Von André M. Kuhl

31. August 2023

Meine Lieben,
aus meiner Sicht war unser gestriges Gespräch sehr ertragreich. Ich habe, wie versprochen, die Ergebnisse einmal zusammengefasst, kategorisiert und mit weiterführenden Fragen verbunden. Je besser wir unser gegenwärtiges Liebeskonzept (schillernd zwischen „romantischer Liebe“ und „Sexualität“) verstehen, desto besser erkennen wir Unterschiede zu Liebeskonzepten anderer Epochen. Und nicht weniger können wir umso besser verstehen, mit welchen Schwerpunkten in der Gegenwartsliteratur Liebe thematisiert wird.

Liebe Grüße
André M. Kuhl

Liebeskonzepte im Deutschkurs DE2 – Kuhl Ergebnisse der ersten Stunde

1. Sexualität

Bemerkenswert war das erste Wort, das halblaut aus männlichem Mund geäußert und von einem leisen Kichern gefolgt wurde: „SEX“. Erst später wurde der Aspekt der Erotik bzw. der Sexualität (diesmal aus weiblicher Perspektive) wieder aufgegriffen, als kurz von „LUST“ die Rede war, die zweifellos zum Themenkreis der Liebe gehört. Welche Bedeutung die Sexualität für die Liebe besitzt, wurde indirekt thematisiert, wenn es um Genetik, den Vergleich mit der Tierwelt und den historischen Wandel der „Liebeskonzepte“ ging.

FRAGE: Sind, wenn man von Liebe spricht, Sexualität und sexuelle Anziehung eher Tabuthemen? Warum?

2. Das Konzept der romantischen Liebe

Im Verlauf des Gespräches verfestigte sich der Eindruck, dass unser vorherrschendes Konzept von Liebe das der „romantischen Liebe“ ist. Zwar wurde das Konzept der romantischen Liebe abgegrenzt von anderen Formen der Liebe, etwa der platonischen (nicht-sinnlichen) Liebe, der Freundesliebe, der Liebe zu Eltern und Geschwistern (auch Fetisch spielte eine Rolle), aber unterschwellig dominierte die Auffassung, wenn man von Liebe rede, gehe es um die romantische Beziehung zwischen zwei Menschen verschiedenen oder gleichen Geschlechts. Mit dem Konzept der romantischen Liebe sind verbunden: die intensiven Gefühle, die Bereitschaft füreinander zu sterben (falls nötig), Bedingungslosigkeit, Zuneigung, das Phänomen der Verliebtheit als Bedingung für eine Verbindung, Geborgenheit, Sicherheit etc. Sehr neutral wurden diese Aspekte als „psychisches Phänomen“ belegt und damit als „naturgegeben“: Sich zu verlieben, kann man nicht verhindern – selbst, wenn die Liebe unerfüllt bleibt.

FRAGE: Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Favorisierung der romantischen Liebe?

3. Liebesbeweise nach dem Vorbild kapitalistischer Tauschgeschäfte

Im Zusammenhang mit unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem scheinen viele im Kurs die Auffassung zu teilen, die Aufrechterhaltung der Liebe sei mit Arbeit und Aufwand verbunden und in gewisser Weise folgten diese Bemühungen oft dem Prinzip des Tauschgeschäftes. Das, was als Ausdruck von Liebe wahrgenommen wird, wird oft analog zu Waren mit bestimmtem Wert gesehen, deren Tausch im Beziehungsgeschäft zu einem gerechten Gleichgewicht der Werte führen muss. Liebe wird hier in einer langfristigen Beziehung angesiedelt, die nicht mehr durch das hormongesättigte Verliebtsein gestützt wird.

FRAGE: Ist das so: Wer liebt, will eine Beziehung führen? Ist die Liebesbeziehung ein Tauschgeschäft?

Aufgabe: Diskutieren Sie die drei Fragen in Gruppen und stellen Sie anschließend kurz Ihre Ergebnisse vor!

11. September 2023

Meine Lieben,
das Programm für heute sieht folgendermaßen aus:

1. Lektüre der Kurzgeschichte „Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate“ von Juliane Liebert ( In : Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht. Hrsg. von Lina Muzur. Berlin, 2018. S. 103 – 110.)

