psychotherapie: Es geht nur darum, den Patienten am Reden zu halten, egal worüber… Nach der dritten Therapiestunde lässt der Effekt allerdings deutlich nach.)
„Stiefmütterchen einpflanzen? Du hast es gut, du hast einen Garten.“
“Aber der Blick aus deinem Wohnzimmerfenster ist unbezahlbar. Du kannst auf die Schlei sehen. Und das bei dem schönen Wetter! Außerdem ist es ja noch nicht verboten, spazieren zu gehen.“
„Stimmt. Wenn ich mich dazu aufraffen könnte.“
„Wir können auch mal zusammen einen Spaziergang machen. Im Abstand von zwei Metern. Und ein bisschen reden.“ Das sage ich, habe aber eigentlich gar keine Lust, mit Marina spazieren zu gehen und mir ihre Tinder-Geschichten anzuhören. Wäre ein Akt der Barmherzigkeit. Außerdem könnte Marina mein Angebot falsch verstehen. Ich will keinesfalls der Ersatz für ihre Tinder-Bekanntschaften sein. Sehe ich da nicht einen gewissen Glanz in ihren Augen?
„Spazieren gehen? Du kannst mich auch mal besuchen kommen. Zwei Menschen dürfen ja immer noch zusammenkommen.“ Sie kichert. „Mit Mundschutz, Gummihandschuhen, also mit Vollschutz gewissermaßen. Komplett eingepackt.“
Safer Sex in Zeiten von Corona, denke ich, und fürchte, dass ich schon wieder zu spät für Klopapier sein werde, wenn ich hier noch länger mit Marina herumstehe. (Ganz nebenbei: Ist Ihnen aufgefallen, dass bei dem Wort bzw. den Wörtern „zusammen“ und „kommen“ für die Bedeutung die Schreibweise extrem wichtig – okay, Sie haben es bemerkt, dann ist ja gut!)
Jetzt ist in Ihrem Kopf so nach und nach ein Bild von mir und Marina entstanden. Vielleicht sehen Sie auch schon Marina vor sich, haben eine Idee davon, wie sie aussieht, wie alt sie ist und in welchem Tonfall sie spricht. Trägt sie Make-up? Haben Sie den Chihuahua bemerkt, der schon die ganze Zeit an ihrer Leine zerrt und an meinem Hosenbein schnüffelt? Ich trage seit einer Woche die gleiche Hose. Wirkt anscheinend anziehend auf das Tier. Die Wörter und Sätze, die Sie bis hierhin gelesen haben, haben dazu geführt, dass Sie eine Vorstellung von der Szene entwickelt haben. Sie haben die Sätze und Wörter „verstanden“. Sie sind bei diesem „Verstehen“ allerdings die ganze Zeit mit Ihren eigenen Assoziationen umgegangen, mit ihren eigenen Erinnerungen und Erfahrungen. Wörter und Sätze können sehr viel Verschiedenes bedeuten. Vielleicht (hoffentlich!) habe ich Sie mit meinen Zeilen ein wenig unterhalten. Man nennt das auch INTERAKTION (im Unterschied zu Kommunikation). Sie haben sich von mir angesprochen gefühlt, fühlen sich persönlich gemeint. Das würde allerdings auch mit einem ganz anderen Thema funktionieren. Ich könnte Ihnen zum Beispiel mitteilen, dass ich mich mit drei Paketen Klopapier und zwanzig Dosen Ravioli im Klo eingesperrt und beschlossen habe, es für zwei Wochen nicht mehr zu verlassen. Dass vor der Tür bereits meine Frau, zwei Feuerwehrmänner und ein Psychiater stehen und seit einer halben Stunde auf mich einreden, ich solle doch endlich rauskommen, sonst bliebe ihnen nichts anderes übrig, als die Tür aufzubrechen. Ich drohe, mit Scheiße zu werfen, falls sie es tun sollten.
Ist das alles schon Kommunikation? Oder nur sprachliche Zuwendung? Haben Sie im Moment des Lesens die gleichen Gedanken im Kopf gehabt wie ich beim Schreiben? Wurden durch meinen Text unsere Hirne synchronisiert? Hoffentlich nicht! Funktioniert auch nicht. Wir denken zwar in Sprache, wir handeln mit den Mitteln der Sprache, aber wir haben keine Möglichkeit, eine eigene Sprache zu entwickeln, mit der wir etwas Neues zum Ausdruck bringen, mit der wir Neues benennen könnten. Unsere Sprache ist ein soziales Instrument. Sie gehört uns nicht als Individuen – eher umgekehrt: Unser sprachlich strukturiertes Wissen determiniert, wie wir uns selbst als Persönlichkeiten definieren. Wir können nur zum Ausdruck bringen, was wir mit der Sprache, die wir gelernt haben, formulieren können. Beim Spracherwerb (vom Säuglingsalter an) kommt die Sprache von außen zu uns, wir erlernen sie und entwickeln einiges Geschick bei ihrer Verwendung. Ich kann mit Sprache handeln und auf Menschen einwirken. Ich kann sagen: „Mach mal das Fenster auf!“ Und mein Sohn macht das Fenster auf. Oder auch nicht. Aber er gibt mir wenigstens zu verstehen, dass er verstanden hat, indem er mir das Schweigeeinhorn zeigt. Meine Handlung ist also nicht wirkungslos gewesen (Stichworte für die weitere Recherche: Interaktion, Sprechakttheorie, die britischen Vertreter der „Ordinary Philosophy“).
Das „Schweigeeinhorn“ – selbst so ein schwieriges Wort verstehen Sie, denn Sie haben das Wort sofort in dem Kontext wahrgenommen, in dem es Ihnen gemeinhin begegnet. Sie haben nicht gedacht: „Warum redet der jetzt von einem schweigenden Einhorn? Außerdem gibt es gar keine Einhörner.“ Sie haben sofort begriffen, dass mein Sohn mir den Mittelfinger (wahlweise Stinkefinger) gezeigt hat, als ich ihn aufforderte, das Fenster zu öffnen. Dabei mieft es in seinem Zimmer ganz furchtbar und es wäre wirklich nötig, dass er endlich mal lüftet und die Pizzakartons in die Papiertonne bringt.
Kontexte
Kontext: Dieser Begriff ist Ihnen schon oft begegnet. Zum Beispiel im Deutschunterricht. Kontext unterscheidet sich von Ihren persönlichen Assoziationen zu bestimmten Wörtern, Sätzen, Bildern und Situationen dadurch, dass Kontext definitionsgemäß das Umfeld ist, in dem ein Wort, ein Text oder ein Bild objektiv auftaucht. Kontext bedeutet, dass (um der Einfachheit halber bei einem Wort zu bleiben) ein Text immer innerhalb eines größeren „Textes“ auftaucht. Jeder Text, jede Äußerung ist eingebettet in einen „Text“ von noch viel größeren Ausmaßen. Der Kontext erklärt uns, wie ein Text oder eine Äußerung zu verstehen ist. Warum „Text“? Der Kontext kann auch ein Ort, eine Umgebung sein, also rein Materielles. Aber wenn Sie diese Materie detailliert beschreiben, haben Sie wieder einen Text. (Beispiel: „Er las ihren Brief, als ihm das Wasser in der Kajüte bereits bis zum Hals stand. Er bemühte sich gar nicht mehr, seine Füße zu befreien, die George mit Kabelbindern …“ usw. Der Kontext der Brieflektüre macht deutlich, welchen Stellenwert der Brief für den todgeweihten Leser gerade hat. Ich wüsste zu gern, was in dem Brief steht. Habe aber gerade keine Zeit, mir das jetzt auch noch auszudenken. Außerdem muss ich noch Mehl und Klopapier kaufen. Schon vergessen?)
„Haben wir uns nicht auch schon auf Tinder getroffen?“ Der Satz hat eine ganz bestimmte Bedeutung, wenn Marina ihn sagt, als wir uns verabschieden und gerade ein bis unters Kinn tätowierter Bandido in frisch eingefetteter Lederjacke einen Einkaufswagen voller Klopapier an uns vorbeischiebt.
