Wenn am Morgen hinterm gegenüberliegenden Wohnblock die Sonne in den strahlend blauen Himmel steigt, ein leichter Wind durch die Straße weht und das junge, hellgrüne Lindenlaub durchrauscht, kaum ein Auto zu hören ist, dafür vorwitzige Amselherren, Finken und Meisen, öffnen wir alle Fenster und gratulieren uns, dass wir eine doppelflügelige Balkontür haben, wenn auch der Balkon selbst klein ist. Dann sitzen wir an unserem schweren Bistrotischchen und surfen durch die Nachrichtenportale. Der Kontrast könnte größer kaum sein: Die Buche im gegenüberliegenden Hinterhof, einem üppig grünenden Gärtlein, das wir gern an Sommerabenden mit Freunden genießen, ragt bereits weit über den Dachfirst hinaus und schaukelt friedlich rauschend vor den mittlerweile heranwehenden Wolkenflocken, während düstere Bilder auf unseren Smartphones brennende Autos und flammenlodernde Supermärkte in den Staaten zeigen. Und einen Staatenlenker, der mit arroganter Fresse mit Gewehrsalven der Nationalgarde droht. Als sei dies die herbeigesehnte Gelegenheit, das demokratische System zu stürzen, indem die glühende Wut noch angefacht wird, bis sie als Bürgerkrieg oder terroristischer Angriff der Exekutive die Legitimation verleiht, durch Notstandsgesetze alle Bürgerrechte zu liquidieren. Soll Trump die unverhohlen geäußerten Ziele des Steve Bannon doch noch verwirklichen? Wohin nur mit unserem Vertrauen in die Vernunft, die Freundlichkeit und das Wohlwollen der Menschen, wenn den neuen Barbaren in der Politik und den Populisten der radikalen Ränder immer mehr hasserfülltes Gefolge zuwächst?
Wir blicken uns an und finden keine Worte. Im Kopf rotieren die Gedanken, aber sie finden keine Anker – oder zu viele, sie sind wie Widerhaken, die aus den Tentakeln der Medusa hervorsprengen, sobald man sie berührt, stechend, brennend und lähmend. Aleksander stottert etwas Unverständliches und verstummt mitten im Satz. Mein eigenes Gestammel rasselt laut von vielen Klischees, die mich unerbittlich mit meiner Ohnmacht konfrontieren: unglaublich, nicht zu fassen, wie können die nur, sind die noch ganz bei Trost? Warum gießt der auch noch Öl ins Feuer? Und warum applaudieren ihm die rechten Arschlöcher auch noch? Bemerken die nicht, was gerade auf dem Spiel steht?
Und dann bricht es aus Aleksander wieder einmal heraus: „Die sollten einfach alle mehr ficken! Am besten dreimal täglich oder sooft die Benediktsregel das Gebet vorschreibt, Vigil, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Jeder mit jedem, der ihm gerade in den Kram passt. Wie kann es sein, dass sich die Menschen gegenseitig hemmungslos nach dem Leben, der Gesundheit und dem Eigentum trachten, sich entblöden, öffentlich ihren Menschen-, Rassen- und Randgruppenhass zu kultivieren – aber alles, was mit Lust, Berührung, Zärtlichkeit, Liebe zu tun hat, den geilsten Dingen, die Menschen überhaupt miteinander machen können, tabuisieren, verurteilen, untersagen? Sollen doch alle miteinander vögeln, statt sich gegenseitig umzubringen!“

Ich frage mich manches Mal, wie Al es fertigbringt, in allem einen Anlass zu finden, über die Befreiung seiner unterdrückten männlichen Sexualität zu schwadronieren. Diesmal finde ich die Volte besonders geschmacklos. Ficken für Frieden, group sex for global sanity. Trotzdem: Wir haben seit einiger Zeit die Verabredung, alles, was dem anderen gerade einfällt (und sich zu sagen traut), ernst zu nehmen und gegebenenfalls einer genauen und rücksichtslosen Überprüfung zu unterziehen. In diesem Fall: Was würde es bedeuten, wenn eine kritische Masse von Menschen Aleksanders Rat befolgen würde? Wie überhaupt würde die dafür nötige Herde diskursiv zusammengetrieben werden können?
