Boccaccio 2020 – 03

Der Tausch von Thomas Holtzmann

Ich mag mein Gesicht nicht, auch nicht meine Stimme. Die Kopfform – der Hinterkopf ist so abgeflacht. Ich tausche meinen Kopf gegen den meines Kollegen. Seine Gesichtszüge sind so sanft, die Haut so glatt, das Lächeln mild. Eine Glatze hat er wie ich, aber sein Kopf ist so über die Maßen schön geformt wie der eines antiken ägyptischen Königs. Zuhause erkennt meine Frau mich natürlich nicht. Ein fremder Mann hat ihr Haus betreten, er hat die Tür mit einem Schlüssel geöffnet. Was tun Sie in meinem Haus? Ich versuche sie zu beruhigen, ich sei doch der, der ich auch zuvor gewesen sei, und wundere mich über den Klang meiner Stimme, tiefer als die meines Kollegen. Meinen Küssen weicht sie aus, sie will mich nicht mehr kennen und spült den Topf, in dem die Tomatensoße gekocht hat. Ich frage, ob sie mich nicht attraktiver finde als vorher. Aber sie will mich nicht kennen, lugt dann doch von unten, von der Seite her, unter ihrer linken Achsel hervor zu mir herüber. Ich streiche mir über die glänzende Glatze. Sie muss so glänzen, wie ich es von meinem Kollegen kenne. So reine Haut. Dabei ist er ganz so alt wie ich. Meine Kinder begrüßen mich wie einen fremden Besucher, neugierig und freundlich. Immerhin duzen sie mich. Meine Frau bittet mich zu gehen, sie erwarte ihren Mann, der gleich nachhause kommen müsse und sie wisse nicht, wie sie ihm erklären solle, dass da ein Mann im Haus sei, der von sich behaupte, ihr Ehemann zu sein. Also gehe ich. Meine Frau braucht Zeit, meine rein äußerliche Veränderung zu begreifen und zu akzeptieren. Wohin aber? Mittlerweile sollte auch mein Kollege in einen Spiegel gesehen und festgestellt haben, dass er nicht mehr seinen, sondern meinen Kopf trägt. Das dürfte ein kleiner Schock für ihn gewesen sein. Als ich seine Wohnung betrete, macht er mir sogleich Vorhaltungen, es könne ja wohl nicht angehen, dass ich mit seinem Kopf herumlaufe. Daran, so entschuldige ich mich scheinheilig, könne ich auch nichts ändern. Ich hätte nicht den blassesten Schimmer, wie es dazu gekommen sei. Ich halte allerdings nicht zurück, dass ich mit meinem neuen Kopf recht zufrieden bin, während mein Kollege über sein neues Aussehen entsetzt ist. Vielleicht, sage ich, wird morgen schon alles sein wie vorher. Er schüttelt nur den Kopf, meinen Kopf, und bettet ihn, Verzweiflung heuchelnd in beide Hände. Vielleicht, sage ich, werden wir uns daran auch mit der Zeit gewöhnen. Daran will ich mich gar nicht gewöhnen, sagt er. Ich streiche ihm tröstend über die Glatze, die glücklicherweise nicht mehr meine ist. Man wird uns nicht mehr erkennen, sagt er, man wird uns verwechseln. Wie kann ich noch ich sein, wenn die anderen mich für dich halten?

Ich gebe dem Kollegen meinen Hausschlüssel. Er zeigt mir das Schlüsselbord in seiner Wohnung. Dort hängt sein Schlüssel. Wir verabschieden uns förmlich. Gebeugt von seinem Schicksal steigt er die Treppen hinab. Dann schließe ich die Tür. Ich rufe noch schnell zuhause an und sage, ich käme bald. Ja, sagt sie, aber wer? Wer kommt? Ein Mann, sage ich, der meinen Kopf trägt. In der Wohnung meines Kollegen finde ich keine alkoholischen Getränke. Bieder scheint mir seine Einrichtung, als habe er lange Zeit mit seiner Mutter hier gewohnt, als habe sie ihm ihre Möbel hinterlassen. Die Bücher sind nicht das, was ich lesen würde, die Filme nicht mein Geschmack. Die Anzüge in seinem Schrank gefallen mir dagegen sehr. Sie sind sehr elegant. Nur werden sie mir nicht passen. Er ist noch deutlich schmaler gebaut als ich. Überhaupt hat er einen viel eleganteren Körperbau. Nackt habe ich ihn noch nicht gesehen. Ich suche in den Schränken nach Fotoalben. In einem der Fotoalben sehe ich meinen Kollegen als Jugendlichen. Er ist ungefähr dreizehn Jahre alt, schlaksig, nass vom Baden und die Schultern rund und glänzend wie Reichsäpfel. Da hatte er noch Haare auf dem Kopf. Seinen Kopf, denke ich, wird meine Frau akzeptieren. Aber auch den Gestus, die Art wie er beim Sprechen mit beinahe adeligem Hochmut seine Stimme hebt und senkt, beinahe schnalzt beim Reden? Wenn er sich für die Nacht entkleidet – wird sie das Brusthaar vermissen? Wird sie nicht sofort bemerken, dass es zwar der richtige Kopf, nicht aber der richtige Körper ist? Die Nacht ist kühl. Als ich die Leiter ans Fenster lege, geht im Zimmer gerade das Licht an. Ich steige hinauf und meine Frau sieht mich durchs Fenster an, zwinkert und legt den Zeigefinger an ihren süßen Mund. Dass ich keinen Laut von mir geben möge. Sonst tritt sie nie mit nackten Brüsten ans Fenster, wenn sie die Vorhänge zuzieht.

Das rote Kleid

Ich entdeckte den kleinen Laden eher zufällig, weil es plötzlich heftig zu regnen begann und ich auf dem Weg von der Generalprobe zur Bücherei keinen Schirm dabeihatte. Das Vordach über dem Eingang bot mir gerade genug Schutz, um nicht von oben bis unten nass zu werden. Der Laden war mir bislang noch nicht aufgefallen, vielleicht, weil die Auslagen sich optisch nicht darauf festlegen wollten, ob es sich um ein Modegeschäft, einen Gift-Shop oder die Beratungsstelle einer Frauenorganisation handelte. Neben einigen Buch-Exemplaren mir nur bedingt geläufiger Feministinnen sowie Sex-Aufklärungsbüchern speziell für Frauen lagen Baumwoll-Hipsters mit aufgedruckten Slogans oder Sprüchen wie „sex positive“, „be nice to me“, „eat more pussy“, die ich kaum meiner eigenen Altersklasse zuordnen konnte, eher was für junge Mädchen, die beim ersten Date überraschen wollen. An den Seiten hingen dagegen zwei hübsche Tops, gegenüber ein flippiges Hippie-Kleidchen und auf einem bunt bemalten Sockel stand ein Paar klobiger, grell-grüner Plateau-Stiefel. Was mich letztlich gegen alle Skepsis bewog, den Laden, der sich „EINTRITT“ nannte, zu betreten, war das rote, ganz nach meinem Geschmack geschnittene Kleid, das prominent auf einer Schneiderbüste ausgestellt war, so schlicht wie extravagant. Es einmal anzuprobieren, konnte ja nicht schaden. Heterogenität war offenbar das Leitmotiv für Ausstattung und Sortiment des Ladens – und nicht zuletzt „laziness“. Zwar hatte eine kleine, schrille Glocke an der Tür die neue Kundin angekündigt, aber niemand ließ sich blicken, obwohl aus einem Hinterzimmer leise Stimmen zu hören waren, kurze, beinahe geflüsterte Wortwechsel. Ich hatte also Zeit, mich in aller Ruhe etwas umzusehen. Das rote Kleid war auf der Rückseite nicht mit Nadeln auf Form gesteckt worden, ich konnte annehmen, dass es mir halbwegs passte. Auf der Theke, die ihrer Patina nach aus einem alten Tante-Emma-Laden stammen musste, stand eine nicht minder alte Kasse aus analogen Zeiten. Fehlte eigentlich nur die Kurbel an der Seite. Auf der Rückseite der Kasse begegnete ich noch einmal dem Namen des Geschäfts: „EINTRITT“, aber erst jetzt las ich die kleinere Zeile darunter: „nur für Frauen“. Also doch eine Art „Frauenladen“! Hätte der Regen, der in Wellen über die Straße peitschte, nachgelassen, wäre ich wahrscheinlich wieder gegangen. So blieb ich und schaute mich weiter um. Im vorderen Raum fand sich vorwiegend Bekleidung, viele T-Shirts mit coolen feministischen Sprüchen, eine kleine Abteilung mit Unterwäsche, über der analog zum „EINTRITT“-Schild eine Pappe angebracht war, auf der stand: „KINKY – nur für Frauen“. Gegenüber standen die Bücherregale, in denen feministische Titel wahllos neben erotischer Literatur und anscheinend pornographischen Bildbänden einsortiert waren. Naomi Wolf, Betty Dodson, Beauvoir und Judith Butler. Da sich immer noch niemand blicken ließ, fischte ich einen der Bildbände heraus, der auf pinkem Einband den Titel „Orgasm – Photographs and Interviews“ trug. Ich blätterte ein wenig darin und musste feststellen, dass alles recht harmlos aussah: Irgendwelche Frauen, die sich in unterschiedlichen Situationen, anscheinend vor, beim oder nach dem Masturbieren hatten fotografieren lassen. Keine expliziten Bilder. Gleich neben den Büchern, unmittelbar hinter der Theke, war die Abteilung mit DVDs, die mich nicht weiter interessierten, englischsprachige Titel, in denen Worte wie G-Spot, Education, Pussy, Kinky, Female, und sogar Anal in immer neuen Variationen kombiniert waren. Unter der Decke waren überall bunt bedruckte indische Tücher ausgebreitet, die wohl für eine gemütliche Atmosphäre sorgen sollten. Als ich den abgegriffenen Vorhang, der zu den hinteren Räumen führte, etwas zur Seite schieben wollte, näherte sich eine der Stimmen. Sie müsse kurz nach der Kundschaft sehen, sagte eine robust klingende Frauenstimme. Ich trat zwei Schritte zurück und sah Angelika zum ersten Mal. Sie war eine groß gewachsene, schlanke Frau mit langem, vollem und durch und durch grauem Haar. Sie war eine ausgesprochen freundliche Erscheinung, zugleich aufrecht, energisch und elegant. Werde ich jemals solch tiefroten Lippenstift mit so viel Selbstbewusstsein tragen wie sie? Es kam selten vor, dass ich mir bis zu diesem Grad der Bewusstheit vergegenwärtigte, wie schön eine Frau ist. Angelika war unbeschreiblich schön, trotz ihrer grauen Haare und den 50 oder sogar bald 55 Jahren, auf die ich sie schätzte. Als sie mich sah, schien sie gleich etwas sagen zu wollen, hielt aber nach dem Einatmen inne, blieb auf der Schwelle stehen und lächelte mich herzlich und beinahe etwas amüsiert an. Ich musste sie mit so erstaunten Augen, so überrascht angesehen haben, dass sie diesen Moment auszukosten schien, der weitaus mehr Wirkung entfalten sollte als jedes nur erdenkliche Verkaufsgespräch.

„Kennen wir uns?“, fragte sie und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, ohne mich aus den lächelnden Augen zu lassen.

„Nein. Nein, ich glaube…“

Sie blickte auf den Geigenkasten, den ich am Gurt über die Schulter trug.

„Dann werden wir uns ja hoffentlich kennenlernen. Was kann ich für dich tun?“

Ich fand es zwar sehr unpassend, von ihr geduzt zu werden, zeigte aber, als störte mich das nicht weiter, nur auf das rote Kleid und fragte, was sie dazu meine, ob es mir passen würde und ob ich es einmal anprobieren könne. Das habe sie nur einmal da, sie müsse es von der Büste abnehmen, was aber kein Problem sei. Bei fast allem, was sie hier verkaufe, handle es sich um Unikate, jedenfalls Einzelstücke. Wenn mir das Kleid nicht passe, könne sie es nachbestellen. Der Schnitt sei relativ einfach, eine Freundin nähe das Kleid bei Bedarf auch nach Maß. Ich beobachtete, wie sie das Kleid von der Büste zog. Dabei fuhr sie mit ihren schmalen, langen Fingern unters Kleid, glitt an der Kunststoffhaut der Schneiderpuppe hinauf, als liebkoste sie diese wie einen Menschen aus Fleisch und Blut, schob das Kleid über die Hüften und drehte es beim Lupfen in die Höhe einmal komplett auf links. Dabei reckte sie sich weit nach oben. Ich konnte sehen, dass sie unter ihrer locker sitzenden Hüftjeans eine von den „kinky“ Unterhosen trug, die sie im Regal liegen hatte. Noch im gleich Moment drehte sie sich wie eine Tänzerin auf Spitzen zu mir um, das geraffte Kleid überm Kopf, ihr T-Shirt weit überm Bauchnabel, und ich konnte über der Naht des Slips den Ansatz ihrer Schambehaarung sehen. Während sie das Kleid flink wieder auf rechts drehte, glattschüttelte und dabei auf die hinteren Zimmer zusteuerte, gab sie mir ein Zeichen, dass ich ihr folgen sollte. In dem recht schmalen Gang hinter dem Vorhang befanden sich links und rechts Glasvitrinen, in denen einige wenige, offenbar jedoch ausgesuchte und hochwertige Dildos, Vibratoren und anders Sexspielzeug ausgelegt waren.

„Nicht erschrecken“, sagte sie über die Schulter hinweg und bog in einen weiteren, etwas kürzeren Gang ab.

Ich erschreckte mich gar nicht. Mir war, was ich sah, aus den Frauenzeitschriften beim Zahnarzt ja durchaus vertraut, wenn auch nicht in dieser Vielfalt. Gegenüber einer kleinen Küche befand sich eine Kammer, kaum größer als ein Abstellraum, der mit billigem Samt ausgekleidet war. Von oben herab hing eine kleine Lampe, die den Raum nur spärlich beleuchtete, an einer Wand drei einfache Haken, in der einen Ecke stand ein in die Jahre gekommener Holzstuhl mit weißen Farbflecken, gegenüber ein halbhoher Spiegel, dessen Silberschicht an den Rändern korrodiert war.

„Kommt nicht ganz so oft vor, dass jemand hier zur Anprobe muss. Ist alles ein bisschen improvisiert.“

Sie hielt mir das Kleid hin, blieb aber im Türrahmen stehen und blickte mich weiter freundlich an. Es gab weder Tür noch Vorhang. Angelika merkte wohl, dass ich irritiert danach Ausschau hielt.

„Entschuldigung“, sagte sie, „ich verdrück mich mal einen Moment in die Küche.“

Ich konnte direkt in die Küche sehen, in der mit dem Rücken zu mir eine andere, jüngere Frau auf dem Zwilling des Kabinen-Holzstuhls vor einem kleinen, billig wirkenden Kunststofftisch saß. Sie trug obenherum nur einen weißen BH, balancierte eine Kaffeetasse in der Hand und unterhielt sich mit einem Mann, den ich nicht sehen konnte – der Stimme nach kein ganz junger Mann mehr, jugendlich aber in seiner melodiösen Beweglichkeit. Angelika knüpfte mit Robert an ein Gespräch an, das sie anscheinend zuvor abgebrochen hatten. Ich wusste nicht, dass ich ihn einige Zeit später auch noch kennenlernen würde. Jetzt noch waren sie ein geheimnisvolles Trio, das in mir zwar Interesse, aber auch Furcht geweckt hatte. Ich stellte den Geigenkasten neben dem Stuhl ab, hielt mir das Kleid vor die Brust und schaute in den Spiegel. Ich konnte mein Gesicht darin nicht sehen. Vor mir stand ein oben und unten abgesägter Rumpf, der sich ein wenig nach links und rechts drehte. Das Rot biss sich mit dem dunklen Magenta des Samtbehangs.

„Insa hat nicht das Format dafür“, hörte ich Robert sagen, „sie ist einfach noch zu jung dafür, glaube ich. Ich korrigiere mich: Das glaube ich nicht nur, das liegt einfach auf der Hand, und dass müsste dir genauso klar sein, wie mir.“

„Also, ich weiß nicht“, antwortete Angelika, „sie ist natürlich noch sehr jung. Und unerfahren und in gewisser Hinsicht naiv. Aber das waren wir in ihrem Alter doch auch. In anderer Hinsicht vielleicht, aber eben auch naiv. Ich finde, das Alter spielt nur sehr bedingt eine Rolle. Das sind immer nur unterschiedliche Perspektiven. Keine davon ist die richtige. Naivität hat auch etwas von großer Unmittelbarkeit.“

Ich hatte gerade Hose und T-Shirt ausgezogen und über die Stuhllehne gelegt, als sich Dorothee zu mir umwandte, mir zunickte und den Rest Kaffee hinunterkippte. Ich ließ mich durch ihren unverwandt meinen ganzen Körper taxierenden Blick nicht verunsichern und versuchte, mir das Kleid überzustreifen. Ich hatte mich mit meiner Einschätzung wohl arg getäuscht, es blieb mit der Taille auf Brusthöhe stecken, während mein Kopf vom Bustier umhüllt blieb und ich noch nicht einmal im Spiegel sehen konnte, wo genau es hakte und ob es auf Taillenhöhe vielleicht irgendeinen Reißverschluss gab, den ich übersehen hatte. Da fühlte ich zwei Hände auf meinen Rippen, Angelikas Hände, die nun mit der gleichen Bewegung wie vorhin noch bei der Puppe das Kleid wieder empor schoben.

„Schade, das passt wohl nicht. Hätte ich das gleich sehen können?“, sagte sie.

„Du hast es nicht sehen wollen, Angelika.“ Dorothee hatte ihren Stuhl gedreht und sich breitbeinig darauf zurückgelehnt. Sie hatte einen etwas speckigen Bauch, der aus ihrer offenen Jeans hervorquoll. Über der linken Brust war das Symbol der Frauenbewegung eintätowiert, das Zeichen der Venus mit der Faust im Kreis.

„Ich habe es nicht sehen wollen“, lachte Angelika, „du hast recht.“ Sie drehte das Kleid mit der gleichen Bewegung wie zuvor auf rechts, schüttelte es glatt und wandte sich zu Dorothee. „Aber das ist meine Verkaufsstrategie.“

Um nicht weiter blöd in Unterwäsche dazustehen, schnappte ich mir meine Hose und schob gebückt einen Fuß hinein, als Angelika ihre kühle Handfläche zwischen meine Schulterblätter legte und „Halt!“ sagte.

„Gefällt dir das Kleid denn im Prinzip?“

„Ja, das schon.“

„Ich kann es mir sehr gut an dir vorstellen.“

„Das gehört jetzt auch zur Verkaufsstrategie.“

„Ja, genau“, lachte Angelika. „Nein, wenn ich rein strategisch vorgehen würde, könnte ich dir zu schmeicheln versuchen. Zum Beispiel hast du ganz entzückende Unterwäsche an. Du hast Geschmack.“

„Das ist jetzt Ironie, oder? Not kinky that much, isn’t it?“

“Nein, ich mein’s ernst. Ich könnte das Kleid für 220 Euro bestellen. Ich müsste nur kurz deine Maße nehmen.“

„Ich weiß nicht. Was, wenn es mir dann doch nicht steht?“

„Das ist nicht die Frage. Es wird dir auf alle Fälle stehen! Aber es gehört Mut dazu, es zu tragen, finde ich.“

„Stimmt. Ich sollte es lieber bleiben lassen.“

„Das wollte ich damit nicht sagen. Du weißt schon, was ich meine. Du musst dazu stehen, wenn du es trägst. Ich stelle mir vor, dass dir schon jetzt nicht wenige, ich würde mal sagen, Männer wie Frauen sich auf der Straße nach dir umdrehen.“

„Das bezweifle ich, hätte mir auffallen müssen. Strategie Nummer zwei fehlgeschlagen.“

„Warte, ich hol mal das Maßband.“

„Ist wirklich nicht nötig.“

Angelika verschwand im Gang. Dorothee musterte mich nach wie vor von unten nach oben und umgekehrt. Sie schien mich geradezu auswendig zu lernen.

„Ist wirklich schöne Wäsche.“

Ich hing immer noch mit einem Fuß im Hosenbein. Ich würde mir also geduldig die Maße abnehmen lassen, mich anziehen und sagen, ich würde es mir noch einmal überlegen und spätestens morgen anrufen oder kurz vorbeikommen und Bescheid sagen. Angelika warf die Haare links und rechts über die Schultern zurück und stellte sich hinter mir in die Kabine und sagte beiläufig: „Doro, zieh dir mal was an! Ich kann so keine Verkaufsgespräche führen. Und mach dir die Hose zu!“

Dorothee rupfte an ihrem Reißverschluss und trollte sich. Robert, der weiter unsichtbar blieb, lachte leise in sich hinein. Er schien etwas zu lesen, denn ab und an blätterte er hörbar in einem Buch oder Manuskript weiter. Angelika legte von hinten ihre Arme um meinen Brustkorb und entrollte das Maßband zwischen ihren Fingerspitzen. Dabei blickte sie, die größer war als ich, über meine linke Schulter in den Spiegel gegenüber. Dann legte sie das Maßband unter meinen Brüsten an und las leise murmelnd hinten die Zahl ab. Dann stellte sie sich wieder dicht an meinen Rücken. Ich spürte ihre warmen Brüste auf meinen Schulterblättern. Sie fasste erneut unter meinen Achseln hindurch, legte das Band über meine Brustwarzen und suchte die Stelle mit der größten Ausdehnung meiner Rückenmuskulatur, naja, oder des Fettgewebes unter den Achseln.

„Mmmh“, machte sie und blickte prüfend in den Spiegel, „entschuldige, wenn ich dich jetzt mal da anfasse!“ Sie ließ das Band baumeln und fasste mit beiden zu Schalen geformten Händen meine Brüste, hob sie danach mit gestreckten Handflächen etwas an und legte schließlich die Handballen in meine etwas feucht gewordenen Achseln, um den Abstand von den Ballen bis zu den Nippeln mit ihren Mittelfingern zu messen.

„Handmaß nennen wir das. Ich meine, Lisa, meine Schneiderin und ich. Das ist die Waage“, und sie legte erneut ihre Handflächen unter meine Brüste, um sie leicht anzuheben, „drei Finger, und das ist das Nippelmaß: Fingerkuppenspitze. Du hast wirklich schöne Brüste. Kannst du stolz drauf sein.“

Dann ließ sie ihre Hände über meinen Bauch nach unten gleiten und nahm das Hüftmaß. Danach stellte sie sich seitlich zu mir, legte mir eine Hand auf den Bauch, die andere gegenüber in den Rücken, ging in die Hocke und blickte prüfend mit ernstem Gesichtsausdruck. Was weiß ich, was sie prüfte. Ich ließ es mir gefallen. Hier war anscheinend alles irgendwie ungewöhnlich, also auch das Maßnehmen. Sie drehte mich hockend zu sich um und ließ ihre Hände über meine Hüften und Oberschenkel gleiten. Ich spürte ihren Atem durch meinen Slip.

Angelika stand wieder auf, trat zwei Schritte zurück und musterte mich weiter von oben nach unten.

„Das ist schon was Besonderes. Du hast sehr schmale Hüften und eine im Vergleich beeindruckende Oberweite. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich schnell ein Foto von dir mache, um es Lisa zu schicken? Eins von jeder deiner Schokoladenseiten, vorne, hinten, Seite.“

„So?“, fragte ich, „in Unterwäsche?“

„Wenn es dir lieber ist, auch ohne“, sagte sie ohne jeden Anflug von Ironie.

„Ähm, dann mindestens mit Unterwäsche. Aber wenn ich das Kleid gar nicht kaufe?“

Angelika stemmte die Hände in die Hüften. „Wenn ich erst die Fotos gemacht habe, wird es dich einige Überwindung kosten, das Kleid nicht zu nehmen. Das wäre einfach zu peinlich.“ Sie zwinkerte mir zu.

„Genau. Genau das ist es, was ich meine.“ Angelikas Direktheit machte mir Spaß. Ich konnte mich ihr einfach nicht mehr entziehen und war längst entschlossen, ihr das Kleid abzunehmen und diesem Abenteuer bis zum Ende zu folgen. Ich stellte mir vor, wie ich einige Wochen später wiederkam und das fertige Kleid in dieser schrägen Samtkabine anprobierte, wie Angelika es mir eigenhändig überstreifte. Im Verkaufsraum schrillte das Glöckchen. Angelika verschwand kurz, kehrte aber einen Augenblick später mit einer kleinen Digitalkamera zurück.

„Wollen Sie nicht nachsehen, wer gerade gekommen ist“, fragte ich und wurde mir sofort dessen bewusst, wie unangemessen es war, sie nicht zu duzen, welches Missverhältnis zwischen uns ich damit unterstellte – sie in der Rolle der Erwachsenen, ich in einer befremdlichen Kleine-Mädchen-Rolle.

Angelika lächelte. Ihr Blick hatte in der Tat etwas Mütterliches.

„Angelika“, sagte sie, „ich heiße Angelika. Und du?“

„Lena.“

„Lena, im Moment bist du die Hauptperson hier. Wenn ich mich um dich und meine neue Kundin gleichzeitig kümmern wollte, kämt ihr beide zu kurz. Diese Regel lernen bald alle meine Kundinnen kennen, die wiederkommen möchten. Wenn ich dich jetzt hier stehen ließe, würdest du vielleicht nicht mehr wiederkommen wollen.“

„Nein“, sagte ich, „ich will auf jeden Fall wiederkommen. Du kannst gern nachsehen, wer gerade im Laden steht. Ich kam mir vorhin ziemlich blöd vor, als ich so lange alleine rumstehen musste. Angelika.“

„Wie du meinst“, sagte Angelika und reichte mir die Kamera. „Halt die mal solange fest!“

Angelika ging ums Eck zurück in den Verkaufsraum. Ich blieb in Unterwäsche stehen und drehte die Kamera in meinen Händen. Jetzt sah ich zum ersten Mal Robert. Er hatte unsere Gespräche mit angehört und war anscheinend neugierig geworden zu sehen, wie der Mensch aussah, der vergeblich gegen Angelikas Charme angekämpft hatte. Er lugte vorsichtig um den Türpfosten der Küche herum. Unsere Blicke begegneten sich sofort, was ihn zu überraschen schien. Er legte lächelnd den Kopf zur Seite und sagte: „Hübsch!“

Ich ließ meine Hände ruckartig nach unten fallen und hielt die Kamera vor meinen Slip.

„Aus der Hüfte geschossen“, meinte Robert verschmitzt.

„Wie meinen?“

„Die Kamera da unten.“

Ich hielt die Kamera vor meinen Schoß, als wollte ich damit pinkeln. Ich kam mir blöd vor, wie ausgestellt und vorgeführt. Es war ein mir unerklärlicher Affekt, dass ich plötzlich die Kamera vors Gesicht hob, auf Robert zielte und abdrückte. Der automatische Blitz löste aus. Ich betrachtete das Foto auf dem kleinen Bildschirm und ließ mich auf den Stuhl fallen. Im Spiegel vor mir saß die kleine Lena, die jetzt gerne von ihren Eltern aus den Bällen abgeholt werden wollte.

„Ist es gut geworden?“, fragte er.

„Keine Ahnung“, sagte ich und starrte auf den dunklen Bildschirm, „es ist schon wieder verschwunden. Es wir Ihnen schon irgendwie ähnlich sehen.“

Robert war noch ein wenig größer als Angelika und spielte meiner groben Schätzung nach in der gleichen Altersliga wie sie. Irgendwie passten sie zueinander, obwohl ich nicht sicher sein konnte, dass sie zusammengehörten: die grauen Haare, der schlanke, muskulöse Körperbau, die Lachfalten um die Augen. Robert legte das Manuskript, das er in den Händen gehalten hatte, auf den Küchentisch und hockte sich hinunter, ohne mich aus den Augen zu lassen.

„Das rote Kleid? Das ist ein gutes Omen.“

Omen? Omen wofür? Nicht eher ein Menetekel? Ich hoffte, Angelika würde zurückkommen. Ich wollte nicht weiter von Robert angestarrt werden.

„Möchten Sie einen Kaffee? Soll ich Ihnen eine Decke holen?“

Ich blickte in den Spiegel, zog meine Lippen kraus und nickte. Robert stand auf, goss irgendwo in der Küche Kaffee in einen Becher, reichte ihn mir und sagte, er hole schnell eine Decke aus der Wohnung. Jetzt wartete ich wieder. Warum nur hatte ich Angelika so rücksichtsvoll ans Herz gelegt, sich um die neue Kundin zu kümmern? Ich hörte das Brummen des Kühlschranks. Dorothee durchquerte noch einmal kurz das Bild. Sie stülpte sich einen Motorradhelm über den Kopf und nuschelte einen Abschiedsgruß. Dann wieder Stille. Ich würde also beim nächsten Mal das maßgeschneiderte rote Kleid kaufen, egal, ob es saß oder nicht. Dann würde Angelika mir noch zwei, drei Slips aus ihrem Kinky-Sortiment aufschwatzen. Gäbe es wohl einen feministischen Sex-Ratgeber als Dreingabe, wenn ich auch noch einen gedrechselten Holzdildo mitnähme? Apropos „feministisch“: War Angelika eine militante Feministin? Die hatte ich mir anders vorgestellt. Irgendwie passten Sex-Artikel und Feminismus in dem Bild, das ich mir von der Welt und den Menschen gemacht hatte, nicht recht zusammen. Feminismus rangierte in meinem Kopf gleich neben Protestantismus, Puritanismus, political correctness und allen anderen Arten von Sex- und Körperfeindlichkeit. Das war natürlich ungerecht. Echten Feministinnen ging es ja nur um das Aufbrechen männlicher Herrschaftsstrukturen. Aber oft genug wurde die Sexualität der Männer als Ausdruck ihres Machtstrebens, ihres Unterwerfungswillens mit allen anderen männlichen Eigenschaften in einen Topf geworfen und verteufelt. Welche ernstzunehmende Feministin konnte da noch Sex mit einem richtigen Mann haben, ich meine, Sex auf Augenhöhe? Und Robert? War der dann jetzt ein männlicher Feminist? So, wie der mich angestarrt hatte? Der hätte es wahrscheinlich auch lieber gesehen, wenn ich mich nackt fotografieren ließe. „Foto“ war das Stichwort. Ich konnte die Fotos ja auch ganz alleine machen. Jede Kamera hatte heutzutage einen Zeitauslöser. Ich klickte mich durchs Menü der Kamera, fand die entsprechende Einstellung, stellte sie auf die Tischkante in der Küche, rückte den Stuhl zur Seite und positionierte mich im Türrahmen der Kabine. Ich machte gerade ein ziemlich blödes Gesicht, als es blitzte, weil es mir in der Nase juckte. Auf dem Foto waren mein Kopf und meine Beine abgeschnitten, wie in dem Spiegel. Außerdem hatte ich mich, ohne dessen gewahr zu werden, bei der Aufnahme im Schritt gekratzt oder den Slip zurechtgezupft, keine Ahnung. Ich musste die Kamera hochkant aufstellen und sie dafür mit irgendwas abstützen. Ich suchte die Regale ab, öffnete einige Schranktüren und nahm schließlich eine Milchtüte aus dem Kühlschrank. Beinahe hätte ich sie auf dem Manuskript abgestellt, das Robert liegengelassen hatte. Ich schob es zur Seite, startete den „Zeitzünder“ der Kamera, lehnte die Kamera vorsichtig an die Milchtüte und begab mich auf Position. Als ich das Ergebnis kontrollieren wollte, fiel mein Blick auf den Titel des Manuskriptes: „Tagebuch meiner Lüste – von Insa Reincke“. Das machte mich neugierig. Ich schlug es irgendwo in der Mitte auf und las:

…aber ich kann einfach nicht genug davon bekommen. Von dem Tag an, an dem ich die Cam auf meinem alten Computer installiert habe, habe ich mein Zimmer nur noch fürs Essen, Scheißen und Pinkeln verlassen. Ich finde es einfach zu geil, mich auf dem Monitor zu sehen und zu wissen, dass da draußen Hunderte von geilen Jungs mir dabei zusehen, wie ich mir die geschälte Gurke reinschiebe und es mir dabei mit dem Vibrator besorge. Das Klopfen an meiner Tür ignoriere ich hartnäckig. Meine WG-Mitbewohner habe ich total ausgeblendet. Die ersten Vorlesungen haben bereits begonnen, aber ich kann an nichts anderes mehr denken als ans Wichsen. Wichsen? Sagt man das als Mädchen? Ich habe immer gedacht, wichsen würden nur Jungs. Aber für das, was ich tue, gibt es einfach kein besseres Wort als Wichsen. Ich weiß jetzt: Das ist die Freiheit, nach der ich mich instinktiv immer gesehnt habe. Aber diese Freiheit hat absolut nichts damit zu tun, Hendriks Schwanz zu lutschen oder mir von Nathan in den Arsch ficken zu lassen. Jetzt kann ich all das tun, was mir Spaß macht, ohne von irgendwem eingeschränkt oder bevormundet zu werden. Und alle Welt kann mir dabei zusehen. Das flasht mich total!