„Wie bitte?“
„Na, auf Tinder. Du bist der Typ mit der Perücke und der großen Sonnenbrille. Ich hab‘ dich genau erkannt.“
Der gleiche Satz („Haben wir uns nicht auch schon auf Tinder getroffen?“) hat eine völlig andere Bedeutung, wenn ich ihn zu Marinas Chihuahua sage, nachdem ich mich zu ihm hinunter gehockt und ihm mit dem Finger auf die feuchte Nase gestupst habe. „Du süßer Fratz, du!“
„Mein Schoßhündchen verleihe ich nicht, Alter!“
Pointe verpasst? Siehe da, Marinas Bemerkung ist tatsächlich nicht oder nur halb zu verstehen, wenn man die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Schoßhündchen“ nicht kennt (siehe dazu den Wikipedia-Artikel zu „Schoßhund“!). Kontext eben! In diesem Falle liegt der Kontext im Weltwissen von „Sender“ und „Adressat“. Niemand hat das komplette Weltwissen im Kopf, aber heutzutage haben die meisten Menschen weitreichenden Zugang zum aktuellen Weltwissen. Zum Beispiel über Wikipedia. Sie haben es sich vermutlich nicht nehmen lassen, bei Wikipedia den „Schoßhund“ zu suchen. Und schon haben Sie sich zunutze gemacht, dass in dem Artikel wichtige Begriffe mit eigenen Artikeln verlinkt sind. Daher sind Sie als historisch interessierter Mensch schon beim Artikel über die Renaissance angelangt, oder haben sich für das Fachwort „Cunnilingus“ interessiert. Wikipedia ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie jeder Sachverhalt in verschiedenste Kontexte eingebunden ist. Alles hängt mit allem zusammen.
Wir haben den Kontext (oder zumindest wesentliche Aspekte davon) im Kopf zwar meistens parat und verstehen darum die meisten Äußerungen, „wie sie im Kontext gemeint“ waren. Aber die Kontexte sind eigentlich etwas, was da draußen und nicht in meinem Kopf ist. Allerdings ist das menschliche Gedächtnis sehr leistungsfähig. Man kann sich Dinge merken. Trotzdem, der eigentliche Kontext ist nicht in meinem Kopf, sondern irgendwo in der Wirklichkeit jenseits meiner Hirnwindungen. Wenn ich „Bombe“ in einem Passagierflugzeug sage, ist das Flugzeug der Kontext. Mehr noch: Der Kontext ist die Tatsache, dass es bereits diverse Bombenanschläge oder Anschlagsdrohungen in Verbindung mit Passagierflugzeugen gab. Dass Menschen in Panik geraten können, wenn sie in diesem Kontext das Wort „Bombe“ hören. Zum Kontext gehört auch, dass Menschen, die in Flugzeugen dieses böse Wort gesagt haben, bereits verhaftet und bestraft wurden. Zum Kontext gehört eine Welt, in der Terroristen Anschläge verüben, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Zum Kontext gehört eine Welt, in der Reichtümer ungleich verteilt sind usw. Gewissermaßen kann man den Blick immer weiter ausweiten, wenn man nach den Kontexten sucht. Und man wird wieder einmal feststellen, dass alles mit allem zu tun hat. Trivial.
„Hoffentlich hat niemand eine Bombe in einem Koffer versteckt!“ Diese Aussage ist eigentlich ganz unverfänglich. Nicht böse gemeint. Aber sie kann in dem betreffenden Kontext Panik auslösen. Die Aussage entwickelt – unabhängig davon, was ich gemeint habe – ein Eigenleben, bzw. erhält eine Funktion und eine „Sprengkraft“, die ich nicht beabsichtigt habe. Meine Aussage wird von meinem Umfeld auf eine ganz bestimmte Art und Weise verarbeitet, die mit der Bedeutung der Aussage im Grunde nicht viel zu tun hat. Die Bedeutung wird der Aussage von außen zugewiesen, selbst dann, wenn einige meiner Mitpassagiere wissen oder ahnen, dass ich nur einen Witz machen wollte. Meine Äußerung gehört mir nicht und ich habe keinen Einfluss darauf, dass sie so von meinem Umfeld verwendet wird, wie ich sie gemeint habe.
Corona-Hasen und Kokosnüsse
Mittlerweile weiß jeder, dass man bestimmte Wörter im Flugzeug nicht sagen darf. Schwieriger wird es, wenn man noch nicht weiß, wie das gesellschaftliche Umfeld auf eine Äußerung oder ein Bild reagieren wird, weil die Handlung oder das Bild neu ist. Ein kleverer Unternehmer hat zum Beispiel die Idee gehabt, Corona-Osterhasen zu entwickeln, Schoko-Hasen mit essbarem Mundschutz und einer Klorolle am Gürtel. Hätte witzig sein können, führte aber zu Empörung und massiven Protesten. Die Häschen wurden flugs wieder aus den Regalen geräumt. Waren da wirklich einzelne Menschen empört? Was war der Grund für diese Empörung? Offenbar gibt es eine gesellschaftliche Norm, die sich blitzschnell ausgebreitet hat, die nämlich, dass man über die Corona-Pandemie keine Witze machen darf. Weil Leute sterben. Stimmt wohl, aber es sterben täglich Hunderttausende. Auch zum Beispiel durch herabfallende Kokosnüsse. Durchschnittlich werden jedes Jahr 150 Menschen von herabfallenden Kokosnüssen erschlagen. Findet man irgendwie kurios und amüsant, obwohl die individuellen Schicksale sehr traurig sind. Marinas Ex zum Beispiel ist von einer Kokosnuss erschlagen worden. Nicht im exotischen Ausland, sondern bei einer Weihnachtsfeier. Egon (Name aus Datenschutzgründen geändert) hatte sturzbetrunken mit heruntergelassenen Hosen auf einem Tisch getanzt, während sich zwei andere ebenso betrunkene Hanseln eine Kokosnuss zuwarfen. Hin und her. Immer über Egons Kopf hinweg. Fanden die witzig. Die Nuss fiel einem von ihnen aus der Hand, sie rollte ans andere Ende des Saals, wo ein blonder Bodybuildertyp sie aufhob und einfach nur freundlich sein wollte, als er sie mit Schmackes (wie man im Rheinland sagt) in die lustige Runde zurückwarf. Tragisch das. Aber Sie finden die Geschichte auch irgendwie witzig. Was nichts anderes bedeutet, dass man über lebensgefährliche Kokosnüsse Witze machen kann, nicht aber über eine Bedrohung, die im Prinzip jeden betreffen könnte (mal abgesehen von der Tatsache, dass die Sterblichkeit bei Menschen ohnehin immer noch über 99,9% Prozent liegt. Die Wahrscheinlichkeit, von einer Kokosnuss getroffen zu werden, liegt dagegen bei unter 0,01%. Macht zusammen 100).
Woher das Tabu kommt, lässt sich nicht dadurch erklären, dass viele Menschen es von sich aus geschmacklos finden, Schokohasen mit Mundschutz zu verkaufen. Das Tabu entwickelt sich unabhängig von einzelnen Individuen. Klar, es braucht jemanden, der sagt: „Wie geschmacklos! Das geht gar nicht!“ Kann er sagen. Ich kann ebenso gut sagen, dass Grapefruits aussehen wie Brüste und es sexistisch ist, sie im Supermarkt unbedeckt anzubieten. Mal ganz abgesehen von den Gurken. Würde allerdings niemanden scheren. Warum also müssen die Corona-Hasen dran glauben? Die sollten uns doch nur ein wenig aufheitern! Antwort: Weil wir in einer Zeit leben, in der wir alles richtig machen müssen und nichts mehr selbstverständlich ist (das „Dispositiv“ der politischen Korrektheit). Jede Äußerung, jede Handlung, jedes Bild könnte verdächtig sein und gegen bestimmte Formen des Anstands verstoßen. Für das, was anständig und korrekt ist, gibt es allerdings keine klaren Regeln mehr, bzw. nur die Regel, dass prinzipiell alles unanständig sein kann – je nach Kontext. Leider kann niemand alle Kontexte (qua Fettnäpfchen) überblicken. Wenn also jemand ruft: „Keine Osterhasen mit Mundschutz!