Boccaccio 2020 – 06

Die Besucher

Seit gestern haben wir zwei Mitbewohner. Aleksander hat es einfach nicht mehr ausgehalten, auch wenn unsere Wohnung groß genug für uns beide ist. So groß, dass wir uns halbe Tage aus dem Weg gehen können, wenn wir wollen und wir uns dann mehr zufällig in der Küche begegnen, wenn wir uns Kaffee, Tee oder Whisky (Al) holen.

„Hallo, schöne Frau“, sagt Aleksander dann, „kennen wir uns?“

Kann sein, dass wir eine halbe Stunde später im Bett landen. Neuerdings auch auf dem Sofa oder auf dem Teppich. Wir hatten vorher nicht geahnt, wie schön es sein kann, am frühen Nachmittag nackt vorm Balkon in der heißen Frühlingssonne zu liegen. Eine Woche lang haben wir es genossen. Dass unsere Nachbarn von gegenüber haben zusehen können, wie wir uns im Wohnzimmer verknäuelt und gewälzt haben, betrachteten wir schlicht als erotische Gratis-Dienstleistung in Zeiten der Corona-Pest. Allerdings ist unklar, ob unsere Nachbarn wirklich Freude daran haben, uns beim Nachmittagssex und beim textilfreien Sonnenbaden zuzusehen. Wir sind ja nun wirklich nicht mehr die Jüngsten. Viele jüngere Menschen finden Sex zwischen älteren Menschen irgendwie unästhetisch oder sogar eklig. Keine Ahnung warum. (Brad Pitt ist sogar älter als wir. Will ich mich mit Sandra Bullock vergleichen? Mit Annie Sprinkle bestimmt nicht.)

Zwei Wochen ist das gutgegangen. Dann hat Aleksander den Koller gekriegt. Hat sich richtiggehend die Haare gerauft, schon am Vormittag mit Whisky angefangen. Ich habe ihn zu einem Spaziergang überredet, wir haben Freunden zugewunken, die es in der Wohnung auch nicht mehr ausgehalten haben. Wie geht’s, wie steht’s, alles Scheiße das, sowieso, hoffentlich ist’s bald wieder vorbei. Sind das wirklich einsfuffzig Abstand? Heike hat sich übrigens einen Mundschutz aus einer alten geblümten Unterhose genäht. Sagt sie nicht, sehe ich aber. Ist von Tchibo, hab‘ die gleiche zuhause.

„Hübscher Mundschutz!“

„Gelle?“

Ich muss an Monatsblutungen und die Putzlappen meiner Mutter denken (aufgetragene Unterhosen). Keine Ahnung, woran Aleksander denkt. Eben noch hat er geklagt, er könne die nächsten drei Monate keine Freunde besuchen, und jetzt starrt er Löcher in die Luft und kann es anscheinend kaum abwarten, dass Heike und Ralf endlich Leine ziehen.

Jetzt, wo wir so unendlich viel Zeit haben, haben wir einfach keine Energie, auch nur irgendwas anzufangen. Zum Beispiel die verschimmelten Kartons aus dem Keller räumen. Wohin auch damit? Man könnte sie nicht mal zur Müllkippe fahren. Oder endlich das Bad streichen und die Lampe aufhängen, die wir vor einem halben Jahr gekauft haben. Oder einen Roman schreiben, oder die Autobiografie, Gedichte, Aphorismen. Oder wir machen einen Film.

„Am besten einen Pornofilm“, meint Aleksander.

„Du musst es immer gleich übertreiben“, sage ich. Und dann funktioniert der Akku in der Kamera nicht mehr.

„Wir machen Nacktfotos in der Küche“, sagt Aleksander, „mit deinem Handy. Deins ist besser als meins.“

„Warum ausgerechnet in der Küche?“

„Wegen der Lebensmittel, und weil die Küche die Lebensmitte ist, und weil unsere nackten Körper mittelalt und mittelschön sind und wir in der Küche mitten im Leben sind.“

Ich habe diesen Spontanvortrag mit meinem Handy aufgenommen, und auch, wie Aleksander währenddessen angefangen hat, sich auszuziehen, den Kühlschrank geöffnet und seine Klamotten hineingestopft hat. Im Gemüsefach ist noch Platz gewesen. Könnte ich auf Instagram veröffentlichen, wenn es für Al nicht extrem kompromittierend wäre.

„Nacktsein“, sagt Aleksander, „ist der letzte verzweifelte Ausdruck der Ohnmacht.“

Ich kann gerade noch verhindern, dass Aleksander nackt auf den Balkon geht, um aus dem dritten Stock auf den Bürgersteig zu pinkeln. Unwahrscheinlich, dass gerade jemand daherläuft, trotzdem. Aleksander schließt sich beleidigt in seinem Zimmer ein und sagt, er werde den Rest des Tages Pornos schauen und wolle bis morgen nicht gestört werden. Eine halbe Stunde später holt er sich den Whisky aus der Küche, viertelvoll. Er meint, damit werde er bis morgen nicht auskommen. Als er vom Einkauf zurückkommt, hat er gleich zwei Flaschen mitgebracht und das Toastbrot und die Zucchini und den Schafskäse vergessen. Dann holen wir den Beamer aus dem Schrank und schauen „West Side Story“, weil wir denken, das ist was fürs Herz. Der Film ist aber nur unerträglich lang und lächerlich. Wie hat das nur passieren können, dass der Film in den wenigen Jahren, seit wir ihn das letzte Mal gesehen haben, so sehr gealtert ist? Wir sind nicht bloß sozial isoliert, wir sind auch kulturell isoliert, sitzen in einer Dekontaminationsschleuse fest. Das Alte gilt nicht mehr und das Neue ist noch nicht da. Wir schauen „Shortbus“ von John Cameron Mitchell, aber auch da entstehen immer wieder Momente des Fremdschämens, weil das alles dann doch auf befremdliche Weise spießig bleibt. Irgendwie unbeholfenes Geficke. Der Beischlaf als Kalauer. War alles andere als spießig, als der Film im Jahr 2006 rauskam (spaßig schon!). Aber wir, heute, die Menschen von 2020, wir sind entrückt, isoliert, eingeschlossen, ohnmächtig. Nicht mal Nacktsein in der Küche macht noch Spaß. Es ist zum Verzweifeln. Genauer: Aleksander verzweifelt. Und ich verzweifle ein wenig mit. Aus Solidarität. Und suche nach einer Lösung, wie ich ihm helfen kann.

Die Idee kommt mir in der Nacht, als ich von Aleksanders Whisky-Fahne aufwache und nicht mehr einschlafen kann, weil ich mir vorstelle, wie wir nach und nach dem Suff verfallen. Aleksander aus Überzeugung und ich aus Solidarität. Wenn wir uns da draußen nicht mehr mit unseren Freunden treffen können und auch nicht in die Oper oder zu einer Ausstellungseröffnung gehen dürfen, wo wir wildfremde Leute ansprechen könnten, wie wir es mindestens einmal im Monat zu tun pflegen, müssen wir uns eben jemanden ins Haus holen, in die Wohnung. Irgendjemand, der immun ist und es mit uns aushält und wir mit ihm.

