Freundschaftsdienste

Ich habe keine Freunde – außer Nina. Nina würde sagen: Klar haben wir Freunde, eine ganze Menge sogar. In unregelmäßigen Abständen treffen wir uns, reden, erzählen von vergangenen Ereignissen, essen und trinken gemeinsam, umarmen uns beim Abschied. Das machen Freunde so. Sie gehen auch gemeinsam ins Kino oder ins Theater. Sie laden sich gegenseitig zu den Geburtstagspartys ein und halten für Höflichkeit, sogar für einen Freundschaftsdienst, kein Wort darüber zu verlieren, wie öde und oberflächlich die sich in wenigen Variationen wiederholenden Gespräche geworden sind. Es ist aber besser, diese belanglosen – und dennoch emotional mächtig aufgepoppten – Gespräche fünf oder sechs Stunden lang zu ertragen, als keine Freunde zu haben. Und weil ich maßlos hohe und wohl auch extravagante Ansprüche an Freundschaften habe, muss ich sagen, es sind keine richtigen Freunde, es sind enge soziale Kontakte. Denn die sind nötig für eine ausgeglichene Psyche. Trotzdem fühle ich mich – zumal in größeren Gruppen – wie Robinson auf der Insel am Donnerstag. Nina würde übrigens sagen, ich sei gefühlskalt, wenn ich unsere Freunde als bloße „soziale Kontakte“ bezeichne.

Ein echter Freund ist ein Spielkamerad. Die Menschen in unserem Freundeskreis sind eher keine Spieler. Vielleicht wären sie es gern. Ich weiß es nicht. Ich muss erklären, was ich meine, wenn ich sage, ich sei ein Spieler. Es geht nicht um Glücksspiele, Poker, Roulette und dergleichen, sondern um Spiele, die glücklich machen, Gedankenspiele nämlich, die allein zu spielen keinen Spaß machen und dann nur bedingt glücklich machen. Ich habe Fantasie im Übermaß. Die reizt dazu sie weidlich auszukosten. Wie wunderbar, auf Menschen zu treffen, die bereit sind, kleine Absurditäten, die jemand äußert, sofort aufzugreifen und ohne relativierende Fußnote fortzuspinnen:

„Ich frage mich, ob Putin in letzter Zeit überhaupt noch Sex hat. Und wenn ja, mit wem?“ – „Schau dir seine rechte Hand an, schlaff, komplett überanstrengt.“ – „Manchmal stelle ich mir vor, wie Putin abends zu Bett geht, und frage mich, wie es ihm gelingt einzuschlafen und wie es ist, am nächsten Morgen aufzuwachen.“ – „Im ersten Moment siehst du die Sonne durchs Fenster blinzeln und denkst, was für ein wundervoller Morgen. Du könntest im Oktoberdunst durchs feuchte Gras einer Apfelplantage schlendern und von deiner ersten Liebe träumen, die ebenfalls an einem sonnigen Oktobertag begonnen hat. Aber dann kommt der jähe Elektroschock: Herz, Kopf, rote Ohren. Oh Scheiße, ich Zauberlehrling hab ja ‘nen Krieg angefangen, da muss ich mich auch heute ums Töten und Zerstören kümmern. Wie peinlich!“ – „Und zur Ablenkung holt er sich erst mal einen runter.“ – „Und schaut dabei einen Porno auf einem riesigen Bildschirm auf der gegenüberliegenden, zehn Meter entfernten Wand.“ – „Milf.“ – „Gay?“ – „Nee, kein Porno, eher Pinocchio, Heidi oder Biene Maja, so eine regressive Phase vor dem Eisbaden und dem Eiweißfrühstück. Pornos nur abends vorm Einschlafen.“

Nina ist ein prima Spielkamerad. Oft, manchmal nicht. Manchmal lange nicht, wenn sie Stress hat. Gerade hat sie Stress, beruflich. Jede meiner auffälligen oder unauffälligen Aufforderungen zum Spiel quittiert sie mit Augenrollen oder indirekten Vorwürfen. Dann offenbaren sich die beiden unterschiedlichen Identitätsphilosophien. Ja, ich hänge das mal ganz hoch auf und spreche von Philosophie, hake das aber möglichst schnell ab: Woraus auch immer Persönlichkeit und Identität eines Menschen resultieren, ob Genetik, oder sozialer Prägung, oder beidem, irgendwann ist die Kirschtorte fertig und kann kein Apfelkuchen mehr werden, dann bin ich dieser eine unverwechselbare Mensch, der nicht mehr aus seiner Haut herauskann. Was verbal oder nonverbal aus ihm herauskommt, ist Reflex seines Innenlebens, dem er qua Identität hilflos ausgeliefert ist. Jede seiner Äußerungen ist prinzipiell interpretierbar und auf seine relativ statische Persönlichkeit zurückzuführen. Mit anderen Worten: Alles, was der sagt oder tut, sollte man ernst nehmen und als Puzzleteil einer rekonstruierbaren Persönlichkeit betrachten, die kaum etwas anderes im Sinn hat, als andere zu manipulieren, in die Irre zu führen, ihr wahres Ich zu verschleiern, um ihre egoistischen Ziele zu erreichen. Erkenne deinen Mitmenschen, er könnte dir feindlich gesonnen sein! Obacht! Tadle rechtzeitig, bring deine eigenen Interessen und Ziele in Stellung! Erweise dich selbst als moralisch gefestigte Persönlichkeit! Das wäre die eine philosophische Position. Es ist – trotz gelegentlicher Spielfreude – auch Ninas Position. Die zweite unterscheidet sich nur marginal von der ersten: Der Apfelkuchen wird nicht mehr zur Kirschtorte, aber die Äußerungen des Apfelkuchens können – um im Bild zu bleiben – durchaus die Form von Kirschen und Buttercreme annehmen, sogar von Bratwurst und Wirsing. Die Äußerungen eines Menschen, also seine Worte geben nicht notwendigerweise irgendwelche für die Interaktion zurechtgemachte oder absichtlich gefälschte Kostproben seines wahren inneren Wesens preis, im Gegenteil sind sie Reflex des gesamtgesellschaftlich Denkbaren, Sagbaren und physisch Realisierbaren. Denn alles das sammelt sich in meinem Kopf als potenziell Mögliches. Ich habe nicht mich selbst im Kopf, sondern die Welt, die schöne, bezaubernde, beglückende, himmlische, aber auch eklige, abscheuliche, ungerechte, grausame, mörderische, teuflische Welt. Das ist ein riesiger Krimskrams-Laden in meinem Kopf. Und weil ich das alles nicht sein kann, ist es gedankliches Spielzeug. Wenn ich mir eine Geschichte ausdenke, in der ein putziger Hamster bei lebendigem Leib gefesselt, gehäutet, mit einem Kugelschreiber penetriert und anschließend aufgeschlitzt wird, kann daraus kein Hinweis auf meine Persönlichkeit gelesen werden, sondern nur einer auf das grundsätzlich Menschenmögliche. Überall, wo erwartet wird, ich müsse mich sogleich moralisch von dieser Hamsterfantasie distanzieren, das sei ja wohl das Mindeste, vermute ich das Kongruenzmodell der Identität, das davon ausgeht, dass die Worte eines Menschen Ausdruck und Teil seiner Identität sind, in meinem Fall: Sadist und potenzieller Tierquäler. Vertreter dieses Identitätsmodells hüten das Bild, das andere von ihrer Persönlichkeit entwickeln können, wie ihren Augapfel. Das ist selbstverständlich nicht möglich, aber sie versuchen zumindest, weitgehende Kontrolle darüber zu halten, was die anderen über sie denken könnten. Sie unterstellen, dass es alle so machen, außer vielleicht Schwachsinnige und empathielose Narzissten. Wenn ich also sagen würde, mich würde es interessieren, wie aufregend es wäre, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, würde Nina darin eine unanständige und sogar verletzende Aufforderung sehen und vermuten, ich könne unsere traute und ausschließliche Eheburg schleifen wollen. Was gar nicht meine Absicht ist, obwohl ich die Vorstellung, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, wirklich aufregend finde, was offenbar ein Hinweis auf mein Persönlichkeitsprofil zulässt, dass ich nämlich solche Fantasien mag und das irgendeinen (möglicherweise pathologischen) Grund haben muss. Weil Nina nicht mag, dass ich solche Fantasien habe oder zumindest ausspreche, sage ich nichts. Denn ich weiß, dass sie glaubt, ich würde sagen, was ich wünsche. Wenn sie auf meine Beste-Freundin-Fantasie produktiv antworten würde („Ich glaube nicht, dass ich dich dabei zusehen lassen würde“, oder „Also ich würde mir den Anblick ersparen wollen, wie du Rainer den Schwanz lutschst.“), müsste sie befürchten, ich würde ihre Äußerung als indirekte Zustimmung zu dem Plan, unsere ehelichen Bande zu lockern, auffassen.