Ausnahmsweise tue ich Aleksander den Gefallen, mich selbst in den Mittelpunkt eines konkreten Beispiels zu stellen. Er findet, dass ich viel zu selten mit eigenen erotischen Fantasien befasst bin, er schätzt das diesbezügliche Gefälle zwischen uns als eklatant ein und lässt kaum Gelegenheiten aus, mir mit Anspielungen, wie zufällig auf dem Wohnzimmertisch platzierter, einschlägiger Lektüre oder Desktopverknüpfungen auf unserem gemeinsam genutzten PC, die auf pikante Sammlungen von Bildern und Videos verweisen, Anlässe zu erotischen Tagträumen zu bieten. Möglich, dass er es als besondere Form von Grausamkeit empfindet, wie hartnäckig ich diese stummen Impulse ignoriere. „Das ist dein Ding“, sage ich ihm, „es gibt mir nichts, deine Obsessionen zu teilen.“ Es ist nicht so, dass ich von ihnen nicht profitiere, aber wir müssen nicht unbedingt denselben Garten bestellen. In seinem Garten wächst mir einfach zu viel Unkraut. Und wer zu viel düngt, sieht sich bald einem hypertrophen Wachstum gegenüber, das nicht mehr schön ist und den Gärtner geistig und körperlich überfordert. Spricht man nicht auch von geilen Trieben, die keine Früchte tragen? Heute jedoch will ich mich einmal als Pflänzchen in seinen Garten der Lüste begeben und bunte Blüten treiben.
„Was du sagst, Al, finde ich bei genauerem Nachdenken überzeugend. Ich bin über mich selbst überrascht. Es gibt tatsächlich ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Akzeptanz von Gewalt unter Menschen, von Krieg als Mittel der Politik, von Bestrafung, Rache und Freiheitsberaubung auf der einen Seite und Sex auf der anderen.“
„Nicht wahr?“
„Wenn ein Staat Rassismus und Polizeigewalt gegen Minderheiten zulässt und Demonstranten sich berechtigt fühlen, Polizeistationen mitsamt ihren Insassen anzuzünden, wenn die Menschen massenweise Filme und Serien streamen können, in denen alle fünf Minuten irgendwelche Leute massakriert werden, aber Pornographisches als entwürdigend und unmoralisch zensiert wird, dann stimmt irgendwas Entscheidendes nicht. Mea Culpa! Den blutigen Thriller, den wir uns gestern Abend angeschaut haben, habe ich tatsächlich genossen, bei Mitchells Shortbus oder Noés Love war mir dann doch zu blümerant, als dass ich die Filme wirklich hätte genießen können. Peinlich berührt nehme ich innerlich Distanz und mir fallen sofort all die Lächerlichkeiten auf, die ich beinahe jedem noch so schlecht gemachten Thriller nachsehe.“
„Hört, hört! Wird die Saula jetzt doch noch zur Paula?“
Aleksanders Scherze waren schon besser. Folgendes Szenario: Der Gemüsehändler unten in der Straße hat neulich einen erbitterten Streit mit einem Typen gehabt, der seinen Lieferwagen in der Hofeinfahrt geparkt hat, um irgendwas auszuladen und danach im Café gegenüber noch sein zweites Frühstück einzunehmen. Seit ein paar Wochen liefert Ricardo sein Gemüse auch an Privatkunden aus und der Corona-Bote kam wegen des widerrechtlich geparkten Lieferwagens eine halbe Stunde lang nicht aus dem Hof raus. Als der Typ wieder in seinen Lieferwagen steigen wollte, wäre Ricardo beinahe handgreiflich geworden, er fluchte, bis dem anderen, der sich anscheinend in seiner Ehre verletzt sah, der Kragen platzte und damit drohte, Ricardo abzustechen. Ich kam zufällig vorbei, als der Streit eskalierte. Zum Glück kam es nicht zum Schlimmsten. Dennoch hätte ich den Streit schnell schlichten können, wenn ich den beiden Streithähnen einen spontanen Dreier zwischen den Kartons des Lieferwagens vorgeschlagen hätte. „Entspricht das ungefähr deinen Vorstellungen von einer Deeskalationsstrategie, Al? Jedenfalls könnte ich es mir sehr aufregend vorstellen, mit Sex in anderen Menschen das Gute hervorzulocken und meinen Beitrag zum Frieden zu leisten.“