2. Kommentieren und bewerten Sie (schriftlich) die Kurzgeschichte in einem freien – sehr gerne auch betont unsachlichen – Text! (mindestens 400 Wörter)
Das ist nicht leicht, denn die meisten von Ihnen sind mit einer so freien und unkonventionellen Textsorte nicht vertraut. Schon einen Anfang zu finden, stellt so mache/n vor ein Problem. Am besten „fallen Sie mit der Tür ins Haus“, wie man so schön sagt.

Beispiele für Textanfänge:

„Ich habe offene Enden in Kurzgeschichte schon immer gehasst. Die Autorin Juliane Liebert …“

„Nieder mit dem Patriarchat? Da helfen wahrscheinlich nur Wunder. Oder Literatur. Juliane Liebert schreibt in ihrer Kurzgeschichte …“

„Wer liest das schon? Juliane Liebert setzt als „großer, böser Spatz“ auf Provokation, vermiest mir den Nachmittag und landet doch nur als Bettvorleger in ihrer eigenen LGBTQIA+-Bubble.“

„Männer „sind das lächerlichste und erbärmlichste Geschlecht auf Erden“. Stimmt leider.“


3. Ihre Texte wollen wir danach zu einer vertiefenden Analyse und Interpretation nutzen. Hilfreich dafür wären FRAGEN, die Sie an den Text (bzw. die Autorin) stellen und die Sie sich gegenseitig (im Plenum) zu beantworten versuchen. (Vermutlich kommen wir dazu ausführlich aber erst am Mittwoch.)

LG
AMK

13. September 2023

André M. Kuhl: Unsachlicher Kommentar zu Juliane Lieberts Kurzgeschichte „Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate“

Angesichts der gegenwärtigen Kriege, insbesondere des Ukrainekrieges, mag frau sich wohl mit gehässiger Lust an dem Blütentraum der Ich-Erzählerin ergötzen: Mögen sich die Männer, die so gern Krieg spielen, sich gegenseitig in den Arsch ficken und die Frauen nicht weiter mit ihren Gelüsten, Vergewaltigungs- und Mordfantasien belästigen.

Mir selbst wären diese himmlischen Schwanzträger hingegen nicht willkommen. Weil ich homophob bin? Weil ich nicht dieses männliche Idealbild lesbischer Frauen verkörpere, nämlich schwul zu sein?

Was für ein Aufwand! Acht Seiten für eine auf eine Dreiviertelseite gedehnte Message, die kurz gefasst auch auf die Formel „fickt euch selbst“ gebracht werden kann. Ach ja! – und für den Satz: „Über allem die Frau“. Über all dem biologischen Gewimmel auf unserer lächerlichen Erdkruste die Frau. Obwohl: Klingt ganz schön nihilistisch, wenn die biologische Evolution mit Schimmelbewuchs verglichen wird.

Aber die eigentliche Geschichte, Beates Geschichte, bleibt im Verborgenen. So weit reicht die Fantasie der Autorin dann doch nicht. Als ob es reichte, dem wilden Mann mit ruhigem Blick zu begegnen, um ihn in Tränen ausbrechen zu lassen. Und Tränen – worüber eigentlich? Da wird ein kleines Wunder bemüht, das Beate zur Superwoman werden und den notgeilen Chef, den Machtmissbraucher, zur Briefmarke mutieren lässt. Anlecken, aufkleben und abschicken! Adressat unbekannt. Was ist passiert? Was stellt Beate nach ihrem Erweckungserlebnis (respektive Erkenntnisschub) mit dem Kerl an, das am Ende zur Beseitigung des Bösen qua Patriarchat führen wird? Das weiß Juliane Liebert wohl auch nicht. Enthüllt der scheinbar mutig in die männlichen Geschlechtsteile hineingegrätschte Text unterschwellig nur die Resignation der Autorin?

Jedenfalls gibt sie sich für die Bubble der LGBTQIA+-Community sehr vorbildlich: Beziehung bitte ohne Besitzansprüche! Kann man auch in der Brigitte oder im Spiegel lesen. Lieberts Punk-Feminismus verfehlt allerdings seine Zielgruppe: die Uwes dieser Welt, die bald schon wieder bereit sein werden, unliebsame Bücher zu verbrennen.