Das ist ein Dilemma. Nina hat ihre Gedankenpolizei stark verinnerlicht, schon wegen ihrer katholischen Erziehung, da dringt kaum ein vermeintlich anstößiger Gedanke vorbei ins Bewusstsein. Glaube ich jedenfalls. Sie weiß nicht einmal was von der Polizeistation mit angeschlossenem Geheimdienst in ihrem Kopf. Ich dagegen liefere mir tagtäglich kafkaeske Scharmützel mit meinen internen Vorgesetzten. Weil die verhindern möchten, dass Nina oder unsere gemeinsamen sozialen Kontakte mich mit meinen Gedanken identifizieren, die ja gar nicht meine persönlichen Gedanken sind, sondern im besten Sinne allgemeine. Das Dilemma ist noch vielschichtiger: Wenn ich einen Gedanken äußere, der prinzipiell (mit Blick aufs grundsätzlich Menschliche) wünschenswert ist, obwohl religiös oder kulturell tabuisiert oder aus Tradition geächtet, besitzt er doch auch einen verlockenden Möglichkeitswert. Wenn ich sage, ich stellte mir Ninas Zunge an Henrikes Vulva aufregend vor, ist das zwar keine Aufforderung, sich das als Wochenendprojekt vorzunehmen, aber es ist doch eine Aufforderung mit diesem Gedanken zu SPIELEN, denn schon der Gedanke könnte auch für Nina aufregend, um nicht zu sagen erregend, sein. Und mit Gedanken zu spielen, bedeutet, neue Möglichkeiten zu bedenken und schließlich auch zu erproben. (Kommentar von Nina: „Siehst du, wenn du vermeintlich ohne jede Absicht jede deiner erotischen Fantasien herauspupst, verfolgst du also doch deine Absichten. Was soll ich sagen? Sophist, Manipulator!) Ich meine, wenn wir alle Gedanken zunächst einmal zulassen und mit ihnen spielen, gelingt es vielleicht doch noch, eine bessere Welt zu erschaffen, jedenfalls wenn wir nicht davon ausgehen, dass wir bereits in der besten aller möglichen Welten leben. Okay, das Leibniz-Zitat war rhetorisch gemeint. Wir leben selbstverständlich in einer rundum verbesserungswürdigen Welt bzw. Gesellschaft bzw. Kultur bzw. Weltgemeinschaft. Zum Beispiel leben wir in einer Welt, in der Männer Kriege führen, Frauen unterdrücken und Frauen töten, weil sie Frauen sind. Geht’s noch unheilvoller? Wir brauchen ein umfassendes Therapieprogramm für die Menschheit. Und ich habe mir eins ausgedacht:

Ein Therapiekonzept, das zu einer Graswurzelbewegung wird und die Welt friedlicher machen wird.

Ein ganzes Wochenende verbringen sechs Personen (drei weiblichen und drei männlichen Geschlechts, soweit sich das überhaupt so klar definieren lässt) gemeinsam in einer speziellen Unterkunft, wo sie gemeinsam essen, trinken und schlafen. Das therapeutische Kernstück besteht in einem erotischen und sexuellen Ritual, bei dem zunächst zwei gemischte Gruppen gebildet werden. Alle sind nackt.  Jede Person innerhalb der Gruppe wird auf einer Matratze oder auf einer Massageliege ausführlich von den beiden anderen gestreichelt, leicht massiert, genital erregt und schließlich auch mindestens einmal zu einem angenehmen Orgasmus gebracht. Gemischte Gruppen heißt: Auch heterosexuelle Männer versetzen Männer in Erregung und verhelfen ihnen zum Orgasmus, heterosexuelle Frauen kümmern sich sanft um Höhepunkte anderer Frauen, Frauen und Männer bringen sich gegenseitig zum Orgasmus. Was zunächst mit Widerwillen getan werden mag, wird sich nach mehreren therapeutischen Wochenenden vertraut und schön anfühlen. Die Gruppen mischen sich immer neu, Dicke streicheln Dünne, Alte verwöhnen Junge und umgekehrt. Mehrere Gruppen bilden bald eine diverse Community der Wohltäter. Was sich gut und schön anfühlt, wird nach und nach ins Repertoire übernommen. Homophobie und Misogynie lösen sich in Wohlgefallen auf. Vielleicht werden irgendwann auch Großveranstaltungen stattfinden. Aber das Ritual bleibt. Keine wilden Orgien. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich glaube, Orgien passen nicht ins Konzept. Und Rituale haben religiösen Charakter. Die Therapie bezieht ihre Autorität aus dem Ritual, so wie die Religionen. Das Ritual darf nicht aufgelöst werden. Nun ja, ich in einer Dreiergruppe mit Nina und Henrike, das wäre ganz nach meinem Geschmack. Allerdings – in anderer Konstellation – Rainers Sperma an meiner Hand kleben zu haben, finde ich sehr gewöhnungsbedürftig. Aber nicht ausgeschlossen, dass ich ihm eines Tages sogar eine Prostatamassage spendieren werde. Ein Freundschaftsdienst. Es muss ein gutes Gefühl sein, zu wissen, dass ich den allermeisten Nachbarn in meiner Straße mal einen Orgasmus verschafft habe, oder lachen zu können über die Erinnerung an den alten Herrn, der sich anfangs so ungeschickt angestellt hat und nach ein paar Monaten großes Geschick mit Lippen und Zunge bewies. Vielleicht würde ich mit Anette oder Michaela gern einmal richtigen Sex haben, aber das müsste ich erst mit Nina besprechen, bevor ich die beiden frage.

Pippi Langstrumpf ist eine Psychopathin – oder: Von der Sehnsucht nach Abenteuern

Die NASA entdeckt einen Schwarm mehrerer kilometergroßer Asteroiden, die auf die Erde zusteuern. In etwa drei Jahren wird diese kosmische Schrotladung unweigerlich auf unseren Planeten niederprasseln und vermutlich alles Leben vernichten. In den Medien wird die nahende Apokalypse verkündet, Wissenschaftler erstellen Berechnungen der Flugbahnen, schüren Hoffnungen auf Wahrscheinlichkeiten, doch sind die 20 oder 30 Prozent, mit denen wir dem galaktischen Blattschuss entkommen könnten, wenig beruhigend. Werden wir nach anfänglicher Schockstarre Rettung und Trost bei den großen Religionen suchen? Oder verdrängen, abwarten, hoffen auf eine explosive technische Lösung mit Raketen und Bomben?

Das Katastrophenszenario animiert zu vielfältigen Spekulationen, wie Wissenschaft und Technik in der kurzen Frist zu Höchstleistungen herausgefordert würden und das gesellschaftliche Leben lange vor den Einschlägen von Anarchie und Chaos zerstoben werden würde. Kammerspielartig hat sich Lars von Trier vor Jahren in seinem Film „Melancholia“ mit den Reaktionen einer kleinen Gruppe von Menschen auf den bevorstehenden kollektiven Exitus beschäftigt, der jeglichen Lebenssinn in Angst erstickt und alle Hoffnung spendenden Narrative verblassen lässt. Bei Lars von Trier wandelt sich das berauschende Himmelsspektakel innerhalb weniger Tage oder Stunden in ein zerstörerisches Liebesspiel planetarer Anziehungskräfte. Es dauert nicht lange, bis alle Menschheitsträume und -traumata buchstäblich zerplatzen.

Was aber würde geschehen, wenn wir wüssten, dass noch drei oder auch fünf Jahre vor uns liegen, in denen wir unser irdisches Leben auskosten können? Zu viel Zeit, um sofort den Beruf an den Nagel zu hängen, zu viel Zeit, um die Super- und Baumärkte zu plündern, zu viel Zeit, um sich ins Dauergebet zu versenken.

Es ist eine lange Zugreise, auf der Nina und ich im Gespräch auf dieses wenig originelle Szenario stoßen und uns zu fragen beginnen: Was würden wir tun, wenn wir trotz bester Gesundheit nur noch drei Jahre zu leben hätten? Was möchten wir noch erleben, erfahren, kennenlernen, verstehen? Wir werden nicht, wie erhofft, gemeinsam alt werden. Der Klimawandel verliert seinen Schrecken, weil es ihn nicht geben wird. Mögen die Polkappen doch schmelzen! Es lohnt nicht mehr die Schweine aus den engen Mastanlagen zu befreien, das Rinderfilet darf wieder moralinfrei genossen werden, der Sportwagen mit 12-Zylinder-Verbrennungsmotor lädt wieder ein zum Geschwindigkeitsrausch auf Autobahnen und Landstraßen. Noch drei Sommer, drei Winter – was fangen wir mit unserem Leben noch an?

„Mir fällt nichts ein“, sage ich.

„Sicher?“, fragt Nina und schaut mich von unten herauf über ihre Lesebrille an. Sie liest gerade einen ZEIT-Artikel über Bonobos und Schimpansen. Titel: „Freundlichkeit siegt“.

„Nur Unanständiges, du weißt schon. All die Dinge, die wir noch nicht gemacht haben, die mir im Moment aber auch nicht einfallen. Reisen, alle Menschen werden reisen wollen, um alles das zu sehen, was sie noch nicht gesehen haben.“

„Klar“, sagt Nina, „alle werden reisen wollen. Aber dann ist da möglicherweise niemand, der die Passagiermaschine nach Neuseeland steuert, niemand, der dir eine Unterkunft bietet, weil die Hoteliers, die Vermieter von Ferienwohnungen, die Kellner und Köche, Zimmermädchen und Zimmerbübchen ebenfalls auf Reisen sind. Wir können uns das Chaos nicht ausdenken. Wir werden vielleicht unsere gesamte Habe verkaufen wollen, um das Geld für unsere Reisen zusammenzukratzen. Aber wer will dann noch unnützes Zeug kaufen? Was sollen wir verkaufen, wenn alle alles verkaufen wollen? Es gibt keine Käufer mehr, niemanden, der noch irgendwas anhäufen will. Wer will noch arbeiten, wenn alle nur noch leben wollen.“

„Reguliert sich das nicht von selbst? Alle arbeiten weniger und gönnen sich mehr Freizeit. Das meiste, was heute produziert wird, braucht dann doch keiner mehr. Genau genommen schon jetzt nicht mehr. Ergo: weniger Waren und Dienstleistungen, weniger Arbeit. Und die Notenbanken drucken einfach weiter Geld.“

Nina findet das nicht überzeugend. Sie meint, alle Wirtschaftsabläufe würden zusammenbrechen, wenn alle täten, was ihnen Spaß macht.