„Du machst dich über mich lustig.“
„Keineswegs, ich nehme dich ernst, dich und das, was du sagst. Wenn du das ehrlich meinst, müsste es auch mir möglich sein, Streit und Gewalt lustvoll in ihr Gegenteil zu verkehren, in Liebe, Zärtlichkeit und Orgasmen. In meinem Beispiel wäre ich sogar gleich zweimal auf meine Kosten gekommen.“
„Mit einem schmierigen Gemüsehändler.“
„Du müsstest ihn mit meinen liebenden und begehrenden Augen sehen. Sollten wir nicht beide bereit sein, um des lieben Friedens Willen sogar Donald Trump einen zu blasen?“
„Würde dir das denn Spaß machen? Ich finde, Sex sollte nicht als Opfergabe betrachtet werden. Dir geht nicht wirklich einer ab, wenn du daran denkst, dem narzisstischen Fettwanst den Schwanz zu lutschen. Oder habe ich mich in dir getäuscht und du hast gerade dein Coming-out?“
„Klar finde ich die Vorstellung eklig. Der ganze Mann ist eklig. Das liegt möglicherweise an diesem Tabu in meinem Kopf, dass ich es als entwürdigend empfinde, einem fremden Mann den Schwanz zu lutschen. Selbst wenn er ihn vorher gewaschen haben sollte. Wenn wir uns deiner Utopie nähern wollen, müssen wir vermutlich hart trainieren, mühsam und entschlossen an uns arbeiten und alle Vorbehalte, Vorurteile und Vorhautphobien ablegen. Sind nicht alle Menschen schön? Ihre Schwänze, Vulven, Titten und Ärsche. Sind nicht alle Menschen wert, geliebt – und sexuell befriedigt zu werden? Oder würdest du da Unterschiede machen wollen?“
Aleksander gibt sich vorerst geschlagen, er schweigt eine Weile nachdenklich, hebt dann den Zeigefinger, sagt: „Gib mir eine Viertelstunde“ und zieht sich im Morgenmantel ins Bad zurück.

Für jede gute und die Gesellschaft verändernde Idee braucht es – ein Bewegung. Einen Kick-down-Start. Und eine Anführer*in. Eine Charismatiker*in. So wie Greta Thunberg. Oder Martin Luther King. Anders liegt die Sache bei Tarana Burke. Warum ausgerechnet ihr Hashtag #MeToo eine derartige Wirkung entfalten konnte, bleibt unerklärlich. Eine Anführerin dieser Bewegung ist sie mit Gewissheit nicht, so engagiert sie sich auch gegen sexuelle Gewalt gewandt haben mag. Viral wurde der Hashtag erst mit Alyssa Jayne Milano. Me-Too ist trotz der wichtigen Initiatorinnen vor allem ein Phänomen, bei dem gesellschaftliche Wirklichkeit auf unberechenbare Schwarmintelligenz traf. Und wie unberechenbar und irrational Schwarmintelligenz sein kann, können wir an den positiven wie negativen Folgen von Me-Too sehen. Sexuelle Gewalt gegen Frauen, auch sexualisierte Gewalt, werden zunehmend tabuisiert; aber nicht minder beinahe jede Form des Flirts und spontaner Zärtlichkeiten, sofern sie von Männern ausgehen (Ach ja: ungehemmt flirtende und die Körpergrenzen übertretende Frauen sind nach wie vor Schlampen!). Dass auch mir sexuelle Anspielungen von Männern, mit denen ich nicht verheiratet bin, eher Angst machen als Lust, ist ein Zeichen für die Schieflage der Geschlechter. Ich könnte das Kompliment für meine Figur oder meine Brüste (in meinem Alter!) durchaus genießen, wenn ich nicht befürchten müsste, diesen sichtbaren Genuss mit einem ungewollten, brutalen oder auch nur lächerlichen und halbherzigen Übergriff büßen zu müssen. Darum gerät das erotisch gemeinte Kompliment zunehmend in die Tabuzone, in der Asservatenkammer gleich neben historischen Masturbationsverboten und den Strafen für vorehelichen Geschlechtsverkehr. Hach, Masturbation ist ja nun wieder erlaubt, sogar geboten! Am besten täglich, der Gesundheit wegen. Aber das macht man/frau ja auch nur mit sich allein. Das scheint überhaupt der ungefährlichste und ideologisch unbedenklichste Sex zu sein, der mit sich selbst.