“, vermuten sofort eine ganze Menge anderer, es gebe da vielleicht eine neue Anstandsregel und es sei daher nur anständig, die neue Forderung zu unterstützen. Gleichwie: Nicht der eine, der als erster gerufen hat, ist verantwortlich, sondern eine IN DER GESELLSCHAFTLICHEN KOMMUNIKATION verankerte FUNKTION, die eine augenscheinlich moralisch gemeinte Äußerung unter bestimmten Bedingungen mit einem normativen Gewicht belegt, das weitere ähnliche Kommunikationen hervorruft. Die Masse der diesbezüglichen Kommunikationen, die danach zu verzeichnen ist, erzeugt dann eine neue Norm. Ein kommunikativer Staubfänger, an dem alle möglichen Äußerungen kleben bleiben. Ein elektrostatisch aufgeladener Luftballon. Haben Sie sich mal gefragt, warum Staub sich in Ihrer Wohnung (jedenfalls am Boden, auf Parkett oder Laminat oder Fliesen) nicht gleichmäßig verteilt, sondern sich nach einiger Zeit kleinere und größere Staubflocken bilden? Oft sind es Haare, um die sich kleinere Staubpartikel ansammeln. Weil Sie in der Wohnung umhergehen (und gewissermaßen mit der Raumluft interagieren) entstehen teils chaotische Luftzüge, die die kleinen Staubflocken mit anderen kleinen Staubflocken zu größeren Staubflocken zusammenbinden. So ähnlich muss das auch mit Diskursen und Dispositiven sein (mehr dazu weiter unten). #MeToo ist so ein Phänomen, das aus einem einzelnen Hashtag entstanden ist und heute unser kritisches Denken und unser Verhalten entscheidend mitbestimmt. Ein feines Härchen sammelt viele kleine Partikel, noch weitere Haare, noch mehr Staub – bis ein riesiger Ballen daraus geworden ist, den Sie einfach nicht mehr übersehen können. Genauso sammeln sich um den Corona-Hasen aufgrund chaotisch anmutender Interaktionen von Menschen (die Raumluft der Kommunikation) Kommunikationen. (Im Lutherjahr 2017 hat eine Jugendorganisation der evangelischen Kirche im Rheinland eine Kondom-Edition mit dem Lutherwort „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ herausgebracht. Aus nachvollziehbaren Gründen wurden die Kondome gleich wieder eingezogen, als die älteren Kirchenvertreter davon erfuhren. Luther und Sex scheint eine tabuwürdige Kombination zu sein. Die Kirchen haben schon sehr lange ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität. #wollmäuseimkreuzgang)
Interessant daran ist, dass es ab einer kritischen Menge von Kommunikationen nicht mehr darauf ankommt, ob die Kommunikationen für oder gegen Corona-Hasen plädieren, für oder gegen MeToo, für oder gegen Luther-Kondome. Es kommt nur darauf an, dass überhaupt (aufgeregt) darüber geredet wird und Unternehmer, Hersteller und Verkäufer um ihre Umsätze und ihren Ruf zu bangen beginnen. Es könnte sogar sein, dass die Person, die sich als erste über die Corona-Hasen beschwert hat, ihre Äußerung bereut. Es hätte keinen lindernden Effekt, wenn diese Person sagen würde, so habe sie das nicht gemeint, und auch nicht beabsichtigt, dass alle Corona-Hasen verschwinden. Und erinnern uns die Hasen nicht eigentlich daran, dass wir uns weiter schützen müssen? Könnten wir mit diesen Hasen nicht unsere Solidarität mit Ärzt*innen und Pfleger*innen in dieser schweren Zeit bekunden? Egal! Ich jedenfalls habe meinen Teil dazu beigetragen, dass die Debatte um die Corona-Hasen fortgesetzt wird. Und darauf kommt es an. Und auch Sie helfen dieser Debatte weiter auf die Sprünge, wenn Sie jetzt auf Google nach Corona-Hasen suchen. Wieder ein paar Klicks mehr! Die Debatte (oder der Diskurs, oder die Kommunikation) nährt sich von Ihrem Interesse. Sie sind der Wirt von parasitären Kommunikationen, in Ihrem Hirn verbreiten sich sprachliche Viren, die Sie alsbald wieder ausspucken und die dann von anderen Menschen eingeatmet werden. Beim Corona-Virus würden Sie auch nicht sagen, dass er Ihre persönliche Meinung widerspiegelt – nur weil Sie ihn beim Husten verbreiten. Sprachliche Äußerungen und Überzeugungen haben beinahe genauso wenig mit Ihnen persönlich zu tun. Bevor Sie Überzeugungen und Meinungen (eventuell leicht mutiert) in die Welt posaunen, sind sie von anderswo her in Ihren Kopf geflogen.
Diskurse und Dispositive
Was wir hier sehen können, ist ein Beispiel dafür, wie ein kleiner, weitgehend unbedeutender DISKURS entsteht, der sich schließlich zu einem DISPOSITIV (s.o. #wollmaus) verfestigt. Der Diskurs empfiehlt oder legt etwas nahe, das Dispositiv legt fest: „Keine Osterhasen mit einer Konnotation, die auf Tod und Sterben verweisen könnte!“ Also auch keine Osterhasen mit Kokosnuss! Fortan bestimmt das Dispositiv auch die mit ihm zusammenhängenden Diskurse. Diskurs bedeutet: Da reden Leute über ein Thema, sie äußern Meinungen und nutzen dafür mehr oder weniger weitreichende Medien. Ob sich das Thema durchsetzt und künftig immer mehr Menschen über dieses Thema reden, wird sich erst noch erweisen. Niemand kann das vorhersagen. (Das ist wie mit den Aminosäuren in der Ursuppe, diese faszinierenden Molekülketten, die sich zumeist synthetisch herstellen lassen und also gut verstanden sind, schwimmen da rum und aus unerklärlichen Gründen verbinden sich einige von ihnen zu einem Eiweiß. Und aus noch viel unerklärlicheren Gründen haben sich irgendwann bestimmte Eiweißketten zu der ersten lebenden Zelle verbunden. Wirklich! Niemand weiß, warum das geschieht bzw. geschehen ist. Deshalb hat man ein sehr schönes Fremdwort dafür bemüht: EMERGENZ. Emergenz bedeutet, dass in einem autonomen Prozess etwas Größeres aus Einzelteilen entsteht, das kausal nicht mehr auf diese Einzelteile zurückgeführt werden kann. Oder mit anderen Worten: Kein Schwein weiß, wie das passiert ist, aber da ist etwas absolut Neuartiges entstanden! In der Biologie genauso wie in der Kommunikation ist das Ursache-Wirkungs-Prinzip ausgehebelt.) Wenn sich im Laufe zahlreicher Interaktionen das Thema durchgesetzt hat, dann verfestigen sich die Meinungen zu einer Norm, oder sogar zu einer Institution (Schule wäre so ein Beispiel für eine aus Diskursen entstandene Institution, ein Dispositiv, das maßgeblich die Diskurse über das Lernen von Kindern bestimmt). Die Norm legt nicht unbedingt fest, wie sich Menschen konkret zu verhalten haben. Aber sie legt fest, dass sie sich vor dem Hintergrund dieser Norm (und der Gegen-Norm) oder zumindest einer Fragestellung verhalten und ihr Verhalten bzw. Handeln aus diesem Blickwinkel beobachten, kontrollieren und reflektieren müssen. Beispiel: Ich kann durchaus weiter mit meinem SUV fahren. Aber ich kann es nicht mehr tun, ohne indirekt oder direkt zu meinem Verhalten Stellung zu beziehen. Der Diskurs fordert mich auf, über die Klimaerhitzung nachzudenken und meine Nutzung eines SUV im Zusammenhang damit zu betrachten und zu bewerten (sogar mich selbst als Nutzer zu bewerten). Auch wenn ich mich der Meinung derjenigen anschließe, die finden, dass es keine von Menschen gemachte Klimaerwärmung gibt. Oder dass jetzt ohnehin alles zu spät ist und ich mein Leben genießen möchte, solange es währt. Ich kann trotz der herrschenden Diskurse meine eigene Meinung haben. Aber die Diskurse bestimmen über mich in der Hinsicht, als dass ich zu ihnen eine Haltung entwickeln MUSS. Ich kann sie nicht ignorieren. Insofern gibt es für mich als SUV-Fahrer eine Welt, in der die Klimaerhitzung existiert, selbst dann, wenn ich glaube, dass das alles nur Fake-News sind. Die Diskurse und Dispositive sind eine Wirklichkeit, die außerhalb von mir existiert. Ich muss mich an sie anpassen (oder mich gegen sie auflehnen), ich kann sie als Einzelner nicht steuern oder verändern. Es gibt so etwas wie die „Materialität der Kommunikation“. Vielleicht ist es vergleichbar mit der Spekulation an der Börse. Ich kann mit meinen bescheidenen Mitteln Aktien kaufen. Aber mit meinem Kauf kann ich den Aktienhandel nicht zielgerichtet und erfolgreich manipulieren. Wenn ich Milliardär wäre, könnte ich riesige Aktienpakete kaufen. Damit würde ich zwar spürbar Einfluss auf die Aktienkurse ausüben, allerdings könnte ich nicht mit Sicherheit vorhersagen, wie die Reaktionen der Börse auf meine Investitionen aussehen würden. Steigende Kurse? Fallende Kurse? Gewinn oder Verlust? Mit Äußerungen von einzelnen Personen (oder größeren Interessengruppen) ist es ähnlich: Ich „investiere“ mit bestimmten Beiträgen in KOMMUNIKATION, aber ich kann nicht mit Sicherheit vorhersagen, wie die „Kommunikationsbörse“ darauf reagiert. In sozialen Netzwerken gehen hin und wieder bestimmte Beiträge plötzlich und unerwartet „viral“. Niemand kann so etwas planen, auch wenn viele das versuchen. Kann irgendjemand das Phänomen Bianca „Bibi“ Claßen erklären? Wird jedenfalls schwierig.