Ich muss zugeben, ich habe schon vor längerer Zeit mal Juliane Lieberts Insta-Auftritt gestalked. Warum? Weil sie gut aussieht und sich zuweilen recht freizügig zeigt. Beneidenswert so ein Journalistinnen- und Schriftstellerinnenleben! Lifestyle, Partys, Prominente. Und natürlich: keine lästigen Blagen. Und es ist keine reine Fiktion, Juliane Liebert lebt selbst mit einer Frau zusammen, glaub ich. „Hab ich nichts dagegen“ wäre das falsche Wort. An ihrer Stelle würde ich auch mit einer Frau zusammenleben wollen, sprich: Wäre ich eine Frau, dann garantiert lesbisch.

Ich kann Lieberts Sehnsucht nach einem Matriarchat gut verstehen. Es ginge der Menschheit besser. Aber das wusste ich auch schon vor der Lektüre der Kurzgeschichte. Sag mal einer, was dafür zu tun wäre!

Kommentar zum Kommentar

Der Kommentar entspricht selbstverständlich nicht wissenschaftlichen Kriterien. Zum einen fehlen Hinweise auf Textstellen und wörtliche Zitate, zum anderen ausführlichere Erläuterungen, die aufzeigen, wie ich zu meinen jeweiligen Urteilen gekommen bin. Aber in meinem Text stecken auch Übertreibungen und Unschärfen, sowie vorschnelle Urteile.

Alle meine Urteile muss ich am Text erneut überprüfen und mich dabei selbst korrigieren. Das Ziel: herausfinden, welche Intentionen die Autorin mit ihrem Text verfolgt hat. Und auch, welchen Adressatenkreis die Autorin aus welchen vermutlichen Gründen bedient hat.

Der Traum auf Seite 108 etwa zeigt keineswegs das Bild von männlichen Soldaten, die sich gegenseitig anal beglücken. Es handelt sich um eine himmlische „Armee“, die sich in diesem surrealen Bild zur Aufgabe gemacht hat, den Soldaten das zu geben, „was sie sich heimlich schon immer gewünscht“ haben. Diese Unterstellung kleidet die Autorin in einen Wunschtraum und relativiert diese damit bereits wieder. Dahinter stecken Vermutungen, die sich nicht leicht nachweisen lassen. Gibt es ein heimliches Bedürfnis von Männern, nicht bloß die Penetrierenden zu sein, sondern auch penetriert zu werden? Jedenfalls kennzeichnet dieser Traum das weitgehend biologisch determinierte Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen, das diese in Täter und „Opfer“ teilt, er kennzeichnet in der Umkehr der Verhältnisse das biologische Machtgefälle zwischen Mann und Frau – aber möglicherweise hält die Autorin auch diese vermeintliche biologische Konstante für mindestens relativierbar. Stichwort „Knabenliebe“ in der Antike (wenn allerdings auch in der griechischen Antike Sex zwischen Männern verachtet – wenn auch geduldet – wurde).

Auch die „Lücken“ in meinem Kommentar müssen eine Rolle spielen. Welche Funktion hat die Figur des homosexuellen Amir? Und aus welchem Grund legt Juliane Liebert ausgerechnet ihm diese Sätze in den Mund: „Männer sind schwach. Sie sind das lächerlichste und erbärmlichste Geschlecht auf Erden“? (S. 107)

Was ist mit den Klischees, die die Ich-Erzählerin in ihrem Beratungsgespräch (S. 106 – 107) auftischt, nicht ohne selbstkritisch darauf hinzuweisen, dass es sich um spießige Ansichten handelt („Das Wieso war ein Dartpfeil in meine spießige Visage“, S. 105): Mit dem Chef zu schlafen passt nicht zur Emanzipation der Frau (S. 105), Machtmissbrauch, Weinstein, ungewollte Schwangerschaft, verheirateter Mann, zwei Kinder (ebd.). Die Ich-Erzählerin listet eine Reihe von Gründen auf die gegen Beates Vorhaben sprechen und allesamt zum Wertekanon der Leserschaft gehören dürften. Warum lässt die Autorin ihre Erzählerin dies sagen? Und warum belässt sie die Erzählerin ahnungslos, als Beate den Satz äußert: „Es geht um die Beseitigung des Bösen“? (S. 105)

Ich habe in meinem Kommentar unterstellt, dass die Autorin selbst nicht weiß, wie diese „Beseitigung des Bösen“ vonstattengehen soll. Diese Unterstellung mag zutreffen. Ich darf jedoch nicht grundlos annehmen, dass der Autorin diese „Fehlstelle“ nicht selbst bewusst ist. Ich muss davon ausgehen, dass jedes Wort in dieser Kurzgeschichte mit Bedacht und bei vollem (kritischen) Bewusstsein gewählt wurde. Das ist das Grundgesetz der Interpretation.