Am nächsten Morgen kommt Aleksander verkatert in die Küche. Ich gieße ihm statt Kaffee Whisky in ein Glas, schiebe es zu ihm rüber und sage: „Wundere dich nicht, wir haben Besuch.“

Aleksander wundert sich natürlich trotzdem. „Besuch?“ Er kneift ein Auge zusammen. „Eine Katze? Eine flügellahme Amsel? Eine Monsterassel? Erwin, der Marienkäfer?“

„Schlimmer“, sage ich, „der Typ trinkt deinen Whisky. Hat sich hier einfach eingenistet, hab ihn letzte Nacht aus Mitleid reingelassen, es gleich wieder bereut, aber bin ihn nicht wieder losgeworden. Manfred sitzt jetzt im Wohnzimmer und arbeitet sich in Unterhosen durch unsere DVD-Sammlung.“

Aleksander nimmt meine Tasse und kippt sich den kalten Kaffee hinter die Binde. Endlich eine echte Herausforderung! Aleksander hat sich innerhalb einer halben Stunde, nein, weniger, mit Freddy, wie er ihn kurzerhand nennt, angefreundet. Er berichtet beinahe im Minutentakt, was Freddy wieder angestellt oder gesagt hat. Freddy hat aufs Sofa gekackt, Freddy hat gesagt, Gott sei zwar tot, habe sich aber zur Sicherheit einfrieren lassen, falls jemand in Zukunft was erfindet, womit man die Toten wieder zum Leben erwecken kann. Eine ganze Menge Unsinn halt. Aleksander erlaubt ihm fast alles, was er sich selbst versagt oder ich ihm verbiete. Zum Beispiel pinkelt Freddy wirklich vom Balkon und trifft unsere Vermieterin, die im gleichen Haus wohnt, auf den Kopf. Ich finde ziemlich albern, was Freddy alles tut. Und Aleksander verliert auch bald den Spaß an Freddy. Er sperrt ihn kurzerhand splitterfasernackt auf den Balkon und lässt ihn frieren, bis er ganz blaue Lippen bekommt. Währenddessen denkt Aleksander nach, wofür Freddy sonst noch gut sein könnte. Als Gesprächspartner taugt er dann doch nicht. Es geht halt nichts über mich als Partnerin für spannende Diskussionen.

In der folgenden Nacht weckt mich Aleksander. Er meint, Freddy fehle eine angemessene Partnerin. Die Sache werde viel spannender werden, wenn Freddy nicht mehr das einzige virtuelle Wesen in unserer Wohnung wäre.

„Frieda?“, frage ich. „Bist du sicher, dass Frieda nicht noch viel mehr Unruhe in unser Leben bringen würde?“ Eben! Unruhe, gerade das ist der Zweck. Weiß ich doch! Ist immerhin alles meine Idee gewesen? Ob es auch eine gute Idee war, muss sich erst noch erweisen, das mit Freddy und seiner Braut, Frankensteins Braut. „Wir nennen sie Franka“, sage ich, „Frieda ist ihre Schwester. Die kommt erst dazu, wenn uns zu Franka nichts mehr einfällt.“ Aleksander ist einverstanden.

Kaum eine Stunde später sitzen wir auf dem Sofa und Al dirigiert Freddy und Franka in die unterschiedlichsten Positionen aus Aleksanders Kamasutra-Handbuch. Was uns beiden nicht mal in der Grundstellung überzeugend gelingt, erledigen Freddy und Franka anfangs mit Bravour, den Brückenpfeiler, Frosch, Zange und Affe. Bis Aleksander unbedingt selbst noch kreativ werden möchte. Frankas rechter großer Zeh flutscht jetzt in Freddys Po, während sie mit dem anderen Fuß Freddys Ohr krault und mit der Zungenspitze seine Eichel bepinselt. In dieser Stellung darf sich Freddy von Franka voll und ganz verwöhnen lassen. Die einzige Herausforderung für ihn: Die Waage machen, was in diesem Fall heißt, mit dem linken Bein knien, das rechte Bein nach hinten ausstrecken, beide Arme nach vorn, der Blick folgt der linken Hand, Schulterblätter auseinander, Becken waagerecht. Die beiden werden immer mehr zu Schlangenmenschen. Franka faltet sich in eine Schublade und Freddy rutscht als Schatten seiner selbst unter den Teppich. Endlich wieder allein!

„Es macht keinen Spaß, wenn sie keinen eigenen Willen haben. Ich bin doch kein Sklaventreiber“, sagt Aleksander.

Ich gebe ihm recht und bin für ein paar Minuten ratlos. Dann kehre ich das Spiel um.

„Du, Pjotr, Lieber, Franka hat mir, ganz im Vertrauen, gesagt, was sie von deinen Kleidungsstil hält. Gar nichts nämlich. Wieso soll Al nicht in seiner alten, fleckigen, beuligen Jogginghose durch die Wohnung laufen, sage ich, sieht ihn ja keiner. Naja, außer dir und Freddy. Sagt sie: Wenn man sich in so einer Situation derart gehen lässt, wird man entweder depressiv oder irre.“

„Depressiv oder irre?“

„Franka meint, auf dich treffe beides zu. Sie findet, wir sollten uns füreinander schick machen, hübsch, adrett. Außerdem kommt ihre Schwester zu Besuch, da will sie sich für uns nicht schämen müssen. Ich glaube, am ehesten hat sie Probleme mit deiner Jogginghose.“

„Das soll Franka gesagt haben? Das soll sie mir selbst sagen.“

Ich schüttele den Kopf und erkläre Aleksander das Spiel: Was einmal gesagt wurde, ist gesagt, das lässt sich nicht mehr revidieren, das müssen alle hinnehmen und respektieren. Die Regel lautet: Angebote akzeptieren!

Aleksander zieht eine Schnute, verschwindet im Schlafzimmer und kehrt in Anzughose und Sakko zurück. „Ungebügeltes Hemd macht nix, oder?“

Ich zucke die Schultern. „Musst du Franka fragen. Oder Freddy. Wo steckt der überhaupt?“

„Sitzt auf’m Klo, hat krassen Durchfall.“

„Du immer mit deinen Fäkalideen. Gab es Störungen in deiner analen Phase? Du bist eklig!“

„Nicht ich, Freddy. Den kriegst du die nächsten zwei Stunden nicht mehr vom Pott runter. Vielleicht kann dir ja Franka ein interessantes Angebot machen, falls du mal pinkeln musst. Das Klo ist jedenfalls für die nächsten zwei Stunden blockiert.“

Zwei Möglichkeiten: Ich klingle gegenüber bei Rainer und frage ihn, ob ich trotz Corona sein Klo benutzen kann, oder ich suche mir einen geeigneten Behälter, der sich für die Zwischenlagerung ausgeschiedener Körperflüssigkeiten eignet. Oder ich versuche, zwei Stunden lang einzuhalten. Ich beschließe, ein größeres Durchhaltevermögen zu besitzen als gewöhnlich und ziehe mir was Schickes für Friedas Besuch an.

„Es hat geklingelt“, sagt Al.

„Frieda?“

„Der Postbote. Sagt Franka.“

Ich nehme das Paket wortlos entgegen. „Ein Paket“, rufe ich in die Küche.

„Pack es aus! Was ist drin?“

„Eine Zeitmaschine.“

„Echt jetzt?“

„Damit kann ich die Zeit um zwei Stunden vorstellen.“

„Das ist unfair. Ein mieser Trick.“ Aleksander steht mit heruntergelassenen Hosen in der Küche. Er hat in eine leere Whiskyflasche gepinkelt und blickt mich entgeistert an. „Ich hatte mir gerade einen super Vorsprung erarbeitet.“

Und ich gehe erst mal aufs Klo, bevor es wieder auf unbestimmte Zeit besetzt ist. Al gesellt sich zu mir, setzt sich auf den Badewannenrand und schaut mir bei meinen Verrichtungen zu. „Weißt du“, sagt er, „dieses Spiel könnte auch richtig in die Hose gehen. Wenn es mal nicht bloß um Quatsch geht, sondern um die haarigen Dinge.“ Er muss lachen, weil er mir gerade auf die Muschi starrt, während ich aufstehe.

„Du meinst nicht diese haarige Sache.“ Ich ziehe den Slip hoch und schiebe das enge Kleid über Po und Beine.

„Wenn es um Dinge geht, die man sich sonst nicht zu sagen traut.“

„Gibt es irgendwas, das du dich nicht zu sagen traust?“

„Oder zu fragen wagst.“

Fragen wie: Wer von uns beiden sollte zuerst sterben? Wenn du mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen würdest – welche wesentlichen anderen Entscheidungen würdest du treffen? Und würde ich dabei eine Rolle spielen? So existentielle Dinge? Was wäre, wenn wir Kinder bekommen hätten?