 

Der kurze Ausschnitt genügte mir voll und ganz, um das Gesamtbild des Ladens und seiner Betreiber um ein zentrales Puzzleteil zu ergänzen. Das also hatte Robert die ganze Zeit über gelesen. Und anscheinend hatte es auch Angelika bereits gelesen. Denn unbezweifelbar hatten sie kurz zuvor darüber diskutiert, über die Naivität einer jungen Frau. Und ihre Unerfahrenheit? Doch wohl nur dann, wenn es sich um ein fiktives Tagebuch handelte und nicht um einen Erfahrungsbericht aus der Sex-Cam-Szene, von der ich gänzlich unbeleckt war. Hier war alles nur schräg, alles und alle.

Angelika und Robert kamen fast gleichzeitig zurück, Robert mit einer braunen, plüschigen Decke, Angelika mit einem rosa Vibrator in der Hand.

„Ich hab schon mal angefangen“, sagte ich lakonisch und mit dem Gefühl, irgendeinem mir noch unbekannten Schicksal ganz und gar ergeben zu sein. Was auch immer noch geschehen sollte: mochte es geschehen. Ich reichte Angelika die Kamera, Robert hängte mir die Decke über die Schultern, Angelika zog sie wieder herunter, versuchte die Decke zusammenzufalten, reichte mir den Vibrator, legte die gefaltete Decke über den Stuhl, nahm mir den Vibrator wieder aus der Hand und hielt ihn Robert hin: „Halt mal!“ Sie schob mich zurück unter den Türrahmen, setzte sich, um etwas mehr Abstand zu gewinnen, auf den Tisch und stieß dabei die Milchtüte um, deren Deckel nur aufgelegt war. Die Milch überschwemmte das Manuskript und suchte sich danach flink den kürzesten Weg von der Tischplatte zum Fußboden. Angelika sprang auf, stellte die Milchtüte derart hektisch auf, dass die Milch aus der Öffnung spritzte, und riss das Manuskript vom Tisch in die Höhe.

„Scheiße, herrgottnochmal! Warum hast du die Milch schon wieder offengelassen?“

Robert zog den Stuhl vom Tisch weg, reichte mir den Vibrator und holte Wischlappen und Handtuch von der Spüle. Sie wischte mit dem Lappen auf dem Tisch, er unten auf dem Fußboden, wo ihm die Milch ins Haar rann, die Angelika mit dem Lappen in übertriebener Eile über den Rand schob. Ich hatte partout nicht mehr das Gefühl, noch in der Welt zu leben, die ich bis vor gut einer Stunde noch zu kennen geglaubt hatte, einer Welt, die mir weitgehend vertraut erschienen war, berechenbar, zu 99, oder sagen wir 95 Prozent vorhersagbar. Während ich wieder einmal wartete, erkundete ich die Schaltknöpfe des Vibrators. Ich hatte nie zuvor einen in der Hand gehalten. Zwei waren, wie ich feststellte, für die Geschwindigkeit zuständig, mit den beiden anderen konnte man die Programme wählen, die mit unterschiedlichen Rhythmen aufwarteten: Simsimsimsimsimsim, Ssssuuuummmsipsipsip oder ssssuuuuummmmstopsssssuuuuuummmmstop. Ich probierte alle durch, bis die Beiden mit der Putz-Session oberflächlich fertig waren. Als Angelika etwas verschwitzt und leicht genervt wieder zur Kamera griff, reichte ich Robert das Toy, das immer noch vibrierte, weil ich es auf die Schnelle nicht fertiggebracht hatte, es auszuschalten.

„Na, wenigstens konntest du dich zwischenzeitlich etwas vergnügen. Eigentlich nimmt Angie sie nicht zurück, wenn sie einmal benutzt waren.“

„Nichts für ungut“, gab ich zurück und stellte mich in Pose, Hüfte raus, ein Arm nach oben, die Finger lassen Wassertropfen aufs Haupt fallen.

„Du sollst mich nicht Angie nennen“, sagte Angelika und drehte die Kamera vor ihrem Gesicht ins Hochformat. „Na dann eben ohne Füße. Kannst du die Arme einfach hängen lassen und dich gerade hinstellen?“

Ich ließ die Arme schlaff herabhängen und schaute ausdruckslos in die Kamera.

„Nee, so geht das nicht. Du musst dich schon gerade hinstellen.“ Es blitzte. „Und jetzt von der Seite.“

Ich drehte mich, es blitzte. Ich drehte mich ein weiteres Mal für meine hintere Schokoladenseite. Es blitzte.

„Was mache ich hier eigentlich?“

„Wir machen Fotos für Lisa, damit sie dir dein Kleid schneidern kann, Schätzchen!“

„Kann ich mich jetzt wieder anziehen?“

 

Ich hinterließ Angelika meine Telefonnummer und verließ den Laden gehetzt, obwohl es immer noch regnete. Zuhause hatte Lukas das Wochenende eingeläutet und spielte am Computer. Maya packte ihre Tasche für den Ballettunterricht und grüßte mich nur beiläufig.

„Wo warst du denn so lange?“

„In der Bibliothek. Bücher wegbringen, Bücher abholen. Krimi-Lektüre fürs Wochenende.“ Ich war einfach noch nicht in der Verfassung, etwas von meiner Begegnung der Dritten Art zu berichten. Wo hätte ich anfangen, was hätte ich weglassen sollen?

„Wo ist Sebastian?“

„Einkaufen. Tschüss, ich muss los.“ Sie fächerte mir im Gehen mit der Hand einen Gruß zu.

„Es regnet. Soll ich dich fahren?“

„Papa hat das Auto.“

Nach dem Abendessen erzählte ich Sebastian von dem „schrägen“ Laden und der noch viel „schrägeren“ Verkäuferin, dass ich mir ein rotes Kleid angesehen und mir irgendwie hätte aufschwatzen lassen. Jetzt würde es für mich zu einem trotz allem günstigen Preis angefertigt. Mehr nicht. Als ich mich vorm Schlafengehen im Spiegel betrachtete, sagte Sebastian, ein rotes Kleid würde mir stehen.

„Aber ohne Kleid gefällst du mir besonders gut.“

Während wir miteinander schliefen, stellte ich mir vor, wie Robert in der Schlafzimmertür stand, uns dabei zusah und irgendwann „Hübsch!“ sagte. Ich stellte mir vor, wie Angelika und Robert miteinander schliefen und Dorothee ihnen dabei zusah. Sie trug den Motorradhelm auf dem Kopf und klopfte rhythmisch mit den Fingerknöcheln darauf. Ich sah die Milch auf den Fußboden tropfen und fühlte den unwiderstehlichen Drang, alles gründlich und restlos aufzuwischen. Als Sebastian fertig war, war ich weit von einem Höhepunkt entfernt. Wieder einmal. Aber diesmal war es auch für Sebastian unverkennbar gewesen.

„Was ist?“, fragte Sebastian, „du wirkst so abwesend.“

„Bin ich auch. Ich ärgere mich schon die ganze Zeit über mich selbst, weil ich mir von dieser komischen Frau dieses Kleid habe andrehen lassen.“

„Du musst es ja nicht nehmen. Du kannst doch morgen anrufen, dass du es dir anders überlegt hast.“

„Ach, das ist so peinlich! Dabei weiß ich gar nicht mal, ob ich mich wirklich trauen würde, es zu tragen. Es fällt so auf. Ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat.“

„Es hat dich eben gereizt. Warum sollst du dich nicht auch mal richtig aufbrezeln. Ich wäre der Letzte, der was dagegen hätte. Probier’s doch einfach aus! Mach dir keine Gedanken mehr!“

 

Nachdem ich mir am Samstagmorgen neue Krimis in der Bibliothek besorgt hatte, stand ich wieder vor dem Laden. Ich bildete mir ein, das rote Kleid noch einmal im Schaufenster begutachten zu wollen, um eine Entscheidung treffen zu können, ob ich es wollte, oder nicht. Angelika saß hinter der Theke und las in einem Buch. Als sie mich bemerkte, lächelte sie mich über ihre Lesebrille hinweg durchs Schaufenster an. Ich lächelte zurück, hob mit einer Geste der Hilflosigkeit meine Hände und zuckte mit den Schultern. Angelika öffnete die Ladentür und blieb schmunzelnd im Eingang stehen.

„Ich weiß nicht, ob es wirklich das Richtige für mich ist. Kannst du es noch stornieren?“, fragte ich.

Angelika stieg die drei Stufen zu mir herab, stellte sich neben mich vor das Schaufenster und betrachtete das Kleid.

„Nein, vielleicht bist du wirklich noch nicht soweit. Ich kann Lisa anrufen und den Auftrag zurücknehmen, wenn du willst.“

Sie legte den Arm um meine Hüfte.

„Schade“, sagte sie, „aber willst du trotzdem kurz mit reinkommen und einen Kaffee mit mir trinken? Ich langweile mich ein wenig.“

Angelika brachte Kaffee und einen Hocker, damit ich mich neben sie setzen konnte. Zuerst fragte sie mich nach Familie und Kindern, was ich und Sebastian beruflich machten, wie alt die Kinder seien und ob ich glücklich sei. Natürlich sei ich glücklich. Ich hätte im Leben wohl sehr viel Glück gehabt. Das sehe sie mir an, meinte Angelika. Und sie selbst? Ob sie denn glücklich sei, fragte ich, um endlich mehr über sie zu erfahren.

„Was meinst du? Sehe ich glücklich aus?“

„Ich finde, schon. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass es nicht leicht ist, so einen Laden zu betreiben. Hast du überhaupt genug Kundschaft, um über die Runden zu kommen? Es ist ja praktisch nicht viel los hier, oder?“

„Um ehrlich zu sein, ist der Laden eher eine Art Zeitvertreib oder Zwischenlösung, eine Versuchsanordnung.“

„Versuchsanordnung.“ Ich nickte, aber verstand nichts. „Aber du musst doch auch finanziell zurechtkommen.“

In den folgenden zwei Stunden, in denen ich die Zeit ganz und gar vergaß, erfuhr ich von Angelika mehr, als ich von meinen besten Freundinnen wusste. Irgendwann musste ich nicht einmal mehr Fragen stellen, denn Angelika verfiel immer mehr in einen Monolog, der jedoch nicht bloß ihre Eitelkeit befriedigte, nicht, wie mir zunächst schien, die moralische Rechtfertigung darstellte, die der Unsicherheit darüber entsprang, ob ihre Lebensentscheidungen richtig gewesen waren. Sie hatte Medizin studiert und lange Zeit in einem Krankenhaus als Anästhesistin gearbeitet. Dort hatte sie nach einigen eher kurzen Beziehungen zu älteren Männern Robert kennengelernt. Er hatte als Orthopäde gerade erst seine Stelle neu angetreten und musste sich schon in der ersten Woche wegen einer verschleppten Blinddarmentzündung selbst unters Messer begeben. Sie war an diesem Tag die diensthabende Anästhesistin. Damit habe es angefangen. Kaum ein Jahr später hätten sie geheiratet. Das Ärzteleben sei aufreibend gewesen, vor allem als irgendwann die Kinder geboren wurden. Sie hätten immer wieder überlegt, eine eigene Praxis zu kaufen, um etwas Ruhe in ihr Leben einkehren zu lassen. Für die Kinder die Stunden zu reduzieren funktionierte mehr schlecht als recht. Dann habe sich Robert irgendwann entschlossen, seine Stelle aufzugeben, weil Angelika deutlich mehr Geld verdiente und er nicht wirklich glücklich mit seinem Beruf war. In dieser Zeit habe er mit dem Schreiben begonnen, Krimis. Aber der erhoffte Erfolg blieb aus. In einem kleinen, unbedeutenden Verlag habe er schließlich zwei seiner Kriminalromane und einige Erzählungen unterbringen können, von denen aber nur wenige hundert Exemplare verkauft wurden. Robert sei mit der Zeit depressiv geworden, habe sich einfach nicht damit abfinden können, nur mehr den Hausmann zu spielen. Kochen, waschen, putzen, die Hausaufgaben der Kinder betreuen. Sie selbst habe sich immer mehr in die Arbeit gestürzt und neben den Schichten, davon viele Nachtdienste, wissenschaftliche Texte geschrieben, sie sei auf Kongresse und Tagungen gefahren und habe das Ziel verfolgt, sich zu habilitieren und vom Krankenhaus in die Universität zu wechseln. Irgendwann sei sie zusammengebrochen und habe sich eingestehen müssen, dass sie mit ihren überzogenen Ambitionen vor allem auch vermieden habe, mehr Zeit als nötig mit Robert und den Kindern zu verbringen. Sie sei regelrecht vor ihnen geflohen. Im Bett sei da zwischen ihnen schon lange nicht mehr viel gelaufen. Sie habe Roberts schlechte Verfassung zwar bemerkt, aber zu ignorieren versucht. Als sie mit – wie sich erst nach Wochen herausstellte – psychosomatischen Lähmungserscheinungen zuerst im Krankenhaus, danach ambulant behandelt wurde, habe sie gewusst, dass sie etwas ändern müsse in ihrem Leben. Und nicht nur etwas, sondern Grundlegendes. Interessanterweise habe sich Robert während ihrer Krankheit sichtlich erholt. In der Notsituation habe er auf einmal neue Kräfte mobilisieren können. Zwei Jahre habe sie danach noch als Anästhesistin gearbeitet, dann habe sie endlich den Entschluss gefasst, zu kündigen. In dieser Zeit habe sie auch Dorothee kennengelernt, genauer gesagt, sie beide, Robert und sie hätten Dorothee kennengelernt. Die genauen Umstände seien etwas bizarr.

„Soll ich weitererzählen?“, fragte Angelika, „Die meisten, denen ich das erzähle, reagieren da eher reserviert. Wir können gerne das Thema wechseln.“

Ich ermutigte sie, weiter zu erzählen, denn ich war neugierig geworden. Dafür müsse sie allerdings etwas weiter ausholen, sagte sie.

„Robert hatte irgendwann aufgehört zu schreiben. In den Kriminalgeschichten, die er bis dahin geschrieben hatte, spielten Sexszenen immer wieder eine Rolle, von Mal zu Mal mehr. Dazu gleich mehr. Als wir nach meiner Krankheit häufiger darüber sprachen, wie wir uns unsere Zukunft vorstellten, wenn die Kinder aus dem Haus sein würden, fragte ich ihn, ob er nicht vielleicht wieder mit dem Schreiben anfangen wolle. Er meinte, das sei für ihn ein abgeschlossenes Kapitel, ihm fehlten Begabung und Durchhaltevermögen. Der ausbleibende Erfolg habe ihn jedes Mal mehr frustriert. Er könne sich vorstellen, wieder als Arzt zu arbeiten, ambulant, aber nicht unbedingt mit eigener Praxis. Ich sagte ihm, mir hätten seine Erzählungen und Romane sehr gefallen und er müsse vielleicht nur etwas mehr Geduld haben. Darauf meinte er, die Kriminalgeschichten seien ohnehin nur eine Notlösung gewesen, er habe sich gedacht, dass er damit am ehesten würde Geld verdienen können. Er hätte so gern etwas zum Haushaltseinkommen beigetragen. Genaugenommen hätten ihn Kriminalgeschichten aber nie wirklich interessiert, nur das Schreiben selbst. Das sei wahrscheinlich auch ein Grund dafür gewesen, dass er mit diesen Geschichten nicht habe überzeugen können. Ich fragte ihn, was er denn schreiben würde, wenn er nicht an einen kommerziellen Erfolg denken würde. Er lachte. Du kannst dir vorstellen, was am Ende dabei herauskam. Ich habe es ja bereits angedeutet. Er druckste eine ganze Weile herum, sagte, er wisse es nicht, habe sich diese Frage noch nie gestellt, aber schon nach wenigen Tagen kam er unvermittelt auf meine Frage zurück: Am meisten Spaß habe es ihm gemacht die Sexszenen zu schreiben. Ihm seien die erotischen Begegnungen eigentlich immer als erstes eingefallen. Irgendwann habe er die Kriminalfälle quasi um die Sexszenen herum konstruiert. Das zuzugeben hat ihn damals große Überwindung gekostet, es war ihm ausgesprochen peinlich. So richtig bewusst sei ihm das erst geworden, nachdem ich ihn danach gefragt hätte. Mir war sofort klar, dass ich ihn ermutigen musste, es einmal mit dem Schreiben erotischer Texte zu versuchen. Ich wunderte mich durchaus über mich selbst, dass ich es ihm wirklich vorschlug. Er begann damit auf der Stelle, als hätte er die ganze Zeit nur auf meine Erlaubnis gewartet. Mit jedem seiner Texte, die er mir zu lesen gab, wurde er ausschweifender, mutiger, und sein Gemüt hellte sich zusehends auf. Wir schliefen wieder häufiger miteinander, probierten was aus, auch mit diversen Hilfsmitteln. Da gab es einige äußerst positive Überraschungen. Aber mir fiel bald auf, dass Robert kaum über Hetero-Sex schrieb. Die heißesten Szenen beschrieben Sex zwischen Frauen. Männer waren häufig unbeteiligte Beobachter. Zum einen verriet Robert damit eine Menge über seine persönlichen Vorlieben, zum anderen musste ich feststellen, dass mich die Beschreibung lesbischer Intimitäten wirklich antörnte, was ich mir vorher nicht hatte vorstellen können. Ich hätte es weit von mir gewiesen, lesbischen Sex erregend zu finden. Ich fragte Robert, wo er sich die Inspirationen für seine Geschichten herhole, ob er versuche, sich in die Protagonistinnen hineinzuversetzen, ob er über lesbische Liebe gelesen habe oder seine Erfahrungen womöglich aus Pornos beziehe. Ich hatte in jeder Hinsicht ins Schwarze getroffen. Zwar gab ich mich anfangs etwas empört, als er zugab, sich schon länger heimlich Pornos anzusehen, aber in Wirklichkeit spürte ich mit einem Mal den großen Reiz, selber die lasterhafte Welt der Pornographie zu erkunden. Nach einigen Wochen war ich soweit: Ich fragte, ob Robert mir mal einen der Filme oder Clips zeigen würde. Mit den Pornos fing es an. Nicht alle waren schön und erregend, aber Robert hatte einige Angebote im Internet gefunden, kostenpflichtige Seiten, auf denen wirklich schöne Pornos liefen. Wir begannen regelmäßig zu schauen und schliefen danach miteinander. Mein Kopf wurde regelrecht geflutet von Phantasien, in denen ich immer häufiger mit Frauen schlief. Ich versuchte unter anderem, mich von wissenschaftlicher Seite der Sache zu nähern, um auf Distanz zu den mich immer stärker überwältigenden Gefühlen zu gehen, kaufte viele Bücher und stieß dabei unweigerlich auch auf feministische Schriften, die den weiblichen Sex aus anderen Perspektiven beleuchteten, als ich es gewohnt war, oft sehr widerstreitende Positionen. Irgendwann bat mich Robert darum, mir zusehen zu dürfen, wie ich mich selbst befriedige, während ich einen Porno schaute. Ich hatte zu dem Zeitpunkt zwar schon eine Menge über Masturbation gelesen, aber Robert zusehen zu lassen, wie ich es mir selber machte, verunsicherte mich schon ziemlich. Aber ich tat ihm den Gefallen, versuchte es jedenfalls. Beim ersten Mal spielte ich ihm einen Orgasmus nur vor, weil mir die Situation einfach zu unangenehm war. Ich konnte nicht kommen, wenn ich mich nur als Objekt seiner visuellen Begierde fühlte. Außerdem hatte ich wenig Übung. Er bemerkte es und war ein wenig enttäuscht, konnte mich aber verstehen. Ich versprach ihm, eine Art Training zu beginnen. Jetzt fing ich an, die Pornos auch bei Gelegenheiten anzusehen, wenn Robert nicht zuhause war. Die Kinder waren ohnehin abends oft unterwegs, bei Freunden, zur Disko, oder waren von ihren Smartphones oder dem Computer absorbiert. Wenn ich alleine war, funktionierte es bestens. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Robert an der Bettkante hockte oder sich hinter einer Schranktür versteckte und mir zusah. Bis mir eines Abends plötzlich bewusst wurde, dass Robert und ich die ganzen Jahre zuvor möglicherweise den falschen Sex gehabt hatten, dass uns immer irgendetwas gefehlt hatte, von dem wir nicht wussten, was es war, irgendetwas, das wir uns nicht eingestehen wollten. Robert hatte vielleicht immer schon lieber zuschauen wollen, vielleicht nicht ausschließlich, aber doch sehr gern. Und ich? Bei dem, was wir all die Jahre im Bett gemacht hatten, war ich immer der Überzeugung gefolgt, wir täten etwas, das ihm gefällt. Und ich wollte ihn ja glücklich machen, auch wenn ich eher selten einen Orgasmus dabei hatte. Ich hielt es für selbstverständlich, dass meine Aufgabe vor allem darin bestand, ihn zu befriedigen. Wie es mir dabei ging, war eher Nebensache. Und er hatte geglaubt, ich bevorzugte das, was man so landläufig Standard-Sex nennen könnte. Kurzes Vorspiel und danach das Hauptprogramm in Missionarsstellung. Das war immer schon irgendwie öde gewesen. Ich war zwar nicht von Abscheu erfüllt, überhaupt nicht, aber ich war auch nicht gerade wild darauf, mit ihm ins Bett zu gehen. Deswegen lief ja auch irgendwann kaum noch was zwischen uns. Einige Tage später fasste ich den Mut, Robert zu fragen, welche seiner Phantasien er, wenn er könnte und dürfte, am ehesten realisieren würde. Er dachte eine Weile nach, aber ich glaube, er suchte nur nach den richtigen Worten, die mich nicht verletzen würden. Ich ermunterte ihn, es sehr direkt und ohne Umschweife zu sagen. Er meinte, Phantasien hätten ja meist nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun, aber wenn ich ihn nur nach seinen Phantasien fragte, falle ihm vor allem eines ein: Er wolle zusehen, wie ich mit einer Frau schlafe. Er stelle sich keinen Dreier vor, er sehe sich dabei nur in der Rolle des Zuschauers. Aber er könne das von mir nicht verlangen, er wisse nicht einmal, ob er es würde genießen können. Es sei ganz und gar ausgeschlossen daran zu denken, diese Phantasie in welcher Form auch immer Wirklichkeit werden zu lassen. Er habe zudem ein schlechtes Gewissen, sich überhaupt mit solchen Phantasien beschäftigen zu müssen. Es gehe ihm ja vor allem darum, mich glücklich zu machen, er wolle gern mehr tun, um mich zu befriedigen. Und was, fragte ich, wenn ich es tatsächlich gern einmal mit einer Frau ausprobieren würde? Das war die Zeit, als wir anfingen, auf die Suche zu gehen. Wir klapperten in Gedanken unseren Bekannten- und Freundeskreis ab, aber keiner der ohnehin in den meisten Fällen verheirateten Frauen trauten wir eine derartige moralisch-normative Volte zu, keine erschien uns lüstern genug, dass wir sie irgendwie hätten herumkriegen können. Und ein Paar wollten wir uns sowieso nicht in unser Bett einladen. Ich wollte es keinesfalls mit einem anderen Mann machen. Also begannen wir im Internet auf einschlägigen Seiten zu suchen, meldeten uns mit unserem Wunsch auf einer der Plattformen, die uns am seriösesten schien, an und klickten durch die Profile von Single-Frauen, die Lust auf ein lesbisches Abenteuer hatten. So fanden wir irgendwann Dorothee, die sich dort Lilly nannte. Das erste Mal war nicht gut. Ich wusste einfach nicht, was ich im Bett mit ihr anfangen sollte. Ich hatte mir wer weiß was vorgestellt, aber als wir uns irgendwie steif, verkrampft, unsicher in dem Hotelzimmer, das wir für eine Nacht gemietet hatten, auszogen und ins Bett legten, fühlte ich überhaupt nichts mehr. Das alles schien mir vollkommen absurd, als sei ich im falschen Film gelandet. Wir hatten uns wohl einfach zu wenig Zeit genommen, uns kennenzulernen. Doro hatte zwar schon mehr Erfahrung und bemühte sich redlich, mich in Fahrt zu bringen, sie massierte meine Brüste, spreizte meine Beine und fing an, mich zu lecken, aber ich spürte keinerlei Lust, es tat fast weh, ich war von Anfang an überreizt. Und Doro störte es, dass Robert uns dabei zusah, obwohl sie sich auf den Deal eingelassen hatte. Auch für sie war es kein prickelndes Erlebnis. Robert saß in der Ecke auf einem Stuhl. Er trug nur seine Unterhose. Nach einer Weile holte er seinen Schwanz raus und nahm in die Hand, aber er bekam keinen Steifen. Es war für alle einfach nur grauenhaft. Irgendwann fing Doro an zu lachen und das wirkte wie eine Erlösung für uns alle. Wir saßen die halbe Nacht zusammen im Bett und erzählten uns unsere Lebensgeschichten. Erst gegen Morgen schliefen wir ein, wir drei, einträchtig in einem luxuriösen Hotelbett.“

„Aber ihr habt es trotzdem wiederholt.“

„Nein, jedenfalls nicht in dieser Konstellation. Wir blieben in Kontakt. Wir hatten Emailadressen ausgetauscht und ich schrieb Dorothee gleich am nächsten Abend, um mich zu entschuldigen. Die Sache war mir am nächsten Tag, als ich wieder zu vollem Bewusstsein gekommen war, noch viel peinlicher als am Abend zuvor. Ich schloss kategorisch aus, dieses Experiment, mit wem auch immer, zu wiederholen. Doro sollte wissen, dass es nichts mit ihr zu tun hatte. Ich wollte ihr zu verstehen geben, dass ich sie durchaus schön und anziehend fand. Aber das mit dem Sex unter Frauen war offenbar nichts für mich. Als Phantasie okay, aber in Wirklichkeit wenig beflügelnd. Doro zeigte Verständnis und schrieb, beim ersten Mal gehe es vielen so wie uns, ich solle mir keine Gedanken deswegen machen. Am besten habe es ihr gefallen, wie wir nachher so entspannt geplaudert hätten. Da habe sie uns richtig liebgewonnen. Sie finde ein Wiedersehen schön, auch wenn es da nicht um Sex gehe.“

„Und ihr habt euch wiedergesehen.“

„Ich verabredete mich alleine mit ihr. Robert wusste nichts davon. Wir trafen uns mehrere Male. Wir stellten fest, wie wenig wir gemeinsam hatten, trotz Abi war sie Kassiererin bei Aldi geworden, sie wollte sich keine Gedanken um Karriere und Beruf machen und stattdessen erotische Abenteuer erleben. Sie ist da bis heute radikal und verschwindet manchmal wochenlang von der Bildfläche. Ich habe keine Ahnung, was sie dann treibt. Am Ende war uns beiden klar: Gemeinsame Interessen würden uns nicht für längere Zeit freundschaftlich aneinander binden. Nach unserem dritten Treffen, war ich entschlossen, den Kontakt einfach einschlafen zu lassen. Doro musste diesen Entschluss gespürt haben, denn sie wurde immer melancholischer. Irgendwann sagte sie, sie vermute, dass ich sie nicht mehr wiedertreffen wolle, es sei vielleicht das letzte Mal, dass wir uns sähen und sie wolle mich um einen letzten Gefallen bitten. Sie lud mich in ihre kleine, unaufgeräumte Wohnung ein, forderte mich auf, mich auszuziehen und in ihr Bett zu legen. Ohne Robert fiel es mir leichter, ihrer Bitte zu folgen, aber so ganz wohl war mir nicht dabei, mich ihr ohne Roberts Wissen hinzugeben. Doro zog sich ebenfalls aus und reichte mir einen Sahnesprüher, so eine Metallflasche mit Gaspatrone. Ich hatte keine Ahnung, was ich damit sollte. Im ersten Moment dachte ich, sie wolle irgendein Sahne-Leck-Spiel anfangen. Aber es ging nicht um Sahne, sondern um das Gas. Mir war bis dahin nicht bekannt, mit welchem Gas die Dinger betrieben werden. Sauerstoff? Kohlendioxid? Weit gefehlt: Distickstoffmonoxid, der kundigen Anästhesistin auch als Lachgas bekannt. Ich sollte einige Züge davon einatmen, das würde mich lockerer machen. Sie blies einen Luftballon damit auf und reichte ihn mir. Ich wusste um die Wirkung des Gases, auch wie ungefährlich es in dieser Form sein würde, aber ich hatte es selbst noch nie ausprobiert. Ich hatte nie zuvor Drogen genommen. Ich zögerte, Doro nickte mir zu und ich probierte es einfach aus. Tatsächlich zeigte es Wirkung. Ein heftiges Kribbeln ging durch meinen ganzen Körper, alles um mich herum kam mir sehr unwirklich vor, ich wurde leicht, entspannt und geradezu euphorisch. Da spielte wohl auch eine ganze Menge Einbildung eine Rolle. Es war mehr eine hysterische Betäubtheit. Ich bemerkte erst gar nicht, wie Doro mich aufs Bett drückte und mit ihren Händen über meinen Körper fuhr. Erst als die Wirkung nachließ, spürte ich ihre Finger, die meine Schamlippen auseinanderspreizten, da wurde mir bewusst, dass sie mit dem Liebesspiel begonnen hatte. Und diesmal war es einfach wunderbar. Hör mal, Lena, ich möchte dir nicht zu nahe treten, indem ich das alles so schamlos vor dir ausbreite. Aber ich habe in den letzten Jahren zu verstehen gelernt, in welchem Ausmaß ich mich in den Jahrzehnten zuvor durch falsche Scham selbst eingeschränkt habe. Und ich habe begriffen, dass es den Menschen, denen ich begegne, wenig hilft, wenn ich meine, ich müsse sie vor peinlichen Momenten bewahren, ich dürfe sie nicht vor den Kopf stoßen. Erstens ist es für dich besser, wenn du weißt, mit wem du es zu tun hast, und zweitens musst umgekehrt du mir gegenüber nicht das Gefühl haben, es gebe in deinem Leben irgendein gut gehütetes Geheimnis, das unwürdig genug ist, von unendlicher Scham überdeckt zu werden. Ich weiß von mir selbst, wie viele Sehnsüchte, wie viel Abenteuerlust ich mein halbes Leben lang und länger in unbewusste Gefilde hinabgedrückt habe, dass ich überzeugt sein konnte, nicht den kleinsten lüsternen oder gar perversen Gedanken zu hegen. Wir haben gelernt, die scheinbar düsteren Seiten in uns von unserem Selbst abzuspalten. In unserer Phantasie ist Platz für die allerschrillsten Perversionen, aber wir nehmen sie nicht als unsere eigenen wahr, immer nur als die der Anderen. Und wir fühlen uns gut, wenn wir die Anderen dafür verurteilen können.“

„Ich verurteile dich nicht. Aber gewöhnungsbedürftig finde ich es schon. Ich finde es interessant, aber es macht mir auch, wie soll ich sagen, ein wenig Angst.“

„Weil es auch eine dreiste Anmache von mir sein könnte.“

„Ja, vielleicht.“

Sie schaute mir lange in die Augen.

„Aber das ist es doch auch.“

So viel Ehrlichkeit hätte ich in diesem Moment weder erwartet noch gebraucht. Ich lächelte bemüht und schaute auf meine Armbanduhr.