Gesellschaftliche Wirklichkeit wird maßgeblich durch Kommunikation erzeugt – und durch Kommunikationen aufrecht erhalten. Es ist nicht einmal notwendig, dass Menschen diejenigen sind, die kommunizieren, das können (im Internet) in vielen Fällen auch Bots übernehmen. Die Kommunikation steuert sich selbst, sie besitzt ein faszinierendes wie bedrohliches Eigenleben. Sie verarbeitet nur diejenigen Kommunikationen, die ihrem Selbsterhalt dienen. Unpassende Kommunikationen ignoriert sie. Das Eigenleben der Kommunikation muss nicht unbedingt sinnvoll sein. Wir leben in einer Welt, in der deutlich wird, dass uns die AUTONOMIE der Kommunikation an den Rand des Abgrunds treibt. Das hat damit zu tun, dass es im Grunde genommen nicht DIE Kommunikation gibt, sondern viele verschiedene von einander getrennte KOMMUNIKATIONSSYSTEME. Die Theorie sozialer Systeme, die durch Kommunikation gebildet werden, würde an dieser Stelle zu weit führen. Aber wenn Sie sich vorzustellen versuchen, dass es zum Beispiel ein Politiksystem gibt und ein Wirtschaftssystem und ein Rechtssystem und ein Kunstsystem und viele weitere Systeme mit einer je eigengesetzlichen Kommunikation, dann ahnen Sie vielleicht auch, dass das Wirtschaftssystem nicht von dem Politiksystem ferngesteuert werden kann, und das Politiksystem nicht von einer Bewegung, die „Fridays For Future“ heißt. Und FFF nicht vom Wissenschaftssystem, auch wenn da ein enger Zusammenhang behauptet wird. FFF funktioniert eben nicht wie Wissenschaft. Und die Wissenschaft hat es jahrzehntelang nicht vermocht, die Politik von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass die industriellen Emissionen drastisch reduziert werden müssen. Kommunikation im Politiksystem funktioniert eben anders. Das ist so, weil jedes soziale System eine eigene kommunikative und autonome Sphäre mit eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt hat, die in anderen sozialen Systemen nicht unbedingt gelten. Sogar Politiker verzweifeln daran, dass sie im Politiksystem nicht tun können, was sie wirklich für richtig halten, weil das Politiksystem abweichende Kommunikationen entweder aussortiert oder sanktioniert. Zu kompliziert? Ist es. Sie müssen das nicht verstehen. Aber es lohnt sich, sich mit diesen komplizierten Zusammenhängen zu befassen. Irgendwann.
Bilder
Kommen wir nun zu den Bildern. Auch Bilder stellen Kommunikationen dar. Viele würden vielleicht sagen, sie seien Mittel zur Kommunikation. Dann würde man sie allerdings als Werkzeuge missverstehen, mit denen Menschen miteinander kommunizieren. Aber: „Menschen können nicht kommunizieren […]. Nur Kommunikation kann kommunizieren“. Menschen verarbeiten oder verbreiten Kommunikationen (oder „Kommunikate“, wie manche Wissenschaftler sagen würden). Das Unternehmen bzw. das Lifestyle-Magazin „Fit for Fun“ hat ein Foto veröffentlicht. Es lässt sich daraufhin untersuchen, wie es an Kommunikation beteiligt ist.
Wir sehen sofort, dass die auf dem Foto abgebildeten Personen dabei sind, Sport zu treiben. Wir kennen die entsprechende Funktionskleidung aus anderen Abbildungen, aus Filmen, aus der eigenen sportlichen Praxis, weil wir selbst beim Sport ähnliche Kleidung tragen usw. Wir wissen auch sofort, dass die seltsame Haltung, in der sich die Beiden befinden, eine gymnastische Übung sein muss und kein Begrüßungsritual oder ein Balztanz. Gleich werden sie sich in Bewegung setzen und weiter durch den Wald laufen. Wir wundern uns nicht über das, was wir sehen und fragen uns auch nicht, warum der Hund keine bunte Funktionskleidung trägt. Könnte er ja, der beste Freund des Menschen. Das Bild gehört zu einem Dispositiv, das noch nicht sehr alt ist und das von uns fordert, Sport zu treiben. Vor zweihundert Jahren gab es das in dieser Form noch nicht. Aber es geht nicht nur um Sport. An diesem Bild sind mehrere verschiedene soziale Kommunikationssysteme beteiligt, sie überlagern sich:
Das Gesundheitssystem. Wir müssen uns wegen unserer bewegungsarmen Berufe in unserer Freizeit fit halten. Dann leben wir länger und sind im Beruf verlässlichere Arbeitnehmer, die nicht so häufig krank werden. Kränkliche Arbeitnehmer sind zu teuer.
Insofern spielt hier auch das Wirtschaftssystem eine Rolle. Wegen der gesteigerten Arbeitskraft. Aber auch weil wir Konsumenten von Funktionskleidung sein sollen. Mit dieser Kleidung würden wir keinesfalls in einer Bank arbeiten. Wir brauen beim Sport dringend Funktionskleidung, die deutlich macht, dass das, was wir gerade tun, Sport ist und nichts anderes. Durch unseren Sportdress zeigen wir, dass wir gesund leben und modebewusst sind. Wenn jemand mit Alltagskleidung und Straßenschuhen durch einen Wald rennt oder durch eine Fußgängerzone, dann nehmen wir nicht an, dass diese Person gerade Sport treibt. Dann ist sie vielleicht auf der Flucht – oder verrückt.
Wir lernen auch etwas über Schönheitsideale: Frauen haben lange Haare und einen knackigen Hintern, der in diesem Bild besonders betont wird, denn der Mann streckt seinen Hintern nicht so raus wie die Frau. Sähe auch albern aus, finden Sie nicht? Männer haben Muskeln und dürfen auch etwas kräftiger gebaut sein.
Bewegung in der Natur scheint den Menschen besonders gemäß zu sein. Wir sehen Bäume, Gras und Büsche. Was wir nicht wahrnehmen, ist, dass diese „Natur“ Teil einer künstlich geschaffenen Kulturlandschaft ist. Hier ist sogar der Weg asphaltiert.
Die beiden Menschen könnten ein Paar sein, so wie sie sich berühren. Eine Frau und ein Mann. Wir haben es hier mit dem herrschenden Dispositiv der Heterosexualität zu tun. Warum begrapschen sich hier nicht zwei Männer? Heterosexualität ist eben das „Normale“. Und zu dieser Normalität gehört heutzutage auch, dass man eher mit seinem Hund als mit seinen Kindern draußen herumläuft. Hunde gehören zum perfekten Glück einfach dazu! Mit Kindern geht man auf den Spielplatz oder zur Eisdiele.
Das Bild transportiert alle diese Normen – und wahrscheinlich noch einige mehr. Indem wir selbst Sport treiben und uns die dazu passende Kleidung kaufen (und den passenden Hund), erfüllen wir die Forderungen der zuständigen Dispositive (oder Kommunikationssysteme). Wir eignen uns die Normen an und glauben, wir erfüllten uns damit eigene, sehr persönliche Bedürfnisse. Es mag sein, dass wir das Bedürfnis haben, uns zu bewegen, uns zu verausgaben. Sicher ist das allerdings nicht. Anthropologen bescheinigen den Menschen vermutlich eine ursprünglich ausgeprägte Faulheit. Klar, auf der Jagd mussten die Urmenschen weite Strecken zurücklegen. Aber wenn sie nicht mussten, haben sie es auch gelassen. Über vierzig Kilometer zu rennen, hat nicht mehr viel mit der Natur des Menschen zu tun. Haben Sie schon mal Menschen nach einem Marathon kotzen und zusammenbrechen sehen? Haben Sie mal Boris Becker laufen sehen? Sport kann ziemlich ungesund sein, Leistungssport ist es fast immer. Aber was sage ich da? Mit meinem Urteil, Sport sei ungesund, bediene ich nur wieder das Sport-Dispositiv. Ich teile Meinungen mit, die ich irgendwo mal aufgeschnappt und mir zu eigen gemacht habe. Und es gibt genügend andere, die von den Gesundheitseffekten des Sports erzählen könnten. Ich bestätige mit meinem Beitrag nur, dass Sport ein für die Menschheit wichtiges und unverzichtbares Thema (oder Dispositiv) ist. Ich helfe mit, den Sport als Kommunikationssystem am Leben zu halten. Ich REDE zwar negativ über den Sport, aber ich helfe dem Sport dadurch, weiter im Gespräch zu bleiben und dadurch wichtig zu erscheinen. Selbst wenn ich meinen Fußweg zur Schule als Sport bezeichne, bestätige ich (trotz meiner Verachtung für die Ideologie des Sports), dass Sport ein diskurswürdiges Thema ist. Ich entkomme dem Sport nicht. Selbst wenn ich auf die Frage, ob ich Sport treibe, sage: „No sports!“ und dafür ein ironisches Lächeln ernte und hören muss, dafür sei ich aber ganz schön beweglich, merke ich, dass ich meinen Körper nicht jenseits des Sports denken kann. Ich bin sogar stolz, noch so fit zu sein, OBWOHL ich keinen Sport treibe. Ich kann meinen Körper und mein Wohlbefinden nicht jenseits von Sport denken und beurteilen. Gemessen an meinen Sport treibenden Freunden bin ich vergleichsweise fit. Auch wenn ich bereits nach fünf Kilometern Laufen kotzen müsste und nicht erst nach 42. Kondition ist nicht so mein Ding. Dafür müsste ich schon regelmäßig laufen. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sollte mal wieder Sport treiben.