„Sowas. Zum Beispiel hat Freddy gesagt, dass du mit ihm letzte Nacht geschlafen hast. Ich finde ich habe ein gewisses Anrecht darauf, von dir zu erfahren, wie der Sex mit Freddy gewesen ist. Du musst es nicht erzählen, aber ich fände es nur gerecht.“

„Und du und Franka?“

„Was soll gewesen sein? Wird das jetzt eine billige Retourkutsche?“

„Du willst wissen, wie es für mich mit Freddy gewesen ist? Oder überhaupt mit anderen Männern? Oder wie ich mir vorstelle, dass es sein würde.“

„Sein würde? Du hast. Sagt Freddy. Das ist das Spiel.“

„Aber das hat dir Freddy doch schon alles bis ins kleinste Detail erzählt.“

„Stimmt, aber ich möchte wissen, wie es für dich gewesen ist.“ Aleksander greift in seine Jacketttasche. Es ist Zeit für eine Zigarette auf dem Balkon. Es ist kühl dort, der Wind kommt jetzt wieder von Nordwest, der Himmel ist bedeckt.

„Pass auf, jetzt kommt der doppelte Rittberger! Ich kann dich ja nicht zum Reden bringen, wenn dir dabei nicht Franka oder Freddy im Nacken sitzen. Also …“ Al saugt an seiner Zigarette, bläst den Rauch aus, der sofort durch die offene Balkontür in die Wohnung zieht, und blickt in die Ferne. „Franka hat ja alles mit angesehen, das, was du und Freddy, was ihr beide da gemacht habt. Sie hat hat dich zur Rede gestellt, hat sie mir gesagt, und dir das Versprechen abgenommen, dass du es mir erzählst. Und zwar alles.“ Al zwinkert mir zu, aber sein Lächeln wirkt recht bemüht. Ist das der Moment, wo aus dem Spiel Ernst wird?

„Und das hast du dich die ganze Zeit nicht zu fragen getraut? Wie ich mir Sex mit einem anderen Mann vorstelle?“

Aleksander meint es ernst. Er will das wirklich wissen, ich bin mir sicher. Oder er verbindet einen besonderen erotischen Reiz damit, wenn ich vor ihm meine promiskuitiven Fantasien ausbreite. Hab‘ ich die überhaupt? Mal Lust auf einen anderen Mann? Oder eine Frau? Kann schon sein. Aber ich würde es mir nie im Vorhinein ausmalen. Bloß genießen, wenn es passieren würde. So, wie Al sich das vorstellt, funktioniert meine Fantasie einfach nicht. Bei Männern scheint das grundlegend anders zu sein. Aleksander hat sich vermutlich schon häufiger ausgemalt, wie er mich mit einem anderen Mann beim Sex beobachtet, eifersüchtig und erregt zugleich. Wie ich ihm sprichwörtlich Hörner aufsetze. Was interessiert ihn daran? Das Cuckolding ist, wie mir scheint, ein typisches Männerding. Wenn sie die Liebhaber ihrer Frauen nicht ermorden, was früher Standard war, verfallen die Männer ins andere Extrem und ziehen einen besonderen Lustgewinn daraus, der eigenen Frau beim Geschlechtsakt mit einem anderen zuzusehen. Wer soll das verstehen? Oder bin ich einfach zu antiquiert, um das verstehen zu können? Mal ganz nüchtern betrachtet, könnte ich darin auch einen kulturellen Fortschritt sehen. Die neuen Männer betrachten die Frauen, mit denen sie zusammenleben, nicht mehr als ihr Eigentum. Sie gestehen ihren Frauen großzügig außerehelichen Sex zu. Nein, so wird kein Schuh daraus. Das ist noch immer ein patriarchales Programm, ungefähr so, als würde sich Al einen Lamborghini kaufen, aber erst so richtig glücklich damit sein, wenn er seine Freunde auch mal damit fahren lässt, damit sie ihm bestätigen, was für ein geiles Auto das ist. Aber ganz wichtig: Es ist und bleibt sein Auto. Er ist stolz darauf, dass die Freunde sein Auto genauso toll finden, wie er selbst. Der ideelle Wert steigt mit der Begeisterung der anderen über das, was sie selbst nicht besitzen und nur mal ausprobieren durften.

„Sag mal, Al, ist das wirklich eine Fantasie von dir? Dass ich Sex mit einem anderen habe? Würdest du dabei zusehen wollen?“

„Nein, überhaupt nicht! Es war doch nur ein Spiel, Nina. Ich wollte dich herausfordern. Ein wenig in die Enge treiben.“

„Du möchtest wissen, ob ich Lust auf andere Männer habe. Warum fragst du mich nicht direkt?“

„Hast du denn?“

„Wäre das schlimm für dich? Du hast doch auch Lust auf andere Frauen.“

„Ja, schon. Als Fantasie spielt das eine Rolle. Aber mehr als Fantasie muss es auch nicht sein. Mir reicht das vollkommen. Ich kann mir keinen besseren Sex vorstellen als den mit dir. Trotzdem, die Fantasien lassen sich nicht unterdrücken. Die sind einfach da. Ob du irgendwelche Fantasien dieser Art hast, weiß ich allerdings nicht. Das ist schon lange ein blödes Ungleichgewicht zwischen uns, dass du so viel über meine Fantasien weißt, ich aber fast nichts von deinen.“

„Weil ich keine habe“, sage ich und frage mich, ob mit mir irgendwas nicht in Ordnung ist. Dass es zu dem braven Mädchen, das ich immer gewesen bin, einfach nicht passt, sich sowas auszumalen. Klar, ich finde manche Männer, sehr wenige Männer!, interessant, attraktiv. Besonders, wenn ich mich gut mit ihnen unterhalten kann, wenn sie gescheit und witzig sind, Stil haben. Ich schaue auf Hände, ich mag es, wenn ein Mann mich länger ansieht, als es schicklich ist, ich finde intelligente Konversation erotisch. Als wäre ich einem Roman von Jane Austen entsprungen. Bin ich ein antifeministisches Relikt aus der Epoche der romantischen Liebe? Ich stütze meine Ellenbogen auf dem Balkongeländer auf und lege das Kinn in beide Hände. Unten gehen Freddy und Franka vorüber, sie winken uns zu. Mit Freddy würde das nie was werden. Auch nicht mit Franka. Nicht Frankenstein und seine zusammengenähte Braut, eher schon Graf Dracula.

„Ganz ehrlich, Pjotr? Ich habe mir das noch nie konkret vorgestellt. Ich hatte gar nicht das Bedürfnis. Ich glaube auch nicht, dass es für eine Frau ungewöhnlich ist, sich keine konkreten Vorstellungen zu machen, wie es wäre, wenn.“

„Wie es wäre, wenn! Genau das meine ich. Ich verstehe nicht, oder besser, ich kann dir nicht glauben, dass du überhaupt keine Fantasien hast, die andere Menschen betreffen als mich, ob es nun Männer oder Frauen sind. Es fällt mir jedenfalls schwer, das zu glauben.“

„Weil du dann ein schlechtes Gewissen hast, weil du dir, im Unterschied zu mir, so viel vorstellen kannst?“

„Genau. Und weil es eine ganze Menge Frauen gibt, die Fantasien haben.“

„Sagt wer? Freddy? Franka?“

„Nancy Friday, zum Beispiel.“

„Hat die all die Erfahrungsberichte notgeiler Frauen nicht selbst geschrieben?“

„Dann ist zumindest sie der beste Beweis dafür, dass es wenigstens eine Frau mit einer überaus blühenden Phantasie gibt.“

Ich muss Al Recht geben. Ein Exemplar, und wahrscheinlich eine ganze Menge mehr. Soll ich mich deshalb schuldig fühlen? Dass ich keinen Schulaufsatz über meine Fantasien schreiben könnte, wie ich aus wissenschaftlichen Gründen Sex mit einem Gorilla habe, oder mich von unserem Postboten betatschen lasse? Das alles könnte ich mir vorstellen, sehr lebhaft sogar. Aber warum sollte ich das tun?