„Meine Direktheit ist dir unangenehm. Aber du bist ja frei, auf mein Werben einzugehen, oder es zurückzuweisen. Ich habe dich vom ersten Moment an gemocht. Du bist witzig, intelligent und ausgesprochen schön. Ich sehe keinen Grund, dir das zu verschweigen. Ich muss sagen, ich habe mich ein wenig in dich verliebt. Und Robert übrigens auch, das hast du sicher gemerkt. Wir waren uns allerdings nicht sicher, ob du kneifen würdest. Ich hatte damit gerechnet, dass du anrufst, von dem Vertrag zurücktrittst und dich nie wieder blicken lässt. Aber du bist gekommen. Das hat mich ermutigt.“

Irgendwie fühlte ich mich geschmeichelt. Ich hatte Eindruck auf zwei außergewöhnliche Menschen gemacht, die mich ebenfalls beeindruckt, oder jedenfalls irritiert und fasziniert hatten. Allerdings beängstigte mich auch Angelikas Offenheit, die ja nichts anderes als eine Einladung war, eine Einladung zu einer Party, an der ich unmöglich teilnehmen konnte. Eine klare Absage würde das kleine Abenteuer für mich jetzt und für immer beenden. Dafür erschien es mir einfach zu spannend. Ich hatte noch nicht genug. Und die Beleidigte oder Empörte zu spielen wurde Angelika nicht gerecht. Das verbat mir die Achtung vor ihr und nicht minder meine Eitelkeit.

„Ja“, sagte ich, „ich bin gekommen. Ich wusste nicht genau, warum. Aber ich glaube, es hatte damit zu tun, dass ihr besondere Menschen seid. Das hat mich interessiert. Es hat mich irgendwie gereizt. Ich glaube, ich mag dich auch sehr. Allerdings hat das nicht im Mindesten mit…“, ich zögerte, das Wort auszusprechen, „… mit erotischer Anziehung zu tun.“

Ich korrigierte mich innerlich. Angezogen fühlte ich mich durchaus, es gab auch entfernt erotische Aspekte, jedoch waren damit keinerlei bewusste Absichten verbunden. Im Rückblick würde ich sagen, ich hatte sie mir nicht eingestanden, sie lagen jenseits aller denkbaren Möglichkeiten.

„Du musst dir keine Sorgen machen. Ich will dich nicht verführen, falls du das denkst. Ich finde es allerdings richtig, den Menschen, die ich anziehend finde und mit denen ich gerne ins Bett gehen würde, nicht zu verschweigen, was ich empfinde. Im Übrigen wäre es ein klares Statement gewesen, wenn du jetzt aufgestanden und einfach weggegangen wärest, denn das hätte mir gezeigt, dass die Situation für dich gefährlich geworden ist, dass du Angst vor dir selbst bekommen hast, weil du dir deiner Gefühle nicht sicher genug bist, du dich im tiefsten Innern gerne verführen lassen würdest. Da wäre ich sicher hartnäckig geblieben.“ Sie lachte vergnügt auf. „Da du sitzen geblieben bist, kann ich davon ausgehen, dass du dir deiner sehr sicher bist. Entweder fühlst du ein wenig wie ich, oder du verspürst tatsächlich keine sexuelle Anziehung, was ich vollkommen in Ordnung fände.“

Das war ein verdammter Doublebind! Damit kannte ich mich seit meiner frühesten Kindheit aus. Wie hatte sie das nur eingefädelt? Wäre ich in diesem Moment gegangen, hätte ich damit zu verstehen gegeben, dass ich fühlte, wie sie es mir unterstellte. Floh ich nicht, blieben trotzdem beide Optionen weiter bestehen: Ich will Sex mit ihr oder ich finde sie einfach nur kurios. Meiner selbst sicher sein? Wie konnte ich das in dieser Ausnahmesituation? Die Selbstsichere konnte ich jetzt nur noch spielen, ohne es zu sein. Das Beste, was ich tun konnte, war, indifferent zu bleiben, solange es ging, undurchschaubar. Leider durchschaute ich nicht einmal mehr mich selbst.

„Jetzt mal im Ernst“, sagte ich, „du kannst doch unmöglich von mir erwarten, dass ich mit dir ins Bett gehe, einfach so. Und Robert würde uns dabei zusehen, wenn ich dich richtig verstanden habe? Oder gehört das jetzt nicht mehr zum Spiel? Angelika, ich bin verheiratet. Das habe ich dir auch gesagt. Du hast mich selbst nach meiner Familie gefragt. Selbst wenn ich – rein hypothetisch gesprochen – vielleicht Lust hätte, mit dir zu schlafen, würde ich es nicht tun.“

„Warum nicht? Hast du nie eine Affäre gehabt?“

„Nein. Nie.“

„Und dein Mann?“

„Ich denke mal, nicht. Für uns bedeutet die Ehe ein Treueversprechen.“

„Und Treue schließt Sex mit anderen aus.“

„Sonst wäre es ja keine Treue, oder?“

„Ich dachte, die Ehe sei das Versprechen, ein Leben lang zusammen zu bleiben, sich gegenseitig zu unterstützen, die Kinder gemeinsam aufzuziehen und für sie zu sorgen. Die Ehe ist ein festes Band, man bemüht sich, die gegenseitige Liebe aufrecht zu erhalten, dem anderen Geborgenheit zu geben bis zum Tod. Und zur Liebe gehört natürlich auch Sex. Aber du kannst auch Kinder adoptieren, sie erziehen, ihnen Geborgenheit geben, du kannst Freunde unterstützen und ihnen das Gefühl geben, geliebt zu werden. Du liebst sie doch irgendwie. Alles das, was wesentlich für eine Ehe ist, kannst du auch mit anderen teilen. Warum nicht auch Sex?“

„Weil Sex so viel intimer und persönlicher ist als alles andere. Sex ist der neuralgische Punkt in einer Beziehung.“

„Es gibt Beziehungen, genauer gesagt Ehen ganz ohne Sex. Und intim ist auch, wenn du als Altenpflegerin Senioren den Hintern wäschst oder wenn du als Gynäkologin zwischen die gespreizten Schenkel deiner Patientinnen blickst und ihnen das Spekulum in die Vagina schiebst.“

„Aber beim Gynäkologen habe ich keinen Orgasmus und will da auch keinen bekommen. Ich jedenfalls nicht. Mit Sex beginnt immer eine Beziehung, und Beziehungen sind kompliziert, weil sie mit Erwartungen und Ansprüchen verbunden sind.“

„Die Beziehungen zu deinen guten Freundinnen und Freunden sind demnach völlig unkompliziert.“

„Da kann ich mich zurückziehen, wenn ich will, wenn es zu eng wird, wenn ich mich überfordert fühle. Da bewahre ich mir meine Freiheit.“

Angelika zwinkerte mir mit einem Lächeln zu. „Mit anderen Worten: In deiner Ehe fühlst du dich unfrei.“

Ich überlegte. Ich hatte keine Lust, mich von Angelikas Argumentation schachmatt setzen zu lassen. Darauf hatte sie es ja offensichtlich angelegt. Freiheit – was bedeutete überhaupt Freiheit? Die eigene Freiheit hört immer da auf, wo die des anderen beginnt. Totale Freiheit bedeutet auch totale Einsamkeit.

„Ja“, antwortete ich, „ich bin unfrei. Ich habe diese Unfreiheit gewählt, denn beide Ehepartner profitieren von diesem Vertrag. Sie können sich sicher fühlen und müssen nicht befürchten, plötzlich abgehängt oder abgelegt zu werden. Die Treue ist der Preis für diese ganz spezielle Geborgenheit, für die Sicherheit, die Gewissheit, nicht allein gelassen zu werden. Sex mit meinem Mann bedeutet jedes Mal die Erneuerung dieses Versprechens. Sex mit anderen zerstört das System, alles kommt aus dem Gleichgewicht.“

Angelika nickte und senkte den Blick. „Wenn das so stimmt, musst du eine wunderbare Ehe führen. Ich möchte dieses System, wie du sagst, auf gar keinen Fall aus dem Gleichgewicht bringen.“ Sie blickte auf und lächelte. „Ich hoffe, ich habe das Gleichgewicht nicht bereits gestört. Es scheint ja ausgesprochen stabil zu sein.“

„Ich sage nicht, dass ich vor Verführungen gefeit bin. Wer könnte das schon? Aber warum sollte ich so viel aufs Spiel setzen für etwas, das mich nur ins Chaos stürzen würde?“

„Weißt du, Lena, das Chaos bricht doch viel häufiger im Innern des Systems aus. Warum gehen immer mehr Ehen auseinander? Warum ertragen es so viele Paare nicht, für immer und ewig zusammen zu bleiben? Was ist der Sprengstoff, der sie auseinanderreißt? Ich glaube, es ist genau das, was du als den neuralgischen Punkt beschreibst: der Sex. Ich habe irgendwann aufgehört, Robert zu begehren, Sex mit ihm wurde zur Routine. Ich glaube, den meisten Frauen geht das so, das liegt in ihrer Biologie. Dann sind es eher andere Dinge, die die Partner aneinander binden, Vertrautheit, Zuverlässigkeit, wie du sagst, Geborgenheit. Das blieb mir auch sehr wichtig. Aber Robert spürte, dass bei mir das Begehren verebbt war. Er suchte nach Möglichkeiten, diese prickelnde Erotik der Anfangszeit zurückzuholen. Für uns beide bestand letztlich die Lösung darin, sehr kompromisslos die Sphäre unserer Sexualität auszuweiten. Wir konnten unsere Lust nicht mehr aneinander entfachen. Wir brauchten dazu andere Menschen. Als wir uns das eingestanden hatten, brachte uns das auch sexuell wieder viel näher. Wir schlafen regelmäßig miteinander, sicher viel häufiger als andere Paare unseres Alters. Aber es ist auch deshalb so erfüllend und aufregend, weil wir voneinander wissen, dass wir es hin und wieder auch mit anderen tun, und weil wir einander davon erzählen. Wir gehören zueinander, einerseits, ganz klar! Aber wir gehören uns in erster Linie selbst. Unsere Körper, unser Geist – darauf hat niemand Anspruch außer wir selbst. Wir sind frei, und wir lieben uns genau deshalb so sehr, weil wir uns gegenseitig unsere Freiheit zugestehen. Dennoch zusammenzubleiben ist für uns jeden Tag ein Geschenk, das wir dankbar annehmen und wirklich, wirklich zu schätzen wissen.“

„Das hört sich alles ganz wunderbar an. Vielleicht ist es für dich stimmig, in deiner Situation. Du schläfst mit anderen Frauen, vielleicht auch mit anderen Männern. Und Robert hat, wenn ich dich richtig verstanden habe, ebenfalls seine Affären. Ich stelle mir vor, dass das irgendwann auch zur Routine wird. Was kommt als nächstes? Liegt es nicht nahe, die Grenzen immer weiter auszudehnen? Was, wenn einer von euch bei diesen Eskapaden auf einen Menschen trifft, mit dem er mehr als nur vorübergehend das Bett teilen möchte? Was, wenn die wechselnden Sex-Partner Ansprüche erheben, ihnen das Herz gebrochen wird, Eifersüchte von außen in eure Partnerschaft einbrechen? Ich finde es problematisch, den Schwerpunkt des Lebens so sehr in diesen einen Bereich zu verlegen. Hat das nicht etwas von einer Sucht, die nach immer mehr und immer Neuem verlangt? Dreht sich wirklich alles nur um Sex? Es gibt doch so viel mehr im Leben.“

„Liebe Lena, du kannst nicht permanent gegen dein Wesen anarbeiten, gegen deine Biologie, die dir sagt, der eine Partner ist nicht genug. Wir sind durch und durch polygame Wesen. Monogamie ist eine zivilisatorische Fehlentwicklung gewesen, die nichts anderem diente, als die Frauen zu unterwerfen, sie zum Besitz der Männer zu machen. Warum gibt es so viele patriarchale Gesellschaften, in denen den Männern alle sexuellen Freiheiten eingeräumt werden, die Frauen aber eingesperrt und entmündigt werden? Ja, es gibt eine ganze Menge mehr im Leben als Sex. Aber nur wenig davon hat einen höheren Stellenwert. Gott, die letzten Dinge, Weisheit.“

„Du übertreibst maßlos. Das mit der Unterdrückung der Frau stimmt doch alles schon lange nicht mehr. Bei uns jedenfalls können Frauen schon lange tun und lassen, was sie wollen. Sie müssen weder heiraten, noch sich irgendwem unterordnen.“

„Mag sein, dass es so wirkt. Aber die Ehefrau, die fremdgeht, ist eine verdammte Schlampe, der Ehemann, der mit anderen schläft, ist dagegen ein treuloser Casanova. Wir gestehen es seiner Natur zu, er kann eben nicht anders. Warum werden die Frauen in manchen muslimischen Ländern gesteinigt, wenn sie vergewaltigt wurden?“

„Wir leben aber nicht in einer muslimischen Kultur. Hier wird keine Frau gesteinigt.“

„Nein. Das ist vielleicht ein schlechtes Beispiel. Wir leben ja auch zum Glück längst in einer Übergangszeit. Aber zu großen Teilen ist unsere Gesellschaft immer noch patriarchal. Und dieses Patriarchat wütet in uns Frauen noch immer, wir passen uns nach wie vor an die Gesetze der Männer an: Macht, Gewalt, Unterwerfung und Lüge. Es wird endlich Zeit, dass wir Frauen erkennen, wie sehr wir unsere eigene Natur zu verleugnen gelernt haben. In Wahrheit sind wir Frauen weitaus weniger monogam als die Männer. Da steckt eine Kraft drin, ein Potenzial, das viel stärker und positiver ist als die Gesetze von Besitz, Kampf und Vernichtung. Hast du dich mal gefragt, warum Frauen multiple Orgasmen haben, warum sie mehr als nur einmal kommen können, im Minutentakt, und das zweite Mal und das dritte Mal ganz besonders genießen würden, wenn sie nur könnten? Diese angeborene Lust kann nicht ein Mann alleine befriedigen. Es hat eindeutig evolutionäre Vorteile, wenn Frauen mit so vielen verschiedenen Männern wie nur möglich schlafen, weil sich die besten Spermien durchsetzen können und eine viel größere Vielfalt entstehen kann. Es ist totaler Quatsch anzunehmen, das Beste sei es, von nur einem einzigen Mann Kinder zu bekommen. Das ist ein Resultat der Zivilisation, die familiäre Strukturen hervorgebracht hat, bei der den Frauen die Aufgabe zugewachsen ist, für Haus und Kinder zu sorgen und dem Mann, sie zu beschützen und die materielle Versorgung sicherzustellen. Daraus haben die Männer ein Besitzrecht an den Frauen abgeleitet. Das ist heute glücklicherweise obsolet geworden, aber die familiären Strukturen, die Rollenverteilung sind weiter fest in die Köpfe eingeschrieben. Auch hier bei uns. In mir und in dir. Die sexuelle Befreiung der Frauen ist eines der Kernprojekte auf dem Weg zum Niedergang des Patriarchats, das bis heute unsere Welt mit Krieg und Zerstörung überzieht.“

„Und jetzt, meinst du, sollen alle anfangen, wieder wild durcheinander miteinander zu vögeln? Die Frau, die mit jedem x-beliebigen Mann herumvögelt, ist doch gerade eine Männerphantasie.“

„Nein, es geht nicht darum, dass sich Frauen in noch höherem Maße für die Männer verfügbar machen. Das ist keine sexuelle Befreiung.“

„Du meinst, Familien seien überflüssig geworden? Familien sind das, was Kindern Halt gibt. Folgt euren biologischen Instinkten!? Marschbefehl der obersten Heeresleitung: zurück zur Natur!? Das finde ich, gelinde gesagt, wohlfeil. Das ist alles leicht gesagt, solange wir in unseren gut geheizten, gedämmten Wohnungen leben, morgens eine heiße Dusche nehmen, unsere Lebensmittel im Supermarkt kaufen und bei einem Herzinfarkt den Rettungswagen rufen können. Das sind die Früchte der Zivilisation, einer vielleicht nicht in jeder Hinsicht optimalen geistigen Kultur, viel davon ist verbesserungswürdig, aber die Geschichte der Menschheit ist aufs Ganze gesehen nichts anderes als der Triumph des Geistes über die Biologie. Darin eingeschlossen sind letztlich auch unsere monogamen Beziehungen. Ganz sicher: Sie beschneiden unsere biologischen Anlagen, degradieren sie in mancher Hinsicht. Wären die Menschen aber nur bei ihren urtümlichen Bedürfnissen geblieben, unterschieden sie sich bis heute nicht von allen anderen Tieren, dann wären wir weiterhin Affen und könnten dieses Gespräch hier nicht führen. Es gäbe uns nicht einmal. Ich wäre wegen meines engen Beckens und der Steißlage bei meinem ersten Kind elendig krepiert.“

„Moment mal, ich muss deinen berechtigten Furor einmal etwas ausbremsen.“

Mein Furor?“

„Ich gebe dir in allen Punkten recht. Es gibt so etwas wie einen zivilisatorischen und kulturellen Fortschritt, wenig davon will ich missen. Aber es gab und gibt immer auch Fehlentwicklungen. Vielleicht brauchten wir für lange Zeit diese traditionellen Familienstrukturen, die Vorherrschaft der Männer. Ich weiß es nicht. Jedenfalls können wir die Menschheitsgeschichte nicht mehr ohne sie denken. Alles andere wäre Spekulation. Heute jedoch sind wir an einem Punkt angelangt, wo wir sie eindeutig nicht mehr brauchen, wir können diesen überflüssigen Ballast endlich abwerfen, der den Frauen, der ganzen Welt so viel Leid gebracht hat, selbst da, wo es keine Kriege mehr gibt. Immer mehr Menschen werden krank in unserer Gesellschaft, psychisch krank. Der Geist triumphiert über den Körper!? Ich sehe überall nur noch Selbstversklavung, wir machen uns alle freiwillig zu Rädern im Getriebe eines sich verselbständigenden Wirtschaftssystems. Unsere sogenannte Kultur redet uns ein, unsere Selbstverwirklichung fänden wir nur noch im beruflichen Erfolg, unsere Körper richten wir dafür zu, optimieren sie, halten sie fit, wir essen Gesundes, nicht weil wir es genießen, sondern damit wir leistungsfähig bleiben für Ziele, die nicht unsere eigenen sind. Für Erfolg und Leistungsfähigkeit trainieren wir unsere Kinder und halten es für natürlich, sie einem unerbittlichen Kampf aller gegen alle auszusetzen. Wir degradieren unsere Körper und unsere elementaren Bedürfnisse für was weiß ich, ich habe keine Ahnung, wofür wir uns eigentlich aufopfern, keiner weiß es mehr, für unseren Status, unser Ansehen. Und in unserer Erschöpfung suchen wir nach Entspannung in den Unterhaltungsangeboten im Fernsehen und im Internet. Wir tummeln uns in den sozialen Netzwerken, die nur noch eine entfremdete Kommunikation darstellen. Es gibt keine Unmittelbarkeit mehr, immer weniger persönliche Nähe, wir löschen unsere Körper aus, unsere Sehnsüchte, unsere tiefsten Bedürfnisse, wir leben nicht unser eigenes Leben, sondern geben uns zufrieden damit, uns mit den fiktionalen Heldinnen und Helden der Fernsehserien zu identifizieren. Die leben das Leben an unserer Stelle, wir schauen nur noch zu. Die Abenteuer sind schon lange nicht mehr im Kopf, sie werden von der Unterhaltungsindustrie vorgefertigt und wir saugen sie genüsslich ein, während wir innerlich verdorren. Wir werden eingelullt und geben unsere natürliche Souveränität freiwillig auf. Das ist ein erbarmungsloser Kreislauf, dem wir mit allen Mitteln zu entkommen versuchen müssen. Lena, du kannst mir glauben, es hatte gute Gründe, warum wir aus unseren Berufen ausgestiegen sind. Nicht weil wir glauben, dass es keine Ärzte mehr geben muss, ganz bestimmt nicht! Aber Robert und ich waren an einem Punkt der Erkenntnis angelangt, der uns zugleich unsere Verantwortung vor Augen führte, nicht bloß nach einer neuen Lebensform für uns persönlich zu suchen – das ist nur eines der Ziele, die wir seit einigen Jahren verfolgen -, sondern du musst dann auch Verteiler, wenn du so willst, Propagandist deiner neuen Ideen sein, sonst wird aus der Sache nichts anderes als purer Eskapismus. Das ist es doch, was du mir vorwirfst, dass ich mir die Rosinen aus dem Kuchen picken will. Das wäre unverantwortlich. Wir empfinden durchaus so etwas wie einen gesellschaftlichen Auftrag. Die Frage ist nur, zu welchen Mitteln wir greifen. Und diese Mittel sind auf keinen Fall militant, sie sind aufopferungsvoll, weil wir experimentieren und persönliche Risiken eingehen. Wir wollen niemanden ins Unglück stürzen. Das wichtigste Mittel ist jedoch, dass wir uns nicht verstellen, uns nicht in eine dunkle Nische privater Glückseligkeit zurückziehen, nichts verheimlichen, uns der Scham und den Schuldgefühlen aussetzen, die aus der Perspektive des Gros der Gesellschaft die angemessenen Gefühlsregungen wären, die unser Handeln begleiten und uns zum Schweigen bringen sollten. Nicht berechtigte Wut treibt uns an, sondern die Liebe zu den Menschen und die Liebe zum Leben.“

Ich atmete tief durch. Angelikas Kulturkritik war ihr ja durchaus nicht aus den Wolken zugefallen. Ich hatte das Gefühl, die meisten ihrer Standpunkte zu teilen. Die Konsequenzen, die sie daraus zog, leuchteten mir gefühlsmäßig aber noch nicht ein. Sicher war es sinnvoll, in einer sich wandelnden Gesellschaft nach neuen Lebensformen zu suchen, die menschlicher waren als die existierenden, in denen wir aufgewachsen sind, und die wir genau aus diesem Grund nicht bewusst wahrnehmen und kritisch hinterfragen können. Mit Unbehagen aber erfüllte mich die Eingleisigkeit und Einfachheit sowohl ihrer Kritik, als auch ihres Konzepts für eine Lösung. Warum sollte ausgerechnet Sex, dieses schon in der 68er-Zeit gescheiterte Projekt der freien Liebe die Lösung aller unserer Probleme sein? Freie Liebe erschien mir alles andere denn als Lösung irgendeines Problems, eher stellte sie für mich ein zusätzliches Problem dar. Aber das war nicht die einzige Schwachstelle.

„Und was ist mit euren Kindern? Haben die keine Probleme damit?“ Ich setzte ironisch in Anführungsstriche: „Mit eurem Projekt?“

Angelika blies die Backen auf und ließ ihren Blick durch die Regale gleiten.

„Das ist ein wunder Punkt. Sie können da nicht mit. Wir haben es ihnen lange Zeit verschwiegen, weil wir glaubten, es gehe nur uns alleine etwas an. Aber als wir den Verlag gründeten, haben wir beschlossen, es ihnen zu erklären. Wir haben ihnen auch Dorothee vorgestellt, die in der Wohnung unterm Dach eingezogen war. Sie können bis heute nicht akzeptieren, dass ich eine Beziehung zu ihr habe, dass wir angefangen haben, andere, ausgewählte Menschen ganz nah an uns heranzulassen, dass wir Normen verletzen, die sie nach wie vor für unumstößlich halten. Weißt du, Lena, du kannst und darfst nicht versuchen, deine eigenen Kinder zu therapieren. Sie müssen ihre eigenen Wege verfolgen und die Hilfe bei anderen Menschen suchen. Wir liegen nicht im Streit miteinander, aber es ist schon eine gewisse Distanz entstanden, die aber auch gut und gesund ist, glaube ich.“

„Therapie! Deine Kinder willst du nicht therapieren. Aber mich anscheinend schon. Ich habe nicht das Gefühl, eine Therapie nötig zu haben.“

„Ich will niemanden therapieren. Das ist das falsche Wort. Ich will ein Beispiel abgeben, mit meinem Glück, mit meiner Erfüllung, aber auch mit meinen Fehlern und dem Scheitern, das ja nie ausgeschlossen ist.“

„Du hast also durchaus auch Zweifel. Du klingst so selbstgewiss.“

„Nein, ich kann mir über gar nichts sicher sein. Wie könnte ich?“

„Wie hast du es genannt? Eine Versuchsanordnung.“

„Ja, eine Versuchsanordnung.“

„Das Manuskript, über das die Milch gelaufen ist, als wir die Fotos gemacht haben – das wollt ihr in eurem Verlag veröffentlichen? Ich konnte mich nicht enthalten, einen kurzen Blick darauf zu werfen. Das ist doch krude Pornografie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das zu euren Zielen passt.“

„Ja, das ist problematisch. Robert findet nicht, dass wir es veröffentlichen sollten. Ich bin allerdings der Meinung, dass die weibliche Sexualität über Dezennien hinweg derart unter dem Deckel gebrodelt hat, dass anfangs solche beinahe selbstzerstörerischen Eruptionen vielleicht gar nicht zu verhindern sind. Da muss erst einmal ganz viel raus, da muss man erst einmal heftig um sich schlagen, um irgendwann zu einem ausgeglichenen Verhältnis zur eigenen Sexualität und zum eigenen Körper zu gelangen. Da steckt auch ganz viel Provokation drin, die ich wichtig finde, die viel Aufmerksamkeit erregen kann. Du kannst das nicht lenken, da muss erst einmal ganz viel altes Porzellan zerschlagen werden. Ich weiß es selbst nicht so genau. Uns werden in der letzten Zeit immer mehr Manuskripte zugesandt und wir müssen natürlich schauen, welche davon Qualität haben und nicht die existierenden Sexismen bestätigen und befördern. Nicht Wenige, die uns ihre Texte anbieten, sind wahrhafte Irrläufer der sexuellen Revolution, ganz viel kontraproduktives Zeug. Aber wir beide, Robert und ich, finden es wichtig, dass Frauen – und übrigens auch Männer – über ihre Sexualität schreiben, knallhart und ehrlich, auch über ihre durch den männlichen Blick deformierte Sexualität. Vieles davon ist reine Fiktion. Vor allem die fiktionalen Entwürfe alternativer Lebensformen, eines neuen, ganz anderen Umgangs mit Sexualität und Beziehungen, die wütenden, die romantischen, idealistischen Essays und Abhandlungen – das alles bleibt sicher für lange Zeit noch reine Fiktion, Wunschdenken. Aber alle diese Texte torpedieren die tradierten Einstellungen und Normen oder entfalten neue Perspektiven, die für immer mehr Menschen in kleinen Schritten zunehmend lebbarer erscheinen, auch wenn sie de facto für die meisten Menschen unserer Zeit noch nicht lebbar sind. Noch nicht. Für mich vielleicht, für Robert und Dorothee, vielleicht auch für dich irgendwann, aber für die allermeisten anderen eben noch nicht. Das braucht noch sehr viel Zeit.“

 

Auf dem Heimweg führte ich den Dialog mit Angelika innerlich weiter. In vieler Hinsicht hatte sie mich von ihren Ansichten überzeugt, aber kaum etwas davon ließ sich auf mein eigenes Leben übertragen. Warum sollte ich mir von ihr meine Ehe mit Sebastian madig machen lassen? Sie hatte es ja gar nicht, nicht einmal versucht. Und trotzdem fühlte ich mich von ihr angegriffen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Sebastian und ich vereinbarten, uns gegenseitig sexuelle Abenteuer mit anderen zu erlauben, mal ganz abgesehen davon, dass es undenkbar erschien, auf abstrakter, rein theoretischer Ebene auch nur ein Gespräch über dieses Thema zu beginnen. Aber unter der Voraussetzung, wir gäben uns eine derartige Erlaubnis und versicherten uns, trotzdem weiter zusammenzubleiben – würde ich dann das Abenteuer mit Angelika suchen? Oder mit Robert, der mir ja nicht weniger sympathisch war? Wäre dann ein Damm gebrochen, von dem ich eigentlich glaubte, er existiere gar nicht? Und was wäre mit Sebastian? Aus irgendeinem Grund erwartete ich, er würde noch viel schneller als ich die neuen Möglichkeiten auszukosten versuchen und sofort mit einem ganz anderen Blick sein weibliches Umfeld durchscannen. Warum war ich mir so sicher, dass er genau das tun würde? Gerade eben noch hatte ich behauptet, er sei noch nie fremdgegangen und hatte ihm zugleich unterstellt, er habe nicht einmal mit diesem Gedanken gespielt. Ich selbst hatte nie das Gefühl gehabt, wenn ich einen Mann attraktiv fand, auf irgendetwas zu verzichten, wenn ich mich ihm nicht weiter näherte, gegen irgendein Begehren ankämpfen zu müssen. Aber Sebastian? Ich konnte keineswegs meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er sich nicht manchmal Sex mit anderen Frauen vorstellte, oder sogar schon ernsthaft in Versuchung geraten war. Dachte er an andere, wenn wir miteinander schliefen? Ging es mir nicht oft genug ganz wie Angelika? Immer seltener hatte ich in den letzten Jahren wirklich Lust gehabt, mit Sebastian zu schlafen, auch wenn es dann fast immer irgendwie auch schön war. Nicht jedes Mal einen Orgasmus zu haben, machte mir nichts aus, wenn nur Sebastian zum Zuge kam und sich entspannt mit einem zufriedenen Seufzer auf den Rücken fallen ließ. Ich erfreute mich an seiner Lust, ich fühlte mich trotz der vielen gemeinsamen Jahre immer noch begehrt. Das war mir das Wichtigste geworden. Und ich war bislang davon ausgegangen, dass Sebastian sowieso bekam, was er sich wünschte. Ich hätte ihn auch oral befriedigt, wenn er das von mir verlangt hätte. Aber er hatte es nicht verlangt, nicht einmal andeutungsweise. Die Abläufe unseres Liebesspiels waren über all die Jahre relativ konstant geblieben. Nur selten verging mehr als eine Woche, bis wir uns wieder liebten. Warum kam mir erst jetzt der Gedanke, das könne für Sebastian vielleicht nicht genug sein, er könne möglicherweise Wünsche haben, die er sich nicht zu äußern traute? Warum stand es für mich so eindeutig fest, dass eine Öffnung unserer Beziehung auch das Ende unserer Ehe bedeuten würde? Unser „System“ war stabil. Das stimmte wohl. Es war stabil, weil wir es gegen jede Gefährdung abgeschirmt hatten. Aber wir waren möglicherweise auch dabei, unserer Lust mehr und mehr das Wasser abzugraben, ihr die Luft zum Atmen zu entziehen. Der neuralgische Punkt unserer Beziehung drohte womöglich empfindungslos zu werden, genau der Ort unserer intimsten Zweisamkeit. Wenn zwei Menschen sich für immer genügen können sollten, dann mussten sie, das war die klare Erkenntnis, die ich aus Angelikas Ausführungen zog, ihre Lebensform und vor allem auch ihr Liebesleben immer wieder erneuern. Nur dann war es möglich die Erfüllung nicht irgendwann bei anderen Menschen suchen zu müssen, so wie Angelika und Robert. Wie glücklich waren wir wirklich miteinander? Welche eigenen Bedürfnisse hatte ich bislang ausgeblendet? Aus Angst. Aus Angst wovor? Vor mir selbst? Davor, von Sebastian verlassen zu werden? Vor meinem aufkeimenden Wunsch, ihn zu verlassen?

Ich kam viel zu spät nach Hause. Die anderen hatten bereits mit dem Essen begonnen. Sebastian fragte nicht, wo ich solange geblieben war, er schaute mich nur erwartungsvoll an und hielt eine Brötchenhälfte in der Hand. Ich entschuldigte mich und machte den wirklich dummen Fehler, zu sagen, ich sei in der Bücherei gewesen und hätte mich dort festgequatscht. In der Bücherei war ich zwar tatsächlich gewesen, aber festgequatscht hatte ich mich woanders. Sebastian hätte sicher nicht weiter gefragt, aber Maya war die Unstimmigkeit meiner Ausrede nicht entgangen. Ob ich jetzt eigentlich täglich in die Bücherei ginge, fragte sie, ich sei doch schon gestern dort gewesen. Ich log, ich hätte eines der Bücher abzugeben vergessen und sei deshalb noch einmal hinuntergelaufen, und errötete. Verdammt noch mal, warum haben wir so wenig Kontrolle über unsere Körperfunktionen!? Und dann sei ich nochmal zu dem Laden wegen des Kleides gegangen und hätte mich da noch einmal festgequatscht. Wir seien vom Hölzchen aufs Stöckchen gekommen, hätten über dies und das geredet und ich hätte mich schließlich entschlossen, das Kleid nicht zu nehmen, womit die Sache nun klar sei. Tatsächlich hatten Angelika und ich nicht noch einmal über das Kleid gesprochen und ich war keineswegs sicher, dass sie daran denken würde, den Auftrag zu stornieren. Im Gegenteil! Ich traute Angelika zu, hier in den nächsten Tagen noch einmal anzurufen und deshalb nachzufragen.