Exkurs
Seit ich mich bei Instagram angemeldet habe, begegnen mir extrem häufig Bilder von alleinstehenden oder zumindest kinderlosen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die Fotos ihrer Hunde posten. Ich muss zugeben, dass ich Hunde allenfalls aus der Entfernung mag und mir auch zwischendurch vorgestellt habe, wie Marinas Chihuahua von einem SUV geplättet wird. Ich habe kein schlechtes Gewissen bei derlei Fantasien – allerdings ein schlechtes Gewissen, dass ich kein schlechtes Gewissen habe, also eine Art Meta-Schlechtes-Gewissen. Dass „Geistesarbeiter*innen“ offenbar ein Faible für Hunde haben, könnte einerseits an ihrem Beruf liegen, der sie für Hundeliebe (siehe auch: Zoophilie) besonders sensibilisiert. Es könnte aber auch an der wirtschaftlichen Situation liegen, mit der Schriftsteller*innen zu kämpfen haben. Die ist nämlich zumeist äußerst prekär. An Familiengründung ist da oft nicht zu denken. Und wenn man keine Familie gründen kann, ohne den Traum vom eigenen Buch aufzugeben, dann sind oft auch die Liebesbeziehungen anfällig für plötzliche Trennungen. Ein Hund dagegen ist Garant für Zärtlichkeit, Treue und unproblematische „Kommunikation“. Wie bitte? Kann man mit Hunden kommunizieren? Leider nein. Aber wir können mit Hunden INTERAGIEREN. Und das tut vielleicht manchmal gut. Ungefähr so gut, wie mit Marina ein längeres Gespräch zu führen oder mit ihr anderweitig „vollgeschützt“ zu interagieren.
Obst und Gemüse
Apropos Obst und Gemüse: Erinnern Sie sich an mein absurdes Beispiel mit den Grapefruits? Offenbar gar nicht so weit hergeholt. Es gibt eben keine wirklich originellen Ideen. Bis gerade eben wusste ich nicht, dass diese Netto-Werbung existiert (oder hatte es vergessen…). Immerhin habe ich dafür gesorgt, dass Sie Grapefruits nicht mehr anschauen können, ohne dabei an Brüste zu denken (und haben Sie mal original österreichische Germknödel gesehen?).
Sie ahnen es schon: Diese Nettowerbung kam Ende 2019 nicht gut an. Dabei war sie wirklich gut gemeint. Unverpacktes Obst und Gemüse kann durchaus sinnvoll für die Umwelt sein. Glaube ich jedenfalls. Das finden auch viele Verbraucher im Netz. Trotzdem gab es einen regelrechten Shitstorm: „[…] das Stichwort „zeitgemäß“ scheint der Marktingabteilung oder der beauftragten Werbeagentur wohl nicht so viel zu sagen. Anders lässt sich der aktuelle Reklameaufschlag nicht erklären: Da halten junge Frauen Äpfel oder Paprika vor ihre Brüste, da bedecken Männer ihren Penis mit Kopfsalaten und daneben prangt die Zeile „Nackte Tatsache„. Dass die armen Models dabei auch noch völlig entrückt und leicht irre vor sich her grienen, lassen wir mal außer acht“, schreibt der Stern. Und weiter: „Bleibt die Frage: Wer findet im Jahr 2019 eine solche Werbeidee richtig gut? Die User in den sozialen Netzwerken schon mal nicht. Von „Dein Ernst, Netto“ bis zu „sexistischer Kackscheiße“ reicht da die Bandbreite. „Neulich bei #Netto: ‚Wir machen Werbung für unser unverpacktes Gemüse. Ideen?‘ ‚Wir könnten was mit Zwischenebene machen, wie…‘ ‚NE NACKTE!!!!! Wir nehmen ne Nackte, die sich die Hupen mit Gemüse bedeckt!‘ Allgemeines Nicken brandet in donnernden Applaus. Tränen kullern“, kommentiert ein anderer Twitter-User. „Unfassbar, dass so eine Werbung heute noch möglich ist… Für Dich zum mitschreiben Netto-Marken-Discount: Verpackungen reduzieren ja, aber Sexismus nein!“, schreibt ein anderer User. Und eine andere Userin kommentiert: „Ich finde diese Art Werbung sooo unnötig und einfallslos.. Egal ob mit Männlein oder Weiblein.“
Verstehen Sie das? Ich nicht. Aber was wir feststellen können, ist, dass offenbar ein DISPOSITIV entstanden ist, das Nacktheit in Werbung heutzutage grundsätzlich ächtet. Interessant ist, dass die Argumente sogar selbst mit sexistischen und misogynen Aussagen daherkommen dürfen: „Wir nehmen ne Nackte, die sich die Hupen mit Gemüse bedeckt!“ Es ist anzunehmen, dass der betreffende Twitterer gar nichts gegen den Anblick nackter Frauen hat, vielleicht sogar ein eifriger Pornokonsument ist. Aber Werbung scheint eine davon abgetrennte Sphäre zu sein. Und dazu aufgefordert, die Netto-Werbung zu kommentieren, bezieht er dazu Stellung, wie es die Frage („Wer findet die Werbeidee gut?“) nahelegt. Die Frage impliziert nämlich schon die gültige Auffassung, mit Nacktheit dürfe nicht für Produkte geworben werden. Jetzt gilt das auch schon für beide Geschlechter, was man für einen Fortschritt halten könnte.
Der misogyne Kritiker hat vermutlich nicht seine eigene (durch langes Reflektieren erarbeitete) Meinung kundgetan, sondern nur interaktiv, das geltende Dispositiv gestärkt, weil das seiner Meinung nach (???) von ihm erwartet wird. Vermutlich ist er persönlich nicht besonders spießig, aber er leistet mit seinem Kommentar einen Beitrag dazu, unsere Gesellschaft noch ein wenig spießiger zu machen.
2012 – das nur nebenbei – durften Kunden in Süderlügum in einem Supermarkt an einem Tag sogar bis zu einem Preislimit umsonst shoppen, wenn sie „blank zogen“.
Muss ich nicht unbedingt haben, aber schlimm finde ich das auch nicht. Angesichts wirklich sexistischer Werbung ist die Netto-Werbung harmlos und eher niedlich. Offenbar gibt es auch eine gewisse Zahl an Menschen, die gerne mal nackt einkaufen würden. Auch in Museen werden seit längerer Zeit hin und wieder abendliche Nacktführungen angeboten, und das Nacktwandern auf ausgewiesenen Strecken in ausgedehnten Wäldern ist auch schon seit Längerem in Mode.
Der lange währende Kampf von Feministinnen gegen sexistische Werbung hat augenscheinlich Früchte getragen. Was durchaus zu begrüßen ist, wenn man sich einschlägige Beispiele ansieht.
Aber über ein diskursiv erzeugtes Dispositiv hat irgendwann niemand mehr die Kontrolle, es macht sich einfach selbstständig und schüttet sprichwörtlich das „Kind mit dem Bade“ aus. Und es kleidet sich mit dem Etikett eines überindividuell gültigen moralischen Wertes. Es dauert nicht lange, dann reagieren wir alle auf Nacktheit in der Werbung spontan ablehnend und empört. Und wir glauben wirklich, unser spontanes, affektives Urteil komme aus tiefstem Herzen. Und das ist dann auch so. Wir empfinden wirklich diese tiefe Abneigung. Und was ist persönlicher als ein Gefühl?
Die Netto-Werbung ist nur ein sehr harmloses Beispiel. Auf Nacktheit in der Werbung können wir schmerzlos verzichten. Schlimmer wird es, wenn es andere Dispositive und Diskurse sind, die sich in unsere Herzen versenken: Antisemitismus, Ausländerhass, die Überzeugung, dass Greta Thunberg nervt und den Klimawandel übertreibt, sogar lügt, um ein lukratives Geschäftsmodell am Laufen zu halten; Nationalismus, Totalitarismus, Nationalsozialismus. Alle diese Überzeugungen und Ideologien sind kommunikative Phänomene, die nicht oder nur schwer zu bändigen oder kontrollieren sind. Weil sie sich durch Kommunikation gestützt und verstärkt werden. Platt gesagt: Das zur Zeit wieder aufkeimende Dispositiv des Faschismus profitiert sogar noch vom Antifaschismus, weil der Antifaschismus Faschismus thematisiert. Interessanterweise stammt der Begriff des Faschismus sogar von seinen Gegnern.