„Eben. Wenn sie merken, dass das nicht funktioniert, werden sie wieder arbeiten, aber eben nur das Nötigste. Abgesehen von denen, die depressiv und wie gelähmt sind.“

„Das funktioniert nur, wenn die Darwinisten unrecht haben und nicht die Starken und Rücksichtslosen gewinnen, sondern die Freundlichen, wie es gerade in der ZEIT zu lesen ist. Es müsste schon einen Paradigmenwechsel in Rekordzeit geben. Alle sind lieb und rücksichtsvoll zueinander, teilen ihre Habe und ackern die letzten drei Jahre ihres Lebens gemeinsam auf den Feldern, für Kartoffeln und Gemüse. Hältst du das für realistisch?“

Nein, ich halte das nicht für realistisch. Und ich mag mir das Chaos, das Elend, die verhungernden Menschen, die Morde und Raubüberfälle nicht vorstellen.

„Wenn du nichts mehr zu verlieren hast, wenn alle nichts mehr zu verlieren haben – bricht sich da nicht ein universeller Egotrip Bahn?“

Wir lassen unsere Blicke durchs Abteil schweifen. Freundlich gelangweilte Mitfahrer, alle hinter Hund-Hasen-Bedeckungen versteckt.

„Haha, Hund-Hasen-Bedeckungen. Müsste man mal zeichnen. Die Sache ist doch die: Es geht nicht um das dystopische Szenario, bei dem wir schon vor dem eigentlichen Untergang uns gegenseitig den Garaus machen.“

„Sondern?“

„Das Gedankenspiel kitzelt eine ganz andere Frage hervor, nämlich die, was noch sinnvoll ist, wenn nichts mehr Sinn hat, wenn du alle Illusionen, die dich im Moment noch am Leben und Hoffen halten, wegstreichst. Wir arbeiten, damit wir im Alter eine auskömmliche Rente haben, mit der wir all die Unternehmungen finanzieren können, die wir uns heute verkneifen. Zum Beispiel mal ein halbes Jahr in Rom wohnen oder Amsterdam. Wir vertagen unsere Träume in eine angeblich bessere Zukunft. Was aber wäre jetzt schon möglich? Was ist in der universellen Sinnlosigkeit sinnvoll?“

„Rom, Amsterdam – um da dann was zu tun?“

„Die Stadt aus dem Blickwinkel des Bewohners kennenlernen, Menschen kennenlernen, sie zu Hause besuchen, endlich die Sprache richtig lernen.“

„Wenn da wegen der angekündigten Apokalypse der reguläre Betrieb eingestellt wird?“

„Eben nicht. Vergiss die Apokalypse! Die Frage ist: Was willst du jetzt tun, wenn der größte Teil deiner Tätigkeiten, Käufe, Vorsorgemaßnahmen etc. pp. sich mit einem Schlag als sinnlos erweisen? Auch ohne Apokalypse. Was bleibt übrig? Was kannst du wegstreichen, weil es angesichts des uns alle irgendwann ereilenden Todes sinnlos ist? Wenn alle Glücksversprechen, die auf Wohlstand und Konsum aufbauen, sich als illusorisch erweisen?“

Nina macht mir Angst. Für die innere, psychische Apokalypse braucht es anscheinend keinen Asteroideneinschlag. Da genügt eine Philosophin mit dem Hammer. Jetzt geht es um die Umwertung aller Werte und die Selbstbefreiung vom falschen ideologischen Bewusstsein. Die Wiederkehr der Marx-Nietzsche-Apokalypse.

„Was schlägst du vor?“, frage ich.

„Ein Ausschlussverfahren? Mach eine Liste: die Wohnung renovieren – überflüssig; die Verstopfung im Klo beseitigen – notwendig; essen, trinken, schlafen, nicht erfrieren – notwendig; neue Klamotten kaufen – überflüssig. Stereoanlage, Fernseher, Hometrainer, Backautomat, Kosmetika, Zeitschriften, Fotoapparat, Deko und Stell-mich-Hinchen …“ Nina stockt.

„Schuhe“, sage ich.

„Ja, Schuhe, die sind notwendig.“

„Aber nicht noch mehr Schuhe.“

„Nein, keine neuen Schuhe. Siehst du, wir denken immer nur in den Kategorien des Konsums. Als ob wir mit Waren, mit Gegenständen unsere Identität bestückten. Wir kaufen uns sogar Erlebnisse. Kino, Netflix, Musik.“

„Kultur eben.“

„Brauchen wir irgendwie. Was davon brauchen wir wirklich? Was davon hat nichts mit Konsum zu tun?“

„Wir haben nur unser Leben. Und unser Leben sind unsere Erinnerungen. Die wollen wir bis zur letzten Minute haben. Wir wollen auf ein erfülltes Leben zurückblicken, am besten jederzeit.“

„Damit man jederzeit dankbar tot umfallen kann. Was wir erlebt haben, kann uns nur der Tod nehmen, oder die Demenz.“

„So wird eine Philosophie daraus: Lebe jetzt und folge rücksichtslos deinen Träumen und Sehnsüchten.“

„Nicht rücksichtslos.“ Nina schüttelt den Kopf und setzt ihren strengen Blick auf.

Ich korrigiere mich: „Freundlich. Folge freundlich und rücksichtsvoll deinen Träumen und Sehnsüchten, aber sei kompromisslos. Das ist es doch, wir machen dauernd irgendwelche Kompromisse und grätschen unseren Träumen und Sehnsüchten in die Beine. Wir stolpern nur so durchs Leben, weil wir glauben, es den anderen immer recht machen zu müssen. Ist das nicht diese fiese, fatale Freundlichkeit?“

„Nee, ist es nicht. Das ist unsere Angst, von den anderen nicht akzeptiert zu werden, wenn wir nicht tun, was die sich vorstellen. Du weißt schon: diese Art von doppelter Kontingenz, die Erwartungserwartungen. Wir erwarten, dass die Anderen etwas Bestimmtes von uns erwarten, wissen aber nicht, ob sie es wirklich tun und was es ist.“

„Meistens tun sie’s.“

„Was?“

„Sie denken meistens, was wir glauben, dass sie es denken.“

„Wenn die uns nicht so akzeptieren, wie wir sind und was wir denken, hat das aber keine negativen Konsequenzen für die. Es geht sie nicht wirklich etwas an. Absurderweise sind wir diejenigen, die sich dann unwohl fühlen. Also ein komischer, geradezu abseitiger Selbstschutz. Du verhältst dich so, wie du glaubst, dass die Anderen es von dir erwarten, um dich wohl zu fühlen. Damit du keine Scham empfindest. Obwohl dir klar sein könnte, dass du es den Anderen gar nicht recht machen müsstest, vor allem dann nicht, wenn du das Richtige tust, das, wovon du überzeugt bist.“

„Aber wir unterlassen es zumeist, weil wir es uns mit den anderen nicht verderben wollen. Ist doch so.“ Mir schwirrt ein weiterer Gedanke durch den Kopf. Sind unsere Überzeugungen nicht auch schon davon geprägt, was die Anderen denken? Gibt es überhaupt so etwas wie originäre, individuelle Überzeugungen und Werte? Bevor ich unsre Diskussion erfolgreich verkomplizieren kann, schlägt Nina bereits den ersten Pflock für eine elementare Ethik ein.

„Stimmt. Also, Punkt eins der Verhaltensregeln für eine sinnlose Welt: Folge freundlich deinen Sehnsüchten und Überzeugungen. Punkt zwei: Du bist auf das Wohlwollen der Anderen angewiesen. Mache sie, wann immer möglich, zu Freunden oder Unterstützern! Pflege deine Beziehungen! Aber sei im Zweifel kompromisslos! Und noch?“

„Punkt drei: essen, trinken, schlafen, ein Dach über den Kopf haben, ach ja, Sex nicht zu vergessen.“

„Zärtlichkeit und Liebe finde ich universeller als rough sex. Und alles, was schön ist. Ich meine nicht bloß angenehm, die Dinge, die dich Schönheit empfinden lassen. Also auch Musik zum Beispiel. Singen ist essenziell. Komischerweise singt kaum jemand auf der Straße, obwohl es doch ein tiefes Bedürfnis ist. Allein singen, gemeinsam singen, trommeln, musizieren, tanzen. In der Natur sein. “

„Ich fasse zusammen, Punkt vier: kulturelle Selfmade-Improvisation und erotische Gruppentänze.“

„Zärtlichkeit, das bringt mich auf einen Gedanken. Gehört alles, was dem Körper guttut, in die Kategorie Essen etc.? Oder ist das ein eigener Punkt? Wir können nicht leben ohne Berührungen. Warum haben immer mehr Menschen Hunde? Sie brauchen ein lebendiges Wesen, das sie berühren und streicheln können und das sich an sie anschmiegt. Dafür hab‘ ich zum Glück dich.“

„Und Gespräche, Blicke, das wiederholte mehr oder weniger Verliebtsein. Sympathie, wenn du so willst. Wenn du jemanden wirklich interessant und sympathisch findest, dann bist du irgendwie auch verliebt.“

Nina zieht die Augenbrauen zusammen. „Irgendwas fehlt noch.“

„Sex habe ich schon erwähnt. Aber wir könnten noch differenzieren zwischen must have und must not have. Obwohl …“

„Nein, ist mir klar, wie wichtig dir das ist. Ich meine noch was anderes. Menschen sind neugierig, sie wollen wissen und erkennen, verstehen, begreifen, Neues kennenlernen, die Welt und den Kosmos erkunden und verstehen.“

„Das Vernichtungspotenzial von Asteroiden zum Beispiel. Punkt soundsoviel: Erkenntnis, Befriedigung der angeborenen Neugier. Ist okay. Wir haben also die Befriedigung unserer kreatürlichen Bedürfnisse, Sex inbegriffen. Auch Fortpflanzung und Familie? Sind das auch natürlich-kreatürliche Grundbedürfnisse?“

„Problemzone. Lassen wir vorübergehend mal weg.“

Ist vielleicht ganz gut, keine eigenen Kinder dieser allumfassenden Sinnlosigkeit ausgeliefert zu wissen, ganz zu schweigen davon, sie nicht in einem apokalyptischen Feuersturm verbrennen sehen zu müssen. Dennoch bleibt die ungewollte Kinderlosigkeit eine Kränkung. Für Nina mehr als für mich.