„Oder du hast deinen Liebhaber getroffen“, scherzte Maya.

„Oh, Hilfe, du hast mich durchschaut, mein Schatz“, gab ich ironisch zurück und musste mich abwenden, weil ich eine glühende Hitze in meinem Gesicht spürte und mir der Atem stockte. Ich hatte absolut nichts zu verbergen, und doch fühlte ich mich bei einem schwerwiegenden Fehltritt ertappt. Ich schaltete auf Angriff, um mein Erröten als Wut erscheinen zu lassen.

„Ich weiß überhaupt nicht, warum ich nicht auch nur einmal meine Zeit so verbringen kann, wie es mir passt, warum ich permanent kontrolliert werde und langsam kaum noch Luft zum Atmen habe!“, presste ich hervor, stampfte schnaubend in den Flur zurück und pfefferte meine Tasche auf die Kommode. Sebastian und die Kinder starrten mich vom Tisch aus entgeistert an. Sie verstanden meinen Wutausbruch nicht. Wie auch? Ich kramte meine Krimis aus der Tasche und hielt sie ihnen zum Beweis entgegen, dass ich wirklich in der Bücherei gewesen war.

„Hier, bitte! Meine einzige legitime Leidenschaft: Krimis!“

„Aber gerade noch hast du gesagt, du hättest nur ein Buch hingebracht, nicht welche abgeholt“, sagte Maya lakonisch.

Reinfall Nummer zwei.

„Und welche geholt. Wenn ich schon mal da bin.“

„Aber gestern hast du doch auch schon welche mitgebracht. Hast du jedenfalls gesagt.“

Ich zog mich beleidigt und ohne etwas zu essen ins Schlafzimmer zurück und sagte, ich würde jetzt lesen und einfach mal meine Ruhe haben wollen. Außerdem müsse ich am Abend noch arbeiten. Eine maliziöse Stimme in meinem Innern erhob sich höhnisch in mir: Da hast du’s! Du musst die Geschichte mit Angelika vor deiner Familie geheim halten, weil du die Bedeutung, die sie für dich hat, nicht kaputtmachen willst. Du willst sie vor den anderen nicht verharmlosen und relativieren müssen. Gib zu, du willst dir die geile Anästhesistin warmhalten und den Pornoverleger gleich mit. Die beiden haben schon längst deine Phantasie okkupiert und haben dir dein Höschen gehörig feucht gemacht. Hast du das denn gar nicht bemerkt, wie es an deinen Schamlippen klebt?

Ich schlug eines der Bücher auf, als ich auf dem Bett lag und mein Herz immer noch schlagen hörte, aber ich behielt nicht einen der Sätze, die ich las. Ich wollte mich unbedingt ablenken und wieder beruhigen. Es gelang einfach nicht. Stattdessen streckte Angelika wie ein finsterer Dämon ihre Hände vom Fußende des Bettes nach mir aus, kroch langsam zu mir hinauf, ließ ihre langen Haare über meine Oberschenkel gleiten, streichelte meine Brüste und legte ihr Gesicht auf meine Scham. Gleich würde sie mir die Jeans aufknöpfen und sie langsam herunterziehen.

Es dauerte nicht lange, bis Sebastian im Schlafzimmer auftauchte und besorgt fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich entschuldigte mich für meinen Ausbruch. Er setzte sich auf die Bettkante und streichelte mir sanft übers Haar.

„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, Sebastian. Mir gehen seit einiger Zeit manche Dinge durch den Kopf, die mich früher eher wenig beschäftigt haben, weil mir alles so selbstverständlich erschien.“

Ich wollte ehrlich zu ihm sein und hatte in den zwei Sätzen, mit denen ich das Gespräch begonnen hatte, bereits einmal gelogen und eine vage Formulierung gebraucht, die ihm unweigerlich Angst machen musste. Sebastian schwieg, sein Blick wurde ernst.

„Es ist wirklich nichts, worüber du dir Gedanken machen musst.“

Die nächste Lüge. Um Sebastian zu schonen? Oder mich selbst? Natürlich sollte sich Sebastian Gedanken machen! Ich hätte von dem Gespräch mit Angelika erzählen können, von ihrem ungewöhnlichen Lebensmodell. Aber nach meiner missverständlichen Einleitung hätte es klingen müssen, als fühlte ich mich davon ernsthaft verunsichert, gar beeindruckt oder überzeugt. Ich wählte also eine abstraktere Ebene und orientierte mich am Prinzipiellen und Allgemeinen.

„Ich frage mich manchmal, ob du wirklich zufrieden bist mit unserer Beziehung, ob dir nicht manchmal was fehlt. Und ich habe ein richtig schlechtes Gewissen, dass ich mich das nicht schon viel früher gefragt habe, dass ich dich nicht gefragt habe.“

„Was sollte mir denn fehlen?“

„Gibt es irgendwelche Wünsche und Sehnsüchte, die du dir, oder die ich dir nicht erfüllen konnte oder nicht erfüllt habe, weil du glaubst, dass ich dafür vielleicht kein Verständnis hätte?“

Sebastian blickte mich ungläubig und verwirrt an.

„Wovon redest du eigentlich? Was genau meinst du mit Sehnsüchten und Wünschen? Vielleicht drückst du dich mal etwas klarer aus.“ Er lächelte etwas verkrampft.

„Ich meine, zum Beispiel im Bett.“

„Wie jetzt, im Bett? Was meinst du damit? Stellungen, Praktiken? Habe ich dir Anlass gegeben, zu glauben, ich sei irgendwie unzufrieden?“

„Nein! Überhaupt nicht! Aber ich bin auf einmal unsicher geworden, ob du nicht vielleicht einfach nur rücksichtsvoll bist und mich nicht verletzen willst, wenn du nicht sagst, dass du etwas anders haben willst, weil wir es eben schon immer so gemacht haben, wie wir es machen. O Gott, das klingt jetzt so schwerwiegend. So ist es gar nicht gemeint. Ich dachte nur, es gibt vielleicht Dinge, die du gern machen würdest.“

Sebastian atmete schwer, seine Halsschlagader trat hervor und schlug schnell.

„Was ist das überhaupt für eine Frage? Ich verstehe die nicht. Gibt es irgendwas, was du mir sagen willst? Kannst du vielleicht Klartext reden?“

„Ich soll dir was sagen wollen? Wenn ich dir etwas sagen wollte, würde ich es sagen.“

„Aber du meinst, dass ich dir nichts sagen würde, wenn ich was zu sagen hätte. Gebe ich dir Anlass dazu, zu denken, dass ich dir irgendwas verschweige?“

„Nein, das habe ich ja gar nicht gesagt, oder jedenfalls nicht so gemeint. Ist ja auch gut! Ich wollte einfach nur sagen, dass es mir leidtäte, wenn du nicht in dem Maße auf deine Kosten kämst, wie ich es dir wünsche.“

„Alle deine guten Wünsche sind mit mir, vielen Dank! Wie kommst du plötzlich darauf? Das hat doch anscheinend viel weniger mit mir zu tun als mit dir.“

„Gar nicht! Bei mir ist alles gut! Deswegen habe ich ja dieses schlechte Gewissen, weil ich mir vorher einfach zu wenig Gedanken gemacht habe.“

„Und warum machst du dir auf einmal solche Gedanken? Woher der Sinneswandel? Hat es irgendwas mit deinen häufigen Besuchen in der Bücherei zu tun? Gibt es irgendwas, was ich wissen sollte.“

„Deine Eifersucht ist vollkommen unbegründet, wirklich. Mach dich nicht lächerlich!“

„Jetzt soll ich auf einmal eifersüchtig sein? Ich mache mich lächerlich? Habe ich auch nur ein Wort geäußert, dass ich eifersüchtig bin? Gäbe es einen Grund eifersüchtig zu sein?“

„Herrgott, nein, natürlich nicht! Es sind nur ganz prinzipielle Überlegungen. Mir ist einfach klargeworden, dass wir unsere Beziehung, … dass es wichtig ist, unsere Beziehung offen zu halten für Veränderungen. Du veränderst dich, ich verändere mich…“

„Da sprichst du ein wahres Wort. Allerdings hast du dich verändert. Meinst du, ich habe nicht mitbekommen, mit wie viel Widerwillen du in letzter Zeit mit mir schläfst? Frauen können vielleicht sehr überzeugend einen Orgasmus vortäuschen, aber du versuchst nicht einmal mehr das. O ja, es gäbe sicher etwas, das ich mir wünschen würde. Aber es ist anscheinend etwas, das du mir nicht mehr geben kannst oder willst. Ich übertreibe vielleicht. Aber jedenfalls kommst du deutlich immer seltener. So sehr ich mich auch bemühe.“

„Also gibt es doch Dinge, die du dir wünschst, aber mir nicht sagen kannst.“

„Wieso ich dir sagen? Das musst du doch selbst am besten wissen. Ich habe eher das Gefühl, dass du mir irgendwas nicht sagen kannst. Vielleicht rückst du damit endlich mal raus!“

Wir saßen beide kerzengerade im Bett, kampfbereit, als Lukas die Schlafzimmertür öffnete und uns besorgt ansah.

„Streitet ihr?“

„Nein“, versetzte Sebastian, „wir streiten nicht. Aber wir wollen einen Moment allein sein. Geht das?“

Lukas zog sich zurück und schloss die Tür leise. Würde er dahinter stehen bleiben und horchen? Ich stand auf, öffnete die Tür und sah Lukas direkt ins Gesicht.

„Du musst dir keine Sorgen machen, Lukas“, sagte ich, „es ist alles in Ordnung.“

Er nickte und trollte sich in sein Zimmer. Sebastian war aufgestanden und lief unruhig im Zimmer auf und ab. Warum hatte ich vermeiden wollen, dass Lukas zuhört? Weil er nicht mein Geständnis hören sollte? Irgendetwas von der Art musste Sebastian jetzt erwarten, zumindest unterschwellig.

„Und du musst dir auch keine Sorgen machen, Sebastian, bestimmt nicht! Ich finde es überhaupt nicht schlimm, wenn ich zwischendurch mal nicht komme. Es ist auch so immer sehr schön.“

„Sehr schön! Super! Das beruhigt mich zutiefst. Aber es muss doch einen Grund dafür geben.“

„Wir sind eben schon fast ein altes Ehepaar. Es gibt viele Dinge, die wichtiger geworden sind. Ich weiß, es sollte so vielleicht nicht sein. Deshalb meine ich ja auch, dass wir vielleicht was ändern könnten.“

„Und was?“

„Ich weiß nicht, deshalb habe ich dich ja gefragt.“

„Ich könnte dich genauso gut fragen, findest du nicht?“

„Doch, könntest du, aber ich weiß halt noch keine Antwort darauf.“

„Aber von mir erwartest du eine.“

„Ich will offen mit dir reden.“

„Ah, du willst offen mit mir reden. Das wird aber auch langsam Zeit.“

„Nicht, was du meinst.“

„Was meine ich denn? Worauf willst du anspielen? Woher willst du denn wissen, was ich meine?“

Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich damit alle Missverständnisse abwerfen.

„Ich war heute wieder bei dem Laden…“

Sebastian atmete tief durch, setzte sich von mir abgewandt aufs Ende des Bettes und starrte auf den Boden, als erwarte er eine niederschmetternde Beichte.

„Ich war wieder bei dem Laden, um mir das Kleid nochmal anzusehen. Klar? Und da habe ich längere Zeit mit der Verkäuferin geredet. Und sie hat einfach ganz viel über sich und ihren Mann erzählt. Sie war gar nicht mehr zu bremsen. Sie hat mir alles Mögliche erzählt, was ich gar nicht wissen wollte. Dass sie in einer offenen Beziehung lebt und beide so ihre Affären haben. Es ist vollkommen absurd. Aber ich habe trotzdem angefangen nachzudenken.“

„Über offene Beziehungen. Ist es das, was du mir sagen willst? Dass du plötzlich Geschmack an einer offenen Beziehung bekommen hast.“

„Nein, im Gegenteil! Ich habe gesagt, dass ich sehr glücklich in meiner Ehe bin, dass wir sehr glücklich sind. Und da habe ich mich gefragt, ob das wirklich stimmt, dass du so glücklich bist wie ich. Ich bin immer ganz selbstverständlich davon ausgegangen. Das ist ja vielleicht nicht ganz fair gewesen.“

„Also du meinst, ich könnte vielleicht an einer offenen Beziehung interessiert sein, weil ich mit dir nicht glücklich bin. Es wäre für dich bequemer, wenn ich für eine offene Beziehung wäre, damit du dir selber nicht schäbig vorkommst, wenn du sie führst.“

„Du verstehst mich vollkommen falsch. Ich will ja gerade keine offene Beziehung. Aber ich habe gemerkt, … mir ist klargeworden, dass es wichtig ist eine Beziehung in jeder Hinsicht zu pflegen, damit man eben nicht irgendwann anfängt, über Alternativen nachzudenken.“

„Über welche Alternativen hast du denn angefangen nachzudenken?“

„Über keine! Hör mir doch mal zu! Diese Frau, Angelika, hat mir ein sehr eindeutiges sexuelles Angebot gemacht. Aber ich habe aus voller Überzeugung abgelehnt, weil ich mir sicher bin, dass es niemanden außer uns beiden gibt.“

„Sie hat dir ein Angebot gemacht. Eine Lesbe. Darum geht es also. Warum nicht gleich?“

„Keine Lesbe. Eher bi. Sie lebt ja weiter mit ihrem Mann zusammen. Darum geht’s doch auch gar nicht. Wir haben sicher über zwei Stunden geredet, ich kann das nicht alles wiederholen, was wir geredet haben, vielmehr hat sie ja die ganze Zeit geredet. Ich habe fast nur zugehört.“

„Sie hat gesagt, dass sie mit dir schlafen will? Einfach so? Du musst ihr ja irgendeinen Anlass gegeben haben, dir das vorzuschlagen. Du kannst mir nicht erzählen, dass du sie nicht irgendwie dazu herausgefordert hast. Warum bist du überhaupt hingegangen? Du hättest doch auch anrufen können. Aber du musstest unbedingt noch einmal hingehen. Weil du sie wiedersehen wolltest. Hast du dich in sie verliebt?“

Ich schüttelte vehement den Kopf.

„Und jetzt willst du mich davon überzeugen, dass wir besser in einer offenen Beziehung leben sollten, damit du guten Gewissens mit dieser Frau ins Bett hüpfen kannst. Wahrscheinlich hast du dich schon die ganze Zeit mit diesen Phantasien beschäftigt, warst ja ganz absorbiert in der letzten Zeit. Als ob ich das nicht hätte merken können! Und du erwartest von mir, dass ich dir den Freibrief dafür gebe.“

Ich widersprach mit einem Gefühl der Ohnmacht und völliger Erschöpfung. Er stand wütend auf, und schritt entschlossen zur Tür, ohne mich noch einmal anzusehen.

„Meinetwegen! Kannst du haben! Gottes Segen dazu! Danke für die Mitteilung! Und Tschüss!“

Er schlug die Tür hinter sich zu und stapfte lautstark durchs Haus. Ich hörte, wir er sich im Flur Schuhe und Jacke anzog und das Haus verließ. Ich ärgerte mich über Sebastians Gewohnheit, Konflikten aus dem Weg zu gehen, über seine emotionalen Überreaktionen. Er hatte mir überhaupt keine Gelegenheit gelassen, die Sache aufzuklären. Hinter jedem meiner Erklärungsversuche hatte er eine verborgene Mitteilung vermutet, die Schlimmeres bedeutete. Ich ärgerte mich nicht nur über ihn, auch über mich selbst, weil ich mit meinen vorsichtigen Formulierungen seine sprießende Phantasie angefacht hatte, die gewöhnlich die buntesten Blüten trieb. Ich hätte damit rechnen müssen, dass er wie immer hinter meinen Worten nach versteckten Andeutungen und Vorwürfen suchte. Dennoch war mir rätselhaft, warum er diesmal derart aufgebracht war. Ich nahm an, er würde in spätestens einer oder zwei Stunden zurück sein. Dann würde ich ihn sehr sachlich zur Rede stellen und ihn bitten, mir nach dem Konzert noch einmal genau zuzuhören, damit die Missverständnisse nicht noch bis zum nächsten Morgen in ihm gärten. Ich nutzte die Zeit für einige Passagen aus den Stücken von Philipp Glass, die wir an diesem Abend aufführten und die vor allem in rhythmischer Hinsicht eine echte Herausforderung nicht nur für mich, sondern für das ganze Orchester darstellten. Ein Segen, dass ich beim Üben jedes Mal vollkommen abschalten, alles andere ausblenden kann! Als ich mich von Lukas und Maya verabschiedete, war Sebastian noch immer nicht zurück. Nach dem Konzert und einem lang anhaltenden Applaus beeilte ich mich, nach Hause zu kommen und blieb der anschließenden Konzert-Premiere ausnahmsweise fern. Ich wäre nicht vor ein Uhr zuhause gewesen, wenn ich dem Drängen von Paul und Asuka nachgegeben hätte. „Einen dudeln gegen das Gedudel“ meinte Paul scherzhaft. Ich mag Philipp Glass wirklich, auch wenn er anstrengend zu spielen ist. Dennoch hätte ich an diesem Abend wirklich gern mit den anderen das „Gedudel weggedudelt“. Aber die Missverständnisse vom Nachmittag wollte ich unbedingt aus dem Weg räumen. Das war mir wichtiger als alles andere. Sebastian war nicht zurück, als ich das Haus betrat. Seine Jacke hing nicht an der Garderobe und die Schuhe standen nicht darunter. Ich sah noch ein wenig fern und ging nach einer Stunde ins Bett. Als sich Sebastian gegen drei Uhr nachts neben mich ins Bett legte, hatte ich noch nicht geschlafen, aber ich hielt die Augen geschlossen. Er hatte getrunken, wahrscheinlich nicht wenig. Die ätherischen Dämpfe übertünchten jedoch nicht vollständig die Spuren eines süßlichen Parfüms. Mir blieb beinahe das Herz stehen. Ich fühlte, wie mein Atem immer schwerer wurde. Ich tat, als sei ich gerade aus tiefem Schlaf erwacht und müsse einmal zur Toilette.

„Wo warst du denn so lange?“, fragte ich in verschlafenem Ton.

Sebastian brummte schläfrig: „Mit Freunden einen trinken. Ist irgendwie lang geworden.“

Im Bad untersuchte ich Sebastians Kleider, die er dort abgelegt hatte. Ich roch an seiner Unterhose und sah weiße und silbrig glänzende Flecken darin. Mir wurde flau im Magen, ein Angstschauer durchschoss meinen ganzen Körper. Ich setzte mich kraftlos auf den Badewannenrand und beobachtete mich selbst dabei, wie ein Szenario nach dem anderen durch meinen Kopf schoss: Sebastian spricht eine fremde Frau in der Kneipe an, Sebastian betrinkt sich in einer Kneipe und wird von einer fremden Frau angesprochen und lässt sich von ihr abschleppen, Sebastian heult sich bei einer guten Bekannten aus, die mir allerdings weniger gut bekannt ist, Sebastian geht zu einer Geliebten, von der ich Naivling noch keinen blassen Schimmer habe, Sebastian wird vor Wochen von einer Kollegin angebaggert, er erinnert sich an ihr unmissverständliches Angebot und nutzt die erstbeste Gelegenheit, Sebastian lässt es sich von einer Prostituierten besorgen. Sollte ich ihn zur Rede stellen? Vielleicht war ja gar nichts geschehen, und er hatte sich einfach nur einen runtergeholt. Oder nicht mal das. Aber was war mit dem Parfüm? Vielleicht hatte ich mich ja getäuscht. Als ich ins Schlafzimmer zurückschlich, erweckte Sebastian den Eindruck, als schlafe er. Ich wusste, dass er nicht schlief. Ich legte mich dicht neben ihn und sog den süßlichen Duft ein, der mich auch den Rest der Nacht nicht schlafen ließ. Malena traute ich diesen Duft zu. Sie lebte seit zwei Monaten in Trennung und war eine unserer besten Freundinnen. Vor ihrem Entschluss, sich von Ralf zu trennen, hatte sie oft bei uns gesessen und uns ihr Leid geklagt: kein Sex mehr, ein gleichgültiges Nebeneinander, Routine, ein zu nichts mehr zu motivierender Partner mit großer Trennungsangst und einem beachtlichen Alkoholproblem. Wir hatten ihr zu diesem Schritt geraten, nachdem sie viele Gespräche mit Ralf geführt und ihm vergeblich vorgeschlagen hatte, eine Therapie zu machen. Immer wieder hatte Malena betont, wie neidisch sie auf unsere so gut funktionierende Beziehung sei, wie sehr sie mich um Sebastian beneide, der nicht nur wahnsinnig attraktiv geblieben sei, sondern auch den modernen Mann schlechthin verkörpere, klug, empathisch und achtsam. Das musste Eindruck auf Sebastian gemacht haben. Erst jetzt fiel mir auf, mit welchem Glanz in den Augen sie Sebastian immer wieder angelächelt hatte. Ich erinnerte mich an eine ähnliche schlaflose Nacht einige Monate zuvor. Auch da hatte ich ein fremdes Parfum gerochen und Sebastian am nächsten Morgen zur Rede gestellt. Harald, ein ehemaliger Kommilitone, den Sebastian nur alle Jubeljahre mal traf und der in der Tat ein Kindskopf geblieben war, habe ein Eau de Toilette dabeigehabt, damit herumgesprüht und sich köstlich darüber amüsiert, dass er, Sebastian, Mühe haben werde, das seiner Frau zu erklären. Mir war die Geschichte derart unglaubwürdig erschienen, dass ich beschlossen hatte, sie zu glauben. Erst jetzt kamen mir ernsthafte Zweifel. Noch am Vormittag hatte ich behauptet in einer stabilen und glücklichen Ehe zu leben, in der das Treueversprechen unumstößliche Gültigkeit besaß, und schon in der Nacht konnte ich mir vorstellen, wie Sebastian seit geraumer Zeit kaum eine Gelegenheit ausließ, mich zu betrügen. Ich war – neben einem etwas schlechten Gewissen – immer irgendwie stolz auf mich gewesen, Sebastian bei Bedarf einen heftigen Orgasmus vortäuschen zu können, bei dem ich hingebungsvoll stöhnte, meine Vagina kontraktieren ließ, dabei zuckte und mich schüttelte. Vielleicht empfand Sebastian nicht weniger Stolz, die Rolle des vorbildlichen Ehemannes und Vaters perfekt spielen zu können, dabei ab und an auch noch seine ehelichen Pflichten zu erfüllen und sich zwischendurch mit einer anderen zu vergnügen. War sein Abgang am Nachmittag nicht auch großes Theater gewesen? War es nicht ein wenig zu übertrieben gewesen, kaum noch authentisch? Seine bohrenden Fragen, diese zielsichere Navigation zu einem angeblichen Nachweis meiner Untreue oder auch nur dem Gedanken daran – das hatte Sebastian vielleicht schon viele Male durchgespielt. Er hatte möglicherweise schon lange auf die Gelegenheit für diesen emotionalen Ausraster gewartet, weil nicht er derjenige sein wollte, der den Bruch herbeiführt. Das „stabile System“, mit dem ich bei Angelika angegeben hatte – das hatte ich mir vielleicht nur eingebildet? Ich allein war stabil, ich hatte die ganze Zeit über meine eigene Stabilität wahrgenommen und sie für eine gemeinsame gehalten. Der Mann neben mir wurde mir mit einem Mal fremd, die Geräusche, die er machte, als er irgendwann doch eingeschlafen war, widerten mich plötzlich an, seine Ausdünstungen ekelten mich. Ich wusste, dass meine Gefühle ihm Unrecht taten, sie würden irgendwann wieder vergehen, aber bis zum Morgen wurde ich sie nicht los. Erst, als es schon sehr hell geworden war, musste ich eingeschlafen sein. Gegen Zehn erwachte ich und fand das Bett neben mir leer. Sebastian und die Kinder hatten schon gefrühstückt. Lukas lag im Bademantel auf dem Sofa und stierte in sein Smartphone. Ich fand Sebastian im Waschraum, wo er die Wäsche sortierte und in die Waschmaschinentrommel stopfte. Eine Kochwäsche für die Unterhosen und Handtücher. Ich beobachtete ihn eine Weile. Er nahm keine Notiz von mir, obwohl er bemerkt haben musste, dass ich in der Tür stand, bis er ohne aufzublicken fragte, ob das Konzert gut gewesen sei. Ich bejahte kühl und fragte, ob er gestern zufällig Harald getroffen habe und er ihn wieder einmal mit Parfüm besprüht habe. Sebastian hielt inne und ließ, immer noch am Boden hockend, den Kopf sinken.

„Was soll ich darauf jetzt, bitte schön, antworten?“, fragte er und blickte mich mit rotem Kopf vorwurfsvoll von unten herauf an.

„Du bist doch sonst auch so kreativ“, gab ich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dir wird schon was Interessantes einfallen.“

„Ich glaube, darin bist du immer noch unübertroffen.“

Ich zog die Lippen kraus, nickte und wippte gemächlich, aber voller Wut davon. Ich duschte, zog mich an und verließ wortlos das Haus. Wohin? Es gab nur einen Ort, zu dem es mich hinzog. Ich wusste nicht, warum. Ich fühlte eine kalte Eifersucht, die eigentlich mehr eine Rachsucht war, das Bedürfnis nach Vergeltung für etwas, von dem ich gar nicht mit Sicherheit wusste, ob es überhaupt geschehen war.

Angelikas Laden war am Sonntag natürlich geschlossen. Was hatte ich auch anderes erwarten können? Ich starrte eine Weile auf das rote Kleid, das Robert als gutes Omen bezeichnet hatte. Jetzt war ich mir sicher, dass es ein Menetekel gewesen war. Ich schlenderte weiter durch die Straßen und beobachtete einige Leute, die zur Kirche gingen. Nur wenige von ihnen machten auf mich einen fröhlichen Eindruck, die meisten wirkten leer oder verkniffen. In den Gesichtern der wenigen Passanten in der Fußgängerzone suchte ich nach Hinweisen dafür, dass sie glücklich, erfüllt, zufrieden waren, aber ich fand keine. Die Paare wechselten kaum ein Wort und trotteten beziehungslos nebeneinander her, eine Frau redete ermahnend auf ihren Hund ein, der hingebungsvoll an einer weggeworfenen Burger-Verpackung schnupperte, und zog immer wieder ruckartig an der Leine. Ein junger Vater schob einen Kinderwagen, seine Frau trug einen kurzen Rock, eine dunkle Nylonstrumpfhose, die die Kurven ihrer Beine betonte, eine braune Kunstlederjacke und über die Schulter ein Handtäschchen mit einem Goldkettchen als Gurt. Ihre Aufmerksamkeit galt den Entgegenkommenden, ob sie gesehen wurde. Vergeblich versuchte ich mir vorzustellen, wie die Beiden in der Nacht miteinander geschlafen hatten. Ein älteres Ehepaar, unscheinbar gekleidet: Die hatten bestimmt keinen Sex mehr. Vor einem Café saß ein unrasierter Mann mittleren Alters und folgte mit seinen Blicken den Frauen, die vorübergingen. Sein Blick traf auch mich. Lässig klopfte er die Asche seiner Zigarette in den Aschenbecher. Er wollte cool wirken, aber ich sah ihm an, dass er alle Hoffnung auf eine aufregende Begegnung längst aufgegeben hatte. Ich kam mir verloren vor, wie ich so an einem Sonntagvormittag durch die Fußgängerzone streifte. Nirgendwo tat sich eine Zuflucht für mich auf. Ich kehrte um und gelangte schließlich wieder zu der Kirche. Wie lange war ich nicht mehr in einer Kirche gewesen! Ich blieb unentschlossen vor dem Portal stehen und hörte die Orgelklänge aus dem Innern. Ich zog die schwere Tür auf und trat in den Vorraum. In der Kirchenhalle saßen nur wenige Menschen, sie sangen ein träges Kirchenlied, die Pastorin stand im Talar vor dem Altar und sang ebenfalls. Nicht einmal sie kannte das Lied auswendig und blickte in ihr Gesangbuch. Überall gesenkte, graue Köpfe. Ich erinnerte mich an die stimmungsvollen Weihnachtsgottesdienste in meiner Kindheit, die voller Vorfreude und Lichterglanz gewesen waren. Nichts von diesen Gefühlen wollte in diesem Moment in mir aufsteigen, kein Gebet wollte über meine Lippen kommen: Ach, lieber Gott, mach, dass alles wieder gut wird! Was eigentlich sollte wieder gut werden? Ich wandte mich enttäuscht um und verließ die Kirche wieder. Schön war allein, aus dem Dunkel wieder ins grelle Licht zu treten. Ich wusste, dass sich Angelikas Wohnung direkt über dem Laden befand. Auf den Klingelschildern fand ich nur zwei Namen. Ich entschied mich für die Klingel im ersten Obergeschoss. Ich würde Angelika einen Grund für mein Kommen nennen müssen, der nicht war, dass ich mit ihr schlafen wollte. Ich wusste nicht, was ich sagen würde. Ich wusste auch nicht, wie ich damit umgehen sollte, dass wahrscheinlich auch Robert da sein würde. Der Türöffner summte und wie somnambul stieg ich die knarrenden Stufen empor. Robert stand in Boxershorts und T-Shirt in der Tür. Er lächelte und ließ mich wortlos ein. Angelika kam aus der Küche in den Flur, ungeschminkt und seltsam fahl, sie band sich den Morgenmantel zu. Sie blickte mich ernst an, umarmte mich und führte mich schweigend in ihr Schlafzimmer. Robert folgte uns und blieb in der Tür stehen. Die Bettdecken lagen geknäuelt, als seien die Beiden gerade erst aus dem Bett gestiegen, als sei in ihnen noch die Wärme ihrer Körper gespeichert. Ich setzte mich auf einen Stuhl vor dem Fenster, durch das die Frühlingssonne ins Zimmer schien. Ich fühlte mich unendlich erschöpft. Angelika stand in einigem Abstand, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte mich forschend an.

„Ich kenne euch gar nicht“, sagte ich und fühlte, wie eine tiefe Verzweiflung in mir hochstieg. Mit ihr stiegen Worte in mir auf, die nicht mehr meine Worte waren, sondern ein Etwas, das aus mir sprach: „Ich bin gekommen, weil ich eine Bitte an euch habe.“

Angelika nahm kurz Blickkontakt mit Robert auf.

„Ich habe eine Bitte, die ihr mir vielleicht nicht erfüllen könnt oder erfüllen wollt. Aber Angelika, du hast gesagt, dass es wichtig ist, zu sagen, was man empfindet und was man sich wünscht.“

„Ja“, sagte Angelika, „das finde ich wichtig und richtig. Sag uns, was du dir wünschst!“

„Ich kann es nicht sagen. Es fällt mir so schwer“, flüsterte ich.

„Sag es ruhig“, ermutigte mich Robert.

Angelika stemmte die Hände in die Hüften, wollte etwas sagen, blieb aber stumm und abwartend.