Das Kommunikationsmodell der Systemtheorie ist problematisch
An dieser Stelle kommen wir zu einem äußerst problematischen Aspekt der Luhmann’schen Systemtheorie. Wenn wir davon ausgehen, dass „nur Kommunikation kommunizieren“ kann, dann sind die einzelnen Individuen in einer Gesellschaft dieser sich verselbständigenden Kommunikation ohnmächtig ausgeliefert. Nicht einmal Kritik hilft. Denn die Kritik Einzelner dürfte schon wieder abhängig von der Sphäre der Kommunikation sein, also selbst schon wieder ideologisch. Kann es da noch objektiv Richtiges und Falsches geben? Lohnt es da überhaupt noch, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu analysieren und Verbesserungsvorschläge zu machen? Die Politik zum Beispiel ist beinahe resistent gegen objektiv sinnvolle Vorschläge, wenn sie nicht zu den Eigengesetzlichkeiten der Politik passen. Ist es nicht zum Verzweifeln, dass Greta Thunbergs Mahnungen und Forderungen beinahe wirkungslos verhallen? Fasst man sich nicht an den Kopf, wenn selbst die Grünen nur 60 Euro für eine Tonne CO2 fordern (vorher sogar nur 30 Euro)? Die Ohnmacht, die wir Tag für Tag erfahren müssen, scheint dem Modell von Luhmann recht zu geben. Aber es ist eben nur ein theoretisches Modell. Genauso wie Foucaults Modell von Diskursen und Dispositiven. Beide Modelle habe ich hier nicht wirklich korrekt wiedergegeben. Schon sie so zu vermischen, wie ich es getan habe, ist eigentlich nicht zulässig. Es zu tun, erschien mir zweckmäßig, dem Zweck geschuldet, über Kommunikation aufzuklären. Wenn wir von den Modellen der Soziologen (Luhmann und Foucault) zu denen der Philosophen wechseln, begegnen wir auch wieder anderen Bildern des Menschen. Viele philosophische Theorien stellen die Freiheit und die Würde des Menschen ins Zentrum. Aus der Perspektive der Philosophie lohnt das Aufbegehren gegen übermächtige Systeme und Ideologien. An erster Stelle steht die Selbstaufklärung der Menschen, wie sie Immanuel Kant gefordert hat. Einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leistet jeder Einzelne, wenn er versucht, die irrationalen Mechanismen der Kommunikation zu analysieren und zu durchschauen – um dann neue Diskurse zu starten. So wie Greta Thunberg.
Mein Doppelgänger schläft mit anderen Frauen. Ich habe keinen Überblick darüber, mit wie vielen Frauen er schon geschlafen hat. Ich frage mich, ob dieser Umstand seinen Geist verändert, ob er womöglich nur noch seinem Antlitz nach mir gleicht, oder gar eine physische Veränderung an ihm festzustellen ist, die ihn mehr und mehr von mir unterscheidet. Seit er damit angefangen hat, entdecke ich eine zunehmende Dreistigkeit bei ihm, eine Risikobereitschaft, die eine für mich beinahe unvorstellbar große Dimension der reinen Unvernunft aufweist.
Es fing damit an, dass er plötzlich großes Vergnügen, ja Genugtuung dabei empfand, Frauen anzustarren, wenn er zum Beispiel in einem Konzert saß und die Stühle über Eck aufgestellt waren, sodass man sich in die Augen blicken konnte. Er ließ seinen Blick durch die Reihen schweifen auf der Suche nach der schönsten, der attraktivsten Frau des Abends. Nicht immer gab es eine, die ihm auf Anhieb gefiel. Zu jung durfte sie nicht sein. Sie musste alt genug sein, erfahren und hinreichend enttäuscht vom Leben, mit einem letzten Funken von Hoffnung, dass sich eine neue Sehnsucht, eine neue Leidenschaft noch einmal, vielleicht ein letztes Mal lohnen würde. Und das sah er, so meinte er, an den Blicken einer Frau. Eines Abends erkannte er unter den Zuhörern eines Konzertes eine Frau, die er schon einmal flüchtig kennengelernt hatte. Während ich zwar nicht weniger als er einen schönen Zeitvertreib darin gesehen hätte, sie zu beobachten, ihr Gesicht zu erkunden, einen flüchtigen Blick zu erhaschen, aber rasch nieder zu blicken, um meine bloß visuellen Bedürfnisse, eine schöne Frau gewissermaßen aus der Ferne abzutasten, nicht preiszugeben und mich ebenso wie sie in Verlegenheit zu bringen, legte er es, von seiner Lust an der Schamlosigkeit übermannt, darauf an, sie seine Blicke spüren zu lassen. Warum sollte sie nicht einmal merken, dass ein Mann sie attraktiv fand? Ich muss gestehen, dass ich nicht selten, wenn mir eine Frau gefiel, kurz darüber nachdachte, wie es wäre, sie zu berühren, ihr mit gespreizten Fingern durchs Haar zu fahren, den Hals zu streicheln und den Nacken, wie es wäre, sie zu entkleiden, sie in Unterwäsche zu sehen, zu fühlen, wie sich ihre Brustwarzen aufrichten, meine Hand zwischen ihre Schenkel gleiten zu lassen, über ihre bebende Scham. Aber das waren immer nur kurze Bilder in meinem Kopf, die mich nicht einmal ernsthaft erregten, weil das größere Gewicht in meinem Kopf die Vorstellung von den Verbindlichkeiten beanspruchte, die Sex mit anderen Frauen für mich darstellen würde. Eine Beziehung, die ich nicht brauchen konnte, ein Glück, oder eine Leidenschaft, die ich nicht suchte. Von beidem hatte ich mehr als genug: Glück und Leidenschaft. Liebe und sexuelle Erfüllung. Das würde ich niemals aufs Spiel setzen für – ja! – für ein Spiel, wie es jetzt mein Doppelgänger mit dieser beinahe zehn Jahre jüngeren Frau zu treiben begann. Ich schämte mich für ihn, schloss die Augen und lauschte der Musik. Er aber genoss, dass die Frau gegenüber bald wahrnahm, wie unverblümt er sie betrachtete. Er wandte den Blick nicht ab, wenn sie zu ihm hinüberblickte, ihm in die Augen schaute, bis sie niederblickte und in ihrem Programmheft zu lesen begann, um nach einiger Zeit zu überprüfen, ob sie noch immer angeschaut wurde. Wenn sie dessen gewiss sein konnte, wandte er seinerseits den Blick ab, ließ ihn wieder über die Reihen der Zuhörer schweifen und fixierte sie erneut, bis sich ihre Blicke wieder trafen.
Als wir uns nach dem Konzert für ein kurzes Gespräch, eigentlich nur eine höfliche Begrüßung gegenüberstanden, sie an der Seite ihres eloquenten Ehemannes, ich an der Seite meiner nicht weniger eloquenten Ehefrau, fühlte ich eine gewisse Erleichterung darüber, dass die größere körperliche Nähe zugleich die Distanz wieder wachsen ließ, die mein Doppelgänger zuvor so schamlos niederzuzwingen versucht hatte. Aber ich konnte doch sehen, wie sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete, so, als könne er die Gewissheit haben, diese Frau bereits bezwungen zu haben.
Eher zufällig traf ich die Frau nur wenige Tage später bei einem Vortrag wieder. Sie hatte sich nur eine Reihe hinter mir einen Platz gesucht und ich bemerkte sie erst spät, nachdem der Vortrag bereits begonnen hatte. Ich wandte mich aus Gewohnheit um, als suchte ich nach bekannten Gesichtern unter den Gästen, obwohl ich gar kein Interesse daran hatte, einen Bekannten oder Freund zu finden. Vielmehr unterwarf ich die anwesenden Frauen einer schnellen Musterung, ob eine unter ihnen mir vielleicht gefiel, mir sympathisch erschien, genau genommen anziehend. Es ist gar nicht leicht zu sagen, was genau ich anziehend finde. Nicht einfach nur den Körper einer Frau, die Statur, das Gesicht. Vielleicht mehr als alles andere spielt der Blick eine Rolle, der Ausdruck von Sehnsucht, der sich hinter Konzentration, Selbstkontrolle und Distanziertheit verbirgt. Frauen also, die dich nicht offenherzig, aufgeschlossen und kontaktfreudig anblicken, sondern verschlossen bleiben. Ich vermute, sie sind das Ziel meiner spontanen Miniatur-Phantasien, weil sie mir einfach nicht gefährlich werden würden. Keine von ihnen würde nach einer Weile auf mich zukommen und fragen, ob ich noch einen Kaffee mit ihr trinken würde, keine mich plötzlich bei der Hand nehmen und sagen: „Komm, lass uns hier verschwinden!“ Solch einer Aufforderung, befürchte ich, wäre ich hilflos ausgeliefert. Ich würde mich von einem Moment auf den anderen in sie verlieben. Mit meiner sicheren Wahl aber kann ich mich ganz unbeeinträchtigt von drohenden Konsequenzen mit den Fragen beschäftigen, die mich wirklich interessieren: Ist sie rasiert? Hoffentlich nicht. Mit welcher Anmut wölbt sich wohl ihr Bauch über der Scham? Mit welcher Hingabe würde sie die Augen verdrehen, wenn ich ihr über die unterm Slip verborgene Klitoris streichen würde? Wie groß wäre ihre Lust? Wie feucht würde sie werden? Wie groß ihre Furcht, mit mir etwas Verbotenes und Unverzeihliches zu tun? Wie lange würde es dauern, bis sie Vertrauen genug hätte, mir ihren schönen, festen Po entgegenzustrecken und die Knie weit auseinander zu stellen? (Meine Hand von unten über den Bauch, die Klitoris, die feuchten Lippen.)