„Freundlichkeit, Beziehungen, was war sonst noch? Kulturelles Leben. Irgendwie ist das mit den Sehnsüchten und Träumereien jetzt unpassend. Wonach sehnen wir uns denn? Wovon träumen wir? Deine Definition eines gelingenden Lebens in der Sinnlosigkeit klingt paradiesisch – und dann auch wieder gähnend langweilig. Ich habe viele Freunde, bin nett zu denen, teile mir mit ihnen das Essen und den Rotwein, lese ein paar schlaue Bücher, gehe in der Natur spazieren und singe ein Liedchen dabei. Das einzige echte Highlight dürfte da der Sex sein. Und der müsste dann schon richtig gut sein. Was ja machbar ist. Wovon träumst du? Was würde dich im Schlaraffenland so richtig in Wallung bringen?“

„Abenteuer. Paradies ist in der Tat langweilig. Wenn man keine Abenteuer erleben kann, wird das komfortabelste Leben langweilig. Alle Menschen sehnen sich nach Abenteuern. Darum lesen sie Romane, schauen Filme, stürzen sich mit Gleitschirmen von Klippen und so. Sie sehnen sich nach Risiko und ein bisschen Angst. Nach dem Unberechenbaren, das sie zu beherrschen lernen.“

„Abenteuer. Hmm. Romane, Filme, übrigens auch Pornos. Kann es sein, dass wir zwar sehnsüchtig nach Abenteuern sind, aber Angst davor haben, sie selbst zu erleben? Das wilde, promiskuitive Leben zum Beispiel, vor dem wir uns fürchten wie das Kaninchen vor der Schlange. Die größten Abenteuer lassen wir unsere Stellvertreter in Romanen und Filmen erleben. Ist aufregend und weitgehend ohne Risiko für Leib, Leben und Beziehung.“

Wir verstummen und versinken in Gedanken. Die entscheidende Frage nach einem wirklich lebenswerten Leben dürften die Abenteuer sein, auf die man sich leibhaftig einlässt. Und die wären? Ich bringe mich ungern in Gefahr und habe mir wohl auch aus diesem Grund noch nie ein Bein oder einen Arm gebrochen. Ich meide Risiken und Konflikte. Ich habe mich zumeist mit den sprichwörtlichen Abenteuern im Kopf begnügt. Aber jetzt, wenn meine Abenteuer nicht mehr nur in meinem Kopf oder auf einer Kinoleinwand stattfinden sollen, beginnt dieses Kribbeln. Mit den Abenteuern, die mir spontan einfallen, würde ich auf jeden Fall meine Ehe riskieren. Da müsste ich wohl freundlichst Rücksicht auf Ninas Gefühle nehmen. Erotische Eskapaden, die ich kompromisslos durchziehen würde, würden nämlich bei Nina nicht auf die von ihr gerade eben noch unterstellte Akzeptanz stoßen. Das kollidiert mit Punkt zwei: Pflege deine Beziehungen, denn du bist auf die Anderen angewiesen! Und ich erst auf Nina! Wenn ich nur wüsste, was Nina gerade denkt! Und wenn ich sie frage – wird sie mir genauso unaufrichtig antworten wie ich, wenn sie mich fragen würde? Hm, na, lieber Pjotr, woran denkst du gerade? Nix. Mir fällt nichts ein.

„Was wäre denn für dich ein richtiges Abenteuer?“, frage ich.

Nina überlegt eine Weile. „Mal im Wald unter freiem Himmel übernachten. Die Tiere hören, die umherschleichen, die Stille, der Geruch des feuchten Waldbodens. Das dürfte mit einer erregenden Angstlust verbunden sein. Oder den Rucksack packen und einfach drauflos wandern und keine Ahnung haben, wo man am Abend übernachten kann und was man essen wird. Nackt baden in Seen und Flüssen.“

„Das Abenteuer beim Nacktbaden würde vermutlich darin bestehen, dabei nicht beobachtet zu werden. Die Angstlust wäre aber im Gegenteil viel größer, genau das zu riskieren und auszuhalten: dabei von anderen beobachtet zu werden. Apropos Wald und Nacht: Wir haben noch nie Sex im Wald gehabt.“

„Doch, haben wir.“

„Nicht so richtig. Nicht splitterfasernackt zwischen suhlenden Wildschweinen.“

„Okay, Sex im Wald.“

„Und in der Umkleide bei Hertie oder so.“

„Wozu? Stelle ich mir unbequem vor.“

„Nur ein bisschen Gefummel mit der Angst, dabei entdeckt zu werden.“

„Ist dir eigentlich klar, dass uns hier alle zuhören können?“

„Wie abenteuerlich! Wir haben Angst, bei unseren Gesprächen über Sex belauscht zu werden. Also lass es uns tun!“

„Wir sind freundlich und rücksichtsvoll. Warum sollen wir unsere Umwelt verstören? Lass mich den Artikel zu Ende lesen.“ Nina schiebt sich die Lesebrille zurecht.

„Würden wir das? Wären die verstört? Also, ich sehne mich danach, endlich einmal ein paar Leute bei ihren Gesprächen über Sex belauschen zu dürfen. Meinst du, den anderen geht es nicht ähnlich? Ich freue mich auch jedes Mal, wenn unsere Nachbarin gegenüber nackt durchs Wohnzimmer geht oder sich bei geöffneten Gardinen auszieht. Ich weiß. Ich sollte da nicht hinsehen. Diskretion! Taktgefühl, Anstand! Aber es bereitet mir Freude. Ich sehne mich nach diesem Anblick. Und hinter irgendwelchen dunklen Fenstern gegenüber könnten Männer und Frauen stehen, die sich danach sehnen, auch dich mal nackt am Fenster stehen zu sehen. Das mit den Sehnsüchten ist einerseits kompliziert und peinlich, andererseits sind die Sehnsüchte der Menschen gar nicht so verschieden. Glaube ich jedenfalls.“

„Sind das die einzigen Abenteuer, die dir einfallen?“

„Pardon.“

„Singend und tanzend durch die Straßen laufen. Menschen ansprechen, die einem sympathisch erscheinen. Die Scham überwinden, die einen sonst daran hindert.“

„Wildfremde Menschen ansprechen – und dann? Smalltalk?“

„Die Frage, was ihre Sehnsüchte sind, welche Abenteuer sie erlebt haben, welche Abenteuer sie noch erleben möchten.“

„Und du bist sicher, dass du an ihren ehrlichen, aufrichtigen Antworten interessiert bist? Führt das nicht zu unwägbaren, will sagen: abenteuerlichen Verbindlichkeiten? Du weißt schon. Du bist eine attraktive Frau.“

„Warum nicht? Ich weiß, was in deinem Kopf vor sich geht. Du meinst, dass ich es genießen könnte, mich als Objekt der Begierde anderer zu fühlen. Ach, es wäre vielleicht sogar schön, wenn jemand zum Ausdruck brächte, dass ich anziehend auf ihn wirke, aber ich bin ja nicht auf der Welt, um anderen ihre Wünsche zu erfüllen.“

„Musst du ja nicht. Sollst du auch gar nicht. Will ich auch gar nicht. Ich habe nur das Gefühl, du erlaubst dir nicht einmal den Gedanken daran, auch wenn du im Moment die Aufgeschlossene spielst. Passt gar nicht zu dir.“

„Findest du? Vielleicht kennst du mich gar nicht so gut, wie du glaubst.“

„Ein Abenteuer zu erleben, bedeutet irgendwas Gefährliches, Entgrenzendes oder Verbotenes zu tun. Oder zumindest mit dem Gedanken zu spielen. Sei ehrlich! Ist nicht dein Ding. Sich ein klein wenig mehr als sonst in Gefahr begeben. Die Angst spüren und aushalten, wenn man befürchten muss, einen Schritt zu weit gegangen zu sein, um zu sehen, ob die Zeit für den Rückzug gekommen ist. Oder ob sich neue Optionen ergeben, die den eigenen Erfahrungsschatz positiv erweitern könnten.“

„Deine Kamikaze-Mentalität finde ich immer wieder befremdend. Insbesondere, weil die Realität weit hinter deinen Sprüchen zurückbleibt. Den Erfahrungsschatz positiv erweitern! Wir müssten erstmal ganz klein anfangen und überhaupt mal den Mut finden, im Restaurant das missratene Gericht souverän zurückgehen zu lassen, statt schweigend alles runterzuwürgen. Pjotr, wir sind in geradezu lächerlicher Weise ängstlich. Und träumen von den großen Abenteuern. Ich wage nicht mir vorzustellen, nach welchen Abenteuern dir der Sinn steht.“

„War träumen nicht einer der ersten Punkte? Ich träume für mein Leben gern. Im Unterschied zu dir träume ich nicht nur von Museumsbesuchen, Theateraufführungen, Opern, Konzerten und Übernachtungen im Wald.“

„Sondern?“

„Von Nähe, Offenheit, von Selbstoffenbarungen, Schamlosigkeit, Berührungen, von gegenseitigen Eingeständnissen der eigenen Verletzlichkeit und Schwäche.“

„Das ist dein Lieblingsthema: peinlich sein, Scham überwinden, Voyeurismus.“

„Ich trainiere quasi täglich. Aber du pfeifst mich immer zurück, wenn’s dir zu brenzlig wird.“

„Weil du übertreibst.“

„Weil du mich peinlich findest. Wie soll ich meine eigene Scham überwinden, wenn ich dauernd das Gefühl haben muss, dass du dich an meiner Stelle schämst?“