„Ich möchte…, ich glaube, ich möchte euch zusehen, wie ihr es tut. Mehr nicht. Ich möchte einfach nur zusehen. Ich kann nicht sagen, warum.“

Angelika kniete sich zu mir herunter, fasste meine Hüften und legte ihren Kopf in meinen Schoß. Dann blickte sie zu Robert. Er antwortete mit einer leichten Neigung seines Kopfes. Angelika stand auf, blickte mich an und öffnete ihren Morgenmantel. Sie trug darunter nur einen Slip, aus dem sich dunkle Haare kräuselten. Ihre Brüste erschienen mir jetzt weniger straff, aber sie waren dennoch schön und ebenmäßig. Sie griff nach der Naht ihres Slips und zog ihn langsam herunter. Ich blickte zu Boden, der Slip umspülte ihre knochigen Füße wie der Schaum des Wassers, das in Wellen an einen warmen Strand gespült wird, ich fühlte mein Herz schlagen. Mit wallenden Haaren und wallendem Morgenmantel schritt sie zum Bett, langte nach den Bettdecken und schob sie auf den Boden neben das Bett. Den Morgenmantel warf sie daneben und legte sich auf das leere Bett. Sie spreizte ihre Beine und ließ mich auf ihr dunkel behaartes Geschlecht blicken. Aus einer Schublade ihres Nachttischchens angelte sie einen schwarzen Vibrator. Robert stand weiter in der Tür und sah zu, wie Angelika den Vibrator anschaltete, ihn sich zwischen die Schamlippen legte und ihn langsam auf und ab gleiten ließ. Robert blickte mich an, setzte sich neben Angelika aufs Bett und strich ihr sanft übers Gesicht. Sie legte den Kopf zurück ins Kissen. Robert begann, ihre Brüste zu streicheln, umrundete sie mit seinen schlanken Fingern, ließ eine Hand über ihren Bauch gleiten und befeuchtete drei Finger der anderen Hand mit Speichel, den er ihr auf die sich öffnende, langsam anschwellende Spalte strich. Er wiederholte das ein weiteres Mal, während Angelika die Spitze des Vibrators auf ihre Klitoris drückte. Dann wanderte die Spitze hinunter zu ihrer Vagina und sie schob den Vibrator langsam hinein, während sie mit der anderen Hand begann, ihre Klitoris behutsam kreisend zu massieren. Ich sah, dass Robert nun auch erregt war, sein Penis richtete sich in seinen Boxershorts langsam auf. In gleichmäßigem Rhythmus schob Angelika den Vibrator langsam vor und zurück. Robert massierte mit beiden Händen ihre Brüste und küsste Angelika auf den Mund. Dann wanderten seine Lippen hinab zu ihren Brüsten, die er mit Speichel benetzte und im nächsten Moment wieder mit seinen Händen umspielte. Mir wurde bewusst, dass mich das, was ich sah, sehr erregte, obwohl alles so unwirklich erschien, und ich mich hinaus ins helle Licht des Frühsommers wünschte, auf eine Wiese unter Bäumen. Meine Klitoris richtete sich spürbar auf und ich wusste, dass ich feucht wurde, es fühlte sich beinahe so an, wie manchmal bei einer Monatsblutung, aber meinem Drang, mir die Hand in die Hose zu schieben und einen Finger zur Erleichterung auf meine Klitoris zu pressen, gab ich nicht nach. Angelika fasste Robert in die Hose, sie umschloss mit der Hand seinen harten Schwanz, zog den Vibrator heraus und führt seinen Schwanz zu ihrer Vagina. Robert legte sich behutsam auf sie und schob seinen Schwanz langsam in sie hinein. Ich sah von meinem Stuhl aus nicht viel mehr als die langsamen Bewegungen, die Robert auf Angelika vollzog. Den Vibrator aber legte sie sich anscheinend wieder an ihre Klitoris, zwischen ihre sich in steigernder Wollust windenden Körper. Wortlos, schweigend, tonlos. Erst als Angelika, sehr bald schon, zum Höhepunkt kam, vernahm ich etwas wie ein Schluchzen von ihr. Robert kam beinahe gleichzeitig mit ihr. Wenige gequetschte Laute, als hebe er eine schwere Kiste an. Angelika warf das Toy ermattet und befriedigt zur Seite, ließ die Arme links und rechts ins Bett fallen und Robert legte seinen Kopf zwischen Angelikas Brüste. Eine gefühlte Ewigkeit blieben sie so regungslos beieinander. Dann zog Robert seinen halb erschlafften Penis aus ihr heraus, legte sich neben sie und streichelte sie sanft. Da erst fiel Angelikas entrückter Blick wieder auf mich. Sie richtete sich auf und blickte mir lange in die Augen. Ich sah, wie Roberts Saft aus ihrer Vagina aufs Bettlaken sickerte, sein Saft und ihr eigener. Sie krabbelte aus dem Bett zu mir hin und stellte sich vor mich hin, diese große Schöne. Auch ich stand von meinem Stuhl auf und blickte ihr in die Augen. Da fasste sie sich zwischen die Beine, nahm mit ihren Fingern etwas von dem Liebessaft auf, hob ihre Hand vor mein Gesicht, rieb den klebrigen Sud zwischen Daumen und Fingern und benetzte dann damit – wie in einer heiligen Handlung – meine Stirn und meine Lippen. Dann legte sie ihre Lippen auf meine, schloss die Augen und schob ihre Zunge tief in meinen Mund. Auch meine Lider schlossen sich wie von selbst und ich spürte, wie meine Vagina rhythmisch zu pulsieren begann, meine Kopfhaut kribbelte wie von tausend Ameisen. Von dort aus breitete sich dieses Kribbeln schnell über den Rücken bis hinunter zu den Füßen aus. Ein unglaublicher Orgasmus durchfuhr sekundenlang meinen ganzen Körper, der mich beinahe in die Knie zwang. Ich schob unwillkürlich eine Hand zwischen meine Beine und wurde von einem weiteren Schauer überwältigt. Angelika umringte mich mit ihren Armen, während ich mich krümmte, nach Luft schnappte und mich zum Fenster hin umdrehte. Eine Sonnenflut, ein Meer von Licht. Angelika ließ ihre Hand über meine Wirbelknochen gleiten. Ich atmete tief ein und aus, richtete mich halb auf, wandte mich zu Angelika um, stützte meine Stirn an ihrer Brust ab, während sie mich locker umfangen hielt. Ich hörte mich stoßweise atmen, vom Dielenboden her schauten mich große, hölzerne Tieraugen an, ein Reh, ein Makake, ein Waschbär – bis sich meine Atmung langsam wieder beruhigte. Ich blickte auf, küsste Angelika auf beide Wangen, bedankte mich bei ihr und bei Robert, der weiter auf dem Bett lag, und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Mit weichen Knien stolperte ich die Treppe hinunter. Draußen empfingen mich ein warmer Lufthauch und wieder das helle Licht. Die Kirchglocken läuteten und mir entfuhr aus tiefsten Herzen ein kurzes, euphorisches Dankgebet, das von den sonnengefluteten Häuserfassaden, vom überbelichteten, hellblauen Himmel, vom frischen Grün der Bäume neben der Kirche zurückhallte. Das Haus, in dem ich so viele Jahre mit Sebastian und den Kindern gewohnt hatte, kam mir fremd vor. Alles, was darin war, gehörte einer unbegreiflichen Vergangenheit an. Als ich den Schlüssel im Schloss drehte, wusste ich, dass ich es ganz neu erobern wollte.

Ich sprach mit Sebastian in den folgenden Tagen kein weiteres Wort über das, was zwischen uns vorgefallen war. Unsere Blicke begegneten sich nur selten. Das Herz wurde mir von Tag zu Tag schwerer. Am dritten Tag rief Angelika an und sagte, das Kleid sei jetzt da, ob ich es anprobieren wolle. Am späten Nachmittag des folgenden Tages stand ich wieder in ihrem Laden. Ich zog mir Hose und T-Shirt aus, hob meine Arme und Angelika streifte mir das Kleid langsam über, sie zupfte es zurecht, strich noch einmal mit beiden Händen von den Achseln bis hinunter zu den Hüften und befand das Werk für vollendet. Aus meiner Tasche zog ich ein Paar hochhackige Pumps und glitt mit den Füßen hinein. Ich stellte mich vor Angelika hin, drehte mich um die eigene Achse und ließ mich von ihr bewundern. Ich reichte ihr die Geldscheine hin und hielt plötzlich inne. Ich wollte ihr zum Dank mehr als nur das Geld hinterlassen. Ich schob das Kleid vom Saum her ein Stück herauf, zupfte den Slip hinunter, ließ ihn auf meine Pumps fallen, angelte ihn mit dem spitzen Absatz, hob ihn so zu mir herauf, faltete ihn mit dem Geld zusammen und legte ihn in Angelikas Hände. Zum Abschied strich ich mit dem Handrücken zärtlich über ihre Wange und berührte mit drei Fingern ihre roten Lippen. Sie rührte sich nicht und schlug die Augen nieder. Wenige Augenblicke später schritt ich wie eine Königin den Bürgersteig der staubigen Sonnenstadt entlang. Der in meinem Gesicht so warme Wind wehte kühl und erfrischend unter mein rotes Kleid. Ich genoss den Blick eines jungen Mannes, der mir auf dem Bürgersteig entgegenschlenderte und sich dann nach mir umsah. Ich erwiderte seinen Blick lächelnd und ging meiner Wege.

Barbara

Mein Geliebter,

wie lange ist es her, dass ich dir einen Brief geschrieben habe? Wie lange ist es her, dass ich ganz alleine verreist bin? Es waren nur die wenigen Dienstreisen. Jetzt ist es der erste Urlaub, den ich nur mit mir allein verbringe. Ich wünschte, du könntest jetzt, in diesem Moment bei mir sein, und weiß doch, wie schwer es dir fallen würde, meine Nähe zu ertragen. Meine ganze Hoffnung ist, dass du sie nur deshalb nicht ertragen könntest, weil du mich immer noch liebst.

Ich habe mich in eine kleine Pension eingemietet, die sehr niedlich ist. Überall Stickereien auf den Fensterbänken, alte Möbel in den geduckten, mit Holz vertäfelten Räumen. Mir schien zunächst, als betreibe die alte Frau Hansen die Pension ganz allein, und ich sah in ihr zunächst mein gealtertes Ebenbild, die alleinstehende, optimistische, altersmilde Dame, die sich tapfer durchs Leben schlägt. Aber ich habe entdeckt, dass sie weder verwitwet noch unverheiratet ist. Offenbar steht ihr Mann den halben Tag in der Küche und scheut den Kontakt mit den Gästen. Und Frau Hansen, die ich auf über siebzig schätze, betüddelt uns wo und wann immer sie kann. Von ihr habe ich auch einige Tipps bekommen, wo ich die schönsten und einsamsten Flecken in der Heide finde. Fast den ganzen Tag über bin ich im Freien, spaziere viel umher und nutze das Fahrrad kaum, weil ich es doch nur die meiste Zeit durch die sandigen Wege schieben müsste. Einen Lieblingsplatz habe ich schon gefunden. Unter weit auseinanderstehenden Kiefern liege ich in hohem Gras, das sich mühsam aus dem sandigen Boden gekämpft hat, und blicke in den blitzblauen Himmel über mir. Manchmal driftet eine fluffige Wolke vorbei. In der Mittagssonne verstummen die meisten Vögel, dafür höre ich die Geräusche der Insekten, das Sirren und Summen. Es ist so einsam dort, dass ich mich manchmal getraue, meine Kleider auszuziehen und vollkommen nackt in meiner Lichtung zu liegen, von lauem Wind umweht. Da wünsche ich mir, du wärst bei mir und würdest mit einer Hand sanft über meinen Bauch streichen. Ich stelle mir vor, wie wir uns im Freien lieben, wie wir nackt um die rauen Rinden tänzeln und wie Kinder Kriegen spielen, um bald darauf übereinander herzufallen und in Gras und Sand zu balgen. Es fehlt nur noch ein kleiner See, in dem wir baden und uns waschen könnten. Schon am ersten Tag hatte ich mein Note-Pad auf meinen Spaziergängen mitgenommen, denn ich wollte dir unbedingt schreiben, dir alles erklären und damit all unser Unglück bereinigen und beseitigen. Das klingt verwegen und ist es auch. Es hat viele Tage gedauert, bis ich das Gefühl hatte, den Mut dafür aufbringen zu können. Es ist ein Wagnis, das ich nicht aus Verzweiflung begehen wollte, sondern aus der Zuversicht, der Weg ins Paradies führe allein durch das Fegefeuer bedingungsloser Offenheit. Ich weiß jetzt, dass ich meine innere Erzählung jedes Mal, wenn ich es versuchte, am falschen Punkt begonnen habe, bei dem, wie ich dachte, entscheidenden Zufall, Danielas Einladung, von der ich dir erzählt hatte und die du anscheinend einfach nur abstrus, vielleicht auch ein wenig aufregend fandst. Ich dachte lange, damit habe die Geschichte begonnen. In Wirklichkeit beginnt sie aber schon viel früher, irgendwo in meiner Kindheit. Ich weiß, alle Geschichten beginnen dort, alle Versuche der Rechtfertigung und Entschuldigung: die Mutter, der Vater, die Umstände. Ich suche nicht nach Ursachen und Verantwortlichkeiten. Ich suche nach Vergessenem, dem, was mein Kind-Sein ausgemacht hat. Das ist es, worauf ich bei meinen Eskapaden mit Barbara gestoßen worden bin. Deshalb kann ich auch nur mit halbem Herzen bereuen, was da geschehen ist. Ja, ich bereue es, weil ich dich damit verletzt habe und unsere Liebe, unsere Beziehung so sehr ins Wanken gebracht habe. Dafür bitte ich dich um Verzeihung. Noch immer erfüllt mich die Erinnerung an den Moment, als du uns entdeckt hast, uns sogar eine ganze Weile zugesehen und zugehört haben musst, mit einem meinen ganzen Körper durchdringenden Schauer der Scham, einer Scham, die ich zu diesem Zeitpunkt glaubte bereits abgelegt zu haben. Ich habe immer wieder diesen Moment vor meinem inneren Auge durchgespielt, Szenarien entworfen, in denen es nicht so weit gekommen wäre, ich habe mich als Verführte, als Missverstandene entworfen, Barbara verdammt, weil sie so dominant, mich, weil ich so unterwürfig war. Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht krank im Kopf bin und Barbara noch viel mehr. Ich habe mich zum Opfer stilisiert und bei dir nach schlechten Eigenschaften, lieblosem Verhalten, Vernachlässigung gesucht, die mich in diese Situation getrieben haben könnten. Ich wollte diese Schuld nicht länger tragen. Erst in den letzten Tagen tauchte eine andere Frage auf. Sie birgt für mich sowohl eine Lösung als auch eine noch viel größere Gefahr des Selbstbetrugs: Warum empfinde ich überhaupt diese Schuld? Mit welchem Recht hat sich meine Scham mit dieser Schuld verbunden? Wenn ich morgens in meinem Bett erwache, liegst du nicht neben mir. In Sekundenschnelle sticht mir das Geschehene wieder in Herz und Hirn, von einem Moment auf den nächsten bin ich hellwach. Und dann geht wieder dieser Schwall von Schamgefühlen und Reue durch meine Eingeweide. Dann möchte ich alles ungeschehen machen, was mich an diesen Ort gebracht hat. Diese Scham überfällt mich an manchen Tagen mehr als einmal. Aber seitdem diese Frage da ist, ob es denn auch eine Schuld sei, habe ich angefangen, diese Gefühle genau zu beobachten. Sie wurden immer mehr zu rein körperlichen Reaktionen. Ich beobachtete, wo in meinem Körper sie ihren Ursprung nehmen, in welche Richtungen und mit welcher Geschwindigkeit sie sich ausbreiten – und wie sie, von Mal zu Mal schneller, verebben, ausklingen, ein seltsames Kribbeln in den Füßen und den Fingerspitzen hinterlassen. Dann werde ich ruhig und mein Kopf klar, mein Herz weit. Weit genug, um damit Reisen in meine Kindheit zu unternehmen. Auch davon möchte ich dir in meinem Brief ein wenig erzählen.

Auf unserem Hof stand eine kleine Hütte, etwas abseits von den Ställen, eine alte Holzhütte. Ich war vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, als uns Kindern die Idee kam, sie bewohnbar zu machen. Wir nagelten die Lücken zwischen den Brettern zu, hängten einen Stofflappen als Gardine vors Fenster, holten zwei Stühle, einen Tisch, eine Öllampe und sogar eine alte Matratze in unser neues Heim. Die kleine Hütte war so klein, dass gar nicht alle Kinder zugleich hineinpassten. Und dann gab es auch immer wieder Gerangel zwischen uns Mädchen und den Jungen, die sie jeweils für sich allein beanspruchen wollten. Ich erinnere mich an einen Nachmittag, an dem mein älterer Bruder, Ralf, den jüngeren, Max, und zwei befreundete Jungen aus der Nachbarschaft um sich versammelte und sehr geheimnisvoll tat. Er überredete sie, sich mit ihm in die Hütte zu begeben, dort wolle er ihnen etwas Spannendes zeigen. Wir Mädchen waren natürlich neugierig geworden und verlangten, mit ihnen in die Hütte gehen zu dürfen, aber sie wollten uns nicht dabeihaben und verriegelten die Tür. Wir schlugen mit den Fäusten gegen die Tür und riefen, die Hütte gehöre uns ebenso wie ihnen, sie dürften uns nicht aussperren. Aber sie wollten uns einfach nicht hineinlassen. Da wir unbedingt wissen wollten, was in der Hütte vor sich ging, blieb uns nur die Möglichkeit, so zu tun, als trollten wir uns, und uns von da an ruhig zu verhalten. Leise suchten wir nach verbliebenen Lücken und Astlöchern in den Bretterwänden, durch die wir hindurchsehen konnten. Es dauerte gar nicht lange, bis ich fündig wurde. Während meine kleinen Schwestern schnell das Interesse verloren und sich auf der Wiese rollten oder ihre Puppenwagen schoben, verharrten Veronika, meine damalige Freundin, und ich vor unseren winzigen Gucklöchern und sahen zu, wie sich mein älterer Bruder die Hose halb herunterzog und seinem kleineren Bruder und den beiden anderen Jungen seinen dick geschwollenen Penis zeigte. Er legte sich auf die dreckige Matratze, holte eine lange Taubenfeder hervor und ließ sie immer wieder langsam über seinen Penis gleiten. Zu den anderen meinte er, das sei ein sehr angenehmes Gefühl, und sah sehr zufrieden mit sich und der Welt aus. Ich weiß nicht mehr, was ich empfand, als ich dabei zusah. Er forderte die beiden Jungs auf, es ihm gleichzutun, sich also ebenfalls die Hosen zu öffnen und sich mit seiner Feder zu verwöhnen. Mich erstaunte, mit welcher Selbstverständlichkeit mein kleiner Bruder und einer der Nachbarjungen seiner Aufforderung folgten. Schon sehr bald hatten sich auch ihre Glieder steil aufgerichtet und die Feder ging von Hand zu Hand. Nur einer der Nachbarsjungen wollte nicht mitmachen. Er schaute nur zu und verlangte nach einiger Zeit, hinausgelassen zu werden. Es bedurfte keiner Drohung oder Warnung, er möge von dem, was er gesehen hatte, nichts verraten, so unschuldig fühlten sich meine Brüder und der naive Blonde. Nur für Mädchenaugen war es eben nicht bestimmt gewesen. Ich sprach mit Veronika nicht über das, was wir gesehen hatten. Auch nicht mit Volker, der ohne ein Wort den Hof verließ. In der Nacht erinnerte ich mich wieder an die steifen Penisse der Jungen. Der Gedanke daran erfüllte mich mit wohligen Gefühlen zwischen meinen Beinen. Ich stellte mir vor, wie ich meine Schamlippen mit dieser Feder streichelte. Ich zog mir die Schlafanzughose unter der Bettdecke aus, stellte meine Füße im Bett auf, spreizte die Schenkel ein wenig und ließ ein Hosenbein immer wieder über meine Scham gleiten. Es war ein wunderbares Gefühl. Ich wollte gar nicht mehr damit aufhören, obwohl es mir verboten vorkam. Ich vergewisserte mich immer wieder, ob meine kleinen Schwestern, die mit mir im selben Zimmer schliefen, nicht aufgewacht waren, weil sie mein Herz schlagen hörten. Sie mussten es hören! Meine Matratze vibrierte davon. Es donnerte in meinem Kopf. Irgendwann reichten die Berührungen mit dem Hosenbein nicht mehr, ich knäuelte die Hose zusammen und presste sie mir auf die Klitoris, für die ich damals noch keinen Namen hatte, rieb, schaukelte, schubberte und stellte fest, wie sehr ich das Vergnügen damit steigern konnte. Am Überraschendsten war, was dann plötzlich mit mir geschah. Mich erschreckte sogar, was mit meinem Körper passierte. Es war einerseits unglaublich schön, aber eben auch sehr beunruhigend und beschämend. Ich wiederholte es lange Zeit nicht. Ich vergaß sogar wieder, was ich da mit mir selbst gemacht hatte, ich erfuhr erst später, dass man das Selbstbefriedigung nannte und – ich hatte es ja geahnt – verboten war. Ich weiß nicht, wo dieses Verbot herkam. Vielleicht gab es Andeutungen, aber genaugenommen wurde darüber nicht gesprochen. Meine Eltern sprachen nicht davon, niemand, den ich kannte. Es musste sich um etwas handeln, das nur mir passiert und eben einfach nicht normal war. Wir durften ja auch nie nackt im Haus oder im Garten herumhüpfen, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Bis auf ein Mal, da war ich noch einige Jahre jünger. Mein älterer Cousin war zu Besuch. Ich hatte gebadet und sprang danach splitterfasernackt durchs Haus. Ich weiß nicht mehr, wo meine Eltern waren, was meine Geschwister machten. Jedenfalls jagte mich mein Cousin lachend durchs Haus und wollte mich einfangen, damit ich mich anziehe. Auf dieser Jagd versteckte ich mich im Schlafzimmer meiner Eltern, wohin er mir anscheinend nicht folgen wollte. Elterliche Schlafzimmer sind bis heute tabu für Fremde, und irgendwie war mein Cousin ja fremd in unserem Haus. Als er mich nicht weitersuchte, kroch ich aus meinem Versteck hervor und legte mich auf die Tagesdecke, die über dem Bett meiner Eltern lag, eine angenehm weiche Felldecke, ein Fellimitat, glaube ich. Es fühlte sich so wunderbar auf der Haut an, ich suhlte mich darin, ich hüpfte, krabbelte auf allen Vieren darauf herum, um dann immer wieder genüsslich in das Fell einzutauchen. Plötzlich bemerkte ich, dass mich mein Cousin durch den Türspalt beobachtete. Ich hockte auf allen Vieren auf dem Bett und hatte wohl die Beine ein wenig gespreizt. Er blickte mir nicht in die Augen, es ging nicht mehr um unser Versteckspiel, er starrte die ganze Zeit auf meinen Hintern. Anfangs war ich noch belustigt. Ich wartete darauf, dass er gleich auf mich losstürzte, um mich endlich einzufangen, und streckte ihm meinen Po noch weiter entgegen. Sein Blick blieb unerwartet auf sein Ziel fixiert, und plötzlich spürte ich, dass daran etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Ich durfte ihm nicht zeigen, was ihn so magisch anzog. Ich wusste nicht, warum er es sehen wollte, aber es durfte nicht sein. Ich sprang vom Bett herunter, warf die Tür auf und lief an ihm vorbei in mein Zimmer, um mir meinen Schlafanzug anzuziehen. Erst danach stachelte ich meinen Cousin an, die Jagd fortzusetzen.

Wenn ich meine Gedanken in die Kindheit schweifen lasse, haben die allerwenigsten Erinnerungen irgendetwas mit Sexualität zu tun. Warum auch? Selbst meine erste Periode, die Feststellung, dass meine Brüste wuchsen, hatten noch nichts mit Sexualität zu tun. Fast alle Erinnerungen haben jedoch mit meinem Körper zu tun, mit den Sensationen der erwachenden Sinne. Vielfach sind es Erinnerungen an Sommertage. An besonders heißen Tagen kam der Eismann mit seinem Wagen zu uns auf den Berg, weil der Hof neben einer Gartenhaussiedlung lag. Die schmale Straße war einige Wochen zuvor frisch geteert worden und noch tiefschwarz. In der prallen Sonne war sie kochend heiß geworden. Bei unseren Eltern hatten wir um ein paar Groschen gebettelt und mit nackten Füßen liefen wir zu dem Eiswagen, der vor einem der Tore der Gartensiedlung gehalten und seine Ankunft mit einer schrillen Glocke verkündet hatte. Meine Füße brannten auf dem heißen Asphalt. Es war kaum auszuhalten. Vor dem Eiswagen hüpften wir von einem Bein auf das andere, damit die Fußsohlen nicht verbrannten. Ich bestellte mir eine Tüte mit Waldmeistereis, das war so schön grün, frisch und aromatisch. Weil ich mir nicht weiter die Füße verbrennen wollte, ging ich neben der Straße zurück durch wild wachsendes Gras und Gestrüpp und ich musste achtgeben, nicht in spitze Äste, Steine oder Disteln zu treten. Jeden einzelnen Schritt musst du kontrollieren, immer den Blick nach unten gerichtet, jede Unachtsamkeit wird geahndet. Dann nahm wieder die Lust Oberhand, mir die Fußsohlen zu verbrennen. Ich wollte wissen, wann die Grenze des Schmerzes erreicht war. Einmal fuhren wir mit unseren Fahrrädern an einen weit entfernten Baggersee. Der war tiefblau, kalt und klar. Und doch konnten wir nicht bis zum Grund hinuntersehen, so tief musste er sein. Von der Fahrt und der brennenden Sonne waren wir alle sehr erhitzt, unsere Köpfe glühten. Fliegen umschwirrten uns, um sich am Schweißfilm auf unserer Stirn sattzutrinken. Unter unseren Kleidern trugen wir unsere Badeanzüge. Ich streifte mir schnell T-Shirt und Rock aus und war als Erste im Wasser. Ich sehe noch dieses Blau, die gelben Klippen von Sand und spüre noch das Kribbeln auf der fröstelnden Haut, weil das Wasser an den ersten heißen Tagen noch so kalt war. Ich schwamm bis zur Mitte des Sees und verspürte eine irritierende Angst-Lust, ich könnte den Entschluss fassen, bis zum Grund zu tauchen, wo mich etwas Grauenvolles, ein unheimliches Wesen, das Böse fasst, mich festhält und daran hindert, wieder zur Oberfläche zu gelangen. Eine Angst-Lust, eine Lust-Angst. In den Sommerferien schlugen wir für eine Nacht Zelte auf der Wiese vor unserem Haus auf und saßen bis tief in die Nacht um ein Lagerfeuer, in dem wir Kartoffeln garten, die wir in der Erde des Gemüsegartens gefunden hatten. Wir ließen sie viel zu lang im Feuer, sie wurden ganz schwarz und hatten eine dicke, glühend heiße Kruste. Aber der Geruch, als wir sie aufbrachen, war himmlisch und es machte auch überhaupt nichts, dass kleine Stückchen verkohlter Schale zwischen den Zähnen knirschten. In der Nacht wurde es kühl, aber wir liefen trotzdem immer noch mit nackten Füßen über die Weide bis an den Waldrand, wo wir Kaninchen jagten und selbstverständlich immer mal wieder in halbvertrocknete Kuhfladen traten. Das Gefühl, wenn der weiche Brei sich zwischen den Zehen hindurchquetscht. Das kalte Wasser aus dem Schlauch, mit dem ich mir den Fuß wasche. Die Sterne am Himmel, die dunklen Fenster des Hauses, wenn alle schlafen, das Schnaufen einer Kuh im Stall in nächtlicher Stille, das Rasseln einer Kette. Die taunasse Wiese im Morgengrauen, wenn ich aus dem muffigen Zelt krieche. Ich hocke mich im Gemüsegarten zwischen Johannisbeersträucher zum Pinkeln. Das Plätschern ist so laut, dass es eigentlich alle hören und davon aufwachen müssen. Die Vögel fangen immer lauter an zu zwitschern, am Horizont steigt die Sonne auf und verkündet einen weiteren heißen Sommertag. Immer bin ich mit nackten Füßen unterwegs, auch im Wald, wo ich in weiches Laub trete, wo sich meine Zehen in den schwarzen Waldboden bohren. Mit Eierkörben hocken wir zum Pflücken in den Mirabellenbäumen auf der Obstwiese. Nie haben die Mirabellen besser geschmeckt als in jener Zeit. Viele solcher Erinnerungen sind wieder in mir aufgestiegen. Taste ich nach der einen, kommen schon neue herauf. Was ich mich aber fragte, war: Wo ist danach diese Unbeschwertheit geblieben? Wann habe ich angefangen, mich zu verschließen? Warum bin ich so lange auf keine Bäume mehr geklettert? Wann hatte ich zuletzt den kühlen Morgentau an meinen nackten Füßen gespürt? Wann hat das mysteriöse Verbot, mir selbst Lust zu verschaffen, dieses Verbot, mich zu berühren, das Nest meiner Lust auch den anderen Lüsternen zu zeigen, mich daran zu freuen, gesehen zu werden – wann hat dieses Verbot angefangen, sich beinahe meines ganzen Körpers zu bemächtigen? Ja, ich darf Essen und Trinken genießen, ich darf Sport treiben, um meinen Kreislauf in Schwung zu halten, weil es so gesund sein soll. Ich darf Kunst sehen und soll sie gefälligst schön finden. Das habe ich gelernt: vor Gemälden zu seufzen. „Ach, ist das herrlich!“ Aber die Bilder und die Musik, die uns zum vorschriftsmäßigen Dahinschmelzen bringen sollen, sie bewegen uns doch nur deshalb so sehr, weil wir wie Kinder in den gemalten Wiesen mit Mohnblüten herumtollen möchten, weil eine Stimme in uns lauthals mitsingen will, wenn wir von Musik ergriffen werden. Weil wir tanzen wollen. Wenn ich heute etwas wirklich schön finde, dann ist dieses Gefühl, wenn ich es genauer betrachte, von tiefer Melancholie durchwirkt: dass es schön war, oder schön wäre, aber nie mehr so sein, oder nie so gewesen sein wird. Das klingt versponnen und romantisch, vielleicht sogar lächerlich. Auf meiner letzten Reise zu einem zweitägigen Meeting hatte ich – natürlich! – einen Zwischenstopp in Hamburg gemacht. Das dürfte jetzt fast ein Jahr her sein. Nach einem Stadtbummel war mir nicht gewesen, aber um einen Museumsbesuch komme ich nicht herum, das weißt du ja. Ich sah Fotografien von einer Sarah Moon, viele Modefotografien, die in Journalen veröffentlicht wurden, aber auch sehr künstlerische Fotos. Ich hatte auf einmal das Gefühl, diese Bilder zu verstehen, obwohl ich die Personen, die abgebildet waren, die Orte, die Zusammenhänge nicht kannte. Es war ein wenig so, als hätte ich Ähnliches schon einmal gesehen, als seien die Fotos aus einem Blickwinkel aufgenommen worden, mit dem ich selbst als Kind in die Welt geschaut habe. Es sind ganz bestimmte Bilder, die sich ins Gedächtnis einbrennen. Aber sogar die Modefotos weckten Melancholisches in mir. Da war eine Künstlerin, die das Spielen nicht verlernt hatte und die ihre Models dazu animierte, ebenfalls zu spielen, sich zu verkleiden, wie wir es als Kinder getan haben, sich in den ungewöhnlichsten Situationen, in absurdesten Positionen ungehemmt zu zeigen, oder einfach nur unbekümmert über die Blicke anderer waren. Das sah alles so selbstverständlich wie unwirklich aus, alles nur lustvolles und gleichzeitig tiefernstes Spiel. So waren unsere Spiele doch auch: voller Lust und so ernst, wie die Wirklichkeit nur sein konnte. Das waren nicht unbedingt schöne Fotos, sie waren für mich jedenfalls nicht nur deshalb schön, weil sie so gut komponiert waren, sondern weil ich die junge Frau auf dem Foto sein wollte, die halbnackt von einem maskierten kleinen Jungen – oder war es ein Mädchen? – an den Füßen durch einen Raum gezogen wurde. Ich wollte die Frau in dem Einkaufswagen sein, den das Kind mit dunkler Sonnenbrille am Fluss entlangschiebt, das Rad schlagende Mädchen, die ruhende Frau auf dem Bett mit dem bis zu den Achseln heraufgezogenen T-Shirt, ich sehnte mich danach, ebenso sorglos mit entblößten Brüsten da hinter dem seidigen Vorhang auf dem zerknitterten Laken zu liegen. Als hätte ich das alles verpasst, als sei mir das entgangen, als hätte ich es anderen zuliebe immer vermieden, als würde es für mich niemals eine Möglichkeit sein. Und dann war da noch ein Selbstportrait von Sarah Moon, auf dem sie noch sehr jung aussah. Es war ein Halbakt im Spiegel. Ihre Leica trug sie mit der rechten Hand, der linke Arm rahmte oben herum ihren Kopf, denn mit der anderen Hand bediente sie über Kopf den Auslöser der Kamera, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, es war jedenfalls eine irgendwie tänzerische Geste. Erst einen Moment später nahm ich das schwarz-weiß gefleckte Meerschweinchen wahr, das auf ihrer linken Schulter saß. Mit dem hochgereckten Arm verhütete sie offenbar, dass das kleine, neugierige Meerschweinchen herunterfiel, es gab ihm Halt. Sie blickte nicht in die Kamera, das weiß ich noch. Sie musste im Spiegel das kleine Tierchen fixieren. Ich bin keine Fotografin. Dennoch fragte ich mich, warum es kein vergleichbares Foto von mir gibt. Warum nur diese vermeintlich anständigen Fotos, die mit bemühtem Lächeln, mit akkurat sitzender Bluse? Diese Sehnsucht nach kindlicher, vielleicht auch noch jugendlicher Ungezwungenheit, nach dem freien kindlichen Spiel, diese Sehnsucht muss es gewesen sein, die mich Barbaras verrückten Ideen folgen ließ. Nichts sonst. Nichts, was sich gegen dich oder sonst irgendwen wandte, kein Fortgehen, Verlassen-Wollen, Befreiungsakt, sondern ein Wiederfinden-Wollen.