In meinem Text habe ich alle meine Urteile und Deutungen farbig gekennzeichnet, die mit Hilfe von Zitaten und Erläuterungen belegt werden müssten, um wissenschaftlichen Kriterien zu entsprechen. Sieht ziemlich rot aus! Hinzu kommen die „Lücken“ (Amir. Warum will Beate mit ihrem Chef schlafen? Woran erkennt man, dass es sich bei der Ich-Erzählerin um eine Frau handelt?)

Wie Sie sehen, habe ich hier nicht alle Mängel meines Textes angesprochen. Ist es deshalb übrigens ein schlechter, mangelhafter Text? Weil ich sehr spontan auf den Text reagiert habe, kann ich nun aus dem Vollen schöpfen. Ich habe durch meine Arbeit eine Fülle an sehr subjektiven Urteilen und Interpretationsansätzen gewonnen. Nun bin ich in der Lage, jedes dieser Urteile und jeden Deutungsansatz am Text zu überprüfen, um meine rein subjektive Lesart überwinden zu können. Und ich versuche, meine Erkenntnisse vor dem Hintergrund dessen, dass die Autorin jedes Wort bewusst und absichtsvoll gewählt hat, meine Beobachtungen und korrigierten Urteile zu einer vermutlichen Aussageabsicht (Intention) der Autorin so zusammenzufassen, dass daraus ein homogenes, schlüssiges Bild entsteht. Auf diesem Ergebnis hat abschließend mein persönliches wiederum subjektives Urteil zu fußen.

Aufgaben:

1a. Bilden Sie Gruppen von fünf bis sechs Teilnehmer*innen.

1b. Wählen Sie eine Person als Gesprächsleiter*in. Ihre Aufgabe besteht darin, das Wort zu erteilen und das Gespräch zu strukturieren.

1c.Wählen Sie zudem zwei Personen, die darauf achten, dass die in den Aufgaben 2a und 2b genannten Kriterien angemessen berücksichtigt werden.

1d. Beauftragen Sie eine Person damit, sowohl die identifizierten Urteile, Deutungen und zur Sprache kommenden Gefühle zu protokollieren. Und ebenso die Ergebnisse von deren sachorientierter Überprüfung.

2a. Tragen Sie einander nacheinander Ihre Texte vor. Die Zuhörer*innen haben die Aufgabe, jeweils die in diesen Texten aufscheinenden Urteile, Deutungen und „Lücken“ aufzuzeigen. Machen Sie sich für jeden Text daran, diese Urteile, Thesen und Deutungen am Text zu überprüfen. Fragen Sie immer nach dem WARUM!

2b. Viele Ihrer Texte werden vermutlich Gefühle thematisieren, die bei der Lektüre entstanden sind. Gefühle sind gewissermaßen wichtige Vorstufen der Interpretation. Suchen Sie gemeinsam nach den Gründen für das Entstehen dieser Gefühle (und auch Assoziationen). Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Auslöser dieser Gefühle von der Konfrontation Ihres persönlichen Lebenskontextes mit den Inhalten der Kurzgeschichte herrühren. Formulieren Sie in der Gruppe, welche konkreten Auslöser das sind. Und: Überlegen Sie, ob die Autorin derartige gefühlsmäßige Widerstände bei ihren Leser*innen womöglich beabsichtigt haben könnte.

3.   Fassen Sie in einem gemeinsam formulierten Statement Ihre Deutung und das damit verbundene Werturteil bezüglich der Kurzgeschichte zusammen.

Alternative: Wenn Sie glauben, Ihre eigenen Texte seien nicht ertragreich genug, können Sie sich unter gleicher Aufgabenstellung auch meinen Text vornehmen.