„Ich habe mir das wirklich nie vorgestellt, Al. Aber jetzt, seit heute, seit eben gerade, kann ich es. Keine Ahnung, was das für die Zukunft bedeutet. Aber eins steht für mich fest: Wenn ich jemals wirklich mit einem anderen Mann schlafen sollte, dann würde ich dir nicht erzählen wollen, was und wie wir es gemacht haben und was ich dabei gefühlt habe. Ich finde, das würde dich nichts angehen. Diese Erfahrung würde ich ganz für mich allein haben wollen.“

Aleksander zündet sich die dritte Zigarette an. „Kann ich verstehen“, sagt er, „genau das ist es, was mir Angst macht. Die ganze Zeit schon.“

„Keine Angst“, sage ich, „ich komme in den nächsten Wochen keinem Mann näher als einsfuffzig.“ Auch keiner Frau. Dabei wäre das ein viel spannenderes Projekt, finde ich. Keine Ahnung, wie das ablaufen würde. Keine Lust, mir das auszumalen. Das überlasse ich Aleksander. Der ist Experte im Fantasieren.

Er hat den Whisky aus der Küche geholt. Er gießt sich ein und hält das Glas prüfend gegen die Abendsonne, die gerade durch die Wolken bricht. „Krasse Farbe, oder?“

„Bisserl trüb, findest du nicht?“

Boccaccio 2020 – 05

Der Brief

Liebe M.,

ich schreibe Dir aus P. und entschuldige mich, Dir nicht schon früher ein Lebenszeichen von mir zukommen gelassen zu haben. Ich will mir nicht anmaßen, mir vorzustellen, Du habest gelitten oder Dich entsetzlich gesorgt um mich, nachdem ich Dich nach diesem Streit verlassen hatte und – auch für mich unerwartet – einfach nicht mehr zurückgekehrt war. Es ist ja auch denkbar, dass Du nach dem ersten Schrecken, einer etwas länger anhaltenden Verwunderung durchaus so etwas wie Beruhigung oder Zufriedenheit empfunden hast, das Gefühl, nun vielleicht etwas ganz Neues beginnen zu können. Die Kinder sind aus dem Haus (grüße sie von mir!) und möglicherweise hast Du jemanden kennengelernt. Das wäre schön, denn ich werde nicht, wie ich nun sicher bin, zurückkehren. Und ich bitte Dich, mich nicht zu suchen. Denn mir ist hier in P. etwas wahrhaft Wundersames und Einzigartiges begegnet. Du wirst es gewiss nicht für möglich halten. Ich habe hier bald nach meiner Ankunft eine zweite Ausgabe von Dir gefunden, eine richtiggehende Doppelgängerin. Sie spricht wie Du, hat Deine Augen, sogar Dein Lächeln, es ist vielleicht ein wenig frischer und herzlicher als Deines. Sie kleidet sich ganz ähnlich wie Du, hat ganz Deinen Körperbau, wie gesagt, eine perfekte Doppelgängerin bis in die verblüffendsten Details. Zu meiner Schande muss ich gestehen, Dich keinen Moment vermisst zu haben. Vom ersten Augenblick an, als wir uns bei meiner Ankunft auf dem Bahnsteig begegneten, war eine Vertrautheit zwischen uns, dass wir bis vor Kurzem keine Notwendigkeit empfanden, uns gegenseitig über unsere Vergangenheit auszufragen. Noch in derselben Nacht sind wir zusammen in einem Hotelzimmerbett gelandet und sind gefühlte drei Tage nicht mehr da herausgestiegen. Mit nur wenigen Unterbrechungen, so scheint es mir jetzt, haben wir uns geliebt, blieben ineinander verknäuelt, lagen versprengt und nackt im Raum verteilt wie nach Explosionen, schamlos haben wir uns in die Balkontürvorhänge eingedreht und wieder ausgewickelt. Unsere Hände und Münder haben jede Furche, Wölbung, Windung und Öffnung im und am Körper des anderen gefunden, gesogen haben wir aneinander, uns benetzt und wie aufgetrunken, habe mich in ihrem Duft gesuhlt, der Dein Duft war und darum so berauschend. Und – verzeih mir! – berauschend war es wohl auch, weil Du es eben doch NICHT warst, oder nicht sein konntest, weil es DOCH eine andere war.

Weil sie, J., wie ich an jenem Tag erst in P. angekommen war, haben wir uns nun eine gemeinsame Wohnung genommen. Es geht mir gut, ich habe endlich eine Gelassenheit und Leichtigkeit gefunden, die mir so lange – neben Dir – gefehlt hat. Stell Dir vor, wie sie sich eines Abends völlig nackt in das neue, weiche Sofa niederlässt, die Beine lässig auseinanderstellt und so augenscheinlich genießt, wie ich mich erst lange an ihr satt sehe, bevor wir beginnen über Kissen, Tisch und Bänke zu balgen, BEIDE den Moment der endlichen körperlichen Vereinigung lange hinauszögernd. Kannst Du Dir vorstellen, wie gut mir das tut? Ich hatte so lange gedacht und gehofft, auch Dir könnte es guttun, so ganz Dich dem hinzugeben, was eben geschieht, unvorhersehbar in verantwortungsloser Lust.

Aber es ist auch klar, dass dieser Zustand, wie ich ihn mit J. kennengelernt habe, nicht so ohne weiteres andauern kann, also etwas wie eine Normalisierung und Beruhigung beginnen muss, jeden Tag ein wenig mehr. An diesem Wochenende, am Ende meiner ersten Arbeitswoche in einer Großwäscherei (es gibt sie auch hier, nicht nur in Polen!) wollen wir einen ganzen Nachmittag und eine halbe Nacht dafür investieren, nun doch einander von unseren Vorgeschichten zu erzählen. Ich weiß immerhin schon, dass sie ebenso viele Kinder bekommen hat wie wir und dass sie in etwa im gleichen Alter sein müssen wie unsere. Ich erwarte noch mehr solcher Zufälle. Am Ende wird es vielleicht kaum Unterschiede geben und es wird sein, als hätten wir immer zusammengelebt – an irgendeinem entfernten Ort.

Ich wünsche Dir ebenso viel Glück, wie ich es erfahren durfte, und hoffe, dass Dich dieser Brief noch an der alten Adresse erreicht.

Dein F.

Boccaccio 2020 – 04

Doppelgänger von Aleksander P. Nekrasov

Mein Doppelgänger schläft mit anderen Frauen. Ich habe keinen Überblick darüber, mit wie vielen Frauen er schon geschlafen hat. Ich frage mich, ob dieser Umstand seinen Geist verändert, ob er womöglich nur noch seinem Antlitz nach mir gleicht, oder gar eine physische Veränderung an ihm festzustellen ist, die ihn mehr und mehr von mir unterscheidet. Seit er damit angefangen hat, entdecke ich eine zunehmende Dreistigkeit bei ihm, eine Risikobereitschaft, die eine für mich beinahe unvorstellbar große Dimension der reinen Unvernunft aufweist.