Dass Daniela mich zu der Party einlud, verdankte sich wirklich einem Zufall. Du hattest mir die Uhr zum Geburtstag geschenkt und gleich am nächsten Morgen war sie mir in der Küche auf den Steinboden gefallen. Sie musste so unglücklich gefallen sein, dass der große Zeiger abgesprungen war. Gleich am ersten Tag! Ich wollte nicht, dass du es merkst, deshalb machte ich mich am Nachmittag auf den Weg in die Stadt. Es war einer der ersten warmen Frühlingstage im April, Daniela und Agnes winkten mir aus einem Straßencafé zu und überredeten mich, einen Kaffee mit ihnen zu trinken. Sie schienen sehr vergnügt, giggelten, machten zweideutige Bemerkungen, die ich nicht verstand. Daniela fragte, ob ich den neuen „Fifty Shades of Grey“ gesehen hätte. Ich hatte nicht mal den ersten gesehen. Und dann fragte sie, ob ich wisse, was eine Dildoparty sei. Wusste ich nicht. Ich stellte mir etwas wie eine Orgie vor. Aber was eine Tupper-Party sei, wisse ich schon, fragte Agnes. Hatte ich noch nie mitgemacht. Trotzdem hatte ich, wie wohl jeder unserer Generation eine Ahnung davon, wie Tupper-Partys ablaufen. Daniela hatte von einer Bekannten den Tipp mit der Dildoparty bekommen, das sei total angesagt und eine lustige Alternative zu den üblichen Mädels-Abenden. Mädels-Abende! In unserem Alter? Die hatte ich auch noch nie mitgemacht. Warum wollten Daniela und Agnes mich auf einmal bei einer Dildoparty dabeihaben? Ich lachte und schüttelte den Kopf. Was soll ich mit einem Dildo? Die beiden ließen nicht locker und meinten, es werde unheimlich lustig, man könne auch Unterwäsche anprobieren, man erfahre, was es so für Sexspielzeug auf dem Markt gebe und könne jedes Ding mal in die Hand nehmen, es sei vor allem ein Jux. Sei nicht prüde, sagte Agnes. Bin ich prüde? Ich habe nie das Gefühl gehabt, prüde zu sein. Ich hatte keinerlei Anlass, meine Offenheit auch gegenüber Frivolitäten unter Beweis zu stellen. Trotzdem sagte ich zu. Vielleicht würde es ja tatsächlich lustig werden.

Die Party selbst verlief alles andere als spektakulär. Mit der – wie soll ich sie nennen: Animateurin, Handelsvertreterin? – waren wir neun Frauen. Daniela hatte Wolfgang mit den Kindern ins Kino und zum anschließenden Pizzaessen geschickt. Und wir ließen uns erst einmal mit Sekt volllaufen. Steffi war dabei und sogar Monika, was mich durchaus überraschte, denn sie hatte sich bei einem ein paar Monate zurückliegenden Gespräch so erschüttert darüber gezeigt, dass ihr Sohn Gustav sich bei der Suche nach Pornos im Netz einen Virus eingefangen hatte, der seinen nagelneuen Laptop vollständig ruiniert hatte. Immerhin hatte er seine Verfehlung gebeichtet. Monika hatte sich ernsthaft gefragt, was sie in der Erziehung ihres Sohnes falsch gemacht habe. Aber vielleicht war sie ja gar nicht so empört, wie sie vorgab, vielleicht wollte sie nur testen, wie ich darauf reagiere. Warum hatte sie mir überhaupt davon erzählt? Ich hatte gar kein Interesse daran, zu erfahren, ob und welche Pornos Gustav schaute. Mit Wolfgang war sie nach der Reparatur des Laptops den Links gefolgt, die Gustav angeklickt hatte, um sich ganz nebenbei den Virus erneut einzufangen. Analsex, hatte Monika gesagt, weißt du, was das heißt, du kannst dir nicht vorstellen, was für abscheuliche Szenen sich mein Sohn da angesehen hat. Wo kommt denn dieses Bedürfnis her? Ich wusste es nicht. Das Vorbild der Eltern konnte es ja wohl kaum gewesen sein. Oder doch?

Dann waren noch einige Frauen da, die ich nicht oder nur vom Sehen kannte, ganz sicher alle sehr nett. Aber in dieser Ausnahmesituation war kein ernsthaftes Gespräch möglich, zum Kennenlernen keine Gelegenheit. Mir fiel es schwer, mich an ihrem Gejauchze und Gejohle zu beteiligen, wenn die Spielzeuge von Hand zu Hand gingen. Magdalena, die Vertreterin, wirkte sehr professionell. Sie achtete mit Argusaugen darauf, dass die Stimmung ausgelassen war und blieb. Sie hatte ihre Vorführung sehr strategisch aufgebaut und erst einmal bei den Gleitmitteln angefangen. In fortgeschrittenem Alter gebe es – von Frau zu Frau unterschiedlich – häufig Probleme mit der Lubrikation, was den Sex manchmal unangenehm oder sogar schmerzhaft mache, und dann gehe natürlich so nach und nach der Spaß am Sex verloren. Sie zog die Sache so nüchtern wie direkt auf, explizit, aber ohne Anzüglichkeiten, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, über Sex zu reden, um den Anwesenden ihre Hemmungen zu nehmen. Lubrikation? Ganz einfach: wenn du feucht wirst, oder eben nicht mehr. Viele Fragen wurden nicht gestellt, irgendwie schienen alle bestens informiert. Oder sie wollten sich nicht die Blöße geben, nach Dingen zu fragen, die den anderen womöglich längst vertraut waren. Weibliche Ejakulation? Keine Frage. Am spannendsten waren die Vibratoren, die Magdalena in den verschiedensten Farben und Formen dabeihatte und deren Funktionen sie ausführlich erläuterte. Mit einigen Geräten könne man sich auch unter der Dusche verwöhnen, andere würden sich besonders gut für Spiele zu zweit eignen, wieder andere seien eher für den Solo-Spaß auf Reisen geeignet. Keine Frau müsse sich heute noch dafür schämen, Sexspielzeuge zu benutzen. Im Gegenteil sei es überaus gesund, möglichst täglich Sex zu haben, oder wenigstens zu masturbieren. Das sei gut für die Psyche, stärke das Immunsystem und verjünge die Haut. Also lieber zum Vibrator greifen statt zur Nachtcreme? Die eher reifen und zum Teil recht fülligen Damen zeigten sich immer interessierter. Sie staunten über die kraftvollen Vibrationen und hielten sich die kleinen Kraftbolzen in den unterschiedlichsten, leuchtenden Farben an die Wange, um sich vorstellen zu können, wie sie an anderer Stelle wirken mochten. Das Gelächter begann erst wieder, als es um den G-Punkt und speziell für dessen Stimulation konstruierte Geräte, um Rabbits, Anal-Plugs und die verschiedenen Sorten von Dildos ging, von labberigem Silikon bis hin zu Glas und kühlem Metall. Ich tauschte immer wieder Blicke mit Barbara. Agnes hatte sie mitgebracht. Sie schien, wie ich, der Angelegenheit irgendwie distanziert gegenüberzustehen. Sie lachte nicht, sie fragte nichts, sie trank kaum etwas. Das machte sie mir aus irgendeinem Grund sympathisch. Der eigentliche Kaufakt, auf den das alles ja notwendigerweise hinauslief, fand dann in einem Nebenraum, Wolfgangs Arbeitszimmer, statt, wo die Bestellungen aufgenommen wurden. Jede von uns war in diesem Zimmer allein mit der Verkäuferin. Was hast du genommen, fragten die Frauen Daniela, als sie wieder im Wohnzimmer stand. Als Gastgeberin hatte ihr die Ehre gebührt, als Erste bestellen zu dürfen. Das sag ich nicht, flötete sie, aber ich trink noch einen Sekt darauf. Jetzt seid ihr dran, eine nach der anderen. Man musste natürlich nichts bestellen, einige hatte vielleicht nur Gleitmittel gekauft. Niemand hätte zugegeben, sich für die Anal-Plugs zu interessieren. Wer kann sich schon etwas in den Hintern stecken wollen? Überhaupt sprach niemand über den eigenen, tatsächlichen Sex, über die eigenen Vorlieben oder auch Probleme. Wenn ich es mir recht überlege, war die kleine Verkaufsveranstaltung nicht weniger spießig als eine gewöhnliche Tupper-Party. Die Grenzen waren klar abgesteckt. Ich stellte mir vor, wie die Frauen anfingen, über die Schwanzlänge ihrer Partner zu reden, auf welche Weise sie einen Orgasmus vortäuschten, in welchen Stellungen sie es trieben und wie oft, wie lange das Vorspiel dauerte, welche ungewöhnlichen Vorlieben sie selbst oder ihre Partner haben mochten, was sie noch nicht gemacht, aber unbedingt noch ausprobieren wollten, was sie dauernd taten, aber gar nicht mochten, wie schwer es war, mit dem Partner über Sex zu sprechen, über Sprachlosigkeit und unerfüllte Sehnsüchte. Ich sah vor meinem inneren Auge weinende Frauen, die sich über Lieblosigkeit, Vernachlässigung oder fehlende Anziehung beklagten, über fremdgehende Männer, Erektionsstörungen, Ersatzbefriedigungen. Dass die Liebe schon lange vorbei sei. Das wäre alles tabu gewesen. Hier fand kein Akt der sexuellen Befreiung oder Aufklärung statt, das war nur Marketing und vordergründige Demonstration eines für modern gehaltenen weiblichen Selbstbewusstseins und scheinbarer sexueller Selbstbestimmung.

Allein mit der Verkäuferin im Nebenzimmer zu sitzen, war der peinlichste Moment, der Moment der Offenbarung. Ich konnte mir alle Produkte noch einmal anschauen, ich solle mir Zeit lassen, sagte Magdalena. Es war peinlich, eine Auswahl zu treffen, noch viel peinlicher wäre es gewesen, nichts auszusuchen und unverrichteter Dinge zurück zu den anderen zurückzukehren. Was hast du dir ausgesucht? Nichts. Spielverderberin. Ich bin so unglaublich ehrlich. Ich entschied mich für einen kleinen, unscheinbaren Vibrator, der sich als Lippenstift tarnte. Er würde mir innerhalb der nächsten drei Tage zugesandt, versicherte mir Magdalena und beglückwünschte mich zu meiner Wahl. Zuvor hatte sie den Pseudo-Lippenstift noch als Anfänger- oder Einsteiger-Gerät angepriesen. Jetzt zeugte meine Wahl plötzlich für anspruchsvolles Understatement, das wieder aufladbare Kraftpaket mit elegantem Äußeren erfülle die allerhöchsten Ansprüche. Jedenfalls würde ich das Ding leicht zwischen meinen Schminkutensilien verstecken können, dachte ich. Ob ich es auch verwenden würde, wusste ich noch nicht. Im Wohnzimmer floss die nächste Runde Sekt in die Gläser. Mich traf zuerst Barbaras Blick, als wollte sie in meinem Gesicht lesen, ob wenigstens ich den Mut gehabt hatte, nichts zu bestellen. Ja, das hätte Mut erfordert. „Und?“, fragte Agnes. Nur was ganz Kleines, antwortete ich, schob mit hochgezogenen Schultern meine Finger hinterm Rücken ineinander und wippte auf meinen Zehenspitzen. Sofort ärgerte ich mich über diese Kleine-Mädchen-Geste. Die kleine Mia, prustete Daniela heraus. Gelächter. Viel Spaß mit deinem neuen Lippenstift! Gelächter. Ja, alle würden Spaß haben mit ihren neuen Errungenschaften. Oder auch nicht. Barbara war als Letzte an der Reihe. Sie war auch am schnellsten wieder draußen. Als einzige, dachte ich, hatte sie den Mut gefunden, sich dem Gruppendruck zu entziehen. Aber ausgerechnet Barbara war es, die Daniela zwei Wochen später vorschlug, die Truppe zu einem Erfahrungsaustausch in Sachen Sexspielzeug noch einmal zusammenzutrommeln.

Daniela berichtete mir davon am Telefon und ließ sehr schnell deutlich werden, dass sie Barbaras Vorschlag für eine Provokation hielt. Überhaupt habe sich Barbara an dem Abend so komisch und abweisend verhalten und ja wahrscheinlich auch als Einzige nichts bestellt. Und jetzt wolle sie uns aushorchen und sich über uns womöglich lustig machen. Sie wisse überhaupt nicht, was sie mit ihrem Vorschlag im Schilde führe, wahrscheinlich wolle sie uns den Spaß im Nachhinein verderben. Es war doch lustig, oder? Ja, sagte ich. Und was wir mit den Dingern anfangen, geht ja nun wirklich niemanden was an, oder? Ja, sagte ich. Ein einziges Mal hatte ich meinen vibrierenden Lippenstift ausprobiert, als ich allein zuhause war. Es kam mir seltsam vor, es so ganz für mich allein zu machen, und es gelang auch nicht, weil mir alles Mögliche dabei durch den Kopf ging und überhaupt keine erotischen Gefühle aufkamen. Ich saß auf dem Klo, hielt mir das vibrierende Etwas zwischen die Beine und betrachtete den Wäschehaufen, den ich gleich zur Waschmaschine tragen würde. Ich dachte daran, was ich fürs Essen einkaufen und welche Aufträge ich an diesem Tag dringend erledigen musste. Und dann fiel mir der Vibrator ins Klo, wo er geräuschvoll von einer Ecke in die andere durchs Pipiwasser strauchelte. Bei jeder Berührung des Porzellans knatterte es dumpf. Zum Glück war das Ding wasserfest. Also Schluss damit! Abwaschen, abtrocknen und beim Schminkzeug deponieren.

Am Ende verriet Daniela doch noch, was sie bestellt hatte, einen Rabbit mit zwei Motoren. Aber sie habe es noch nicht gewagt, Wolfgang damit zu konfrontieren. Es sei eben nicht leicht mit den Männern, die fühlten sich so schnell verletzt und durch effektive Technik, die sie zu ersetzen drohte, gedemütigt. Schau mal, Liebling, was ich hier habe! Das wirkt doch indirekt als Vorwurf, findest du nicht? Ja, sagte ich, aber Wolfgang wusste doch, was du da veranstaltest. Ist er nicht neugierig? Sie hatten nicht wieder darüber gesprochen. Und wir haben ja auch nicht wieder darüber gesprochen. Warum auch? Ich hatte dir gesagt, ich hätte nichts bestellt, weil ich das Ganze zu albern gefunden hätte und wir ja auch ohne Hilfsmittel genug Spaß hätten. Ich hatte dir gegenüber meine Niederlage nicht zugeben und zuvor gegenüber Magdalena und den anderen nicht prüde wirken wollen. Wie blöd! Und dann erzählte Daniela in abfälligem Ton noch so einiges über Barbara. Sie selbst wäre ja nie auf die Idee gekommen, Barbara dazu zu holen, aber Agnes habe darauf bestanden, weil sie sie für eine exzentrische und in vieler Hinsicht aufgeschlossene, wenn auch etwas zickige Persönlichkeit hielt. Aber was bleibe Barbara auch anderes übrig? Sie habe ja als Nur-Hausfrau genug Zeit, exzentrisch zu sein. Dreimal die Woche komme eine Putzfrau, die Kinder lasse sie vor dem Computer verwahrlosen, die die Schule nur mit Ach und Krach bewältigten, sie spiele zweimal die Woche Tennis, gehe shoppen, wenn alle anderen arbeiten und geriere sich neuerdings als Malerin und Autorin. Die muss an ihrem Überdruss und dem vielen Geld doch ersticken! Stell dir mal diese Langeweile vor! Den ganzen Tag nur schön und interessant sein und vom Ehemann trotzdem betrogen werden, wer kann das denn aushalten, bitteschön? Ist natürlich ein Gerücht. Ich halte es aber trotzdem für glaubhaft. Ehrlich gesagt, hatten wir sie gewissermaßen aus Mitleid eingeladen. Aus Mitleid? War auch ich aus Mitleid eingeladen worden? Welche Gerüchte waren wohl über mich im Umlauf? Die kleine, unbefriedigte Lea mit ihrem Pseudo-Job, die sich eine kleine, vibrierende Mia kauft, weil das Home-Office sie so langweilt. Auch bei uns kommt zweimal die Woche eine Putzfrau. Zum Sport gehe ich ebenfalls vormittags, einfach weil ich mir die Arbeit einteilen kann. Und ob meinem attraktiven Ehemann eine Affäre zuzutrauen ist? Ich weiß es nicht. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht. Sollte ich? Verwahrlosen unsere Kinder vor ihren Computern? Bin ich bemitleidenswert? Wirke ich wie eine frustrierte Hausfrau? Ich ärgerte mich über Daniela. Hatten sie und Agnes vor allem Frauen eingeladen, von denen sie glaubten, sie hätten es nötig, ihr Sexleben mal ein wenig aufzupeppen? Ich ließ mir Barbaras Nummer geben und beendete das Gespräch.

Wirke ich wie eine frustrierte Hausfrau, fragte ich Barbara am Telefon. Ich war immer noch wütend und war einem Gefühl der Solidarität mit Barbara gefolgt, als ich ihre Nummer gewählt hatte. Wer sagt das? Agnes? Oder Daniela? Ich weiß es nicht. Ich habe mich nur gefragt, warum sie mich eingeladen haben und warum sie so schlecht über dich reden. Beide? Auch Agnes? Ich relativierte das gleich wieder und sagte, ich hätte einfach ein komisches Gefühl dabei. Ich bereute, Barbara in meiner Wut angerufen zu haben. Hatte ich gerade mutwillig eine Freundschaft zerstört? Barbara blieb wortkarg und ich sagte noch, dass ich mich gefreut hätte, sie kennenzulernen. Ob ich mit Agnes gesprochen hätte, wollte sie wissen. Nein. Was hat Daniela denn konkret gesagt? Sie sei wohl einfach neidisch auf ihren Lebensstil, sagte ich. Was denn für einen Lebensstil? Keine Ahnung, viel Freizeit und so. Und was noch? Nichts sonst, alles nur Gerüchte. Na dann. Ich entschuldigte mich dafür, dass ich sie angerufen und möglicherweise beunruhigt hätte, aber ich sei einfach so aufgebracht gewesen. Worüber? Dass sie mich aus Mitleid eingeladen haben. Ich gehöre ja eigentlich auch gar nicht zu ihrer Clique, sagte ich. Na dann, antwortete Barbara, ich ja anscheinend auch nicht. Vielen Dank für deinen Anruf. Ich kann gar nicht sagen, wie unangenehm mir dieses Telefonat im Nachhinein war. Was hatte ich mir davon versprochen? Ich hatte keine Ahnung. Und jetzt hatte ich wohl ungewollt einen Zickenkrieg entfacht.

Zwei Tage später rief Daniela wieder an. Ob ich mit Barbara gesprochen und was ich ihr gesagt hätte. Nichts. Das könne ja wohl kaum sein. Barbara habe Agnes eine riesen Szene gemacht und ihr die Freundschaft aufgekündigt. Das mit ihrem Mann sei doch wirklich nur ein Gerücht gewesen. Ich könne so ein Gerücht doch nicht einfach durch die Gegend tragen und dann noch sagen, wo es herkomme. Habe ich ja gar nicht! Ich habe kein Wort darüber verloren, wirklich! Wir sollen sie aus Mitleid zu der Dildoparty eingeladen haben, sagte Daniela mit zitternder Stimme, hast du das behauptet? Wie kommst du darauf, so etwas zu sagen? Hab ich ja gar nicht. Das muss Barbara so interpretiert haben. Was soll sie denn interpretiert haben, irgendwas musst du doch angedeutet haben, was hast du denn gesagt? Ich schwieg. Nach einer Weile sagte ich noch, wir hätten keine fünf Minuten telefoniert, dann legte Daniela ohne ein weiteres Wort auf. Ich hatte mich lange nicht mehr so schlecht gefühlt wie nach diesem Telefonat. Ich hoffte inständig, ich würde in den nächsten Wochen und Monaten keiner der Dildofeen begegnen. Aus diesem Grund ließ ich auch Hannahs Geburtstagsparty aus und hatte „Kopfschmerzen“, als du mit mir aufs Frühlingsfest gehen wolltest. Ich war feige. Ich schämte mich. Ich isolierte mich. Das war keine gute Zeit.

Anfang Mai rief Barbara unerwartet an und wollte sich mit mir verabreden. Jetzt würde die Abrechnung kommen, die ich verdient hatte. Ich fügte mich in dieses Schicksal und sagte zu. Ich würde mich nicht verteidigen, Barbaras Vorwürfe über mich ergehen lassen, die ganze Schuld auf mich nehmen und mein Bedauern zum Ausdruck bringen. Und dann würde es vielleicht wieder gut sein. Und dann noch etwas, sagte Barbara, frag nicht warum, aber bring einfach deinen vibrierenden Lippenstift mit. Oder was hast du bei der Dildoparty bestellt? Den Lippenstift? Gut, ich würde mich zur Strafe auch noch von Barbara erniedrigen lassen. Es geschah mir recht. Würden wohl auch Daniela und Agnes da sein? Egal. Da musste ich jetzt durch. Wann? Hast du jetzt Zeit? Hatte ich. Ich hatte zwar gerade erst den Computer angeschaltet, aber ich konnte mir meine Arbeit ja frei einteilen, es gab an diesem Vormittag keinen Termindruck. Außerdem wirbelte gerade die Putzfrau durchs Haus. Es erschien mir gut, die Sache so schnell hinter mich bringen zu können.

Sehe ich aus wie eine frustrierte Hausfrau, fragte sie mich mit finsterem Blick, als sie die Tür ihres mondänen Bungalows öffnete. Ich begann sofort mit meinen Entschuldigungen, wie leid mir das alles tue, wie sehr ich mich schämte. Aber sie zog mich nur lächelnd ins Haus und fragte, ob ich Lust auf eine Spritztour in ihr Wochenendhaus hätte. Also dort würde mich die böse Überraschung erwarten. Es sollte mir recht sein. Sie schnappte ihre Handtasche, fasste mich bei der Hand und zog mich mit sich zu ihrem Sportwagen, der in der Einfahrt parkte. Ich fühlte mich wie auf dem Gang zum Schafott. Also, fragte sie, als sie aufs Gas drückte, sehe ich aus wie eine frustrierte Hausfrau, Ehefrau, Müßiggängerin? Nein, natürlich nicht, beteuerte ich. Gar nicht! Sie griff nach der Sonnenbrille auf der Ablage, setzte sie sich auf, blickte mich kurz an und sagte: Bin ich aber. Und du? Ich? Konnte ich in diesem Moment sagen: Ich aber nicht? Ich schwieg. Aber ich habe mir vorgenommen, das ab jetzt zu ändern, sagte sie. Und welches Opfer würde ich dafür bringen müssen? Wie würde Barbaras Rache aussehen? Ich war immer noch fest davon überzeugt, dass sie mich für ihren Streit mit Agnes büßen lassen wollte. Wann hast du das letzte Mal was vollkommen Verrücktes gemacht, fragte sie. Ich wusste es nicht. Gar nicht. Das Telefonat mit ihr war verrückt gewesen. Das war das einzige, was mir einfiel.

Das Wochenendhaus war atemberaubend und dann auch noch an einem kleinen von Wald und Wiesen umsäumten See gelegen. Und wir waren allein. Von Agnes oder Daniela keine Spur. Warum hatte ich erwartet, sie würden Teil ihres Racheplans sein? Barbara zeigte mir alle Zimmer des Hauses. So ein Haus sei lange Zeit ihr Traum gewesen, aber seit sie es besäßen, habe sie nicht das Gefühl gehabt, damit sei wirklich irgendein ein Traum in Erfüllung gegangen. Sie hätten hier schon einige Partys gefeiert, manches entspannte Wochenende verbracht, aber es habe ihr doch immer irgendetwas gefehlt. Sie sei ein notorisch unzufriedener Mensch, immer schon gewesen. Manchmal habe sie sich vorgestellt, eines Tages einfach einen kleinen Koffer zu packen und ziellos ins Blaue zu fahren, um irgendwelche Abenteuer zu erleben. Gehindert habe sie daran immer, dass sie nicht gewusst habe, von welcher Art diese Abenteuer sein sollten. Andere Männer? Segelfliegen in den Alpen? Bildhauern in der Toskana? Ein Buch schreiben in Casablanca? Sie sei wirklich ein erbarmungswürdiges Menschlein. Sie sagte wirklich: Menschlein. Erst der Streit mit Agnes, den sie geradezu provoziert habe, weil Agnes sie schon immer eher gelangweilt habe, habe sie zur Besinnung kommen lassen. Wir setzten uns in die weichen Polster des Wohnzimmers. Du bist mir was schuldig, sagte sie. Ich nickte. Du hättest mich nicht anrufen dürfen. Ich nickte. Warum hast du mich angerufen? Ich sei wütend auf Daniela gewesen, sagte ich. Und? Das ist alles, sagte ich. Und warum hast du ausgerechnet mich angerufen? Ich fand dich sympathisch, sagte ich, auf der Punktpunktpunkt-Party warst du die einzige, mit der ich mich wirklich hätte unterhalten wollen. Du machtest den Eindruck, als fändest du das alles genauso lächerlich wie ich. Ja, sagte sie, lächerlich war es, weil es für alle so ungefährlich war, niemand musste wirklich was riskieren. Dabei, so meinte sie dann, hätten alle genau das gesucht: das Risiko, die Grenzüberschreitung. Und genau das sei es, was sie interessiere. Ihre Sehnsucht sei eigentlich schon immer eine Sehnsucht nach der Grenzüberschreitung gewesen, danach, etwas wirklich aufs Spiel zu setzen. Aber sie habe sich nie recht getraut, genau das zu tun. Sie habe sich zwar alle möglichen Freiheiten geleistet, aber die hätten immer im Rahmen der Normen gelegen und hätten viel mehr mit Geld als mit Gefahr zu tun gehabt. Gefahr? Welche Art von Gefahr? Die Gefahr, sagte sie, dass du deinen Status aufs Spiel setzt, deinen guten Ruf, das Bild, das du dir von dir selbst gemacht hast, den Lebensplan, den du weit in die Zukunft hinein aufgezeichnet hast. Sie habe, sagte sie, Agnes die Freundschaft aufgekündigt, sie habe ihr gesagt, wie langweilig sie sie fände, wie mutlos, spießig und prüde. Und damit habe sie die Messlatte weit nach oben gelegt. An ihr müsse sie sich nun selbst messen. Und ich solle ihr bei ihrem ersten Schritt behilflich sein. Weil ich ihr – nicht im Ernst – etwas schuldig sei. Auch ich sei ihr spontan sympathisch gewesen. Als sie mit der Bestellung an der Reihe gewesen sei, habe sie sich impulsiv entschieden, das zu kaufen, was ich mir vermutlich bestellt hatte. Deshalb sei sie auch so schnell damit fertig gewesen. Sie griff in ihre Handtasche und holte den schwarzen Lippenstift hervor. Den hier! Hast du ihn schon ausprobiert? Ich schüttelte den Kopf. Doch, sagte ich, aber es hat nicht funktioniert. Das ist einfach nichts für mich. Barbara knöpfte sich die Jeans auf, zog sie aus und hockte sich längs aufs Sofa. Sie schaute mir in die Augen, hielt den kleinen Vibrator vor sich hin wie eine Monstranz und schaltete ihn mit dem Daumen an. Dann führte sie ihn zu ihrem hellen Slip zwischen den Beinen, schob ihn ein wenig hin und her, schaltete eine oder zwei Stufen höher, setzte ihn wieder an ihre unter dem Slip verborgene Klitoris und schaltete das Gerät wenige Momente später wieder aus. Sie umfasste es mit einer Hand und schaute mich mit einem unerwartet schüchternen Blick an. Würde es dir etwas ausmachen, mit mir mitzumachen? Ich glaube, alleine kann ich es doch nicht. Ich dachte an die Holzhütte auf unserem Hof, an die Jungs mit der Feder. Ich blickte unwillkürlich aus dem Fenster. Wer würde uns zusehen? Warum sollte ich Barbaras Bitte folgen? Was hatte das mit meinen eigenen Bedürfnissen zu tun? Warum sollte ich Barbara bei ihrer Grenzüberschreitung begleiten? War es nicht schon Grenzüberschreitung genug, wenn sie vor meinen Augen masturbierte? Ich schwieg und starrte aufs Parkett. Barbara erhob sich, schnappte sich ihre Jeans und verschwand im Flur. Wenige Augenblicke später kam sie zurück und warf mir ein Handtuch zu. Lass uns schwimmen gehen, sagte sie, öffnete die Terrassentür und schritt über die Wiese zum See hinunter. Ich folgte ihr. Am See zog sie sich aus und watete fröstelnd ins Wasser. Es sei noch furchtbar kalt, sagte sie, als sie sich mir zuwandte, trotzdem, geh wenigstens mit mir schwimmen! Ja, ich hatte Lust zu schwimmen. Schnell zog ich mich aus und rannte an Barbara vorbei ins Wasser. Es musste schnell gehen, dann war es nicht so schlimm. Es war schön, endlich mal wieder nackt zu schwimmen. Wir schwammen bis zu einer Wiese am gegenüberliegenden Ufer. Auf einer leichten Anhöhe stand die wild umwucherte Ruine eines alten Natursteinhauses. Vielleicht war es als Stall erbaut worden, danach musste es wohl ein Wohn- oder ebenfalls ein Wochenendhaus gewesen sein. Auf einer Seite war das Dach eingestürzt, die Fenster hatten keine Scheiben mehr. Das habe sie gerne kaufen wollen, sagte Barbara fröstelnd, aber es sei nicht zu ermitteln, wem es gehöre. Sie komme manchmal hierher. Jedes Mal hoffe sie, irgendeine geheimnisvolle Entdeckung zu machen. Vielleicht sei hier irgendwo eine Leiche vergraben worden, oder ein entführtes Mädchen gefoltert und vergewaltigt worden. Du willst mir bloß Angst machen, sagte ich. Vorsichtig betraten wir, nackt wie wir waren, das Haus, denn überall auf dem Boden lagen Scherben und allerhand Unrat. Hin und wieder kommen hier Jugendliche her und haben heimlich Sex, sagte sie. Wenn du genau hinschaust, wirst du benutzte Kondome auf dem Boden finden. In dem überdachten Teil des Hauses war eine Küche, in der Schränke und ein Herd standen. Sogar ein paar alte Blechtöpfe standen noch herum. In einem anderen Raum lag eine fleckige Matratze auf dem Boden. Daneben leere Cola-Flaschen und Bierdosen, Chips-Tüten, Zigaretten-Kippen. Barbara legte sich rücklings auf die Matratze, faltete die Hände hinterm Kopf, blickte zur Decke und meinte, hier würden sie es immer treiben, die Jugendlichen. Sie spreizte die Beine und stellte die Füße neben der Matratze auf. Ich sah genau zwischen ihre Beine. Ich trat an eines der Fenster, zu dem die Brennnesseln hinaufwuchsen. Weit entfernt fuhren Autos auf einer Landstraße. Wollen wir nicht lieber wieder zurück, fragte ich, ich fühle mich hier nackter als in einer öffentlichen Sauna, nur dass es hier unendlich viel kälter ist. Ich finde es – Barbara suchte nach dem richtigen Wort – kribbelig. Mein ganzer Körper kribbelt, wenn ich hier bin. Du weißt nicht, ob jemand zufällig vorbeikommt, der angezogen ist, und du bist ganz nackt. Hier finde ich es besonders schön, nackt zu sein. Sie stellte sich neben mich ans Fenster und spann ihren Gedanken weiter: Drei Männer kämen aus dem Wald, erblickten uns, grüßten und täten, als gingen sie vorüber. Tatsächlich schlichen sie von der anderen Seite ins Haus und überraschten uns in diesem Zimmer. Sie sprächen kein Wort Deutsch und gäben uns Zeichen, wir sollten uns auf die Matratze legen und ihnen zu Diensten sein. Barbara zog mich auf die Matratze hinunter, die mich ekelte. Aber im Wasser würde ich den Dreck ja wieder abwaschen können. Dann erzählte sie weiter. Wir müssten die Beine spreizen. Die Männer würden ihre Hosen herunterlassen, sich zu uns hinunterknien und einer nach dem anderen seinen Schwanz in uns hineinstoßen. Wir würden uns nicht dagegen wehren können, denn sie hätten Messer dabei, die sie uns an die Hälse hielten, wenn wir zu schreien versuchten. Abwechselnd hielte einer der drei Männer am Fenster Wache. Wir würden Todesängste ausstehen und alles über uns ergehen lassen. Dann würden sie sich die Hosen wieder hochziehen, aus einem Flachmann trinken und uns die Flasche ebenfalls hinhalten, um gleich darauf zurück in den Wald zu gehen. Hast du häufiger solche Phantasien, fragte ich. Nein, nur wenn sie hier sei. Oder wenn sie sich in einer Umkleidekabine in einem Kaufhaus befinde. In so einer Umkleidekabine habe sie sich sogar einmal komplett ausgezogen und die Angst genossen, sie könne entdeckt werden. Ein Mann könnte da sein, ein lästiger Einkaufsbummel mit seiner Frau, er würde einen Blick auf ihren nackten Körper erhaschen und sich nicht zurückhalten können, sich in ihre Kabine zu drücken, wo er ihr mit einer Hand zwischen die Beine fasste und seinen Körper an den ihren presste. Bei der Vorstellung werde sie schon wieder ganz feucht, sagte sie. Bist du auch feucht geworden? Ich stand auf und wollte gehen. Trotzdem fasste ich mir beim Gehen zwischen die Beine. Ja, ich war feucht geworden. Das war nicht mehr das Wasser des Sees. Ich wandte mich halb um und hielt ihr meine glänzenden Fingerkuppen entgegen. Barbara lächelte triumphierend, stand auf und ging an mir vorbei aus dem Haus. Ich folgte ihr. Ich folgte ihr von jetzt an in allem, was sie tat und worum sie bat. Weil es sich gut anfühlte, weil es – kribbelte. Wir schwammen zurück ans andere Ufer, trockneten uns ab und legten uns noch eine Weile in die wärmende Sonne. Mittags, wenn die Kinder kamen, wollte ich wieder zuhause sein. Wir zogen uns bald an und fuhren zurück. Als ich in mein Auto stieg, fragte sie, ob wir uns mal in der Stadt treffen wollten. Das klang unverfänglich. Ich nickte. Verachtest du mich jetzt, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. Aber ich konnte noch nicht einordnen, was ich gerade erlebt hatte, ich wusste noch nicht, wie ich die Gefühle bewerten sollte, die Barbara in mir geweckt hatte.