„Dauernd.“

„Oft. Zu oft.“

„Okay, ich stimme dir zu: Wer ein richtiges Abenteuer erleben will, muss bis zu einem gewissen Grad schamlos sein. Schamlos in dem Sinne: Ich versuche mich von dem Urteil der Anderen über mich und mein Verhalten weitgehend unabhängig zu machen. Sofern ich nicht die Gefühle der Anderen verletze. Du willst, dass sich die Anderen in ihrer Verletzlichkeit offenbaren. Aber es gehört sehr wenig dazu, die Gefühle anderer zu verletzen. Es hat gute Gründe, warum wir uns vor Verletzungen schützen, warum wir uns anderen gegenüber nicht komplett ausziehen.“

„Gefühle verletzen – was heißt das eigentlich? Ich bin mir nicht sicher, dass wir wirklich Gefühle verletzen, wenn wir offen und ehrlich sind. Als kopftuchtragende Muslimin kannst du in der Öffentlichkeit nicht dein Kopftuch abnehmen, ohne die Gefühle deiner Familie zu verletzen. So sagt man jedenfalls. Normverstöße können als verletzend empfunden werden? Wenn du frei sein willst, musst du hin und wieder die Gefühle der Anderen verletzen. Vielleicht stimmt das aber auch gar nicht, dass man Gefühle anderer Menschen verletzt, wenn man sagt oder tut, was man für richtig hält und was einem selbst guttut. Was sind denn das für Gefühle? Du verletzt eine Norm, aber die Gefühle, die dadurch bei anderen ausgelöst werden, sind eher Wut, Hass und Angst. Möglicherweise alles auf einmal. Du bringst mit einem Normverstoß den Gefühlshaushalt eines anderen aus dem Tritt. Der will eigentlich immer weiter chillen und keine Unordnung, die ihn zum Nachdenken zwingt, zum Nachdenken über die eigenen Standpunkte, über die Normen und Narrative, in deren Grenzen er sein Leben eingerichtet hat. Das sind keine verletzten Gefühle, das ist eine Anfechtung. Jemand zieht ihr Leben in Zweifel, wenn er gegen idiotische Normen verstößt.“

„Genau, idiotische Normen. Aber es gibt auch sinnvolle und hilfreiche Normen. Normen sind eine Währung, auf die man sich verlassen kann. Sie geben Sicherheit. Du willst zum Beispiel sicher sein, nicht angelogen zu werden.“

„Du sollst nicht lügen, nicht stehlen, nicht deines Nächsten Weib oder Mann begehren und so weiter, den Rest weiß ich nicht mehr. Also das mit dem Begehren finde ich schon mal sinnlos. Warum soll man nicht begehren, solange man nicht anfasst? Nicht töten, nicht bedrohen, nicht erniedrigen, nicht schlagen, freundlich sein – alles gut. Aber dann kommt erst mal lange nichts. Von Etikette und verletzten Gefühlen steht in der Bibel nichts. Dafür aber: Liebe deinen Nächsten. Unmoralisch sind die identitären Hater.“

„Identitäre Hater – damit machst du ein neues Fass auf.“

„Will ich gar nicht. Die interessieren mich nicht. Wir suchen eine Definition für Abenteuer, und, wenn du so willst, nach einer anthropologischen Konstante, die die Philosophen, Psychologen und Soziologen regelmäßig vergessen: Menschen suchen Sicherheit durch Regelwerke und Normen. Sie müssen das. Aber parallel dazu müssen sie sich selbst behaupten, indem sie gegen Regeln und Normen verstoßen. Ohne Regeln und Normen keine Abenteuer. Ohne Abenteuer keine neuen Normen. Oder so. Mal ganz ins Unreine gesprochen.“

„Du meinst, das ist ein dialektischer Zusammenhang. Du installierst Normen, negierst sie, um zu einem neuen Normenkanon zu gelangen, der dann wiederum negiert und im Hegelschen Sinne aufgehoben wird undsoweiter.“

„Die erste Bedingung: Abenteuer gründen auf Normen und Regeln, die durch das Abenteuer aufgehoben oder aufgeweicht werden sollen, um zu neuen oder verwandelten Normen und Regeln zu gelangen. Man könnte das als Mutationsprozess bezeichnen. So wie die Viren durch Mutationen sich immer besser an ihre Umwelt anpassen und ihr langfristiges Überleben sichern. Zum Beispiel dadurch, dass sie ihre Wirte nicht killen. Zweite Bedingung: Weil Normen und Regeln ausgesprochene oder unausgesprochene, selbst geschlossene oder ererbte Verträge zwischen Menschen sind, sind die Verstöße dagegen immer soziale Handlungen, die die Komplizenschaft weiterer Menschen erfordern. Denn die Verstöße zielen ja auf eine Legitimation und Vereinbarung neuer oder gewandelter sozialer Regeln und Normen. Den Komplizen möchte ich am liebsten schon bei meinen Verstößen dabeihaben. Nein, ich brauche ihn, denn mit mir selbst allein kann ich gar nicht gegen Normen verstoßen, oder nur gegen die in meinem Kopf.“

„Wichtiger Punkt, die Normen in deinem Kopf. Die sind doch in erster Linie in deinem Kopf. Deine Feinde sind nicht nur da draußen, die Normen sind Dämonen in deinem eigenen Kopf. Deswegen die Scham. Du schämst dich, wenn du gegen Regeln verstößt, selbst gegen sinnlose Regeln, weil die Regeln auch für dich immer noch gelten. Sie gelten, weil du dich an die Verträge mit den Anderen gebunden fühlst. Du fühlst dich wie ein Verräter, wenn du gegen sie verstößt. Du hast Angst, die Anderen zu enttäuschen, mit anderen Worten: ihre Gefühle zu verletzen. Ich möchte die These sogar noch erweitern: Du verletzt deine eigenen Gefühle.“

„Daraus folgt doch eine sehr schöne neue Definition für das Abenteuer: Du kämpfst aus Überzeugung gegen die eigenen Gefühle und die der Anderen. Wohlgemerkt aus Überzeugung.“

„Was ist das für eine Überzeugung? Ein Wissen, oder wiederum ein Gefühl. Oder eine Vermutung, Erwartung … Woher kommen deine Überzeugungen?“

„Eine Sehnsucht nach Befreiung von bestimmten Normen. Befreiung von kontraproduktiven Gefühlen der Scham. Kontraproduktiv heißt: Sie tun weder dir noch den Anderen gut.“

„Aber deine Angst hat ihren Ursprung in deinem Zweifel an dieser Sehnsucht, Zweifel, die durchaus berechtigt sein können. Du weißt nicht, ob der Zustand, in dem du dich nach deiner sogenannten Befreiung befindest, ein guter ist. Gut für dich und für andere. Reden wir doch mal Tacheles: Du sehnst dich danach, mit anderen Frauen zu schlafen. Unsere Norm dagegen ist, dass wir beide es nur miteinander tun.“

„Das habe ich nie gesagt.“

„Wie war das noch mit dem wilden, promiskuitiven Leben? Nein, das würdest du nie zugeben. Das wäre ja auch bereits der erste Tabubruch, zumindest würdest du unsere gemeinsame Norm damit in Frage stellen, wenn du diese Sehnsucht konkret formulieren würdest. Aber du hast Angst davor, diesen Schritt zu gehen. Also verwickelst du mich in eine Diskussion, bei der du versuchst, mich davon zu überzeugen, dass es Normen gibt, die sinnlos sind und deshalb beiseitegestoßen werden sollten. Deine Anspielungen zielen dabei immer wieder auf Sexuelles. Zeig dich deinen Nachbarn nackt am Fenster! Willst du das wirklich? Du möchtest anscheinend von mir hören, dass ich, so wie du, Monogamie für überholt halte.“

„Unsinn. Ich kämpfe nur für die Legitimität sexueller Fantasien. Du weißt, ich habe ein Problem damit. Ich möchte …“

„Du hast Angst, du kämpfst gegen deine persönlichen Dämonen. Und du suchst in mir eine Komplizin, die deine sexuellen Fantasien teilt. Und vor allem legitmiert.“

„Auf alle Weise freilich.“

„Aber du hast keine Traute, mir zu sagen, dass du deine Fantasien gern einmal, vorsichtig gesagt, im wirklichen Leben experimentell erkunden willst.“

„Das ist eine Unterstellung, die dir nicht zusteht. Es ist durchaus diffiziler. Ich möchte, dass die Menschen ihre Sexualität und ihre Fantasien nicht mehr voreinander verstecken, als wäre das was Unanständiges. Ich möchte zum Beispiel unserer Freundin Uta sagen können, dass ich sie enorm sexy finde und am liebsten aufregende Nacktfotos von ihr machen würde. Verstehst du? Wenn so etwas möglich wäre!“

„Bliebe es dabei? Was wäre denn der Subtext einer solchen Äußerung? Mach dich nicht lächerlich!“

„Ich möchte es nur sagen dürfen. Weil es in meinem Kopf ist und nichts daran falsch oder verwerflich ist, sowas im Kopf zu haben. Soll sie doch wissen, was ich denke und empfinde! Wer weiß, möglicherweise schlummern tief in dir drin ähnliche Fantasien. Würde dich die Vorstellung völlig kalt lassen, wenn André so etwas zu dir sagen würde? Wenn er Fotos von dir machen wollte? Wenn er dir seine dich betreffenden erotischen Vorstellungen gestehen würde? Ist dir eigentlich mal aufgefallen, wie er jedes Mal auf deine Beine starrt, wenn die beiden zu Besuch sind? Und warum ziehst du dann jedes Mal deinen kürzesten Rock an? Ich meine, den allerkürzesten. Mich freut’s und ich genieße es zu sehen, wie sexy er dich findet. Verdammt nochmal. Das darf doch wohl auch mal ausgesprochen werden!“

„Puh! Harter Tobak. Lass mich meinen Gedanken zu Ende führen. Deine Strategie zielt darauf, dass ich an deiner Stelle unsere stillschweigende Norm, ein monogames Leben zu führen, verletze. Sie zumindest in Zweifel ziehe.“