Es fing damit an, dass er plötzlich großes Vergnügen, ja Genugtuung dabei empfand, Frauen anzustarren, wenn er zum Beispiel in einem Konzert saß und die Stühle über Eck aufgestellt waren, sodass man sich in die Augen blicken konnte. Er ließ seinen Blick durch die Reihen schweifen auf der Suche nach der schönsten, der attraktivsten Frau des Abends. Nicht immer gab es eine, die ihm auf Anhieb gefiel. Zu jung durfte sie nicht sein. Sie musste alt genug sein, erfahren und hinreichend enttäuscht vom Leben, mit einem letzten Funken von Hoffnung, dass sich eine neue Sehnsucht, eine neue Leidenschaft noch einmal, vielleicht ein letztes Mal lohnen würde. Und das sah er, so meinte er, an den Blicken einer Frau. Eines Abends erkannte er unter den Zuhörern eines Konzertes eine Frau, die er schon einmal flüchtig kennengelernt hatte. Während ich zwar nicht weniger als er einen schönen Zeitvertreib darin gesehen hätte, sie zu beobachten, ihr Gesicht zu erkunden, einen flüchtigen Blick zu erhaschen, aber rasch nieder zu blicken, um meine bloß visuellen Bedürfnisse, eine schöne Frau gewissermaßen aus der Ferne abzutasten, nicht preiszugeben und mich ebenso wie sie in Verlegenheit zu bringen, legte er es, von seiner Lust an der Schamlosigkeit übermannt, darauf an, sie seine Blicke spüren zu lassen. Warum sollte sie nicht einmal merken, dass ein Mann sie attraktiv fand? Ich muss gestehen, dass ich nicht selten, wenn mir eine Frau gefiel, kurz darüber nachdachte, wie es wäre, sie zu berühren, ihr mit gespreizten Fingern durchs Haar zu fahren, den Hals zu streicheln und den Nacken, wie es wäre, sie zu entkleiden, sie in Unterwäsche zu sehen, zu fühlen, wie sich ihre Brustwarzen aufrichten, meine Hand zwischen ihre Schenkel gleiten zu lassen, über ihre bebende Scham. Aber das waren immer nur kurze Bilder in meinem Kopf, die mich nicht einmal ernsthaft erregten, weil das größere Gewicht in meinem Kopf die Vorstellung von den Verbindlichkeiten beanspruchte, die Sex mit anderen Frauen für mich darstellen würde. Eine Beziehung, die ich nicht brauchen konnte, ein Glück, oder eine Leidenschaft, die ich nicht suchte. Von beidem hatte ich mehr als genug: Glück und Leidenschaft. Liebe und sexuelle Erfüllung. Das würde ich niemals aufs Spiel setzen für – ja! – für ein Spiel, wie es jetzt mein Doppelgänger mit dieser beinahe zehn Jahre jüngeren Frau zu treiben begann. Ich schämte mich für ihn, schloss die Augen und lauschte der Musik. Er aber genoss, dass die Frau gegenüber bald wahrnahm, wie unverblümt er sie betrachtete. Er wandte den Blick nicht ab, wenn sie zu ihm hinüberblickte, ihm in die Augen schaute, bis sie niederblickte und in ihrem Programmheft zu lesen begann, um nach einiger Zeit zu überprüfen, ob sie noch immer angeschaut wurde. Wenn sie dessen gewiss sein konnte, wandte er seinerseits den Blick ab, ließ ihn wieder über die Reihen der Zuhörer schweifen und fixierte sie erneut, bis sich ihre Blicke wieder trafen.

Als wir uns nach dem Konzert für ein kurzes Gespräch, eigentlich nur eine höfliche Begrüßung gegenüberstanden, sie an der Seite ihres eloquenten Ehemannes, ich an der Seite meiner nicht weniger eloquenten Ehefrau, fühlte ich eine gewisse Erleichterung darüber, dass die größere körperliche Nähe zugleich die Distanz wieder wachsen ließ, die mein Doppelgänger zuvor so schamlos niederzuzwingen versucht hatte. Aber ich konnte doch sehen, wie sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete, so, als könne er die Gewissheit haben, diese Frau bereits bezwungen zu haben.

Eher zufällig traf ich die Frau nur wenige Tage später bei einem Vortrag wieder. Sie hatte sich nur eine Reihe hinter mir einen Platz gesucht und ich bemerkte sie erst spät, nachdem der Vortrag bereits begonnen hatte. Ich wandte mich aus Gewohnheit um, als suchte ich nach bekannten Gesichtern unter den Gästen, obwohl ich gar kein Interesse daran hatte, einen Bekannten oder Freund zu finden. Vielmehr unterwarf ich die anwesenden Frauen einer schnellen Musterung, ob eine unter ihnen mir vielleicht gefiel, mir sympathisch erschien, genau genommen anziehend. Es ist gar nicht leicht zu sagen, was genau ich anziehend finde. Nicht einfach nur den Körper einer Frau, die Statur, das Gesicht. Vielleicht mehr als alles andere spielt der Blick eine Rolle, der Ausdruck von Sehnsucht, der sich hinter Konzentration, Selbstkontrolle und Distanziertheit verbirgt. Frauen also, die dich nicht offenherzig, aufgeschlossen und kontaktfreudig anblicken, sondern verschlossen bleiben. Ich vermute, sie sind das Ziel meiner spontanen Miniatur-Phantasien, weil sie mir einfach nicht gefährlich werden würden. Keine von ihnen würde nach einer Weile auf mich zukommen und fragen, ob ich noch einen Kaffee mit ihr trinken würde, keine mich plötzlich bei der Hand nehmen und sagen: „Komm, lass uns hier verschwinden!“ Solch einer Aufforderung, befürchte ich, wäre ich hilflos ausgeliefert. Ich würde mich von einem Moment auf den anderen in sie verlieben. Mit meiner sicheren Wahl aber kann ich mich ganz unbeeinträchtigt von drohenden Konsequenzen mit den Fragen beschäftigen, die mich wirklich interessieren: Ist sie rasiert? Hoffentlich nicht. Mit welcher Anmut wölbt sich wohl ihr Bauch über der Scham? Mit welcher Hingabe würde sie die Augen verdrehen, wenn ich ihr über die unterm Slip verborgene Klitoris streichen würde? Wie groß wäre ihre Lust? Wie feucht würde sie werden? Wie groß ihre Furcht, mit mir etwas Verbotenes und Unverzeihliches zu tun? Wie lange würde es dauern, bis sie Vertrauen genug hätte, mir ihren schönen, festen Po entgegenzustrecken und die Knie weit auseinander zu stellen? (Meine Hand von unten über den Bauch, die Klitoris, die feuchten Lippen.)

Mehr nicht. Das reicht mir vollkommen aus. Ich möchte sie in Unterwäsche sehen. Sie soll ein wenig Beben in der ängstlichen Ungewissheit und dem Begehren darauf, was ich wohl gleich mit ihr tun werde. Das Haar kräuselt sich an den Nähten vorbei. Und sie verliert ihre Selbstkontrolle, gibt all ihre Distanziertheit auf. Sie möchte, dass ich sie ficke, jetzt sofort. Aber ich lasse sie noch zappeln. Am liebsten wäre es mir, ich könnte sie nur mit meinen Händen zum Orgasmus bringen. Am liebsten wäre es mir, ich müsste gar nichts tun. Am liebsten wäre mir, sie würde einfach nur vor meinen Augen an sich selbst spielen und dabei so feucht werden, dass der Saft aus dem kleinen, süßen Loch herausquillt. Am liebsten wäre ich nur Zuschauer, unbemerkt, ein Voyeur, schwebend über ihrem Bett, gleitend wie ein unsichtbarer Engel durch den Raum, Schauender aus tausend Perspektiven zugleich.

Und aus. Längst sehe ich nicht mehr die schöne Fremde vor mir auf dem Bett, sondern meine eigene, geliebte und begehrte Frau. Und ich freue mich schon darauf, am Abend mit ihr zu schlafen. Sie ist es, die ich wirklich begehre, ihr Körper ist es, in den sich die Körper und Gesichter aller anderen Frauen verwandeln, wenn ich mich ihnen in meinen Phantasien nähere.

„Den Appetit mag man sich anderswo holen, aber gegessen wird zuhause!“ Dies schien meinem Doppelgänger an diesem Tag nicht mehr zu genügen. Während ich mich bemühte, nach dem Vortrag ein wenig Smalltalk mit ihr zu betreiben, wechselte er ganz schnell zum Du, entschuldigte sich scheinheilig, dass er sie einfach geduzt habe, und fragte gleich, ob sie mit dem Wagen gekommen sei, oder er sie vielleicht nach Hause fahren könne. Nach seinen unverschämten Blicken beim Konzert war es kein Wunder, dass sie lieber von ihm gefahren werden wollte, als den Bus zu nehmen. Immerhin überließ er mir während der Fahrt das Gespräch, in dem ich weit ausholte und keine kritische Bemerkung zu dem Thema des Vortrags ausließ. Wie sollte sie da auch nur im Mindesten das Gefühl vermittelt bekommen, ich interessierte mich an irgendetwas anderem als ihrer, wie soll ich sagen, Persönlichkeit.