Was ich bis hierhin geschrieben habe, muss sehr verstörend auf dich wirken. Du erkennst deine Frau kaum wieder. Warum hat sie nicht sofort die Notbremse gezogen? Wie leicht wird sie die Beute einer manisch überspannten Müßiggängerin? Noch bevor du selbst zu diesem Vorwurf gelangst: Das hat immer zwei Seiten. Als Verführte habe ich mich doch auch allzu gerne verführen lassen. Rückblickend bin ich immer eher die Verführte gewesen. Das ist eine bequeme Art und Weise, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne wirklich Verantwortung übernehmen zu müssen. Ich erinnere mich an eine Schlacht mit Matsch und Kuhscheiße. Es hatte tagelang geregnet, wir Kinder hatten täglich Stunden mit den Nasen an den Fenstern geklebt und unsere verregneten Sommerferien beklagt. Als der Regen endlich aufhörte, konnten wir es nicht erwarten, wieder auf der Wiese herumzuspringen. Wir waren wild wie die Rinder, wenn sie im Frühjahr nach langen, dunklen Monaten im Stall wieder auf die Weide gelassen werden. Sie galoppieren, grölen ihr kehliges Jubeln und Jauchzen, jagen sich, machen Bocksprünge und stoßen sich die Hörner aneinander ab. Die Böden waren durchgeweicht. Am Rande des Elektrozauns hatte sich in Schlamm und Kot ein kleiner See gebildet. Wir stampften hindurch und ließen die braune Brühe aufspritzen. Schließlich griff Ralf mit beiden Händen tief in den Matsch und schmierte Jochen damit das Gesicht zu. Jochen hätte auch plärrend zu seiner Mama laufen können, denn er war ein zu penibler Reinlichkeit erzogenes Kind. Aber Jochen fasste sich nach den ersten Schrecksekunden wieder, schaufelte eine große Portion des jauchigen Breis zwischen seinen gelben Gummistiefeln hervor und bewarf Ralf damit. Ich stand eine Weile dabei, sah zu, wie sich die Beiden einseiften und war hin- und hergerissen zwischen Abscheu, Tadel und Lust. Erst als mich ein Blindgänger am Anorak streifte, machte ich mit lautem Protest auf mich aufmerksam. Ich schrie sie an, sie sollten mit dieser Sauerei aufhören, sie seien doch keine kleinen Babys mehr. Die Jungs sahen mich verwundert an. Ralf lief die Suppe bereits in die Stiefel. Kurzerhand zog er sich Stiefel und Socken aus und ließ einen der Stiefel in der Pfütze volllaufen. Einen Moment später erwischte mich eine volle Breitseite. Da erst stürzte ich mich ins Gefecht, nach diesem mein Eingreifen legitimierenden Angriff. Mit gespielter Aggression stürzte ich mich auf Ralf, zog ihm ein Bein weg und ließ mich voller Lust mit ihm in den Güllematsch fallen, ich schaufelte ihm den Dreck in die Haare, ins Gesicht, unters T-Shirt und bekam von hinten einen miefigen Schwall aus Jochens Gummistiefel ab. Wir ließen vollends glücklich erst wieder von unserer Schlacht ab, als wir bis auf die Knochen durchgeweicht waren und zu frieren begannen. Was würden unsere Eltern sagen, wenn sie uns sahen? Das große, unbändige Glück machte jede noch folgende Strafe wett. Jetzt erinnere ich mich auch wieder an die Disco-Abende in der Schule. Es gab sie jedes Jahr im Spätsommer. In meiner Erinnerung schmelzen sie zu einem einzigen zusammen. Ich sehe mich – wie viele andere auch – am Rand des verdunkelten SV-Raumes auf einem der Tische sitzen, aus den Lautsprechern erklingt „Shine On You Crazy Diamond“ von Pink Floyd. Gefühlte zwanzig Minuten langsamste Rockmusik, wenn man das so nennen kann, bei der es üblich war, dass die Paare, die sich gefunden hatten, eng umschlungen sich langsam im Kreis drehten. Das hätte ich auch gern getan, mit einem Jungen aus der Parallelklasse, in den ich verliebt war und der Markus hieß. Er war wohl auch ein wenig in mich verliebt. Wir tauschten schüchterne Blicke aus. Aber er traute sich nicht, mich aufzufordern, und auch ich war nicht mutig genug, um es wie Kirsten oder Claudia zu halten, die die Jungs ihrer Wahl, die sich halbherzig sträubten, rabiat auf die Tanzfläche zerrten. Im Unterschied zu mir war Bettina in niemanden verliebt, und wohl auch niemand in sie. Aber sie wollte tanzen. Deshalb guckte sie mich aus und zog mich in den flackernden Schein der Lichtorgel. Sie umschlang mich, wie ich gern von Markus umschlungen worden wäre, und wir drehten uns langsam und schaukelnd mit den anderen Paaren. Ich rieche noch heute Bettinas Schweiß, der nach – es war wirklich so! – Spargelsuppe roch. Wir schwitzten beide, es war seltsam, den Körper eines fremden Menschen so dicht an meinem eigenen zu spüren. Nach einer Weile stellte ich mir vor, dieser Körper, den ich umarmte und der mich erhitzte, sei Markus. Irgendwann erwachte ich aus der Trance, in die ich mich hatte fallen lassen, und blickte auf die Umstehenden, ob auch Markus noch zusah, ob sein Blick auf mich gerichtet war und er sich danach verzehrte, in meinen Armen zu liegen. Aber er war einfach hinausgegangen. Ich sah ihn an diesem Abend nicht wieder. Ich war von mir selbst tief enttäuscht, furchtbar traurig, weil ich nicht meinem Gefühl gefolgt war und Markus anscheinend vor den Kopf gestoßen hatte. Den Rest des Abends saß ich melancholisch auf einem Tisch am Rand, trank Cola, und „Love Is Like a Violin“, der einzige Song, der drei Mal an diesem Abend wiederholt wurde, brannte sich tief in mein Herz ein. Die Schwärmerei für Markus verging schon bald wieder, manchmal sahen wir uns, wenn wir in größeren Gruppen Unternehmungen machten oder uns im Freibad trafen. Trotzdem war es Markus, der mir zwei Jahre später meine Jungfräulichkeit nahm. Wir hatten im Gästehaus eines begüterten Schulfreundes gefeiert und deutlich zu viel getrunken. Im feuchten Gras, etwas abseits des Hauses ließ ich mich abknutschen und gab mich ihm schließlich hin – weil er darauf drängte, zärtlich erst, dann ungeduldig und vehement. Es gelang ihm nicht, besonders tief in mich einzudringen. Es schmerzte. Und bevor mir so richtig bewusst wurde, was wir taten und welche Konsequenzen das für mich haben könnte, war er auch schon fertig. Das meiste landete auf meiner Unterhose, die ich danach nicht mehr tragen konnte und wollte. Ich warf sie unter Rhododendronbüsche. Ich hatte nicht einmal geblutet. Eigentlich war ich danach anatomisch weiter Jungfrau. Markus, Peter, Achim und dann du. In keiner der intimen Begegnungen ging die Initiative von mir aus. Ich habe mich immer auf der sicheren, verantwortungslosen Seite aufgehalten.

Bei Barbara war es genau umgekehrt. Sie war es, die ihre Mitschüler zu kleinen Diebstählen anstachelte, die Unterschriften unter Klassenarbeiten fälschte (bei Bedarf auch für ihre Freundinnen) und die sich den Jungs an den Hals warf. Sie verriet mir, dass sie während ihrer Ehe mit Stefan kurze Affären gehabt habe, von denen er nichts mitbekommen habe. Sie habe sich damals ihn geangelt, nicht umgekehrt, ihn bezirzt und umgarnt, nicht ganz ohne Kalkül. Seine Eltern seien vermögend gewesen, seine beruflichen Aussichten glänzend. Sie habe ihn durchaus auch geliebt, immer mal wieder. Bis zum frühen Tod ihres dritten Kindes sei sie ein Enfant terrible gewesen, kaum zu bändigen, unberechenbar und verrufen. Nach diesem Schicksalsschlag sei sie lange in Traurigkeit und Passivität versunken. Ich wagte nicht, nach den genaueren Umständen des Todes zu fragen. Sie fühlte sich offenbar mitschuldig am Tod ihres Jungen, sie habe damals manchmal nächtelang gefeiert, große Mengen Alkohol und auch Marihuana hätten eine Rolle gespielt, und der neue Pool im Garten, den sie danach zugeschüttet hätten. Dennoch habe sie nicht länger in dem Haus leben können. Nach dem Verkauf des Hauses hätten sie auch die Stadt verlassen, die für sie immer mit dem Unglück verbunden bleibe. Sie sei nicht die klassische frustrierte Hausfrau, nein, sie sei eine traurige Mutter, das vor allem, aber sie wolle ihr Leben nicht weiter von dieser Trauer bestimmen lassen. Sie habe die Zeit der Trauer für beendet erklärt. Während sie mir das alles erzählte, saßen wir in dem Straßencafé, in dem ich auch Daniela und Agnes getroffen hatte. Jetzt sprang sie auf, schob einen Zehner unter ihre Tasse und sagte: „Und jetzt lass uns was Verrücktes machen!“ Ich sei an der Reihe, mir etwas Verrücktes auszudenken. Wir eilten ziellos durch die Fußgängerzone und ich grübelte darüber nach, was in Barbaras Augen verrückt genug sein konnte. Mir fiel nichts ein. Wie immer, wenn ich aufgefordert werde, spontan zu sein, wenn ich gefragt werde, was mir gerade durch den Kopf geht, war mein Hirn wie weißgewaschen, vollkommen leer. Mir fällt nichts ein, sagte ich noch einmal, barfuß laufen vielleicht? Barbara blieb stehen, schob sich die Sonnenbrille bis zur Nasenspitze hinunter und sah mich abschätzig an. Dann streifte sie ihre Pumps von den Füßen, klemmte sie zwischen drei Finger und spazierte barfuß weiter. Ich blickte ihr einen Moment lang nach, zog mir meine Schnürschuhe und die Socken aus und holte sie bald ein. Ich war zufrieden mit mir.  Es gefiel mir sogar, dass einige der Passanten auf das barfuß laufende Paar aufmerksam wurden, nennenswerte Reaktionen ernteten wir jedoch nicht. Und jetzt? Ich fand, Barbara sei wieder an der Reihe. Such dir was aus, sagte sie, und es folgte eine Kaskade von Vorschlägen: Mit Lippenstift Hüpfekästchen aufmalen und ein Hüpfespiel spielen. Kennst du noch die Hüpfespiele von früher? Leute ansprechen und als Zeugen Jehovas die frohe Botschaft von Jesus Christus verkünden. In einem Frisörladen die Haare bunt färben lassen. Irokesenschnitt, Afrolook. In der Eisdiele Pommes rot-weiß bestellen und den Geschäftsführer sprechen wollen. Wenn es Spaghetti-Eis gebe, müsse auch Pommes rot-weiß möglich sein. Eine Säge kaufen – kann man hier irgendwo eine Säge kaufen? – danach ein großes Brot kaufen, das Brot vor den Augen der Verkäuferin aushöhlen und die Säge darin verstecken. Unterhosen kaufen und sie über die Jeans ziehen. Ein Glas Bockwürste besorgen und die Würste an vorbeilaufende Hunde verteilen. In ein Taxi steigen und uns an exakt den Ort fahren lassen, wo wir uns gerade befinden, wieder aussteigen und Trinkgeld geben. Ich entschied mich für den harmlosen Vorschlag mit der Eisdiele, aber Barbara überredete mich, mit ihr in einem Schaufenster Schaufensterpuppe zu spielen. Wir nutzten einen Moment, in dem wir uns unbeobachtet glaubten, zogen die Rückwand eines Schaufensters etwas zur Seite und schlängelten uns um die steifen Puppen herum, bis wir einen geeigneten Platz fanden. Die Passanten nahmen keine Notiz von uns. Wir froren in einer Pose ein und folgten den Vorübergehenden nur mit den Augen. Lachen verboten, bewegen verboten, zu früh aufgeben verboten. Allerdings hatten wir die Videoüberwachung nicht auf der Rechnung gehabt. Jetzt hatten wir es doch noch mit einem Geschäftsführer zu tun, der unsere Personalien aufnehmen wollte. Barbara zückte einen Zehner aus ihrem Portemonnaie, reichte ihm den hin und bestellte zweimal Pommes rot-weiß. Dann riss sie ihren Arm hoch, zeigte auf etwas und rief erschrocken: „Was ist das?“ Der Geschäftsführer und seine junge Angestellte fielen auf den Trick tatsächlich herein. Sie wandten sich in die Richtung, in die Barbara gezeigt hatte, und wir nahmen unsere Beine in die Hände. Wohin? Zum Frisör, rief Barbara, die Haare färben lassen. Irokesenschnitt, lachte ich, während wir rannten. Afrolook, rief Barbara ausgelassen, Bärenfell, Streichholzkostüm, Warnweste!

Weißt du, was ich heute erlebt habe? Hätte ich das fragen können, als du am Abend nachhause kamst? Schwer vorstellbar. Also blieb es mein Geheimnis, zumindest für den Fall, dass nicht irgendjemand, der mich kannte, meine Vorstellung als Schaufensterpuppe mitbekommen hatte. In der Stadt wollte ich mich mit Barbara nach diesem Abenteuer nicht unbedingt noch einmal sehen lassen.

Von da an trafen wir uns mindestens zweimal in der Woche, sobald die Jungs in der Schule waren. Wir fuhren zu ihrem Wochenendhaus, machten lange Spaziergänge oder gingen schwimmen. An einem Regentag erzählte sie mir bis ins Detail, auf welch unterschiedliche Weise sie Sex mit Stefan und ihren diversen Liebhabern gehabt hatte. Nach dem Tod ihres Sohnes habe sie aber damit aufgehört. Auch mit Stefan habe sie seitdem nicht mehr geschlafen. Sie sei sich fast sicher, dass er mittlerweile eine Affäre habe, sie würde es ihm jedenfalls nicht übelnehmen, wenn es so wäre. Und dann wollte sie auch wissen, wie es ist, wenn ich mit dir zusammen bin. Es fiel mir nicht leicht, die richtigen Worte dafür zu finden. War das die Offenheit, die zwischen wirklich guten Freundinnen herrscht? Mir war das nicht vertraut. Hatte ich schon einmal eine beste Freundin gehabt, mit der ich alles teilte, Glück, Kummer und Sorgen, intimste Details? Ich sei eine miserable Erzählerin, sagte ich, dafür eine viel bessere Zuhörerin. Sie forderte mich auf, die Augen zu schließen, es mir eins zu eins vorzustellen und alles mit einfachen Worten genau zu beschreiben. Ich lachte und behauptete, mein literarisches Vermögen reiche dafür nicht aus, es fehle mir an Vorstellungskraft, ich müsse schon wirklich in der Situation sein, und selbst dann würde es mir schwerfallen, in Worte zu fassen, was ich mir vorstellte. Dann müsse sie mich wohl in ein möglichst authentisches Umfeld verpflanzen, meinte Barbara in gespielt generösem Ton, sie stelle mir dafür ausnahmsweise ihr Ehebett zur Verfügung. Ich könne mich unter die Bettdecke kuscheln und sie werde sich als Dummie neben mich legen. Mir fehlte die Widerstandskraft, ihr zu widersprechen. Also folgte ich ihr ins Schlafzimmer und legte mich unter die Bettdecke. Es ging nicht. Ich musste lachen, während ich nach passenden Worten suchte, die unser zärtliches Tun angemessen beschreiben konnten. Worte wie Penis, Scheide, Vagina, Klitoris und so weiter erschienen mir zu neutral, zu anatomisch-wissenschaftlich, andere dagegen zu derb und brutal. Wir sollten uns ausziehen, meinte Barbara, und ob ich den Vibrator dabeihätte. Den Vibrator? Hatte ich wirklich, denn nach unserem ersten Treffen war er in meiner Handtasche liegengeblieben. Ich schwieg und starrte an die Decke. Kurzentschlossen stand Barbara auf, flitzte auf Zehenspitzen hinaus, kehrte mit meiner Handtasche und ihrer eigenen zurück, kippte den Inhalt meiner Handtasche aufs Bett und reichte mir den schwarzen Lippenstift. Dann zog sie sich bis auf den Slip aus, nestelte aus ihrer eigenen Handtasche einen weiteren Vibrator und schlüpfte unter die Bettdecke. Eine Weile lagen wir regungslos nebeneinander und starrten nun gemeinsam an die Decke. Dann blickte Barbara mich an und meinte, ich müsse mich erst in Stimmung bringen, dann würden die Worte irgendwann aus mir herausfließen. Und aus Gründen schwesterlicher Solidarität werde sie sich ebenfalls etwas in Stimmung bringen. Das müsse jetzt sein, es sei der größte Freundschaftsbeweis, eine unblutige Blutsschwesternschaft. Sie zog die Hand mit dem Vibrator unter der Decke hervor, stellte ihn an, legte ihn an ihre Wange und begann übertrieben zu stöhnen. O mein Gott, ich komme, gleich komme ich! Dann hielt sie ihn mir an die Nasenspitze und fragte ernst und mit gespielt tiefer Stimme: „Kannst du es spüren, Baby? Zieh dich aus, Puppe!“ Ich befolgte, was sie sagte. Ich ließ Hose und T-Shirt neben das Bett fallen. „Schließ die Augen und fang an!“ Ich schloss die Augen, suchte eine Weile nach der Start-Taste des Vibrators und hielt ihn, nachdem er zu vibrieren begonnen hatte, an meinen Slip, genau dort, wo ich mir die meiste Wirkung davon versprach. „Und jetzt rede!“ Ich versuchte mir vorzustellen, wie deine Hände meinen Körper streicheln, wie sie nach und nach ihrem Ziel näher kommen und ich meine Beine auseinanderstelle, wie du meine Brüste liebkost und mit deinem Speichel benetzt. Die Vibrationen fühlten sich immer intensiver an. Immer war nur das „Du“ in meinem Kopf. Ich vermochte nicht, es in ein beschreibendes „Er“ zu verwandeln. Ich brachte kein einziges Wort hervor, während ich mir vorstellte, wie wir miteinander schliefen. Kurz öffnete ich die Augen, um einen Blick auf Barbara zu werfen und mich zu entschuldigen, dass es mir einfach nicht gelingen wollte. Aber sie lag mit geschlossenen Augen neben mir, ruhig, entspannt, und unter ihrer Decke vibrierte es ebenfalls leise. Sie spürte meinen Blick und sagte, ohne die Augen zu öffnen, ich müsse nun die Geschwindigkeit steigern. Ich presste den Knopf mehrmals bis zur höchsten Stufe, spürte, wie ich in einen unwiderstehlichen Sog geriet und wollte bald nicht mehr aufhören, bis es endlich geschehen war. Ich kam viel schneller als Barbara. Als auch sie fertig war, lächelte sie und sagte, das sei gut gewesen. Ich erzählte ihr, was ich mir vorgestellt hatte, wie wir uns lieben, und sie sagte sanft, das sei sehr schön.

Das Gefühlschaos, in dem ich mich nach diesem Vormittag befand, kann ich bis heute nicht vollständig entwirren. Ich fühlte mich schuldig, glaubte, dich betrogen zu haben, und hätte doch mit Barbara nicht brechen wollen. Ich hatte Angst, aber ich wusste nicht wovor. Vor mir selbst? Schuld und Lust und Angst lagen dicht beieinander, sie verschmolzen zu einem einzigen Gefühl. Und ich wusste nicht mehr, wer ich war. Ich konnte mir meiner selbst nicht mehr sicher sein. Eine Frau zu sein, die neben einer anderen Frau masturbierend im Bett liegt, passte nicht zu dem Bild, das ich von mir hatte, es war nie auch nur als Möglichkeit darin vorgekommen.

Angst: Du könntest erfahren, was ich getan habe. Du verlässt mich. Du hasst und verachtest mich. Was ich bin und sein werde, entgleitet mir. Ich verändere mich und habe keine Kontrolle darüber. Ich muss mich fortan verstecken. Ich führe ein Doppelleben. Ich weiß nicht mehr, was ich will. Ich bin meinen Gefühlen ausgeliefert. Meine Rationalität ist nicht mehr der Boden unter meinen Füßen und meine Gefühle schwanken wie ein Boot auf stürmischer See.

Schuld: Ich habe etwas Verbotenes getan. Ich lüge oder verschweige die Wahrheit. Ich setzte verantwortungslos meine Ehe, meine Familie aufs Spiel. Ich verletze deine Gefühle. Ich verstoße gegen deine Erwartungen, gegen Verabredungen, gegen den Treueschwur. Ich verstoße gegen die Erwartungen einer anonymen Öffentlichkeit, gegen das Bürgerliche in mir, gegen meine Erziehung. Ich bin mir selber untreu geworden. Ich verstoße gegen meine eigenen Prinzipien. Meine Liebe ist nicht stark genug. Ich bin ein schwacher Mensch. Ich bin ein schlechter Mensch.

Und Lust: Das ist eine Abenteuerlust, eine Lust, zu tun, was mir gerade in den Sinn kommt, etwas auszuprobieren. Ich möchte meinen Körper neu erkunden. Ich möchte erfahren, wozu ich fähig bin, was ich aushalten kann, was mich glücklich macht. Ich möchte mutig sein, mich nicht mehr zurücknehmen. Ich will spontan sein. Ich will keine Angst mehr haben, mich nicht mehr schuldig fühlen müssen. Ich möchte den Teil meiner Persönlichkeit kennenlernen, den ich irgendwann zum Schweigen gebracht habe. Ich will meine eigenen Grenzen und die der anderen erkunden, die ich liebe. Ich will singen, tanzen, sehen, gesehen werden, Sex haben, von allem mehr als genug haben – und alles teilen.

Schon als die Kinder von der Schule kamen, bemerkte ich, dass ich neben mir stand und mich bei allem, was ich tat, beobachtete. Wie ich sie umarmte, sie danach fragte, was sie essen wollten, wie die Schule gewesen sei, was sie heute vorhätten. Ich sah mir dabei zu, wie ich übertrieben herzlich und aufmerksam war. Ich spielte mich nur. Ich spielte das, was ich für meine gewohnte Persönlichkeit hielt und was die Kinder dafür halten mussten. Als du am Abend nachhause kamst, fiel es mir anfangs schwer, dir in die Augen zu sehen. Aber ich wollte auch nicht, dass du fragst, ob alles in Ordnung sei. Ich wollte nicht lügen müssen. Also spielte ich die Lea, die dir vertraut war. Und ich spielte meine Rolle besonders leidenschaftlich, voller Überzeugung. Ich umarmte dich, legte meinen Kopf an deine Brust. Ich tat fröhlich, gab mich zufrieden mit den Ergebnissen meiner Kochkünste. Ich fragte dich, was du am Abend gerne tun würdest. Ich fragte dich nach deiner Arbeit. Im Bett schmiegte ich mich an dich, streichelte dich, machte unmissverständlich Andeutungen, dass du mit mir schlafen könntest, wenn du wolltest. Und du gingst, so schien es, auf mein Angebot ein. Ich gab mir besonders große Mühe, geil auf dich zu sein, oder so zu wirken. Ich küsste dich, ich wand mich, öffnete mich für dich, ich hielt deinen Schwanz in der Hand, der einfach nicht steif werden wollte. Ich fragte mich beleidigt, was ich denn noch alles tun müsse, um in dir den Wunsch zu wecken, mit mir zu schlafen. Ich fragte dich, ob alles in Ordnung sei. Ich hörte mir dabei zu, wie etwas in mir dich danach fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich hörte meine Stimme, die verständnisvoll sagte: „Wollen wir es auf morgen Abend verschieben?“ Ich sah zu, wie ich dir einen Gutenachtkuss gab. Ich sah, wie meine Hand zu Nachtlektüre und Brille griff. Ich sah mich in Barbaras Bett liegen. Ich verachtete mich dafür, meine Lust am Vormittag für ein Abenteuer vergeudet und sie dir nun vorenthalten zu haben. Ich verachtete mich dafür, nicht mehr ich zu sein, sondern dieses Ich nur noch stolpernd und wankend spielen zu können. Und ich verachtete dich, weil du mich nicht mit Zärtlichkeit und Fürsorge in mein Leben zurückholen konntest, weil du die Zeichen nicht sahst, dass ich von dir gerettet werden wollte. Weil dieses Gefühl, das ich nicht abschütteln konnte, so ungerecht war, hasste ich mich selbst. Ich fühlte mich einsam wie lange nicht und sehnte mich nach Barbaras scheinbar unbeschwertem Wesen, das mich hätte aufmuntern können. Dabei wäre es so einfach gewesen. Ich hätte mich entspannt zurücklegen können, mir beim Atmen zuhören, Ruhe finden, wenige Worte formen: „Kannst du mich einfach nur für eine Weile in den Arm nehmen?“

Am nächsten Morgen wirktest du unterkühlt auf mich. War das nur der Widerschein der Kälte, die ich für dich empfand? Woher kam diese Gefühllosigkeit? Was ich zuvor nie bewusst wahrgenommen hatte: Wie du deinen Kaffee schlürfst, wie du mit krummem Rücken am Frühstückstisch sitzt, dass du das Hemd schon den dritten Tag trägst, die Spuckefäden in den Mundwinkeln, wenn du dir das Toast in den Mund schiebst, dein vom Schleim röchelndes Husten, weil du zu viel rauchst, dein falsches, desinteressiertes Lächeln, wenn ich dir Kaffee nachgieße, um wieviel wichtiger die Nachrichten auf deinem teuren Smartphone sind, als ein paar freundliche Worte mit mir zu wechseln, der flüchtige Abschiedskuss, wie du dir die erste Fluppe anzündest, bevor du ins Auto steigst, wie abwesend du bist, auch wenn du da bist. Das sehe ich erst jetzt so: Weil ich mir fremd wurde, wurdest auch du mir fremd.

Wer kann schon längere Zeit mit Schuldgefühlen leben? Eine gutmütige und wohlwollende Instanz in uns lässt uns bald den Blick nach außen richten und führt uns vor Augen, wie groß die Schuld der anderen ist. Sie webt ein Netz aus den Verfehlungen der Anderen, ihren Nachlässigkeiten, rücksichtslosem Egoismus, Unaufmerksamkeit, fehlender Empathie, in dem sich unsere Schuld verfängt und von der schwarzen Spinne der Alternativlosigkeit leergesogen wird, bis sie sich fast verflüchtigt, nur noch ihre abstrakte Hülle übrigbleibt: Du hattest keine andere Möglichkeit, dir blieb keine andere Wahl. Dann verwandelt sich auch die Angst. Sie tritt nun im Gewand von Wut und Trotz auf. Sie verneigt sich tief mit mephistophelischem Grinsen und gibt die Bühne frei für den nächsten Akt.

