Ich kann jetzt Filme mit mir selber machen. Mit einem erstaunlich kleinen Gerät, das aus drei Komponenten besteht, die ich im Zimmer verteilt habe, konnte ich einen Ganzkörperscan von mir machen, der sofort über die Bluetooth-Verbindung auf meinen Computer übertragen und in die Software importiert wurde, die mein Abbild in die unterschiedlichsten Umgebungen einer virtuellen, aber täuschend echt wirkenden Realität integriert. Allerlei gymnastische Bewegungen habe ich vollführen müssen, damit das Programm meine Bewegungen, die Eigenarten meiner Gestik, das Charakteristische meines Gangs, meiner Mimik kennen lernen konnte. Ungeduldig habe ich die vorgegebenen Texte gesprochen, die helfen sollen, für einen Grundwortschatz die richtigen Betonungen festzulegen, den Klang meiner Stimme. Im erweiterten Modus ist es möglich, mich von dem audiovisuellen Scanner tagelang beobachten und analysieren zu lassen. Dafür werde ich noch weitere Scanner in meiner Wohnung aufstellen müssen. Es werden im engeren Sinne keine Aufzeichnungen gemacht, die sich – wie im traditionellen Film – später wieder abspulen lassen, vielmehr werden abstrakte Algorithmen gebildet, die in gewisser Weise die Essenz meiner Körperlichkeit, meiner materiellen Entäußerung darstellen, die sich später synthetisch in alle nur denkbaren Handlungen überführen lassen, die ich in einem intuitiv bedienbaren Storyboard zusammenstellen kann. Am einfachsten noch ist es, mich in alte existierende Spielfilme zu integrieren: Ich als Humphrey Bogart in “Casablanca“, als Norman Bates in „Psycho“. Der Spaß daran hält aber nicht lange an und ist für meine Freunde vermutlich unterhaltsamer als für mich selbst. Lustiger wird es werden, wenn auch meine Freunde ihre Scans importieren werden. Es wird nicht lange dauern, bis einige von ihnen mit der gleichen Technik ausgestattet sein werden. Auf diese Weise entdeckt man dann sogar die alten deutschsprachigen Kitschklassiker des Films neu, etwa die Filme mit Hans Moser. Das Morphing erlaubt es, die eigene Stimme mit der des legendären Hans Moser zu synthetisieren, denn es wäre nur der halbe Spaß, wenn ich in seiner Rolle nicht auch ein wenig in wienerischer Mundart nuscheln würde, nicht auch ein wenig mehr von gedrungener Statur wäre, ganz nur mit meinen eigenen verhaltenen Gesten und der zurückhaltenden Mimik auf der Leinwand agieren würde. Das Programm verarbeitet alle gängigen DVDs und Blu-rays, ich kann selbstverständlich auch in jedem beliebigen Porno mitspielen. Mit dem Rechner, den ich noch bis vor einigen Wochen besessen habe, wäre das nicht möglich gewesen.