Die Blicke meines Doppelgängers aber tasteten, soweit es die Verkehrslage zuließ, sämtliche Details ihres Körpers, ihres Gesichtes ab, suchten beständig Widerhall in ihren Augen, ohne zu verbergen, wie sie wieder abschweiften, hinab zu ihren Brüsten unter der sommerlich dünnen Bluse, zu ihrem Schoß. Als wir vor ihrem Haus hielten, hoffte ich, sie würde gleich aussteigen und das peinliche Spiel meines Doppelgängers hätte endlich ein Ende. Aber sie blieb beharrlich sitzen und nahm immer neue Fäden unseres Gespräches auf. Ich lugte unauffällig zu ihrem Haus hinüber, ob sich jemand am Fenster zeigte, eines ihrer Kinder etwa, aber da schien alles ruhig zu sein, leer und aufgeräumt. Was für ein schönes Haus sie habe, sagte ich, um das Thema zu wechseln und sie gedanklich auf das Ende unseres Gespräches vorzubereiten, dass sie ja jetzt zuhause sei und gelegentlich hinter ihrer Haustüre verschwinden sollte. Und aus. Mein Doppelgänger wollte es damit nicht genug sein lassen. Ob ihre Kinder auf sie warteten, wollte er wissen. Diese Frage konnte mir ja noch recht sein, weniger aber ihre Antwort. Der Jüngere sei noch bei einem Freund, der Größere beim Sport. Und weil ich sie gefahren hätte, habe sie jetzt noch ein wenig Zeit für sich gewonnen. Ihr Mann sei ja noch bis zum Abend mit dem Auto unterwegs. Jaja, das hatte sie ja schon früher erwähnt. Das musste sie mir nicht ein weiteres Mal sagen. „Wie schön“, sagte ich freundlich und mit ehrlichem Bemühen, dabei nicht aufdringlich zu klingen. Sie machte noch immer keine Anstalten, mein Auto zu verlassen, also fasste sich mein Doppelgänger ein Herz und fragte Antonia, ob es ihr etwas ausmache, wenn er einmal mit hineinkommen würde, um sich das Haus von innen anzusehen. Er und seine Frau, Respektive meine Frau, hätten in der nächsten Zeit einige Umbauten in unserem Haus vor und er suche nach Inspiration für eine Kombination aus Küche und Wohnraum. Aber gar nicht, sie habe überhaupt nichts dagegen. Und schon hatte sie die Wagentür geöffnet und schob ihren Rock unvermittelt ein wenig herauf, um das rechte Bein besser hinaus setzen zu können.

Ich muss gestehen, dass auch ich durchaus Interesse daran hatte zu sehen, wie sie wohnt, ob die ins Auge springende Ordnung des Vorgartens auch im Innern des Hauses herrschte. Das Schlafzimmer wollte ich sehen, ob etwas darin von lustvollem Beischlaf erzählte, was ich aus irgendeinem Grund für unwahrscheinlich hielt, vielleicht, weil Antonia die Angewohnheit hatte, die Lippen so aufeinander zu pressen, dass sie ganz schmal und blass wurden. Und weil ich mir ihren Mann einfach nicht als guten Liebhaber vorstellen konnte – oder wollte.

In der Küche sprach sie über Koch- und Kuchenrezepte, die sie für eine Internetseite konzipiere, ein kleines Hobby neben ihren wissenschaftlichen Recherchen, die sie aber seit der Geburt der Kinder weitgehend habe zurückstellen müssen. Dabei sah die Küche keineswegs nach kulinarischen Experimenten aus, geradezu unbenutzt, ebenso wie das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, das auch wert wäre, in einer Wohnzeitschrift abgebildet zu werden. Als hätte in diesen weißen Polstern noch nie ein Hintern gesessen, auf dem Fensterglas keine Fliege geschissen. Ich schaute mich anerkennend um, indem ich meine Hände hinterm Rücken verschränkte und nur den Rumpf bald hierhin bald dorthin drehte, den Kopf hob und senkte. Mein Doppelgänger jedoch stiefelte mit großen Schritten durchs Wohnzimmer, drückte beinahe seine Nase an der Terrassentür platt und lobte in überschwänglichen Worten den wunderbar angelegten Garten, schritt zu dem edlen, sachlich-modern gestalteten Kamin, dessen dickes Glas anscheinend nach jedem Gebrauch akribisch gereinigt wurde, ließ die Blicke über die Bücherregale schweifen, um einmal in gespielter Überraschung auszurufen: „Oh, Baudelaire! Les Fleurs du Mal!“, und zeigte im Flur unverhohlenes Interesse an der hölzernen Treppe, die zu den Zimmern im Dachgeschoss führte. Geschmeichelt von seiner Begeisterung und seinem regen Interesse an der „überaus geschmackvollen“ Einrichtung und Komposition der Räume, dieses sichere Gespür für Architektur, das eindeutig eine weibliche Handschrift verrate usw., lud sie ihn ein, auch die übrigen Räume zu besichtigen. So ließen sie mich im Flur des Erdgeschosses zurück, denn ich hatte beschlossen, das Spiel meines Doppelgängers nicht weiter mit zu betreiben. Vielleicht konnte ich ihm ja so doch noch Einhalt gebieten und zu einem baldigen und höflichen Abschied bewegen. Doch genau das scheint mein Fehler gewesen zu sein, ihn nämlich ganz allein mit Antonia hinaufgehen zu lassen, abgespalten von meiner umsichtigen, strengen Kontrolle. Während ich unten wartete, suchte er oben eine Gelegenheit, Antonia näher zu kommen, also die bislang recht große körperliche Distanz drastisch zu reduzieren. Sie öffnete die Tür zum Bad, trat auch gleich hinein, um eilig ein Handtuch vom Boden aufzuheben, das wohl einer ihrer Söhne liegengelassen hatte, doch er folgte ihr nicht, sondern blieb einfach im Türrahmen stehen, seitlich, lugte in die Ecken, lobte die Fliesen, das Design der Waschtische und bewegte sich nicht mehr von der Stelle. Das verunsicherte Antonia sichtlich, die das Bad nun nicht einfach wieder verlassen konnte, ohne sich an ihm vorbeizudrücken. So blieb sie einfach in der Mitte des Raumes stehen und versuchte zu lächeln. „Und das Schlafzimmer?“, fragte er und lächelte seinerseits. Und hob er nicht spitzbübisch die linke Augenbraue? Antonia machte einen zögerlichen Schritt zur Tür hin, aber mein Doppelgänger rührte sich nicht von der Stelle, er drückte sich nur ein wenig gegen den Türrahmen, um anzudeuten, dass er Antonia genug Platz ließ, um sie durchzulassen. Sie senkte den Blick und machte sich daran, die schmale Schleuse zu durchschiffen, aber er fasste sie bei den Hüften und hielt sie fest. Ihr Herz pochte bis in die Halsschlagader hinein. Sie blickte zu ihm hinauf und errötete so schnell, wie er noch nie einen Menschen hatte erröten sehen. „Und das Schlafzimmer?“, fragte er noch einmal und ließ seine rechte Hand langsam von der Hüfte zu ihrem Po gleiten. Und zu dem Saum ihres Rockes.

Ich hätte nun alles haben können, was ich mir in meinen Phantasien manches Mal ausgemalt hatte, in diesen erotischen, blassen Miniaturen. Ich hätte die Stufen hinaufsteigen, mich mit dem begierigen Paar ins Schlafzimmer schleichen und das zärtlich-lustvolle Spiel beäugen können, das mein Doppelgänger da mit Antonia trieb, die sich wie in Atemnot keuchend überall von ihm berühren ließ. Aber ich blieb im kühl gefliesten Flur noch eine Weile stehen, ertrug es jedoch schon bald nicht mehr, mich diesen Geräuschen und Seufzern des Paares weiter auszusetzen und verließ das Haus mit einem leisen Gruß auf den Lippen. Vielleicht ließen sie sich ja ein wenig aufschrecken, wenn die Tür ins Schloss fiel. Ich fuhr heim, zu meiner Frau, meiner geliebten Frau. Erst am nächsten Morgen wusste ich meinen Doppelgänger wieder an meiner Seite.

In Dumpfheit, Irrtum, Sünde immer tiefer
Versinken wir mit Seele und mit Leib,
Und Reue, diesen lieben Zeitvertreib,
Ernähren wir wie Bettler ihr Geziefer.