Ich war nie das, was man eine Pessimistin nennt. Mir fiel immer das kleine Glück ins Auge, der blass-grüne Keim des Neuen, ich sah die Bewegung, nicht den Stillstand. Es ist nicht böse gemeint, wenn ich behaupte, dass eher du der Pessimist von uns beiden bist, auch wenn sich das im Laufe der Jahre geändert haben mag: Der Wagen springt nicht an, mit dem ist es sowieso bald vorbei, die gegnerische Mannschaft schießt ein Tor, das Spiel war von Anfang an verloren, nach zwei Wochen Regen im Mai steht fest, dass das Wetter in dieser Region immer schon das schlechteste der Republik war und sich daran auch nichts ändern wird, im Supermarkt wechselst du längst nicht mehr von der einen zur kürzeren anderen Schlange, weil du weißt, dass es gleichgültig ist, wo du stehst, hier wie dort wird es, aus welchen Gründen auch immer, für dich länger dauern. Du bist vom Pech verfolgt. Ich übertreibe vielleicht gar zu sehr, aber meine Perspektive war jedenfalls meistens eine andere: Der Wagen springt nicht an? Wie gut, da werde ich gezwungen, einen Spaziergang an der frischen Luft zu machen. Wie sich die Brasilianer über das Tor freuen! Ich gönne es ihnen. Nach diesem verregneten Mai wird im Juni alles noch viel üppiger sprießen. Und im Supermarkt schaue ich mir die Wartenden in der anderen Schlange an. Wer von ihnen mag gerade der Glücklichste sein? Ich hielt mich eher für eine, die vom Glück verfolgt wird – obwohl sie es gar nicht verdient hat. Die Überzeugung, das Glück, von dem du Tag für Tag überrascht wirst, nicht verdient zu haben, macht dich bescheiden. Noch die geringste Dosis Glück erscheint dir als Fülle und Übermaß. Ich bin dankbar, aus dieser Perspektive auf die Welt und mein eigenes Glück blicken zu können. Diesmal jedoch ertrank auch für mich im verregneten Mai der ganze Sommer. Ich trug fast die Hälfte zum Familieneinkommen bei (ich schlug in meiner Rechnung allerdings das Kindergeld zu meinen Gunsten auf), kaufte aber auch ein, kochte jeden Tag (bis auf den hochangesehenen Sonntagsbraten, der schon immer deine Domäne war), ich wusch die Wäsche, erledigte am Computer ganz nebenbei den Büro-Kram, ich saugte, putzte, beides viel zu selten, ich tröstete, ermunterte, beriet die Kinder, ich trieb sie an und hörte ihnen zu, ich bewirtete ihre Gäste, räumte ihnen hinterher, und ich empfing dich freundlich, wenn du von der Arbeit nach Hause kamst, fragte dich nach deinem Tag, hörte dir zu, sah mit dir fern, wenn du für anderes zu erschöpft warst, erwiderte deine Zärtlichkeiten, wenn ich ahnte, dass du mit mir schlafen wolltest, ich rasierte meine Scham täglich, weil du sie glatt und sauber magst, obwohl du sie mit den Jahren immer seltener berührt hast, ich habe mir beim Älterwerden zugesehen, während du immer zu bleiben schienst, wie du warst. Erst fragte ich mich, was du noch an mir findest, dann fragte ich mich, warum du immer noch bleibst. Ich begann, dich zu beobachten, ich begann zu vergleichen. Ich beobachtete: Du siehst mich nicht an, du taxierst mich, du liebst mich nicht, aber die Kosten-Nutzen-Rechnung fällt immer noch positiv aus, jeder meiner Handgriffe ist ein dir selbstverständlicher Handgriff, wenn ich einmal das dreckige Geschirr über Nacht in der Spüle liegen lasse, quittierst du das mit unverhohlenem Unmut, bleibe ich am Sonntag ausnahmsweise bis elf im Bett liegen, drehst du die Musik besonders laut auf (Du hörst doch sonst nie Musik!). Dass ein Tag gegen den anderen ausgetauscht werden könnte, scheint dich überhaupt nicht zu stören. Im Gegenteil: Alles soll berechenbar bleiben, du willst dich ja wohlfühlen in deinen vier Wänden. Die Wiederholung bietet ein Höchstmaß an Sicherheit: die Wiederholung der Wochentage, die Wiederholung der Wochenenden, die Wiederholung der Feste, der Urlaube, der Unterhaltungen, der Partys, der besonderen intimen Events, die wirklich einmal etwas Besonderes gewesen sind, nur eben jetzt nicht mehr. Ich hatte mich von dir in eine Endlosschleife ziehen lassen. Du könntest ebenso gut sagen: Du hast dich von mir in eine Endlosschleife ziehen lassen. Und es stimmt wahrscheinlich. Ich sehe die Löcher in deinen Socken, in deinen ausgeleierten Unterhosen sieht dein Hintern so flach aus, dein Bauch ist nicht mehr nur ein Bauchansatz, Hüftspeck schwabbelt, die Brüste wachsen, das Haar dünner, die Ohrläppchen länger und fleischiger, die Augen kleiner und müder, die Lider wulstiger, die Sprechmelodie flacher, eintönig das Gemüt, blau, braun, beige und grau. Und aufbrausend und egozentrisch und besserwisserisch und empathielos und zynisch und selbstmitleidig. Ich sprach von der Sonnenblume, die sich in unserem Garten gegen die Schnecken behauptet hatte, und du redetest über die Sonnenblumenfelder in Tschechien, die ich mal hätte sehen sollen, wie wichtig es sei, in der Welt herumzukommen und nicht immer bloß zuhause herum zu hocken. Ich sprach von der blau-grünen Keramikschale, die mich immer wieder an meinen Vater denken lasse, und dir fiel dazu die beeindruckende Keramiksammlung irgendeines Museums ein, und die kleine Schale sei ja bloß ein Industrieprodukt ohne besonderen Wert, dein Großvater sei ein Sammler gewesen, der habe neben Keramik auch Gemälde gesammelt, aber am Ende des Krieges alles verloren, unermessliche Werte. Auch so eine deiner Lieblingswiederholungen. Die von mir gestaltete Pressemappe hat eine japanische Investorengruppe überzeugt, es heißt, sie habe letztlich den Ausschlag für ihre Zusage zu dem Millionen-Projekt gegeben (niemand kann das mit Sicherheit sagen), aber du findest, dass man bei Geschäften mit Asiaten vorsichtig sein solle, die kauften alles auf, besonders die Chinesen, die kauften alles auf, und bald gehöre uns in unserem eigenen Land gar nichts mehr, die könnten dann tun und lassen, was sie wollten, das sei ein seit langem bekanntes Mittel, seine Konkurrenten auszuschalten. Ich beobachtete dich, ich beobachtete mich und ich suchte nach den Gründen für mein plötzliches, ausuferndes Unbehagen. Jeder Vormittag, den ich mit Barbara verbrachte, stellte eine kleine Rettung dar. Keiner dieser Tage war wie ein voriger, wir suchten beide gierig nach unerforschtem Terrain, bezwangen die Monster unserer Kindheit, überwanden Stacheldrahtzäune und tanzten über Minenfelder hinweg. Was mich mehr und mehr berauschte, war das Unanständige, Anstößige, Verruchte und Verbotene unseres Tuns. Ich erinnerte mich an die Doktorspiele mit der Tochter einer guten Freundin meiner Mutter, die hin und wieder zu Besuch war. Sie liebte es, mich zu verarzten, mir den Pullover bis zum Kinn hinaufzuschieben, um mein Herz abzuhören, meinen Bauch mit Pflastern zu versehen, meine Handgelenke zu verbinden, mich mit Limonade-Tinkturen zu beträufeln. Einen ganzen Nachmittag lang fesselten wir uns gegenseitig mit Seilen, dann waren wir Gefangene, die gequält und gefoltert, denen die Kleider vom Leib gerissen wurden. Als Kind hatte sich Barbara nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, manchmal ausgezogen, ihre Handgelenke mit ihrer Schlafanzughose umwickelt und Sklavin gespielt. Eine der ungezählten Strafen, die sie sich ausgedacht hatte, bestand darin, dass einer ihrer Wärter ihr ganz tief den Finger in den Po steckte. Davon erzählten wir uns, Vieles erfanden wir neu. Wir gingen spazieren und ließen uns nassregnen, wir kletterten auf Bäume, hockten uns auf einen hohen Ast und pinkelten in die Tiefe. Wir wateten durch einen unheimlichen, tiefschwarzen Tümpel im Wald, wir legten uns hinein und fotografierten uns gegenseitig als Wasserleichen. Wir wiederholten es an einem anderen Tag und ich musste mir Barbaras Hochzeitskleid dafür anziehen. Wir sagten: Man könnte uns für verrückt halten, aber vielleicht sind wir auch einfach nur Künstler. Barbara überraschte mich mit fünfhundert bunten Luftballons, die wir mit einem Kompressor aufbliesen. Wir füllten die Küche der Ferienwohnung damit, zogen uns aus und fotografierten uns in Kitteln und in Tangas aus zerplatzten Ballons. Wir schenkten den Ballons ihre Freiheit auf dem See. Ich ließ mich von Barbara in der Steinhütte am anderen Seeufer fesseln. Sie ließ mich allein auf der Matratze und kehrte mit einem Büschel Brennnesseln zurück, band mich los und zog mich aus. Sie band meine Fußgelenke links und rechts oben an einen Heizkörper, meine Hände auf dem Rücken zusammen, dann strich sie mit den Brennnesseln über meine Brüste. Die Lust war größer als der Schmerz. Wir sprachen über unsere Geburten und zeigten uns die Narben, die sie hinterlassen hatten. Barbara sagte, ich solle mir meine Narben in einem Spiegel ansehen, den verheerenden Dammschnitt. Ich hatte mich da unten zuvor noch nie mit einem Spiegel angesehen, meine eigene Vulva war eine terra incognita gewesen. Wir zeigten uns lustvoll alles, was wir sehen wollten. Wir rochen aneinander und stellten fest, dass wir nicht immer gleich rochen, manchmal dufteten wir, manchmal duftete es aus unserer Vagina. Wir lasen Anais Nins „Delta der Venus“, wir lasen uns die Geschichten gegenseitig vor und amüsierten uns über Nins Unlust, realistische und nachvollziehbare Stories zu entwickeln. Diese sinnlose Aneinanderreihung zusammenhangloser Episoden! Wir stellten die eine oder andere Szene nach und hatten viel zu lachen. Barbara machte Aktzeichnungen von mir, konzentriert wechselte ihr Blick schnell zwischen Blatt und Modell hin und her. Wir sahen uns fast täglich, wir berührten uns fast täglich, ohne ein Liebespaar zu sein. Wollen wir ein wenig spielen? Barbara präsentierte einmal ein neues Sexspielzeug, das wir gemeinsam testeten, einen monströsen Massagestab, der den ganzen Unterleib erbeben ließ. Dann wieder krochen wir nackt durchs Unterholz und stellten uns vor, eine Wildschweinfamilie nähme uns bei sich auf. Spaziergänger entdeckten uns, aber sie waren weit genug entfernt, sie konnten uns nicht erkennen. Ich musste Barbara nackt an einen Baum fesseln, die Rinde der Fichte war rau und scheuerte Barbaras Rücken auf. Ende Mai ließ ich endlich wieder meinen Busch wachsen, Mitte Juni war er fast schön und fast wild. Wir schminkten uns gegenseitig und knutschten, bis wir im ganzen Gesicht bunt waren. Das fotografierten wir. Wir bemalten uns gegenseitig mit Fingerfarben, leckten uns abwechselnd Honig von Beinen und Brüsten und hatten bald auch keine Vorbehalte mehr, uns gegenseitig die Finger in die Vagina zu schieben, denn wir wollten wissen, was es mit der vieldiskutierten weiblichen Ejakulation auf sich hat. Wo genau soll jetzt der ominöse G-Punkt sein? Wir waren wie im Fieber, in einem Nachholfieber. Wie spielende Kinder vergaßen wir alles und alle um uns herum. Deshalb wurden wir auch immer unvorsichtiger. Und der Reiz, entdeckt werden zu können, gehörte sogar mit zum Spiel. Auch wenn ich alleine zuhause war, zog ich mich manches Mal aus und kroch auf allen Vieren durch die Zimmer. Ich setzte mich breitbeinig aufs Sofa und stellte mir vor, wie du am Abend dort sitzen würdest, ohne zu ahnen, dass ich da mit meiner feuchten Muschi einen Abdruck hinterlassen hatte. Dem Postboten öffnete ich die Tür im Morgenmantel, unter dem ich nichts sonst trug. Innerlich redete ich jetzt oft mit neuen Wörtern: Muschi, Klitti, Busch, Loch, Saft, fingern, lecken. Ich schaute mit Barbara Pornos, die ersten in meinem Leben. Barbara hatte sich gleich auf drei verschiedenen kostenpflichtigen Seiten angemeldet. Es scheint, die schönsten und erotischsten Pornos werden von Frauen in den Niederlanden, Australien und Kanada gemacht. Die Filme, die noch inhaltsloser als Anais Nins Texte waren, ermutigten uns, noch mehr auszuprobieren. Unsere Geschichte brachten wir schon selber mit.

Du und ich, wir schliefen in diesen Wochen gar nicht mehr miteinander. Ich fand in dieser Zeit meine Befriedigung woanders. Und du? Ich wusste nicht, wonach du suchtest, und ob überhaupt. Ich hatte immer Angst, dir würde meine geradezu explosionsartige Veränderung auffallen, du würdest etwas bemerken, mich nach etwas fragen, das mich in Erklärungsnot bringen würde. Die Wäscheberge wuchsen, Aufträge stauten sich, ich gab an, längerfristig erkrankt zu sein. Immer häufiger griff ich zu Fertiggerichten. Mein quälendes schlechtes Gewissen, das ich immer noch jedes Mal von Barbara mit nach Hause brachte, mischte sich mit diebischer Freude über mein geheimes Doppelleben und mit Verachtung für dich, weil für dich offensichtlich das Leben einfach unverändert weiterlief. Mir schien sogar, als fühltest du dich entlastet, dass ich nicht mehr so bereitwillig, so zuvorkommend deinem obligatorischen wöchentlichen Liebeswerben folgte, sondern mich entzog. In einer Nacht beobachtete ich dich durchs Schlüsselloch, wie du dich auf dem Klo selbst befriedigtest. Da tatst du mir leid. Nicht weil dein Samen nicht in meine Vagina fließen durfte, sondern weil du es heimlich tun und dich dafür einschließen musstest. Mein Leben und mein Ich fielen in zwei Teile auseinander. Ich wusste nicht, wie ich sie wieder zusammenfügen sollte. Die Lea am Vormittag kannte die am Nachmittag nur noch entfernt. Was der einen Lust und Spiel war, war der anderen Angst und Schuld. Ich wusste, dass es so nicht lange weitergehen konnte.

Als wir uns an jenem Sonntag um deinen vertrockneten Rinderbraten versammelt hatten, kam Maltes Frage für mich wie aus heiterem Himmel. „Wollt ihr euch trennen?“ Die Frage gab mir einen Stich ins Herz. Ich fühlte, wie mein Gesicht zu glühen begann und ich suchte deinen Blick. Aber du schwiegst und sägtest an dem Braten herum ohne eine Miene zu verziehen. Wie kommst du darauf? Ich schüttelte viel zu vehement den Kopf. „Irgendwas ist komisch.“ Wir würden uns niemals trennen, er brauche sich keine Gedanken zu machen, sagte ich in viel zu eindringlichem Ton. Musste er sich wirklich keine Gedanken machen? Tom blickte nur kurz von seinem Teller auf. „Du bist ja ganz rot geworden.“ Es ist alles in Ordnung, die Frage hat mich nur so überrascht. Wie konnte ich die Frage nicht auf mich und mein Verhalten beziehen? Ich war ja wirklich komisch geworden. Dabei bezog sich das Unbehagen der Jungs vielleicht gar nicht allein auf mich und vielmehr auf das unterkühlte Schweigen, das sich zwischen uns beide gelegt hatte. „Liebt ihr euch noch?“ Natürlich lieben wir uns noch, wie kannst du sowas fragen? Ich werde mich doch nicht wegen eines misslungenen Bratens von eurem Vater trennen. Da müssten schon ganz andere Dinge geschehen. Ich versuchte zu lachen. Ihr stimmtet höflich in mein Lachen ein. Was für eine Erlösung! Aber ich wusste nun, dass ich die Reißleine würde ziehen müssen. Für dich, für euch.

Was heißt das, die Reißleine ziehen, fragte Barbara und ihr entglitten die Gesichtszüge. Ich vernachlässige meine Arbeit, ich schiebe alles nur noch auf, ich kümmere mich zu wenig um meine Jungs, ich verliere die Verbindung zu meinem Mann, ich glaube, es geht gerade alles den Bach runter. Ich verliere mich selbst, ich verliere die Kontrolle über mein Leben. Ich hatte Barbara noch nie weinen sehen, auch nicht, als sie vom Tod ihres Sohnes erzählt hatte. Jetzt weinte sie. Die Tränen kullerten ihr über das ausdruckslose Gesicht. Sie wolle mich nicht verlieren, mit mir sei sie zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder glücklich gewesen. Ich könne sie jetzt nicht im Stich lassen. Das wollte ich auch gar nicht. Wir würden ja immer weiter Freundinnen sein, nur müssten wir zu einer gewissen Normalität zurückfinden. Würden wir das nicht ohnehin irgendwann? Uns zum Kaffeekränzchen treffen? Mit Daniela, Agnes, Steffi? Tupperdosen tauschen? Ich wusste nicht, was normal sein konnte. Wir schwiegen lange. „Anna Karenina“, sagte ich dann. Ich wusste nicht, warum mir ausgerechnet Anna Karenina in den Kopf gekommen war. Anna Karenina? Was heißt das, Anna Karenina? Der Roman von Tolstoi. Hab ich nicht gelesen. Anna Karenina ist verheiratet und verliebt sich in einen anderen Mann. Sie bekommt ein Kind von ihm, aber offiziell ist es natürlich das Kind von ihrem Mann. Wenn sie sich von ihm, also Karenin, trennt, bleibt das Kind bei ihm. Ich weiß auch nicht, wie ich auf Anna Karenina gekommen bin. Vielleicht weil sie innerlich so zerrissen ist, wie ich mich jetzt gerade fühle. Weil du mich liebst, fragte Barbara, aber deine Familie nicht verlassen willst? Wer verlangt das von dir? Liebte ich sie denn? Liebte ich sie so, wie ich dich liebe, wie ich die Kinder liebe? Ich kann die Schuld nicht mehr tragen, sagte ich, sie wiegt so schwer, schwerer als alles andere, alles Gute, das ich mit dir teilen durfte. Jetzt flossen auch mir die Tränen aus den Augen. Wir standen auf und wollten uns in die Arme fallen, als Barbaras ältester Sohn früher als erwartet aus der Schule kam. Wir wischten uns die Tränen aus dem Gesicht. Barbara stellte mich ihm kurz vor. Ich entschuldigte mich für meinen Zustand und sagte, ich müsse nun gehen. Barbara folgte mir bis zum Wagen. Gehst du? Für immer? Ich schluchzte und kam mir wie in einem amerikanischen Melodrama vor. Vielleicht, sagte ich. Ich weiß es noch nicht. Zwei Straßen weiter musste ich wieder anhalten. Ich krümmte mich vor Schmerz. Ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen? Eine alte Dame klopfte ans Seitenfenster. Sie sah sehr besorgt aus und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich winkte ab und versuchte, meine Fassung zurückzugewinnen. Aber es gelang nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich dort hinterm Lenkrad saß und in Verzweiflung, Trauer und Selbstmitleid versank? Aber als ich am späten Nachmittag im Garten stand und in die Sonne blinzelte, fühlte ich mich geläutert. Ich betrachtete eine Weile meine Sonnenblume. Wenn sie ganz erblüht wäre, würde ich sie Barbara schenken. Ich würde sie an einem Nachmittag ausgraben, mit ihr zu Barbaras Wochenendhaus fahren und sie mitten auf dem kleinen Rasenstück vorm Eingang einpflanzen. Am Abend schliefen wir miteinander, du und ich. Es war, als würde ich endlich nachhause zurückkehren. Danach zupftest du zufrieden an meinen Schamhaaren, als wolltest du damit sagen, sie wachsen zu sehen hätte dir Angst gemacht, als hätte es Schlimmeres zu bedeuten gehabt, aber diese Angst sei jetzt verflogen. Als Revanche würdest du dir jetzt einen Bart wachsen lassen, sagtest du. Das hätte ich gerne gesehen. Ach, wenn du dir doch nur einen Bart hast wachsen lassen!

Als du am nächsten Morgen das Haus verließt, sprang mir sofort Barbaras Sportwagen ins Auge. Hast du da bereits die Panik in meinen Augen gesehen, die mich sofort erfasste? Auch dir entging das Luxusauto nicht, das noch nie in unserer Straße zu sehen gewesen war. Ist das dein Lover, fragtest du scherzhaft. Ja, sagte ich. Wer war diese Dame, die mit ihrer viel zu großen Sonnenbrille im Auto saß, starr geradeaus blickte und sich krampfhaft mit den Händen am Lenkrad festhielt. Kein Mann, kein Lover. Als seist du doch unsicher geworden, als hätte ich nicht gescherzt, als hättest du voll ins Schwarze getroffen. Ich winkte dir übertrieben zu, als du ins Auto stiegst, schloss die Tür und trieb die Jungs zur Eile an. Sie sollten Barbara nicht begegnen, wenn sie gleich vor der Tür stehen würde. Vom Küchenfenster aus beobachtete ich, wie sie aus dem Auto stieg und dir hinterher sah, wie du in den Kreisel fuhrst und danach abbogst. Hast du sie im Rückspiegel gesehen? Malte hatte noch nicht den Tornister auf dem Rücken, als Barbara vor der Tür stand und klingelte. Tom öffnete die Tür. Barbara begrüßte ihn überschwänglich, sie habe ja schon so viel über ihn gehört, ich sei ja nicht müde geworden zu wiederholen, wie stolz ich auf meine Jungs sei. Sie freue sich, die beiden Prachtkerle endlich kennenzulernen. Sie entblödete sich nicht, auch noch in Maltes Wange zu kneifen. „Du süßer, kleiner Knuddelbär!“ Barbara sah vollkommen verwandelt aus. Sie hatte sich ein omahaftes Chanel-Kostüm angezogen und sich mit teurem Schmuck behängt wie einen Weihnachtsbaum, mit goldenen Armreifen, einer goldenen Armbanduhr, die mit Diamanten besetzt war – oder vielleicht auch nur mit Swarovski-Steinen. An ihren Ohrläppchen hingen schwere Klunker, um ihren Hals eine bunte Kette aus dicken Edelsteinen. Sie war stark geschminkt, hatte sich hinter der Sonnenbrille falsche Wimpern aufgeklebt und sich mit einem penetranten Parfüm eingenebelt. Wer ist das, fragte Malte eingeschüchtert.

„Hat eure Mutter denn noch gar nicht von mir erzählt? Ich bin die Barbara, eine alte Schulfreundin eurer Mutter.“

Ich schob die Kinder hinaus, wünschte ihnen einen guten Tag und warf die Tür hinter ihnen zu.

„Bist du wahnsinnig geworden?“

„Oh, meine Liebe“, sagte sie in schnippischem Ton, „das bin ich allerdings! Willst du mich nicht auf einen Tee hereinbitten?“

„Du bist doch schon drin!“

„Ach, was für ein entzückendes, kleines Häuschen“, begann sie zu schwärmen, als spiele sie Charlies Tante aus Amerika. „Und diese putzigen kleinen Kerle! Sind sie auf dem Weg zur Schule? Brav! Es geht doch nichts über ein heiles Familienleben in einem trauten Heim wie diesem! Sei doch so gütig und lasse mich in den Genuss einer kleinen Führung durch die Gemächer deines kleinen Anwesens kommen!“

Sie ließ ihr Handtäschchen ums Handgelenk kreisen und stolzierte auf hohen Hacken durch den Flur ins Wohnzimmer, wo sie direkt auf die Terrassenfenster zuschritt.

„Und dieser Garten! Ein Traum! Meine Werteste, du musst wirklich ein Händchen für Pflanzen haben!“

Sie wandte sich zu mir um und wollte mit ihrem Spiel einfach nicht aufhören. Ich wusste nicht, ob ich Lust hatte, ihr Spiel mitzuspielen, oder ob ich mich in einen Wutausbruch hineinsteigern wollte. Warum hatte sie es darauf angelegt, mich vor den Kindern derart zu entblößen? War sie gekommen, um Fakten zu schaffen?

„Willst du mich nicht deinem Mann vorstellen?“

Sie blickte links und rechts. „Ich hab ihn doch nicht etwa vertrieben? Nun sei nicht so schüchtern, Kleines! Zeig mir euer Liebesnest, ich kann es gar nicht mehr erwarten!“

Sie schob mich mit der Hand, an deren Fingern drei oder vier der unterschiedlichsten Ringe steckten, zur Seite und stieg zielstrebig die Treppen hinauf.

„Wie geschmackvoll, meine Liebste! Du hättest Innenarchitektin werden sollen!“

Ich folgte ihr. Im Schlafzimmer jauchzte sie erneut auf und ließ sich geradewegs in unser Bett fallen, wo sie breitbeinig liegenblieb, die Luft aus ihren Lungen blies und an die Decke starrte.

„Barbara“, sagte ich, „was soll dieser Auftritt?“

Und ich spürte, wie verletzend der strenge Ton in meiner Stimme für sie sein musste. Sie schüttelte sich, dass das ganze Bett bebte, streifte sich die Pumps von den Füßen, zog sich den Rock über die Hüften und entblößte ihre frisch rasierte Scham.

„Ich hatte mich so sehr auf einen flotten Dreier gefreut. Dein Liebster steht doch auf rasierte Mösen, oder habe ich das falsch in Erinnerung?“

Ich fasste mir an die Stirn und konnte mir das Grinsen nicht verkneifen.

„Barbara, warum hast du nicht warten können, bis ich anrufe?“

„Wie lange hätte ich denn noch warten sollen?“

„Ich weiß nicht. Ein paar Tage. Ich bin noch nicht so weit. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Ich muss erst noch etwas Klarheit gewinnen.“

Barbara wurde ernst, zog sich den Rock wieder hinunter, stand auf und trat vor das Balkonfenster, nahm die Sonnenbrille ab und ließ sie einfach auf den Boden fallen.

„Ich habe dich vermisst“, sagte sie, „ich will einfach nicht, dass es vorbei ist. Ist es vorbei? Sag, dass es vorbei ist, dann gehe ich und du siehst mich nie wieder. Ich könnte mich zum Beispiel vor einen Zug werfen. So wie deine Anna Karenina.“

„Aber du bist doch meine Freundin!“

Ich nahm sie in den Arm.

„Mehr als das“, sagte ich, „etwas ganz Besonderes. Ich will dich nicht aufgeben. Aber ich weiß auch noch nicht, wie ich dich behalten kann.“

Sie löste die Umarmung, um mir in die Augen sehen zu können. Sie fasste meine Hände, klimperte mit den falschen Wimpern, machte einen Schmollmund und ließ sich aufs Bett zurückfallen.

„Ich hab keine Lust mehr auf diese blöde Rolle. Komm her! Jetzt mal ganz im Ernst: Wir müssen uns eine Lösung überlegen, die uns beiden entgegenkommt, findest du nicht?“

Ich setzte mich neben sie aufs Bett.

„Wir könnten einen Vertrag schließen, keinen gewöhnlichen Vertrag, selbstverständlich. Das stünde uns nicht zu Gesicht.“

„Einen Vertrag?“

„Eine Abmachung. Eine erpresserische Abmachung. Einen Knebelvertrag.“

Sie griff nach ihrer Handtasche, die sie auf dem Bett liegengelassen hatte und zog Handschellen hervor. Blitzschnell hatte sie die eine Schelle um mein Handgelenk geschlossen und sofort die andere um ihr eigenes.

„Wir gehören doch gewissermaßen zusammen. Upps! Wo hab ich denn den Schlüssel gelassen?“

Sie schüttete demonstrativ ihre Handtasche aus. Noch mehr Schmuck, ein Schlüsselbund, das schwarze Lippenstiftimitat, Münzen, allerlei Zeug, aber kein Schlüssel für die Handschellen.

„Du Miststück“, sagte ich scherzhaft und boxte sie gegen die Schulter, „wo ist der verdammte Schlüssel?“

„Den hab ich versteckt“, sagte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag, „aber ich kann dir einen kleinen Tipp geben.“

Sie zog erneut ihren Rock hoch, legte sich flach aufs Bett und spreizte ihre Beine.

„Du hast zwei Versuche.“

„Du verdammte Hure!“

Als ich mit meinem Mittelfinger in ihrer Vagina nach dem Schlüssel nestelte, sah ich dich in der Tür stehen. Und den Rest kennst du ja.

„Hör mal, Süßer, sei so gut und bring uns eine Flasche Schampus und zwei Gläser herauf!“ Diesen Satz, den Barbara mit überwältigender Coolness herausbrachte, werde ich mein ganzes Leben nicht mehr vergessen. Und du wohl auch nicht.

Ich kann nicht erwarten, dass du meinen Brief bis hierhin gelesen haben wirst. Wäre ich an deiner Stelle, hätte ich wohl kaum bis zur Hälfte durchgehalten. Ich stelle mir vor, mit wieviel Abscheu du auf das alles blicken musst, um wieviel verletzender dieser Brief im Vergleich mit dem sein muss, was du mitangesehen hast. Ich hätte damals kaum sagen können, das sei nicht, wonach es aussehe, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Jetzt vielleicht schon? Alles, was geschehen ist, habe ich aufgeschrieben. Wie groß die Schuld ist, die ich auf mich geladen habe, vermag ich nicht zu sagen, von Tag zu Tag weniger. Es aufzuschreiben, ist Sühne wie Hoffnung. Wie für mich die Zeit mit Barbara eine Art Desensibilisierungskur war (mir fällt kein besseres Wort dafür ein), erhoffe ich mir, mein Brief könne etwas Ähnliches für dich sein, wie die schmerzende, aber heilsame Wurzelbehandlung an einem entzündeten Zahn. Er ist eine Beichte. Aber du hast sehen können: Er ist eine lustvolle Beichte. Und der Beichte folgt – das ist seit Jahrhunderten ihr Sinn und Zweck – die Absolution. Die erteile ich mir selbst. Wie und ob es mit uns beiden weitergehen wird, entscheidest jetzt erst einmal du. Ich jedenfalls möchte mich dir ein weiteres Mal schenken, als eine Gewandelte, die allerdings immer noch neunundneunzig Prozent ihrer DNA besitzt. Ich sehne mich nach dir mehr denn je. Ich möchte noch so viel mit dir erleben, so viele Abenteuer! Auch das des gemeinsamen Altwerdens. Wenn wir nur gemeinsam den Mut dafür aufbringen! Ich sehe dich den Kopf schütteln. Wir beide? Und was ist mit Barbara? Ich weiß, dass ich sie nicht einfach von mir stoßen kann. Ich habe sie ja liebgewonnen, sie ist so wichtig für mich gewesen. Sie ist meine einzige, richtige Freundin. Und du bist mein Mann. Wenn du es noch sein möchtest. Ich nehme dich auch mit Bart.

Barbara hatte, wie sie mir später schrieb, an dem Abend, bevor sie zu mir kam, ihrem Mann alles von uns erzählt, oder fast alles. Er habe gar nicht bis zum Ende zuhören wollen. Die Scheidung sei für ihn sofort beschlossene Sache gewesen. Er sei nicht einmal sonderlich wütend geworden, sondern habe nur gesagt, er habe genug gehört, es gebe nur eine Konsequenz für ihn. Einige Tage später habe er eingelenkt. Er könne sich auch vorstellen, dass sie sich therapeutische Hilfe hole. Vielleicht könne ja doch noch alles ins Lot kommen. Sie sei nicht verzweifelt, schrieb sie. Sie werde auch nach einer Scheidung ihr Auskommen haben und vielleicht unseren Roman, „Anna Karenina II“, schreiben. Eine Therapie komme für sie nicht im Entferntesten in Betracht. Sie sei doch Künstlerin. Oder etwa nicht? Die Kinder seien groß genug. Sie könne jetzt auch ihre Koffer packen. Sie sei erleichtert, und ja, auch sie benutzte diesen Begriff: Sie sei geläutert.

 

Neben der Werkstatt auf unserem Hof stand vor vielen Jahren ein alter amerikanischer Straßenkreuzer, der meinem Großvater gehört hatte. Die Polster waren aufgerissen, das verbeulte Blech rostig, die Reifen platt und in Fetzen. Immer wieder begaben wir Kinder uns auf große Fahrt darin. An einem schwülen Sommerabend waren wir wieder einmal unterwegs. Da zogen dunkle, schwere Wolken über uns auf. Bis weit zum Horizont wurde der Himmel schwarz. Ein warmer Wind wehte über uns hinweg, als wir aus der Dachluke krochen und uns auf das Dach und die Motorhaube setzten, um das Himmelsspektakel zu betrachten. Bald zuckten überall um uns herum Blitze, es donnerte und grollte. Wir sahen, wie am Horizont ein mächtiger Blitz in die Erde schlug. Die Erde glühte sekundenlang auf. Vielleicht hatte der Blitz eine Überlandleitung getroffen. Die Wolkenmassen schoben und türmten sich über uns ineinander, der Wind frischte auf, wie immer, wenn sich bei Gewitter der Regen ankündigt. Die Bäume rauschten und bogen sich im Wind. Aber nicht ein einziger Regentropfen fiel. Nicht ein einziger. Es ist das schönste und beeindruckendste Gewitter, das ich in meinem ganzen Leben erlebt habe. Dieses Staunen, diese atemlose Freude, diese tiefste Dankbarkeit, leben zu dürfen!

 

In Liebe

Deine Lea