„Wir ziehen doch gerade alles in Zweifel. Das ist doch die Methode. Angesichts der fundamentalen Sinnlosigkeit musst du theoretisch auch die Monogamie in Zweifel ziehen.“

„Du vermischst gerade die Ebenen. Du hast recht: Der methodische Zweifel als Praxis der Philosophie darf vor nichts Halt machen. Aber du lässt dich dabei allein von deinen persönlichen Interessen leiten. Das ist fatal, weil es eine unzulässige Unwucht in das philosophische Modell bringt. Du musst ebenso die Promiskuitivität, dieses dionysische Leben in Zweifel ziehen, nach dem du dich sehnst. Aber um diese Systematik geht es dir gar nicht. Du sagst, du genießt zu sehen, wie sexy mich André findet. Was willst du damit bezwecken? Dass ich seine Blicke künftig immer sexuell deute und so langsam auf den Geschmack komme? Du versuchst, mich zu manipulieren.“

„Von dir habe ich doch überhaupt nicht geredet. Es geht darum, was sich in meinem Kopf abspielt und dass das legitim ist. Niemand ist damit geschadet, wenn ich es ausspreche.“

„Sprich dich aus! Sag‘ doch einfach, dass du mit Uta schlafen möchtest. Du hast es dir vermutlich schon hunderte Male ausgemalt. Denkst du an sie, wenn wir zusammen sind?“

„Herrgott, nein! Aber denkst du denn nie auch mal an andere Männer?“

„Nein, warum sollte ich? Soll ich, deiner Meinung nach?“

„Warum nicht? Was wäre schlimm daran?“

„Ich denke nicht an andere Männer, weil ich das als Untreue empfinden würde. Ich tue es einfach nicht. Weil ich keine Zeit dazu habe, weil ich anscheinend nicht sonderlich stark auf die Optik von Männern reagiere. Weil Sex nicht mein zentraler Lebenssinn ist. Und weil es außerdem deutlich mehr schöne Frauen als Männer gibt.“

„Also denkst du eher an Frauen. Hab‘ ich kein Problem mit.“

„Im Gegenteil, ich weiß, dass du damit kein Problem hättest.“

„Ich finde es unnatürlich, keine erotischen Fantasien zu haben. Es gibt eine Menge Frauen, die erotische Fantasien haben.“

„Ich bin deiner Meinung nach also nicht natürlich, nicht normal. Ich soll mich an deine Vorstellung von Natürlichkeit anpassen. Ich glaube, dass diese Frauen, von denen du redest, genau das getan haben: Sie haben sich an die Vorstellung der Männer davon, was bei Frauen normal zu sein hat, angepasst. Und ihr Soll womöglich noch übererfüllt. Das ist patriarchalisches Denken.“

„Du wehrst dich mit Händen und Füßen gegen die Einsicht, dass dir deine erotischen Fantasien durch deine Erziehung ausgetrieben wurden. Wenn du sie nicht hast, musst du sie wohl verdrängt haben. Während ich dich dabei unterstützen möchte, sie zuzulassen und kennenzulernen, wirfst du mir patriarchalisches Denken vor. Finde ich, ehrlich gesagt, absurd. Du bist alles andere als ein asexueller Mensch – wo, bitte, sind dann deine sexuellen Gedanken? Statistisch betrachtet, denken Frauen zehn Mal am Tag an Sex, einige noch viel häufiger.“

„Woher du sowas weißt! Frauen reagieren auf optische Reize nur sehr indirekt. Sie merken oft nicht einmal, dass sie etwas erregt. Du kennst das Experiment, bei dem Frauen verschiedene Pornos gezeigt wurden, unter anderem auch kopulierende Bonobos. Sie hatten nicht das Gefühl, davon erregt zu werden. Physiologisch aber waren sie eindeutig erregt. Frauen reagieren auf Berührungen, auf den unmittelbaren Kontakt. Sie brauchen keine Fantasien, um erregt zu werden, sie brauchen Berührungen.“

„Soll heißen, wenn André – nur als Beispiel – dich berühren würde, wenn er dir sanft den Nacken massierte und dir dabei zweideutige Worte ins Ohr hauchen würde undsoweiter, dann könntest du schwach werden?“

„Erstens: André? Würde der nie machen. Ist zudem nicht mein Typ. Zweitens: Massage, okay. Alles weitere, würde ich gar nicht erst geschehen lassen. Hab‘ ich das nötig? Auch wenn es mich vermutlich nicht kalt lassen würde. Das muss ich zugeben. Aber es ist keine Fantasie, die ich innerlich kultiviere.“

„Ich meine es rein theoretisch. Aber klar: Da du keine erotischen Fantasien hast, kannst du dir auch nicht vorstellen, wie verführbar du im Ernstfall wärst.“

„Und du? Für wie verführbar hältst du dich selbst?“

„Hier kommt der Unterschied zwischen uns ins Spiel. Ich kann mir die Situation sehr gut – und sogar gerne – vorstellen. Aber wenn es in Wirklichkeit dazu käme, würde ich vermutlich ganz schnell Reißaus nehmen. Während du dir die Sache nicht vorstellen kannst, aber möglicherweise in der konkreten Verführungssituation nicht Nein sagen könntest. Von wegen Unmittelbarkeit der Berührung und so.“

„Du versuchst gerade echt mir meine Sexualität zu erklären? Das dürfte wohl die höchste Stufe des Mansplaining sein.“

„Nein, absolut nicht. Aber es muss erlaubt sein, das Verhalten und die Aussagen von Menschen zu deuten. Jede Deutung kann falsch sein, unwidersprochen. Aber ich sehe die sexuellen Tabus in deiner Erziehung, die ungewöhnliche Nichtexistenz von Fantasien und deinen Hinweis, dass es dich erregen könnte, wenn ein Mann dich zu erobern versucht. Im Übrigen spiegeln genau diese drei Faktoren patriarchalisches Denken wider: Frauen haben keine sexuellen Fantasien zu haben, sollen keusch sein in Gedanken und Taten, sollen sich aber dem begehrenden Mann (sprich: Ehemann) hingeben, wenn er das will – und es geschickt genug anstellt. Ansonsten sind Sex und Erotik unanständig und daher, bitte, aus dem persönlichen Gefühlshaushalt zu streichen. Das ist ein absolut traditionelles Frauenbild. 50er-Jahre mindestens. Aufgeklärte, befreite Frauen haben eine aktive, selbstbewusste Sexualität, verdrängen ihre Lust nicht, genießen ihre erotischen Fantasien und wissen, was und wer ihnen auf welche Weise Lust verschaffen kann. Und sie holen sich, was sie brauchen.“

„Dann ist es ja raus. So habe ich deiner Meinung nach zu funktionieren, damit ich deinem Bild einer modernen Frau entspreche. Du erwartest von mir – deine Worte! –, dass ich mir hole, was ich brauche. Ich soll diese wie auch immer geartete Sexualität in mir aus dem Dornröschenschlaf wecken und dann mal so richtig die Sau rauslassen. Jetzt bin ich mal mit dem Deuten an der Reihe: Du hast da einen gewaltigen Balken im Auge. Du erwartest von mir, dass ich die Norm an deiner Stelle breche, indem ich sie für ungültig erkläre. Am liebsten wäre es dir, wenn ich mich in deinem Sinne in eine aufgeklärte, moderne, sexpositive Frau verwandele, die ihre sexuellen Fantasien pflegt und gedeihen lässt, um schließlich auch die Initiative zu ergreifen und sich einen feschen Mann zu schnappen, der auch mal ein anderer als der eigene sein darf. Ich soll den Anfang machen, damit du die Erlaubnis zu deinem ersehnten Abenteuer mit einer Anderen bekommst, oder für einen Dreier oder Vierer, oder was auch immer du dir vorstellst. Ich soll mich emanzipieren, um dich zu befreien. Du machst meine sexuelle Emanzipation zur Bedingung für deine eigene. Damit würdest du dich in eine überaus machtvolle Position versetzen. Weil es nämlich meine Entscheidung wäre. Weil ich die Verantwortung dafür übernehmen würde. Was wäre denn, wenn ich jetzt sagte: Okay, lass es uns tun? Du sagst immer nur: Ich möchte alles sagen können. Du sagst nicht: Hey, Nina, wollen wir nicht mal einen Dreier mit Uta arrangieren? Eher würdest du dir die Zunge abbeißen. Du willst mich schon seit Wochen und Monaten dazu bringen, dass ich sage: Hey, mal mit André, oder wem auch immer, zu vögeln, wäre ein richtig aufregendes Abenteuer, findest du nicht? Und du: Klar, mach, wenn du meinst, dass das gut für dich ist! Du würdest es als Legitimation für die lang ersehnte Ära promiskuitiver Abenteuer betrachten, oder – wenn du mit meinem Fremdgehen emotional dann doch nicht zurechtkämst, dich wieder auf die Seite der Norm schlagen und mich für den Bruch unseres Vertrages verurteilen und dich beleidigt, verletzt, erniedrigt in Selbstmitleid suhlen. Nach dem Motto: Sollte doch nur ein Gedankenspiel sein. Denk die Situation doch mal ganz konkret weiter! Wenn ich nun alles täte, was du von mir verlangst und ich auf den Geschmack käme und anfangen würde, wild durch die Gegend zu vögeln. Wenn ich feststellen würde, dass das mit dir schon lange nicht mehr der Kick ist und die Abenteuer mit anderen viel spannender und geiler sind. Würde dir das keine Angst machen? Würdest du dich davon nicht entwertet fühlen? Was macht das mit der Liebe zwischen uns? Lass uns aufhören mit diesem Thema. Mich törnt das ab. Es macht mich wütend.“

„Es geht überhaupt nicht darum, irgendwas in Wirklichkeit zu tun. Aber in unseren Köpfen gibt es nun einmal diese Sehnsüchte. Ich finde, man muss dazu stehen und sie zulassen dürfen. Das ist nur ein sehr kleiner Tabubruch, den ich jedoch als entlastend empfinden würde. Du überspitzt, du drehst und wendest die Sache so lange, bis sie dir passt.“