Schon zwei Tage später war er wieder bei Antonia. Sie ging nicht lang, die Sache mit Antonia. Er nutzte ihre Reue, das schlechte Gewissen, ihre Angst, um sich bald unter der Vorgabe, es reiße ihm das Herz aus der Brust, aber es müsse wohl so sein, von ihr zu verabschieden. Monate später traf er sie ein weiteres Mal. Erneut gab sie sich ihm hin. Nur dieses eine Mal noch, sagte sie. Da hatte er schon mit anderen Frauen geschlafen. Mit Marleen, mit Henrike, davon weiß ich, und wahrscheinlich auch mit Christine. Aber irgendwann wollte ich damit einfach nichts mehr zu tun haben.

Boccaccio 2020 – 03

Der Tausch von Thomas Holtzmann

Ich mag mein Gesicht nicht, auch nicht meine Stimme. Die Kopfform – der Hinterkopf ist so abgeflacht. Ich tausche meinen Kopf gegen den meines Kollegen. Seine Gesichtszüge sind so sanft, die Haut so glatt, das Lächeln mild. Eine Glatze hat er wie ich, aber sein Kopf ist so über die Maßen schön geformt wie der eines antiken ägyptischen Königs. Zuhause erkennt meine Frau mich natürlich nicht. Ein fremder Mann hat ihr Haus betreten, er hat die Tür mit einem Schlüssel geöffnet. Was tun Sie in meinem Haus? Ich versuche sie zu beruhigen, ich sei doch der, der ich auch zuvor gewesen sei, und wundere mich über den Klang meiner Stimme, tiefer als die meines Kollegen. Meinen Küssen weicht sie aus, sie will mich nicht mehr kennen und spült den Topf, in dem die Tomatensoße gekocht hat. Ich frage, ob sie mich nicht attraktiver finde als vorher. Aber sie will mich nicht kennen, lugt dann doch von unten, von der Seite her, unter ihrer linken Achsel hervor zu mir herüber. Ich streiche mir über die glänzende Glatze. Sie muss so glänzen, wie ich es von meinem Kollegen kenne. So reine Haut. Dabei ist er ganz so alt wie ich. Meine Kinder begrüßen mich wie einen fremden Besucher, neugierig und freundlich. Immerhin duzen sie mich. Meine Frau bittet mich zu gehen, sie erwarte ihren Mann, der gleich nachhause kommen müsse und sie wisse nicht, wie sie ihm erklären solle, dass da ein Mann im Haus sei, der von sich behaupte, ihr Ehemann zu sein. Also gehe ich. Meine Frau braucht Zeit, meine rein äußerliche Veränderung zu begreifen und zu akzeptieren. Wohin aber? Mittlerweile sollte auch mein Kollege in einen Spiegel gesehen und festgestellt haben, dass er nicht mehr seinen, sondern meinen Kopf trägt. Das dürfte ein kleiner Schock für ihn gewesen sein. Als ich seine Wohnung betrete, macht er mir sogleich Vorhaltungen, es könne ja wohl nicht angehen, dass ich mit seinem Kopf herumlaufe. Daran, so entschuldige ich mich scheinheilig, könne ich auch nichts ändern. Ich hätte nicht den blassesten Schimmer, wie es dazu gekommen sei. Ich halte allerdings nicht zurück, dass ich mit meinem neuen Kopf recht zufrieden bin, während mein Kollege über sein neues Aussehen entsetzt ist. Vielleicht, sage ich, wird morgen schon alles sein wie vorher. Er schüttelt nur den Kopf, meinen Kopf, und bettet ihn, Verzweiflung heuchelnd in beide Hände. Vielleicht, sage ich, werden wir uns daran auch mit der Zeit gewöhnen. Daran will ich mich gar nicht gewöhnen, sagt er. Ich streiche ihm tröstend über die Glatze, die glücklicherweise nicht mehr meine ist. Man wird uns nicht mehr erkennen, sagt er, man wird uns verwechseln. Wie kann ich noch ich sein, wenn die anderen mich für dich halten?

Ich gebe dem Kollegen meinen Hausschlüssel. Er zeigt mir das Schlüsselbord in seiner Wohnung. Dort hängt sein Schlüssel. Wir verabschieden uns förmlich. Gebeugt von seinem Schicksal steigt er die Treppen hinab. Dann schließe ich die Tür. Ich rufe noch schnell zuhause an und sage, ich käme bald. Ja, sagt sie, aber wer? Wer kommt? Ein Mann, sage ich, der meinen Kopf trägt. In der Wohnung meines Kollegen finde ich keine alkoholischen Getränke. Bieder scheint mir seine Einrichtung, als habe er lange Zeit mit seiner Mutter hier gewohnt, als habe sie ihm ihre Möbel hinterlassen. Die Bücher sind nicht das, was ich lesen würde, die Filme nicht mein Geschmack. Die Anzüge in seinem Schrank gefallen mir dagegen sehr. Sie sind sehr elegant. Nur werden sie mir nicht passen. Er ist noch deutlich schmaler gebaut als ich. Überhaupt hat er einen viel eleganteren Körperbau. Nackt habe ich ihn noch nicht gesehen. Ich suche in den Schränken nach Fotoalben. In einem der Fotoalben sehe ich meinen Kollegen als Jugendlichen. Er ist ungefähr dreizehn Jahre alt, schlaksig, nass vom Baden und die Schultern rund und glänzend wie Reichsäpfel. Da hatte er noch Haare auf dem Kopf. Seinen Kopf, denke ich, wird meine Frau akzeptieren. Aber auch den Gestus, die Art wie er beim Sprechen mit beinahe adeligem Hochmut seine Stimme hebt und senkt, beinahe schnalzt beim Reden? Wenn er sich für die Nacht entkleidet – wird sie das Brusthaar vermissen? Wird sie nicht sofort bemerken, dass es zwar der richtige Kopf, nicht aber der richtige Körper ist? Die Nacht ist kühl. Als ich die Leiter ans Fenster lege, geht im Zimmer gerade das Licht an. Ich steige hinauf und meine Frau sieht mich durchs Fenster an, zwinkert und legt den Zeigefinger an ihren süßen Mund. Dass ich keinen Laut von mir geben möge. Sonst tritt sie nie mit nackten Brüsten ans Fenster, wenn sie die Vorhänge zuzieht.

Boccaccio 2020

Zombie-Apokalypse

Als wir alle glaubten, das Virus sei endlich besiegt, es habe sich verflüchtigt, oder es sei zur Ruhe gekommen, weil fast alle von ihm infiziert worden waren; als unsere Toten begraben und die Kranken genesen waren, hatte der Juni gerade die lang ersehnte Sonne und Wärme gebracht. Erleichtert verließen wir unsere Wohnungen und Häuser, umarmten unsere Freunde, wenn wir sie auf dem Wochenmarkt trafen, schüttelten Hände und blieben lange stehen, wenn wir Bekannten begegneten, die wir seit Wochen nicht gesehen oder nur aus großem, sicherem Abstand gegrüßt hatten. Und alle Menschen lächelten. Überall trafen sich freundliche Blicke, die sagen wollten: Es ist überstanden, wir können unser Leben wieder genießen. „Sieh die Blumen dort! Ist es nicht eine Pracht? Und das Grün in diesem Sommer scheint mir viel grüner als in allen Jahren zuvor. Fühlst du das auch, dieses Prickeln im ganzen Körper? Als würde ich von innen heraus neu erblühen.“

Wir verabredeten uns mit Freunden, saßen bis tief in die Nacht zusammen, aßen, tranken, lachten – und herzten uns immer wieder, weil wir unser Glück nicht fassen konnten. Dieses Glück, Freunde zu haben, dieses Glück endlich wieder die Nähe zu anderen Menschen zu spüren! Unsere Beziehungen hatten so viele Wochen brachgelegen. Wenn wir uns gegenseitig auf den Bildschirmen gesehen hatten, waren uns nur Bedauern und Klagen über die Lippen gekommen. Bis uns irgendwann die Worte fehlten und die Begegnung im Netz keine Befriedigung mehr brachte.