Und: Warum wir diese Aufgaben nicht einfach im Plenum unter meiner Leitung bearbeiten? Weil Sie dann die Verantwortung für die Ergebnisse leicht an andere (vor allem mich) abgeben können und am Ende nicht wissen, wie wir zu den Ergebnissen gekommen sind…

19. September

Guten Morgen,

nachdem sich unsere Interpretationsversuche am Montag anfangs schwierig gestalteten, zeichnete sich gegen Ende der Horizont einer Deutung ab. Ich habe das (neben unseren Aufzeichnungen aus dem Unterricht) in einer eigenen Interpretation einmal zusammengefasst. Vielleicht können wir die Beschäftigung mit Lieberts Kurzgeschichte damit abschließen.

Dann könnten wir uns als nächstes wieder mit Gedichten beschäftigen.

LG
AMK

Juliane Liebert – Der Montagsbuddha…                    Analyse und Interpretation

Interpretationshypothesen aus dem Plenum:

A  Die Autorin weckt durch ihre skandalöse und provokante Schreibweise und Ausführungen von Fantasien negative Gefühle bei Leserinnen und Lesern. (Wirkung)

B  Die Autorin will auf die Missstände bezüglich sexueller Freiheiten in totalitären Staaten aufmerksam machen, bzw. diese anprangern.

Dass Amir mit Einwanderern zu tun hat und sexuell verkehrt, ist nur ein Randgeschehen. Es geht zwar um Sexualität, aber nicht im engeren Sinne um die von homosexuellen Einwanderern.

C  Die Autorin lässt den Leser*innen einen großen Interpretationsspielraum. (Shafiqullah möchte nicht, dass gegendert wird.)

Hier fehlt der Textbezug. Aber es muss möglicherweise geprüft werden, ob das am Ende tatsächlich zutrifft. Z.B. wird nicht erzählt, was zwischen Beate und Uwe geschehen ist, und was danach im Treppenhaus geschieht. Hier steckt eine Aufforderung drin, die eigene Fantasie zu bemühen. Aber warum? Auch Beates Motiv, mit ihrem Chef schlafen zu wollen, bleibt unklar. Warum sind Uwes Reaktionen so gar nicht nachvollziehbar? Amirs Künste werden nicht näher erläutert. Dabei hat Amir in dem erzählten Gespräch nur sehr simple Ratschläge zu erteilen, die wenig überzeugen und sehr pauschal sind. Aus welchem Grund lässt die Autorin diese wesentlichen Punkte offen? Welche Absicht verfolgt sie damit?

D  Die Autorin will mit ihrer Kurzgeschichte ihre Leserinnen verwirren. (Wirkung)

F  Die Autorin kritisiert mit ihrem Text in der Gesellschaft verbreitete Stereotype.

Emotionslose, aggressive, übergriffige Männer. Männer glauben, sie seien hetero…

G  Die Autorin hat eine gewisse politisch-gesellschaftliche Einstellung, die sie in ihrem bizarren Text darlegt.

H  Die Autorin regt mit einem entgrenzten Multi-Kulti-Text zum Denken über unsere Rollen und Freiheiten in der Gesellschaft an.

[…]

Soweit unsere Aufzeichnungen während des Unterrichtsgesprächs. Aus dem weiteren Unterrichtsgespräch ergab sich der Horizont einer Deutung, die sich an der Tatsache festmachen lässt, dass kaum ein Detail der Kurzgeschichte im engeren Sinne realistisch erscheint. Das heißt, wir können die Autorin nicht beim Wort nehmen, sondern sind aufgefordert, den Text vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Dazu der folgende Versuch einer Interpretation:

A dream within a dream – Juliane Lieberts “Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate“

Viele Leserinnen und Leser werden durch Lieberts 2018 erschienene Kurzgeschichte vermutlich in tiefe Verwirrung gestürzt. Dabei ist der Plot der Geschichte im Grunde recht überschaubar: Beate, die Lebensgefährtin der Ich-Erzählerin, hat beschlossen, ihren Chef zu verführen, sucht diesbezüglich Rat bei dem Homosexuellen Amir, dessen Weisheit als grenzenlos gilt, und setzt ihr Vorhaben schließlich um. Dramaturgisch sucht Liebert weder Umwege zum Ziel, noch stellt sie dem Vorhaben Beates nennenswerte Hindernisse in den Weg. Zwar wird Beate mit den Bedenken der Ich-Erzählerin konfrontiert, ihr Chef, Uwe, sei verheiratet und habe zwei Kinder, auch damit, das Vorhaben widerspreche den Errungenschaften der „mühsamen Emanzipation“ (S.105), es passe nicht in die heutige Zeit, setze sie männlichem Machtmissbrauch aus und habe möglicherweise zur Konsequenz, dass sie ungewollt schwanger werde (vergl. S.105), aber Eifersucht entwickelt die Ich-Erzählerin, die ihre Lebensgefährtin aufrichtig zu lieben scheint, allenfalls in homöopathischen Dosen. Und so manövriert die Autorin die Figur der Beate geradlinig zur bereits auf der dritten Seite (S. 105) schamlos gespoilerten Pointe der Geschichte.

