Der Brief

Liebe M.,

ich schreibe Dir aus P. und entschuldige mich, Dir nicht schon früher ein Lebenszeichen von mir zukommen gelassen zu haben. Ich will mir nicht anmaßen, mir vorzustellen, Du habest gelitten oder Dich entsetzlich gesorgt um mich, nachdem ich Dich nach diesem Streit verlassen hatte und – auch für mich unerwartet – einfach nicht mehr zurückgekehrt war. Es ist ja auch denkbar, dass Du nach dem ersten Schrecken, einer etwas länger anhaltenden Verwunderung durchaus so etwas wie Beruhigung oder Zufriedenheit empfunden hast, das Gefühl, nun vielleicht etwas ganz Neues beginnen zu können. Die Kinder sind aus dem Haus (grüße sie von mir!) und möglicherweise hast Du jemanden kennengelernt. Das wäre schön, denn ich werde nicht, wie ich nun sicher bin, zurückkehren. Und ich bitte Dich, mich nicht zu suchen. Denn mir ist hier in P. etwas wahrhaft Wundersames und Einzigartiges begegnet. Du wirst es gewiss nicht für möglich halten. Ich habe hier bald nach meiner Ankunft eine zweite Ausgabe von Dir gefunden, eine richtiggehende Doppelgängerin. Sie spricht wie Du, hat Deine Augen, sogar Dein Lächeln, es ist vielleicht ein wenig frischer und herzlicher als Deines. Sie kleidet sich ganz ähnlich wie Du, hat ganz Deinen Körperbau, wie gesagt, eine perfekte Doppelgängerin bis in die verblüffendsten Details. Zu meiner Schande muss ich gestehen, Dich keinen Moment vermisst zu haben. Vom ersten Augenblick an, als wir uns bei meiner Ankunft auf dem Bahnsteig begegneten, war eine Vertrautheit zwischen uns, dass wir bis vor Kurzem keine Notwendigkeit empfanden, uns gegenseitig über unsere Vergangenheit auszufragen. Noch in derselben Nacht sind wir zusammen in einem Hotelzimmerbett gelandet und sind gefühlte drei Tage nicht mehr da herausgestiegen. Mit nur wenigen Unterbrechungen, so scheint es mir jetzt, haben wir uns geliebt, blieben ineinander verknäuelt, lagen versprengt und nackt im Raum verteilt wie nach Explosionen, schamlos haben wir uns in die Balkontürvorhänge eingedreht und wieder ausgewickelt. Unsere Hände und Münder haben jede Furche, Wölbung, Windung und Öffnung im und am Körper des anderen gefunden, gesogen haben wir aneinander, uns benetzt und wie aufgetrunken, habe mich in ihrem Duft gesuhlt, der Dein Duft war und darum so berauschend. Und – verzeih mir! – berauschend war es wohl auch, weil Du es eben doch NICHT warst, oder nicht sein konntest, weil es DOCH eine andere war.

Weil sie, J., wie ich an jenem Tag erst in P. angekommen war, haben wir uns nun eine gemeinsame Wohnung genommen. Es geht mir gut, ich habe endlich eine Gelassenheit und Leichtigkeit gefunden, die mir so lange – neben Dir – gefehlt hat. Stell Dir vor, wie sie sich eines Abends völlig nackt in das neue, weiche Sofa niederlässt, die Beine lässig auseinanderstellt und so augenscheinlich genießt, wie ich mich erst lange an ihr satt sehe, bevor wir beginnen über Kissen, Tisch und Bänke zu balgen, BEIDE den Moment der endlichen körperlichen Vereinigung lange hinauszögernd. Kannst Du Dir vorstellen, wie gut mir das tut? Ich hatte so lange gedacht und gehofft, auch Dir könnte es guttun, so ganz Dich dem hinzugeben, was eben geschieht, unvorhersehbar in verantwortungsloser Lust.

Aber es ist auch klar, dass dieser Zustand, wie ich ihn mit J. kennengelernt habe, nicht so ohne weiteres andauern kann, also etwas wie eine Normalisierung und Beruhigung beginnen muss, jeden Tag ein wenig mehr. An diesem Wochenende, am Ende meiner ersten Arbeitswoche in einer Großwäscherei (es gibt sie auch hier, nicht nur in Polen!) wollen wir einen ganzen Nachmittag und eine halbe Nacht dafür investieren, nun doch einander von unseren Vorgeschichten zu erzählen. Ich weiß immerhin schon, dass sie ebenso viele Kinder bekommen hat wie wir und dass sie in etwa im gleichen Alter sein müssen wie unsere. Ich erwarte noch mehr solcher Zufälle. Am Ende wird es vielleicht kaum Unterschiede geben und es wird sein, als hätten wir immer zusammengelebt – an irgendeinem entfernten Ort.

Ich wünsche Dir ebenso viel Glück, wie ich es erfahren durfte, und hoffe, dass Dich dieser Brief noch an der alten Adresse erreicht.

Dein F.

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