Mehr nicht. Das reicht mir vollkommen aus. Ich möchte sie in Unterwäsche sehen. Sie soll ein wenig Beben in der ängstlichen Ungewissheit und dem Begehren darauf, was ich wohl gleich mit ihr tun werde. Das Haar kräuselt sich an den Nähten vorbei. Und sie verliert ihre Selbstkontrolle, gibt all ihre Distanziertheit auf. Sie möchte, dass ich sie ficke, jetzt sofort. Aber ich lasse sie noch zappeln. Am liebsten wäre es mir, ich könnte sie nur mit meinen Händen zum Orgasmus bringen. Am liebsten wäre es mir, ich müsste gar nichts tun. Am liebsten wäre mir, sie würde einfach nur vor meinen Augen an sich selbst spielen und dabei so feucht werden, dass der Saft aus dem kleinen, süßen Loch herausquillt. Am liebsten wäre ich nur Zuschauer, unbemerkt, ein Voyeur, schwebend über ihrem Bett, gleitend wie ein unsichtbarer Engel durch den Raum, Schauender aus tausend Perspektiven zugleich.
Und aus. Längst sehe ich nicht mehr die schöne Fremde vor mir auf dem Bett, sondern meine eigene, geliebte und begehrte Frau. Und ich freue mich schon darauf, am Abend mit ihr zu schlafen. Sie ist es, die ich wirklich begehre, ihr Körper ist es, in den sich die Körper und Gesichter aller anderen Frauen verwandeln, wenn ich mich ihnen in meinen Phantasien nähere.
„Den Appetit mag man sich anderswo holen, aber gegessen wird zuhause!“ Dies schien meinem Doppelgänger an diesem Tag nicht mehr zu genügen. Während ich mich bemühte, nach dem Vortrag ein wenig Smalltalk mit ihr zu betreiben, wechselte er ganz schnell zum Du, entschuldigte sich scheinheilig, dass er sie einfach geduzt habe, und fragte gleich, ob sie mit dem Wagen gekommen sei, oder er sie vielleicht nach Hause fahren könne. Nach seinen unverschämten Blicken beim Konzert war es kein Wunder, dass sie lieber von ihm gefahren werden wollte, als den Bus zu nehmen. Immerhin überließ er mir während der Fahrt das Gespräch, in dem ich weit ausholte und keine kritische Bemerkung zu dem Thema des Vortrags ausließ. Wie sollte sie da auch nur im Mindesten das Gefühl vermittelt bekommen, ich interessierte mich an irgendetwas anderem als ihrer, wie soll ich sagen, Persönlichkeit.
Die Blicke meines Doppelgängers aber tasteten, soweit es die Verkehrslage zuließ, sämtliche Details ihres Körpers, ihres Gesichtes ab, suchten beständig Widerhall in ihren Augen, ohne zu verbergen, wie sie wieder abschweiften, hinab zu ihren Brüsten unter der sommerlich dünnen Bluse, zu ihrem Schoß. Als wir vor ihrem Haus hielten, hoffte ich, sie würde gleich aussteigen und das peinliche Spiel meines Doppelgängers hätte endlich ein Ende. Aber sie blieb beharrlich sitzen und nahm immer neue Fäden unseres Gespräches auf. Ich lugte unauffällig zu ihrem Haus hinüber, ob sich jemand am Fenster zeigte, eines ihrer Kinder etwa, aber da schien alles ruhig zu sein, leer und aufgeräumt. Was für ein schönes Haus sie habe, sagte ich, um das Thema zu wechseln und sie gedanklich auf das Ende unseres Gespräches vorzubereiten, dass sie ja jetzt zuhause sei und gelegentlich hinter ihrer Haustüre verschwinden sollte. Und aus. Mein Doppelgänger wollte es damit nicht genug sein lassen. Ob ihre Kinder auf sie warteten, wollte er wissen. Diese Frage konnte mir ja noch recht sein, weniger aber ihre Antwort. Der Jüngere sei noch bei einem Freund, der Größere beim Sport. Und weil ich sie gefahren hätte, habe sie jetzt noch ein wenig Zeit für sich gewonnen. Ihr Mann sei ja noch bis zum Abend mit dem Auto unterwegs. Jaja, das hatte sie ja schon früher erwähnt. Das musste sie mir nicht ein weiteres Mal sagen. „Wie schön“, sagte ich freundlich und mit ehrlichem Bemühen, dabei nicht aufdringlich zu klingen. Sie machte noch immer keine Anstalten, mein Auto zu verlassen, also fasste sich mein Doppelgänger ein Herz und fragte Antonia, ob es ihr etwas ausmache, wenn er einmal mit hineinkommen würde, um sich das Haus von innen anzusehen. Er und seine Frau, Respektive meine Frau, hätten in der nächsten Zeit einige Umbauten in unserem Haus vor und er suche nach Inspiration für eine Kombination aus Küche und Wohnraum. Aber gar nicht, sie habe überhaupt nichts dagegen. Und schon hatte sie die Wagentür geöffnet und schob ihren Rock unvermittelt ein wenig herauf, um das rechte Bein besser hinaus setzen zu können.
Ich muss gestehen, dass auch ich durchaus Interesse daran hatte zu sehen, wie sie wohnt, ob die ins Auge springende Ordnung des Vorgartens auch im Innern des Hauses herrschte. Das Schlafzimmer wollte ich sehen, ob etwas darin von lustvollem Beischlaf erzählte, was ich aus irgendeinem Grund für unwahrscheinlich hielt, vielleicht, weil Antonia die Angewohnheit hatte, die Lippen so aufeinander zu pressen, dass sie ganz schmal und blass wurden. Und weil ich mir ihren Mann einfach nicht als guten Liebhaber vorstellen konnte – oder wollte.
In der Küche sprach sie über Koch- und Kuchenrezepte, die sie für eine Internetseite konzipiere, ein kleines Hobby neben ihren wissenschaftlichen Recherchen, die sie aber seit der Geburt der Kinder weitgehend habe zurückstellen müssen. Dabei sah die Küche keineswegs nach kulinarischen Experimenten aus, geradezu unbenutzt, ebenso wie das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, das auch wert wäre, in einer Wohnzeitschrift abgebildet zu werden. Als hätte in diesen weißen Polstern noch nie ein Hintern gesessen, auf dem Fensterglas keine Fliege geschissen. Ich schaute mich anerkennend um, indem ich meine Hände hinterm Rücken verschränkte und nur den Rumpf bald hierhin bald dorthin drehte, den Kopf hob und senkte. Mein Doppelgänger jedoch stiefelte mit großen Schritten durchs Wohnzimmer, drückte beinahe seine Nase an der Terrassentür platt und lobte in überschwänglichen Worten den wunderbar angelegten Garten, schritt zu dem edlen, sachlich-modern gestalteten Kamin, dessen dickes Glas anscheinend nach jedem Gebrauch akribisch gereinigt wurde, ließ die Blicke über die Bücherregale schweifen, um einmal in gespielter Überraschung auszurufen: „Oh, Baudelaire! Les Fleurs du Mal!“, und zeigte im Flur unverhohlenes Interesse an der hölzernen Treppe, die zu den Zimmern im Dachgeschoss führte. Geschmeichelt von seiner Begeisterung und seinem regen Interesse an der „überaus geschmackvollen“ Einrichtung und Komposition der Räume, dieses sichere Gespür für Architektur, das eindeutig eine weibliche Handschrift verrate usw., lud sie ihn ein, auch die übrigen Räume zu besichtigen. So ließen sie mich im Flur des Erdgeschosses zurück, denn ich hatte beschlossen, das Spiel meines Doppelgängers nicht weiter mit zu betreiben. Vielleicht konnte ich ihm ja so doch noch Einhalt gebieten und zu einem baldigen und höflichen Abschied bewegen. Doch genau das scheint mein Fehler gewesen zu sein, ihn nämlich ganz allein mit Antonia hinaufgehen zu lassen, abgespalten von meiner umsichtigen, strengen Kontrolle. Während ich unten wartete, suchte er oben eine Gelegenheit, Antonia näher zu kommen, also die bislang recht große körperliche Distanz drastisch zu reduzieren. Sie öffnete die Tür zum Bad, trat auch gleich hinein, um eilig ein Handtuch vom Boden aufzuheben, das wohl einer ihrer Söhne liegengelassen hatte, doch er folgte ihr nicht, sondern blieb einfach im Türrahmen stehen, seitlich, lugte in die Ecken, lobte die Fliesen, das Design der Waschtische und bewegte sich nicht mehr von der Stelle. Das verunsicherte Antonia sichtlich, die das Bad nun nicht einfach wieder verlassen konnte, ohne sich an ihm vorbeizudrücken. So blieb sie einfach in der Mitte des Raumes stehen und versuchte zu lächeln. „Und das Schlafzimmer?“, fragte er und lächelte seinerseits. Und hob er nicht spitzbübisch die linke Augenbraue? Antonia machte einen zögerlichen Schritt zur Tür hin, aber mein Doppelgänger rührte sich nicht von der Stelle, er drückte sich nur ein wenig gegen den Türrahmen, um anzudeuten, dass er Antonia genug Platz ließ, um sie durchzulassen. Sie senkte den Blick und machte sich daran, die schmale Schleuse zu durchschiffen, aber er fasste sie bei den Hüften und hielt sie fest. Ihr Herz pochte bis in die Halsschlagader hinein. Sie blickte zu ihm hinauf und errötete so schnell, wie er noch nie einen Menschen hatte erröten sehen. „Und das Schlafzimmer?“, fragte er noch einmal und ließ seine rechte Hand langsam von der Hüfte zu ihrem Po gleiten. Und zu dem Saum ihres Rockes.