Die Me-Too-Bewegung oder auch Fridays-for-Future zeigen, wie wichtig (und unvorhersehbar) der richtige Moment für eine weltumspannende Bewegung ist. Im Jahr 1980 wären die Akteure ausgelacht worden, wahrscheinlich auch noch im Jahr 2000. Es kommt vielleicht sogar auf Monate und Tage an, auf die Kumulation von Ereignissen, auf die Hautes der Diskurse. Wann der richtige Moment für einen neuen Diskurs ist, wissen nur die Diskurse selbst. Und wenn dann eine Bewegung durch die Decke geht, weiß kein Mensch, welche Richtung sie langfristig nehmen und in welchem Maße sie irrlichtern wird, denn kein Mensch kann sie steuern. Wer ein diskursives Geschoss abzufeuern gedenkt, sollte gewieft genug sein, es mit einem Kreiselkompass auszustatten, damit es seine Richtung halbwegs beibehält. Die meisten enden ohnehin als Rohrkrepierer. Wie zum Beispiel die 2003 gegründete Bewegung „Fuck for Forest“, die ihre Umweltschutzprojekte mit ökologisch wertvollen Pornos finanziert. Sehr lustvoll, haarig und naturnah (meine Vagina hat noch keine Mohrrübe gesehen), aber weitgehend wirkungslos. Falscher Zeitpunkt, immer noch sehr verbreitete Vorbehalte gegen tätowierte Körper, tabuisierte Pornographie? Alles möglich. Aber irgendwie muss doch auch absehbar gewesen sein, dass „Fuck for Forest“ kein durchschlagender Erfolg beschieden sein würde.
Nun stelle ich mir Aleksander Pjotr Nekrasov als Anführer einer neuen Friedensbewegung vor. Sein Leitspruch respektive Hashtag: #FuckForPeace. Bei Facebook gibt es eine Gruppe gleichen Namens. 83 Personen haben das abonniert und der letzte Eintrag stammt aus dem Jahr 2014. Instagram weist immerhin 413 Beiträge aus. Al, dein Vorschlag kommt zur Unzeit! Oder auch gerade recht! Denn ein Hashtag ohne nennenswerte Beiträge hat Zukunft und ist noch nicht „ausgelutscht“. #FickenfürFrieden deprimiert mit ganzen 3 Beiträgen noch viel mehr. Entweder die Diskurse halten derzeit nicht viel vom Ficken, oder Aleksander hat gerade eine echte Marktlücke entdeckt, eine Lücke im Diskursmarkt. Marketingtechnisch würde Al allerdings mit #psilocybinforpeace besser liegen – schon wegen der Alliteration.
Der #blackouttuesday verzeichnet heute bald 20 Millionen Beiträge mit lauter schwarzen Quadraten, ich wette auf insgesamt 30 Millionen. Aber morgen ist Mittwoch. Und die black Postenden posten bald munter weiter bunte Bilder. Es bleibt abzuwarten, was der Hype für die Rechte der Schwarzen bringt. Vielleicht hat das von wem auch immer gefakte, aber eindrückliche, komplett schwarze #newyorktimescover die Chance, in die Mediengeschichte einzugehen. Für Aleksanders #worldwideorgyday (0 Beiträge bei Instagram, vielversprechender Kandidat unter den Pennystocks der Hashtagwolke) müssten die Titelblattgestalter der großen Tageszeitungen in ganz anderer Weise kreativ werden. Aber vermutlich würde die Sexspielzeugindustrie das Hashtag in kürzester Zeit gekapert haben.

„Okay“, sagt Aleksander, als er nach einer halben Stunde wieder auf dem Balkon erscheint, „ich versuche dein Beispiel ernst zu nehmen. Auch wenn du das nicht ernst gemeint haben kannst. Ich gebe zu, dass mir deine sexuelle Intervention arg zugesetzt hätte, wenn sie denn tatsächlich stattgefunden hätte. Ich bin zweifellos ein Kind meiner Zeit und meiner Kultur. Meine Eifersucht würde mich in so einem Fall sicher in eine tiefe Depression, in bodenlose Eifersucht und Wut versetzen, alles auf einmal. Ich würde Trennungsängste kultivieren, die Angst verlassen zu werden und die Angst, dich bestrafen zu müssen, indem ich dich verlasse. Dabei gäbe es überhaupt keinen Grund für eine Trennung. Ich müsste mich mit meinen falschen Besitzansprüchen auseinandersetzen, müsste lernen dich freizulassen. Immerhin geht es um deine Lust, deinen Körper, deine Gefühle. Ich habe noch einmal nachgelesen: Das Hormon Oxytocin, das beim Beischlaf freigesetzt wird, macht Menschen tatsächlich friedlicher. Und wenn das zwischen Paaren in einer festen Beziehung funktioniert, müsste es auch bei unverbindlichem Sex mit anderen funktionieren. Stelle ich mir jedenfalls vor.“