Unsere neu erwachte Lebensfreude war sogar so groß, dass wir spontan mit wildfremden Menschen ins Gespräch kamen. Wir betraten zum ersten Mal das Haus unserer Nachbarn, wir hatten uns immer nur mit höflicher Distanz gegrüßt, einige freundliche Worte gewechselt und – vermutlich beruhte das auf Gegenseitigkeit – beschlossen, dass unsere Herzen keinen Platz für weitere Freunde hatten. Der Sommer aber musste, wie es schien, unsere Herzen geweitet haben und bot nun genügend Platz für neue Freunde, viele Freunde, Menschen, an denen wir wenige Monate zuvor noch achtlos vorübergegangen waren. Ein Mann, der neben uns auf einer Bank beim Busbahnhof hockte, erzählte uns unter Tränen von seiner verstorbenen Mutter. Sie hatte den Virus nicht überlebt. Hannah trocknete seine Tränen mit einem Taschentuch und strich ihm sanft mit dem Handrücken über die Wange. Ich hielt seine Hand und massierte seinen Handballen, wie ich es sonst nur bei Hannah tat, wenn sie Kopfschmerzen hatte. Im Bus stimmte die Fahrerin einen Kanon an: „Vom Aufgang der Sonne, bis zu ihrem Niedergang, sei gelobet der Name des Herrn“, und obwohl die meisten an keinen Gott mehr glauben konnten, stimmten bald alle mit ein. Eine Frau mit einer besonders schönen Stimme sang ein friesisches Liebeslied, das uns zu Tränen rührte. Wir blinzelten durch die staubgetrübten Fenster auf die vorüberziehenden Straßen, wo im gleißenden Licht Junge und Alte zu schweben schienen, aufrecht und wach, als gelte es jedem Stein, jedem Pflänzchen und jedem Vöglein genügend Aufmerksamkeit widmen zu müssen. Als sei jeder Fleck und selbst die bemoosten Ränder der Schaufensterrahmen eine Quelle der Glückseligkeit. Immer wieder sahen wir Menschen, die sich in den Armen lagen. Im Park entledigte sich ein Mann seiner Kleider.

Unsere Kinder wunderten sich nicht, als wir ihnen mitteilten, dass Rudolf bei uns übernachten würde. Er war seit unserer gemeinsamen Busfahrt schon viel munterer geworden. Ich lieh ihm einen Pyjama, nachdem er sich geduscht hatte, und Hannah fand eine unbenutzte Zahnbürste für ihn. Im Bett nahmen wir ihn in unsere Mitte. „Die Bettritze, haha.“ Ja, die Bettritze, wir dachten uns nichts dabei, es war so selbstverständlich, dass er nicht allein schlafen sollte. Es war lange her gewesen, dass ich mit einem Freund gemeinsam im Bett gelegen hatte. Das letzte Mal, als ich in der achten Klasse gewesen war. Man kommt nicht zur Ruhe, die eine Geschichte birgt schon das Stichwort für die nächste. Auch Rudolf wurde nicht müde, aus seiner Kindheit zu erzählen, von seiner Mutter, dem abhanden gekommenen Vater, den verhinderten Liebesgeschichten in der Schulzeit und danach.

„Hast du denn nie eine Freundin gehabt“, fragte Hannah.

„Nein, nie. Vielleicht war ich einfach zu schüchtern.“

„Du hast nie mit einer Frau geschlafen?“

„Oder mit einem Mann“, fügte ich hinzu.

„Nein.“

„Das ist traurig“, sagte ich. „Es ist so schön, mit einer Frau zu schlafen. Mit einem Menschen, den du liebst. Es gibt kaum etwas Schöneres als das Begehren. Für mich: die Lust einer Frau, der Duft ihres Geschlechts.“

„Ja“, sagte er. „Aber die Pornos werden irgendwann schal.“

„Ja“, sagte ich, „wenn das alles nicht Wirklichkeit wird.“

Hannah ließ ihre Hand sanft unter sein Pyjamaoberteil gleiten, strich über seinen Bauch, hinauf zur Brust. „Von Händen berührt zu werden. Das kann schon nach wenigen Tagen fehlen.“

Hannah lächelte, als wir am nächsten Morgen beim Frühstück saßen. „Dass wir das jemals machen würden, das hätte ich noch vor ein paar Monaten nicht für möglich gehalten“, sagte sie. „Ich hätte nicht einmal daran gedacht. Ist das nicht sonderbar?“

„Vor ein paar Monaten. Und vor einer Woche? Hast du da noch nicht gefühlt, dass etwas anders geworden ist?“

Hannah überlegte. „Als ich mich mit Renate noch eine Weile an der Glut in der Feuerschale wärmte, ihr wart schon hineingegangen, Renate war dicht an mich herangerückt, ihre Augen glänzten in der Dunkelheit, da berührte sie unvermittelt meine linke Brust und sagte, sie habe meine Brüste schon immer bewundert, manches Mal habe sie sich gewünscht, mich nackt zu sehen und meine Brüste in den Händen zu halten, sie habe schon lange diesen innigen Wunsch, zu fühlen, wie die Brustwarzen einer anderen Frau vor Erregung fest werden. Sie lächelte und küsste mich auf den Mund. In diesem Moment stellte ich mir vor, wie ich den Reißverschluss ihrer Jeans öffne und meine Finger in ihrem Schoß versenke, sie so lange liebkose, bis sie kommt. Ich habe das noch nie gemacht. Aber plötzlich hatte ich eine riesengroße Lust, Renate dabei zuzusehen, wie sie sich meinen Händen und auch meiner Zunge hingibt. Mir wurde bewusst, dass es etwas ungemein Schönes sein muss, eine Frau zum Orgasmus zu bringen.“

„Das ist es, zweifellos.“

„Und dass ich nicht sterben möchte, ohne das wenigstens einmal erlebt zu haben. Das ist vor einer Woche gewesen. Aber da hätte ich noch nicht den Mut gehabt, dir oder Renate davon zu erzählen.“

„Und vor zwei Wochen hätte ich nie daran gedacht, den Penis eines anderen Mannes anzufassen und diesen Genuss empfinden zu können, wenn er in meiner Hand langsam prall und fest wird. Ich wäre vor Eifersucht gestorben, wenn ich hätte mitansehen müssen, wie deine Lippen seine Eichel umschließen, wie ein anderer Mann in dir kommt, zu spüren, wie sich mein Sperma mit dem eines anderen Mannes in dir mischt. Ich hätte das pervers gefunden.“

„Ist es das vielleicht sogar? Oder sind wir nur in einem Traum, in dem alles möglich geworden ist?“

„Ein Traum, in dem wir vergessen, zur Arbeit zu gehen. Ein Traum von Sorglosigkeit und unbändiger Lust. Da sag‘ ich was, ich habe die ganze Zeit geglaubt, heute sei Sonntag. Dabei ist Dienstag. Ich hätte längst zur Arbeit gemusst. Lustig, oder?“

Es war nur angemessen, dass Rudolf nackt unsere Sonnenterasse betrat. Das Licht war flirrend und auf meiner Stirn stand bereits der Schweiß. Rudolf war in sein Smartphone vertieft, das er in der einen Hand hielt, mit der anderen knetete er genussvoll seinen Penis. „Bislang war klar“, sagte er, „dass das Virus die Lunge befällt, auch den Magen-Darm-Trakt und die Hoden. Jetzt lese ich, dass es auch das Hirn angreift.“

„Das Virus ist besiegt. Oder etwa nicht?“

„Ich les‘ mal die Schlagzeilen vor: Wissenschaftler entsetzt! Zombievirus zeigt sein wahres Gesicht. Moralische Demenz: Virus tötet Angst und Aggression. Experte schätzt: Nur etwa 20 bis 30 Prozent nicht infiziert. Jetzt droht der Kollaps!“

Wir lachten. Wir hatten Glück gehabt, wir gehörten zu den Unversehrten. Auf dem Nachbargrundstück wälzten sich Michael und Steffi seit einer Weile splitterfasernackt mit ihrem Hund auf dem Rasen. Jetzt hatte das Tier seine feuchte Schnauze zwischen Steffis Beinen und Michael hielt das erigierte, blaurote Glied des Golden Retriever fest umschlossen in der einen Hand – und winkte uns mit der anderen fröhlich zu. Bald würden auch unsere Kinder einen Begriff davon haben, was es heißt, im Paradies zu leben.