„Nein, ich lass‘ mich nur nicht für dumm verkaufen. Aber lass‘ gut sein. Ich habe doch schon lange begriffen, wie wichtig dir deine Fantasien sind und wie wenig souverän du damit umgehen kannst.“

„Gerade darum geht es mir, um die Souveränität. Aber dir fällt es schwer, mit meiner Souveränität umzugehen, und das schränkt meine Souveränität wiederum ein. Ich habe überhaupt nicht vor, was mit Uta anzufangen und will auch nicht, dass du dir André schnappst. Oder er dich.“

Langes Schweigen. Ich spüre die Röte in meinem Gesicht. So unglücklich, wie unser Gespräch verlaufen ist, wird es wohl nichts mit unserem für heute Abend verabredeten Bettvergnügen. Nina ist sauer und ich fühle mich missverstanden. Ein Vierer mit Freunden? In Wirklichkeit würde mich das nicht ein bisschen antörnen. Was fängt man schon an mit diesen unvertrauten Körpern? Wie überhaupt käme es soweit? Das Glas Wein im Sofa und irgendwann die Frage: Sagt mal, ihr beiden, seid ihr eigentlich schon mal in einem Swingerclub gewesen? Immerhin schreibt ihr in eurem Buch über so ein Erlebnis. Nein? Hab‘ ich mir gedacht. Und nie mit dem Gedanken gespielt? Auch nicht. Wie wäre es mit einem Spielchen? Der Verlierer muss jedes Mal ein Kleidungsstück ausziehen. Wer nicht am Ende völlig nackt dasteht, hat gewonnen und kann bestimmen, was die anderen zu tun haben. Unterirdisch! Primitiv. Ich könnte das nicht. Allerdings: umgekehrt? Wenn die Freunde den Vorschlag machen? Komm´ schon, Aleksander, mach mit! Das ist lustig, wir kennen uns doch schon so lange. Hast du etwa Angst? Siehst du, Nina macht auch mit. Dann wäre es auf einmal okay. Oder würde ich mich nicht selbst dann noch zieren?

Eine neue Theorie geht mir durch den Kopf. Während ich, der ich mich zu meinen ausschweifenden erotischen Fantasien bekannt habe und – da hat Nina vollkommen recht – sie zu eigenen Bekenntnissen provozieren möchte, weil ich mir unsere traute Zweisamkeit noch schöner und abenteuerlicher vorstelle, wenn wir uns frank und frei über pikante Fiktionen austauschen könnten, unterstellt sie mir unentwegt das brennende Interesse, meine Fantasien Wirklichkeit werden lassen zu wollen. Warum nur? Die Psychoanalytiker würden hier von Projektion sprechen. Sie unterstellt mir, was sie für sich kategorisch ausschließt, weil in ihr nicht sein kann, was nicht sein darf. Möglicherweise ahnt Nina, dass die Versuchungen viel zu groß sein könnten, wenn sie ihre Fantasien an die Oberfläche ihres Bewusstseins steigen ließe. Sie hat Angst vor dem, was sie zu tun bereit wäre, wenn sie die unberechenbaren Geister aus der Flasche befreite. In dem Märchen DER GEIST IM GLAS der Gebrüder Grimm lässt ein junger Mann einen kleinen Homunculus aus einer Flasche. Der bläht sich zu einem riesigen Geist auf und droht, seinen Befreier zu töten. Ein guter Grund, den Geist gar nicht erst heraus zu lassen, wenn man ahnt, dass er mir mit allen meinen Zukunftsplänen einen Strich durch die Rechnung zu machen beabsichtigt. Mit einem Plopp ist das Leben hopp. Das Märchen endet jedoch nicht mit dem Tod des leichtsinnigen Sohnes eines armen Holzhackers. Mit einer List lockt er den Geist zurück in die Flasche. Dabei könnte er es auch belassen. Wer begibt sich schon ein zweites Mal in so eine hochriskante Situation? Müsste schon ein Idiot sein. Aber der junge Mann lässt den Geist ein weiteres Mal heraus. Der Lohn: ein lächerlicher Lappen, ein Zauberlappen, wie ihm versichert wird. Als der Junge die geliehene Axt damit bestreicht, wird das Metall weich. Beim ersten Hieb verbiegt die Schneide. Der Junge blamiert sich nicht nur vor seinem Vater, die verbogene Axt stellt auch einen herben finanziellen Verlust für die Familie dar. Ziemlich blöd gelaufen! Wäre der Geist doch bloß in der Flasche geblieben! Die Pointe am Ende: Das Eisen der Axt wurde durch den Lappen in wertvolles Silber verwandelt. War also doch die richtige Entscheidung, den Geist aus der Flasche zu lassen. Und ich finde, auch Nina sollte sich entscheiden, ihre Geister aus der Flasche zu lassen. Erstens kann sie den übermächtig erscheinenden Geist, den großen Mercurius, wie es im Märchen heißt, mit einfachen Mitteln wieder auf Erbsengröße schrumpfen lassen, zweitens wird sie von ihm reich beschenkt, drittens sind die mit seiner Befreiung verbundenen Ängste und Peinlichkeiten vorübergehender Natur. Ist nur eine Theorie. Ich behalte sie für mich, denn Nina würde sie für übergriffig und unverzeihlich halten. Außerdem würde Nina sofort mit einer überwältigenden Gegentheorie aufwarten, die mir meine schöne Theorie zerstören würde.

Unterdessen hat auch Nina nachgedacht und spricht unvermittelt in die vor ihr aufgeschlagene Zeitung.

„Also nochmal in aller Ruhe. Der Punkt ist: Wir beide sind möglicherweise empathisch genug, uns nicht gegenseitig diesen Tabubruch zuzumuten, diese Unsicherheit, die daraus resultieren würde. Ich meine, wirklich mit Anderen Sex haben. Ich will das nicht, und, wenn ich dir glauben darf, auch du nicht. Du stellst es dir zwar vor, aber du würdest es mir nicht antun. Und ich dir sowieso nicht. Dieser Tabubruch würde nur gelingen, wenn einer von uns gerade nicht empathisch wäre und seinen Sehnsüchten – welche auch immer das sein mögen – rücksichtslos Taten folgen lassen würde. Wenn etwas zwischen uns nicht mehr funktionieren würde.“

„Außer, es gibt eine bislang uneingestandene Komplizenschaft, eine Synchronität der Sehnsüchte.“

In meinem Kopf spielen zwei Paare nackt Flaschendrehen. Im Innern der Flasche hüpft ein halb durchsichtiges, wild gestikulierendes Wesen herum.

„Die du mit pseudosokratischen Überredungsstrategien herzustellen versuchst, ohne selbst klar Stellung zu beziehen.“

„Hab‘ ich das nicht schon? Und außerdem: Wer von uns spielt denn hier den Sokrates?“

„Worauf ich hinaus will: dieses Verschieben der Verantwortung. Dass man die Verantwortung für eine Sache, für eine Handlung, für ein Risiko, für eine Veränderung, die man sich wünscht, einem anderen überlässt. So, wie du von mir erwartest, dass ich eine Entscheidung treffe, die dich vermeintlich befreit, statt dass du diese Entscheidung selbst triffst und dann auch die Verantwortung trägst und die Konsequenzen in kauf nimmst. Und dabei geht es überhaupt nicht mehr um Sex. Wir sind möglicherweise einer viel größeren Sache auf der Spur, einem universalen Gesetz, das weit über Liebe und Sexualität hinausgeht. Hör zu!“ Nina legt die Zeitung beiseite und richtet sich in ihrem Sessel auf. „Soziale Normen zu übertreten ist mit Angst verbunden, geradezu existentieller Angst. Denn die Gesellschaft könnte dich vermutlich bestrafen oder ausstoßen. Ich könnte dich bestrafen. Ich könnte dich verlassen, wenn du deine sexuellen Fantasien Wirklichkeit werden lässt.“

Ich will ein weiteres Mal widersprechen, aber Nina lässt mich nicht zu Wort kommen.

„Lass mich diesen Gedanken weiterentwickeln! Du willst also jemanden, der an deiner Stelle bestimmte Normen übertritt, um nicht selbst die Verantwortung dafür tragen zu müssen. Und dafür brauchst du empathielose Menschen, Psychopathen, denen es gleichgültig ist, was die Anderen über sie denken. Menschen, die keine soziale Angst kennen und darum radikal handeln können. Diese Menschen müssen nicht einmal von einer Sehnsucht getrieben sein, sie müssen einfach nur etwas tun. Sie wollen sich mächtig fühlen. Mit anderen Worten: Wir Sehnsüchtigen warten auf einen Anführer, der an unserer Stelle die Normen bricht. Scheiße nur, wenn das nicht die Normen sind, die dich persönlich zwicken, oder wenn die Sache uferlos wird. Warum hat Donald Trump eine so große Anhängerschaft? Weil er permanent Normen bricht. Weil er anscheinend den Mut besitzt, für unumstößlich gehaltene Normen zu brechen. Ein Zerstörer, der die Hoffnung auf eine neue Ordnung schürt. Aus den gleichen Gründen sind die jungen Männer 1914 begeistert in den Weltkrieg gezogen. Sie hatten die Hoffnung, die Zerstörung würde eine neue und bessere Ordnung hervorbringen. Hitler war so offenkundig ein Zerstörer, alle haben das gewusst, aber viele wollten genau das: Zerstörung. Weil sie glaubten, danach würde etwas Neues und Besseres kommen. Was das jedoch sein würde, wussten sie selbst nicht. Und am allerwenigsten Hitler. Dem reichte das Gefühl der Macht und er badete in der Euphorie über die selbst ihm unerklärliche Gefolgschaft der Massen, die auf ein großes Abenteuer aus waren. Wir wollen unsere Abenteuer nicht selbst verantworten, wir brauchen amoralische Psychopathen, denen wir in ein Abenteuer mit unabsehbaren Konsequenzen folgen können. Trump, Hitler, Orban, Putin, Charles Manson, die Taliban, Boko Haram, Bruno Göring, Martin Luther …“