So – beinahe – reibungslos die Geschichte selbst ihren Lauf nimmt, so steinig und aufhaltsam ist der Hindernislauf, dem sich Leserinnen und Leser aussetzen, wenn sie die Lektüre nicht schon vorzeitig abbrechen. Denn nicht nur Beates dumpfbackiges Vorhaben, auch die Figur des Amir, dessen vielgerühmte Weisheiten eigentlich nur aus sexistischen Klischees und dümmlichen Pauschalisierungen bestehen, wie etwa der, die Männer seien schwach, erbärmlich und manipulierbar (S. 107), wirkt befremdlich, sogar unrealistisch. Umso mehr, da im Text behauptet wird, Amir habe seit dem Beginn der Flüchtlingskrise mit einer Unzahl männlicher, verheirateter Araber sexuell verkehrt, die zuvor offenbar nicht ihren homosexuellen Neigungen folgen konnten. Nicht weniger unrealistisch erscheint es, dass Beate und die Ich-Erzählerin gemeinsam (sic!) Rat bei ihm suchen, der die Leserinnen und Leser ob seines Irrwitzes und seiner Abseitigkeit wohl fassungslos staunen lässt: Wer einen Mann verführen wolle, müsse mit ihm über Sex mit anderen reden (S.106), ihm selbst sei es bei einem Hetero-Mann mit diesem Trick gelungen. Man mag vielleicht einen Moment über diese Finte nachdenken, wer bei Trost ist, wird sie kaum ernst nehmen können. Nicht so Beate, die sich den Tipp sogar akribisch notiert. Und so reiht sich bis zum Ende ein unrealistisches Szenario ans nächste, bis hin zu einem unbefriedigenden offenen Ende. Neben dem auf Seite 108 geschilderten Traum, in dem eine von Amir angeführte Armee nackter Männer sich über eine Horde aus Blüten hervorgewachsener Soldaten hermacht, die sich anscheinend nichts mehr gewünscht haben, als endlich einmal von einem männlichen Glied penetriert zu werden, dürfte die größte Zumutung des Textes wohl darin bestehen, dass ausgerechnet das zentrale Geschehen, das sich zwischen Beate und ihrem Chef abspielt, im Verborgenen bleibt (S. 108 – 109). Wenn die Geschichte nicht von Anfang bis Ende gaga sein soll, gilt es daher, das Kalkül aufzuspüren, mit dem Juliane Liebert ihren Leserinnen und Lesern ihre Intention näherzubringen versucht.

Dazu muss der Blick noch einmal auf das Geflecht von Unrealistischem und Unwahrscheinlichem gerichtet werden, das die Kurzgeschichte bestimmt. Mit ihm verwoben sind unverhohlen einige im feministischen Diskurs wurzelnde Wunschvorstellungen, moderne Liebeskonzepte und Entwürfe wünschbarer, sehr liberaler Rollen im Miteinander von Männern und Frauen. Diesen liberalen und teils befremdenden Konzepten stehen die dominierenden Werte und Überzeugungen unserer Gesellschaft gegenüber, die Liebert druckvoll zu relativieren versucht. Der verbreiteten Homophobie der Männer stellt Liebert einen selbstbewussten Homosexuellen gegenüber, der davon zu berichten weiß, dass unzählige andere Männer insgeheim ebenfalls homosexuelle Gelüste haben. Den „spießige[n]“ Äußerungen über die Gefahren von Beates Vorhaben, die so ziemlich alle Gefahren und Nachteile auflisten, denen eine Frau ausgesetzt ist, die sich auf einen Mann von Uwes Kaliber einlässt (S. 105), stellt Liebert das Liebesverhältnis zwischen der Ich-Erzählerin und Beate gegenüber, dass anscheinend keine Eifersucht kennt und von dem Selbst- und Fremdverständnis geprägt ist, dass Menschen sich in einer Liebesbeziehung als Freie begegnen, die aneinander keine Besitzansprüche stellen. Wenn Beate mit ihrem Chef schlafen will, ist das zwar möglicherweise eine große Dummheit, aber ansonsten okay. Jedenfalls macht die Ich-Erzählerin Beate keine Szene. Kein Wort von Untreue oder Verrat. Und am Ende von Seite 105 rückt Liebert wohl mit dem inhaltlichen Kern ihrer Kurzgeschichte heraus. Es gehe, so lässt Liebert die studierte Philosophin Beate (S. 104) sagen, „nicht um meinen Chef, es geht um viel mehr. Es geht um die Beseitigung des Bösen“.