Die größte Herausforderung besteht darin, eigene Filme zu produzieren. In der benutzerfreundlichsten Variante, einer Art Automatikmodus kann ich bereits festgelegte Szenerien und Handlungsschemata anwählen, ein Genre, die Handlungsorte, die zentralen Konflikte. Aus einer Galerie kann ich meine Mitspieler auswählen, gegen etwas höhere Lizenzgebühren sogar einige prominente Schauspieler, die sich schon zu einem frühen Zeitpunkt auf dieses in meinen Augen revolutionäre Projekt eingelassen haben. Diese Figuren sind allerdings softwareseitig mit einigen Beschränkungen versehen, was dann nichts anderes heißt, als dass sie zum Beispiel nicht für Pornosequenzen zur Verfügung stehen. Wenn ich aber zum Beispiel meine Schornsteinfegerin heimlich bei ihren Verrichtungen im Keller scannen würde, könnte ich sie auch mit einer Pornodarstellerin synthetisieren und hätte eine diebische Freude daran zu sehen, wie sie sich in meinem Schlafzimmer entkleidet, ihre feuchte Möse präsentiert und mein Double allerlei unanständige Dinge mit ihr treibt. Die Versuchung ist nicht gering. Ein Verbot des öffentlichen oder heimlichen Scannens von Nichtsahnenden wird sicher nicht lange auf sich warten lassen. Aber es wird passieren. Was aber ist aus rechtlicher Perspektive schon ein Scan, der mit den Mitteln des Morphing im Wesentlichen unkenntlich gemacht wurde? Das ist dann eben nicht mehr die Person, die im wirklichen Leben herumläuft, sie ist eine Fiktion. Das ist nicht mehr unsere Freundin Paula, nicht mehr meine Schornsteinfegerin, sondern ein neues, künstlich erschaffenes Wesen. Im Programm heißen sie sinnigerweise nicht Scans, sondern Samples. Die Samples können jetzt bereits achtfach übereinandergelegt werden, wobei im manuellen Betrieb viel Fingerspitzengefühl dazu gehört, wirklich ansprechende Multisamples zu erzeugen. Hilfreich ist da eine Idealisierungsfunktion, die mit Algorithmen arbeitet, die auf der Analyse dessen beruhen, was ein Großteil der Menschen meines Kulturkreises für schön, attraktiv oder auch hässlich, abstoßend, apart, dämonisch oder durchschnittlich hält. Am schönsten, am aufregendsten sind allerdings doch die rohen, unbearbeiteten Samples. Das ist wie in der Musik. Die künstlichen Klänge der Synthesizer wirken oft schal gegenüber den analogen Instrumenten. Man möchte echte Musiker mit ihren echten Instrumenten hören, kein Auto-Tune der Stimmen. Ich jedenfalls muss gestehen, dass in mir die Gier nach Wirklichkeit überwiegt. Ich brauche keine synthetischen Menschen in meinen Filmen, ideale Schönheiten, schematische Bösewichter. Meine Filme sollen sich in der wirklichen Wirklichkeit abspielen, ganz nah an meiner eigenen Lebenswirklichkeit. Ich will Paula gar nicht anders, als ich sie kenne. Ich will nur etwas mehr von ihr. Ich will vorsichtig einige natürliche Grenzen überschreiten. Das muss ich der Ehrlichkeit halber zugeben.
Ein Beispiel: Ich glaube zwar, dass Marina mich immer noch liebt und der Sex mit ihr ist oft genug noch wirklich aufregend. Aber ich bin auch nicht blöd genug nicht mitzubekommen, welche Blicke sie manchmal mit Rainer tauscht. Es wäre gewiss vermessen zu behaupten, sie habe sich das eine oder andere Mal vorgestellt, wie es wäre, eines Morgens neben Rainer zu erwachen, ein ganz anderes Leben mit ihm zu teilen. Niemals wollte ich, dass es so weit käme. Und sie sicher auch nicht. Aber wäre es nicht interessant, sich diese Geschichte romanhaft, spielfilmhaft einmal auszumalen? Eine zufällige Berührung, als sie beide im Flur stehen, ihr Erschrecken darüber, weil sie diese Berührung als unterdrückte Zärtlichkeit empfinden, der etwas zu lang ausgehaltene, wortlose Blick, die unwillkürliche Wiederholung dieser Berührung als einverständiges Zeichen gegenseitiger Zuneigung? Das