Ich hätte nun alles haben können, was ich mir in meinen Phantasien manches Mal ausgemalt hatte, in diesen erotischen, blassen Miniaturen. Ich hätte die Stufen hinaufsteigen, mich mit dem begierigen Paar ins Schlafzimmer schleichen und das zärtlich-lustvolle Spiel beäugen können, das mein Doppelgänger da mit Antonia trieb, die sich wie in Atemnot keuchend überall von ihm berühren ließ. Aber ich blieb im kühl gefliesten Flur noch eine Weile stehen, ertrug es jedoch schon bald nicht mehr, mich diesen Geräuschen und Seufzern des Paares weiter auszusetzen und verließ das Haus mit einem leisen Gruß auf den Lippen. Vielleicht ließen sie sich ja ein wenig aufschrecken, wenn die Tür ins Schloss fiel. Ich fuhr heim, zu meiner Frau, meiner geliebten Frau. Erst am nächsten Morgen wusste ich meinen Doppelgänger wieder an meiner Seite.
In Dumpfheit, Irrtum, Sünde immer tiefer Versinken wir mit Seele und mit Leib, Und Reue, diesen lieben Zeitvertreib, Ernähren wir wie Bettler ihr Geziefer.
Schon zwei Tage später war er wieder bei Antonia. Sie ging nicht lang, die Sache mit Antonia. Er nutzte ihre Reue, das schlechte Gewissen, ihre Angst, um sich bald unter der Vorgabe, es reiße ihm das Herz aus der Brust, aber es müsse wohl so sein, von ihr zu verabschieden. Monate später traf er sie ein weiteres Mal. Erneut gab sie sich ihm hin. Nur dieses eine Mal noch, sagte sie. Da hatte er schon mit anderen Frauen geschlafen. Mit Marleen, mit Henrike, davon weiß ich, und wahrscheinlich auch mit Christine. Aber irgendwann wollte ich damit einfach nichts mehr zu tun haben.
Ich mag mein Gesicht nicht, auch nicht meine Stimme. Die Kopfform – der Hinterkopf ist so abgeflacht. Ich tausche meinen Kopf gegen den meines Kollegen. Seine Gesichtszüge sind so sanft, die Haut so glatt, das Lächeln mild. Eine Glatze hat er wie ich, aber sein Kopf ist so über die Maßen schön geformt wie der eines antiken ägyptischen Königs. Zuhause erkennt meine Frau mich natürlich nicht. Ein fremder Mann hat ihr Haus betreten, er hat die Tür mit einem Schlüssel geöffnet. Was tun Sie in meinem Haus? Ich versuche sie zu beruhigen, ich sei doch der, der ich auch zuvor gewesen sei, und wundere mich über den Klang meiner Stimme, tiefer als die meines Kollegen. Meinen Küssen weicht sie aus, sie will mich nicht mehr kennen und spült den Topf, in dem die Tomatensoße gekocht hat. Ich frage, ob sie mich nicht attraktiver finde als vorher. Aber sie will mich nicht kennen, lugt dann doch von unten, von der Seite her, unter ihrer linken Achsel hervor zu mir herüber. Ich streiche mir über die glänzende Glatze. Sie muss so glänzen, wie ich es von meinem Kollegen kenne. So reine Haut. Dabei ist er ganz so alt wie ich. Meine Kinder begrüßen mich wie einen fremden Besucher, neugierig und freundlich. Immerhin duzen sie mich. Meine Frau bittet mich zu gehen, sie erwarte ihren Mann, der gleich nachhause kommen müsse und sie wisse nicht, wie sie ihm erklären solle, dass da ein Mann im Haus sei, der von sich behaupte, ihr Ehemann zu sein. Also gehe ich. Meine Frau braucht Zeit, meine rein äußerliche Veränderung zu begreifen und zu akzeptieren. Wohin aber? Mittlerweile sollte auch mein Kollege in einen Spiegel gesehen und festgestellt haben, dass er nicht mehr seinen, sondern meinen Kopf trägt. Das dürfte ein kleiner Schock für ihn gewesen sein. Als ich seine Wohnung betrete, macht er mir sogleich Vorhaltungen, es könne ja wohl nicht angehen, dass ich mit seinem Kopf herumlaufe. Daran, so entschuldige ich mich scheinheilig, könne ich auch nichts ändern. Ich hätte nicht den blassesten Schimmer, wie es dazu gekommen sei. Ich halte allerdings nicht zurück, dass ich mit meinem neuen Kopf recht zufrieden bin, während mein Kollege über sein neues Aussehen entsetzt ist. Vielleicht, sage ich, wird morgen schon alles sein wie vorher. Er schüttelt nur den Kopf, meinen Kopf, und bettet ihn, Verzweiflung heuchelnd in beide Hände. Vielleicht, sage ich, werden wir uns daran auch mit der Zeit gewöhnen. Daran will ich mich gar nicht gewöhnen, sagt er. Ich streiche ihm tröstend über die Glatze, die glücklicherweise nicht mehr meine ist. Man wird uns nicht mehr erkennen, sagt er, man wird uns verwechseln. Wie kann ich noch ich sein, wenn die anderen mich für dich halten?
Ich gebe dem Kollegen meinen Hausschlüssel. Er zeigt mir das Schlüsselbord in seiner Wohnung. Dort hängt sein Schlüssel. Wir verabschieden uns förmlich. Gebeugt von seinem Schicksal steigt er die Treppen hinab. Dann schließe ich die Tür. Ich rufe noch schnell zuhause an und sage, ich käme bald. Ja, sagt sie, aber wer? Wer kommt? Ein Mann, sage ich, der meinen Kopf trägt. In der Wohnung meines Kollegen finde ich keine alkoholischen Getränke. Bieder scheint mir seine Einrichtung, als habe er lange Zeit mit seiner Mutter hier gewohnt, als habe sie ihm ihre Möbel hinterlassen. Die Bücher sind nicht das, was ich lesen würde, die Filme nicht mein Geschmack. Die Anzüge in seinem Schrank gefallen mir dagegen sehr. Sie sind sehr elegant. Nur werden sie mir nicht passen. Er ist noch deutlich schmaler gebaut als ich. Überhaupt hat er einen viel eleganteren Körperbau. Nackt habe ich ihn noch nicht gesehen. Ich suche in den Schränken nach Fotoalben. In einem der Fotoalben sehe ich meinen Kollegen als Jugendlichen. Er ist ungefähr dreizehn Jahre alt, schlaksig, nass vom Baden und die Schultern rund und glänzend wie Reichsäpfel. Da hatte er noch Haare auf dem Kopf. Seinen Kopf, denke ich, wird meine Frau akzeptieren. Aber auch den Gestus, die Art wie er beim Sprechen mit beinahe adeligem Hochmut seine Stimme hebt und senkt, beinahe schnalzt beim Reden? Wenn er sich für die Nacht entkleidet – wird sie das Brusthaar vermissen? Wird sie nicht sofort bemerken, dass es zwar der richtige Kopf, nicht aber der richtige Körper ist? Die Nacht ist kühl. Als ich die Leiter ans Fenster lege, geht im Zimmer gerade das Licht an. Ich steige hinauf und meine Frau sieht mich durchs Fenster an, zwinkert und legt den Zeigefinger an ihren süßen Mund. Dass ich keinen Laut von mir geben möge. Sonst tritt sie nie mit nackten Brüsten ans Fenster, wenn sie die Vorhänge zuzieht.