Gar zu einfach wäre es, wenn mit dem „Bösen“ allein die „Uwes auf der Welt“ (S. 109) gemeint wären. Das Böse sind die tradierten gesellschaftlichen Verhältnisse, die Männer und Frauen in die uns allen vertrauten und möglicherweise auch erlittenen Rollen gepresst haben, in für unumstößlich gehaltene und ewig gültige Normen, die seit Menschengedenken Frauen den Männern unterworfen, sie zu Sklaven, Minderwertigen, zum Besitz der Männer gemacht haben. Normen, die vorschreiben, dass Sex an Liebesbeziehungen gebunden sein muss, Eifersucht ein legitimer Grund für einen Femizid sein kann und Homo- oder Bisexualität verachtenswert sind, auch wenn es mittlerweile zum guten Ton gehört, die zahlreichen diversen Sexualitäten zu respektieren, solange sie nicht propagandistisch zu Unterrichtsthemen gemodelt werden.

Zwar findet Lieberts Geschichte einen Höhepunkt in dem provokanten Traum, dessen zentraler Wunsch (nach Freud sind alle Träume Wunscherfüllung) darin besteht, alle Soldaten (und überhaupt Männer) dieser Welt möchten doch lieber miteinander vögeln, statt Frauen zu vergewaltigen und in ihren Kriegen Menschen zu töten und sich töten zu lassen, aber bei genauem Hinsehen entpuppt sich die gesamte Geschichte als irrealer Traum, in dem sich neue Rollen, neue Verhältnisse ankündigen, oder vielleicht schon auf dem Weg sind. Aber woher Beate die magischen Kräfte hernimmt, mit denen sie am Ende ihren Chef bezwingt, scheint Liebert nicht zu wissen. Es ist nur ein Traum, eine Wunschvorstellung, dass es einer Frau gelingen kann, dem wilden Mann mit bloßem Blick Einhalt zu gebieten und ihn schließlich in Tränen ausbrechen zu lassen. Worüber? Über die Gewalt und das Unrecht, die Frauen seit dem Beginn der Zivilisation angetan wurden. Was dafür geschehen muss? Die Antwort darauf überlässt Liebert ihren Leserinnen und Lesern. Das Rätsel hat seinen Schlüssel in der Eskalation des Verführungsversuchs und dem Geschehen, das sich anschließend unseren Augen und Ohren verschließt. Angesichts des immer noch undenkbaren Verheilens der Wunde zwischen Mann und Frau sollen wir unsere Fantasie bemühen, wenn wir nicht vor dieser großen Aufgabe resignieren wollen.

So wünschbar und notwendig ein radikaler und feministischer Wandel der Geschlechterrollen und der damit verbundenen unheilvollen Sozialisation ist, scheint es am Ende doch, als überfordere Juliane Liebert mit ihrer Kurzgeschichte ihre Adressaten. Die pauschalen Urteile über die Männer unserer Zeit, die sie Amir in den Mund legt, der es ja wissen muss, wirken, als seien es ihre eigenen. Und weil am Schluss wenig mehr bleibt, als Beates Abrechnung mit Uwe mit einer Gewaltfantasie zu füllen, bleibt die Geschichte eher als ironisch gebrochene Wutrede in Erinnerung, denn als engagierte Einladung zu einer Zeitenwende in den Geschlechterverhältnissen.

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