furchtsame Glück des ersten heimlichen Treffens, die erste Verabredung in einem schmuddeligen Hotelzimmer. Die unfreiwillige Offenbarung, das quälende Drama, das sich zwischen uns entspinnen würde. Trennung, Alltag, traumatisierte Kinder, Routine des neuen Lebens, Enttäuschung über die zuvor unbemerkten Unzulänglichkeiten des neuen Partners, der verzweifelte Wunsch, wieder in das alte Leben zurückzukehren, während ich selbst, nachdem ich mich aus der tiefsten Verzweiflung herausgewunden habe, bereits ein aufregendes Liebesverhältnis zu Paula unterhalte, die mich begehrt hat, seit wir uns kennengelernt haben, dies jedoch gut zu verheimlichen vermocht hat. Nichts habe ich davon mitbekommen, all die Jahre nicht. Ich bin einfach viel zu sehr auf Marina fixiert gewesen, blind für Paulas leise Zeichen und Blicke. So könnten die Figuren unseres Films stellvertretend für uns die Dramen durchleben, die wir aus guten Gründen in unserem wahren Leben zu vermeiden suchen, vor denen wir uns selbst und unsere Kinder bewahren möchten. Das wäre ebenso befreiend wie lehrreich. Das Ganze wäre sicher nicht folgenlos. Ich bin nicht so naiv anzunehmen, Marina könnte nicht entsetzt sein über das Szenario, in das ich sie und unsere Freunde versetzt hätte. Empört würde sie meine Mutmaßungen über ihre Begehrlichkeiten gegenüber Rainer von sich weisen und nicht minder verletzt sein über meine – rein fiktionalen – Phantasien bezüglich Paula. Aber das Spiel ließe sich ja weitertreiben. Marina könnte sich durchaus daranmachen, eine eigene Version des Dramas zu komponieren, in dem ihre Beziehung zu Rainer als Folge meines Seitensprungs mit Paula erschiene. Und sie würde – da bin ich mir sicher – nach einiger Zeit Gefallen an den Möglichkeiten des Programms entwickeln, an den atemberaubenden Möglichkeiten, das eigene Leben als ein anderes zu entwerfen. „Wozu soll ich das tun?“, würde sie mich anfangs fragen, und ich würde antworten: „Um mehr über dich, über uns zu erfahren, über das Leben.“ Das ist wie mit einem der ersten Filme der Filmgeschichte, der „Einfahrt des Zuges“, da dachten die Menschen im Publikum auch noch, da würde wirklich ein Zug auf sie zurollen. Schon wenige Jahre später hatten sich die Zuschauer an das neue Medium gewöhnt und wussten: Das ist nicht die Wirklichkeit! Das ist Film! Das ist Fiktion!
Man muss sich bei alledem auch über die therapeutischen Dimensionen der neuen Technik Klarheit verschaffen. Welche Möglichkeiten sich beispielsweise für Paartherapien eröffnen werden! Das eigene Verhalten in authentischen Situationen beobachten und analysieren, und dann neue Verhaltensschemata komponieren, mit ihnen lernen und trainieren, neue Wege des Zusammenlebens, der Kommunikation entwerfen. Eine lernende Software könnte typisches Fehlverhalten von Menschen analysieren und beispielhaft mit Hilfe von Algorithmen gelingender Beziehungen konfrontieren. Und und und.
Wenn stimmt, was Rainer behauptet – und ich glaube es ihm gern -, dann werden wir in absehbarer Zeit über Interfaces noch tiefer und umfassender in die fiktiven Welten der Programme eintauchen können, mit unseren Körperempfindungen und Gefühlen, mit unserer ganzen Subjektivität, die ja auch nichts anderes ist als ein Komplex milliardenfach differenzierter und vernetzter Algorithmen. Wir werden auf ungeahnte Weise in bloß virtuelle, fiktionale Welten eintauchen, in denen uns weiß Gott was widerfahren kann, folgenlos für Leib und Seele. Ja, vielleicht wird unser Traum von einem ewigen, paradiesischen Leben nach dem Tod mit Hilfe einer ins Unermessliche gesteigerten Digitalisierung doch noch Wirklichkeit werden. Das ist Science-Fiction, ich weiß. Aber der erste Schritt in diese Richtung ist getan. Auch Marina wird das noch begreifen.