„Wäre da nicht die kulturelle Prägung, die uns ausgerechnet aggressiver macht, wenn wir erfahren, dass der Partner oder die Partnerin fremdgegangen ist. Die meisten Femizide gehen wahrscheinlich auf das Konto der Eifersucht und patriarchalen Besitzdenkens. Apropos unverbindlicher Sex – ist das wirklich deine Intention?“
„Wieso patriarchal? Du würdest doch auch ausflippen, wenn ich mit Renate schlafen würde, weil sie meinen Streit mit Ricardo schlichten wollte.“
„Weil es das patriarchale Denken ist, das uns Frauen eingeimpft wurde? Ich könnte mir denken, dass Frauen viel unbekümmerter mit promiskuitivem Sex umgehen würden, wenn der einen ähnlich hohen gesellschaftlichen Stellenwert hätte wie beispielsweise die private Altersvorsorge. Und wenn es dann auch guter Sex wäre, einer, der uns Frauen wirklich gefällt. Wahrscheinlich müsste dafür frauenfreundlicher Sex erst noch für ein paar Jahrzehnte Schulfach in der Oberstufe werden. Obwohl, die Schule würde einem wahrscheinlich den ganzen Spaß im Vorhinein vermasseln. Die Schule sorgt ja auch konsequent dafür, dass den jungen Menschen die Freude an der Literatur ausgetrieben wird. Oder an der Mathematik.“
„Das könnten die Medien viel besser.“
„Meinst du. Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Die Sexualerziehung durch Pornos treibt die widerlichsten Blüten. Und fördert vor allem männliche Fantasien zutage, denen sich Frauen auf die idiotischste Weise anzupassen versuchen. Deine world wide orgy wäre im Übrigen wie Weihnachten für Vergewaltiger und Kinderficker.“
„Man müsste eine Enklave für modernen, frauenfreundlichen Sex gründen, eine Keimzelle des sexuellen Fortschritts.“
„Eine Kommune? Einen Swingerclub? Reicht es nicht, wenn wir selbst, wir zwei beiden so eine Keimzelle werden?“

„Da siehst du’s, du ziehst dich letztlich doch immer wieder auf einen konservativen Standpunkt zurück. Was bringt eine Zweierbeziehung, ein Paar-Zelle für den Rest der Welt? Die da draußen bekommen davon doch gar nichts mit. Außerdem: wieso eigentlich werden? Sind wir’s denn nicht schon?“
Ich wiege mal provokativ den Kopf hin und her. Den Meisterbrief hält Pjotr wahrlich noch nicht in Händen. Umso aufregender, was es für ihn noch alles zu lernen gibt! „Al, dir geht es doch gar nicht um den Frieden in der Welt. Sei ehrlich, es geht dir um deine eigene Befriedigung. Wenn Renate nur deshalb mit dir schlafen würde, weil sie einen Streit schlichten will, wärst du in deiner Ehre gekränkt. Du würdest sie verachten, weil der Sex mit dir für sie nur Mittel zum Zweck wäre. Für guten Sex braucht es die gegenseitige Anziehung – und meistens eine gute Beziehung. Es gibt für Frauen kaum etwas Unbefriedigenderes als den One-Night-Stand. Beim Ficken für den Frieden würde der Orgasm Gap zugunsten der Männer fröhliche Urstände feiern. Warum sollten die Männer weiter abspritzen dürfen, während wir Frauen voller Mitgefühl für die armen, notgeilen Männer unsere Orgasmen weiterhin faken? Ficken für den Frieden? Vielleicht sollten die Männer erst mal unter sich damit beginnen, denn gerade zwischen ihnen liegt es doch seit Jahrtausenden im Argen. Wenn Männer mit Männern Sex haben, werden doch wohl auch die berühmten Bindungshormone ausgeschüttet. Es hätte überhaupt keinen Effekt, wenn ich Donald Trump einen blasen würde. Joe Biden müsste es tun. Und Trump müsste seinen Arsch für Bidens Schwanz mit Vaseline präparieren. Die Frage ist nur, ob die beiden überhaupt noch einen hoch kriegen würden. Wenn nicht, sollten sie aus dem Politikbetrieb ausscheiden. Überhaupt: Bei hochoffiziellen Staatsempfängen sollte es Sitte werden, dass die Staatenlenker zuallererst den öffentlichen Beischlaf zelebrieren. Das wäre ein Anfang! Putin liebt Trump, Trump liebt Kim Jong Un, Xi Jinping liebt Putin. Al, ich glaube, wir brauchen eine homosexuelle Revolution. Wenn alle Männer miteinander ficken würden, hätten wir ganz sicher eine friedlichere Welt.“
„Ausschließlich? Nur Männer untereinander?“
„Ach, warum ausschließlich? Aber für den Frieden solltet ihr Männer alles tun, was in eurer Macht steht.“
Die Sonne beginnt zu brennen. Unten stapelt Ricardo gerade Bananenkisten übereinander. Wir winken ihm zu. Vielleicht wird doch noch alles gut.