„Martin Luther?“

„Selbst wenn er gute Absichten verfolgt hat, er war Egomane genug, sich während der durch die Reformation ausgelösten Bauernkriege auf die Seite des Adels zu schlagen und die gewaltsame Niederschlagung der Bauernaufstände zu fordern. Die Anführer des Volkes wenden sich schnell gegen das Volk, wenn sie ihre Macht schwinden sehen. Als Normzerstörer machen sie den Menschen Hoffnung auf die Erfüllung ihrer Sehnsüchte. Aber sie können diese Sehnsüchte gar nicht erfüllen.“

„Nach deiner Definition müsste dann auch Jesus ein Psychopath gewesen sein.“

„Nee, der hat, aus der Perspektive eines Psychopathen betrachtet, etwas vollkommen Irrwitziges getan: Er hat sich verraten und hinrichten lassen. Er hat darauf verzichtet, Macht zu bekommen, er hat sich gerade nicht auf einer Wartburg versteckt. Ich will gar nicht all diese Fässer auf einmal aufmachen. Ich sage nur: Wir sehnen uns vielleicht danach, bestimmte Normen und Regeln loszuwerden, schrecken aber vor den Risiken eigenen verantwortlichen Handelns zurück und suchen uns Psychopathen als Anführer, die diese Angst nicht besitzen. Wir machen damit den Bock zum Gärtner. Wir wünschen uns eine menschliche Welt, ja. Wir können aber nicht erwarten, dass diese Arbeit Unmenschen für uns tun, oder überhaupt irgendwelche anderen Menschen. Die Welt zu verändern, bedeutet, sie – gemessen am Bestehenden – in Unordnung zu bringen. Aber diese Unordnung ordnet sich danach nach eigenen, emergenten Gesetzen und weitgehend ohne unser individuelles Zutun. Du kannst das dann nicht mehr steuern. Die besten Absichten können in der Barbarei enden.“

„Das ist der Standpunkt der Konservativen. Ändere nichts am Status Quo, die Folgen wären unabsehbar! Das ist mir zu holzschnittartig. Wir wissen zu genau, dass die Welt nicht bleiben kann, wie sie ist.“

„Unzweifelhaft. Aber wir brauchen dafür keine Zerstörer, die behaupten, die Demokratie sei zu träge für die nötigen Veränderungen. Wir brauchen nicht diese Psychopathen in den Führungspositionen von Wirtschaft und Politik. Wir brauchen Empathie, Rücksicht, Weitsicht, Weisheit.“

„Den guten König, von dem Platon spricht?“

„Eine wachsame, aufgeklärte, demokratische Öffentlichkeit.“

„Sind wir mit dieser Erkenntnis auch nur einen Schritt weitergekommen?“

„Die Bolsonaros, Lukaschenkos, Orbans, Trumps und Putins dieser Welt spiegeln mit der durch sie provozierten Spaltung der Menschen in Gefolgschaft und Widerstand die dialektische Einheit von Sehnsucht und Angst wider, die angesichts der globalen Herausforderungen in höchste Anspannung geraten ist. Sehnsucht nach menschlichen Lebensverhältnissen für alle und Angst, zu den Verlierern zu gehören. Sehnsucht nach Veränderung und Angst vor den Konsequenzen. Das ist eine höchst explosive Situation, in der wir uns befinden. Und ich fürchte, auch wir beide leben gerade in einer höchst explosiven Situation.“

Wir beide leben in einer explosiven Situation? Was meint Nina damit? Ich fühle mich schlecht. Der Typ mit seinem Laptop auf der Nebenbank sieht verstohlen zu uns herüber. Wartet wohl gespannt auf den Fortgang unseres Gesprächs. Nina blickt aus dem Fenster und ich sehe einen bitteren Zug um ihren Mund. Ich müsste jetzt irgendwas sagen, mich weiter erklären. Aber es käme doch nur aufs Selbe hinaus: Nina hat recht. Ich möchte in Abenteuer verwickelt werden, aber nicht selbst dafür verantwortlich sein. Ich beklage mich über die Spießer, die nicht wagen zu sagen und zu tun, was sie ersehnen. Sie sollen über ihren Schatten springen, weil ich selbst es nicht kann. Und nicht will. Du zuerst! – das ist schon immer meine Devise gewesen. Ich habe nie das Zeug zur Pippi Langstrumpf gehabt, bin immer nur der kleine, ängstliche Thomas gewesen. Und Nina meine Annika? Ich blicke mich um: lauter Thomasse und Annikas mit Gesichtsmasken. Unsere Freunde und Bekannten, auch sie heißen alle Thomas oder Annika. Wie viele von ihnen mögen sich eine Pippi Langstrumpf herbeiwünschen, die sie aus ihrem Normalo-Dasein herausreißt?

Ich rufe mir einige der Abenteuer von Pippi Langstrumpf ins Gedächtnis. Viele davon hätten so richtig in die Hose gehen können. Vermutlich ist Pippi eine Psychopathin.

Ficken für Frieden – oder: Vom öffentlichen Beischlaf bei Staatsempfängen

Wenn am Morgen hinterm gegenüberliegenden Wohnblock die Sonne in den strahlend blauen Himmel steigt, ein leichter Wind durch die Straße weht und das junge, hellgrüne Lindenlaub durchrauscht, kaum ein Auto zu hören ist, dafür vorwitzige Amselherren, Finken und Meisen, öffnen wir alle Fenster und gratulieren uns, dass wir eine doppelflügelige Balkontür haben, wenn auch der Balkon selbst klein ist. Dann sitzen wir an unserem schweren Bistrotischchen und surfen durch die Nachrichtenportale. Der Kontrast könnte größer kaum sein: Die Buche im gegenüberliegenden Hinterhof, einem üppig grünenden Gärtlein, das wir gern an Sommerabenden mit Freunden genießen, ragt bereits weit über den Dachfirst hinaus und schaukelt friedlich rauschend vor den mittlerweile heranwehenden Wolkenflocken, während düstere Bilder auf unseren Smartphones brennende Autos und flammenlodernde Supermärkte in den Staaten zeigen. Und einen Staatenlenker, der mit arroganter Fresse mit Gewehrsalven der Nationalgarde droht. Als sei dies die herbeigesehnte Gelegenheit, das demokratische System zu stürzen, indem die glühende Wut noch angefacht wird, bis sie als Bürgerkrieg oder terroristischer Angriff der Exekutive die Legitimation verleiht, durch Notstandsgesetze alle Bürgerrechte zu liquidieren. Soll Trump die unverhohlen geäußerten Ziele des Steve Bannon doch noch verwirklichen? Wohin nur mit unserem Vertrauen in die Vernunft, die Freundlichkeit und das Wohlwollen der Menschen, wenn den neuen Barbaren in der Politik und den Populisten der radikalen Ränder immer mehr hasserfülltes Gefolge zuwächst?

Wir blicken uns an und finden keine Worte. Im Kopf rotieren die Gedanken, aber sie finden keine Anker – oder zu viele, sie sind wie Widerhaken, die aus den Tentakeln der Medusa hervorsprengen, sobald man sie berührt, stechend, brennend und lähmend. Aleksander stottert etwas Unverständliches und verstummt mitten im Satz. Mein eigenes Gestammel rasselt laut von vielen Klischees, die mich unerbittlich mit meiner Ohnmacht konfrontieren: unglaublich, nicht zu fassen, wie können die nur, sind die noch ganz bei Trost? Warum gießt der auch noch Öl ins Feuer? Und warum applaudieren ihm die rechten Arschlöcher auch noch? Bemerken die nicht, was gerade auf dem Spiel steht?

Und dann bricht es aus Aleksander wieder einmal heraus: „Die sollten einfach alle mehr ficken! Am besten dreimal täglich oder sooft die Benediktsregel das Gebet vorschreibt, Vigil, Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Jeder mit jedem, der ihm gerade in den Kram passt. Wie kann es sein, dass sich die Menschen gegenseitig hemmungslos nach dem Leben, der Gesundheit und dem Eigentum trachten, sich entblöden, öffentlich ihren Menschen-, Rassen- und Randgruppenhass zu kultivieren – aber alles, was mit Lust, Berührung, Zärtlichkeit, Liebe zu tun hat, den geilsten Dingen, die Menschen überhaupt miteinander machen können, tabuisieren, verurteilen, untersagen? Sollen doch alle miteinander vögeln, statt sich gegenseitig umzubringen!“

Ich frage mich manches Mal, wie Al es fertigbringt, in allem einen Anlass zu finden, über die Befreiung seiner unterdrückten männlichen Sexualität zu schwadronieren. Diesmal finde ich die Volte besonders geschmacklos. Ficken für Frieden, group sex for global sanity. Trotzdem: Wir haben seit einiger Zeit die Verabredung, alles, was dem anderen gerade einfällt (und sich zu sagen traut), ernst zu nehmen und gegebenenfalls einer genauen und rücksichtslosen Überprüfung zu unterziehen. In diesem Fall: Was würde es bedeuten, wenn eine kritische Masse von Menschen Aleksanders Rat befolgen würde? Wie überhaupt würde die dafür nötige Herde diskursiv zusammengetrieben werden können?

Ausnahmsweise tue ich Aleksander den Gefallen, mich selbst in den Mittelpunkt eines konkreten Beispiels zu stellen. Er findet, dass ich viel zu selten mit eigenen erotischen Fantasien befasst bin, er schätzt das diesbezügliche Gefälle zwischen uns als eklatant ein und lässt kaum Gelegenheiten aus, mir mit Anspielungen, wie zufällig auf dem Wohnzimmertisch platzierter, einschlägiger Lektüre oder Desktopverknüpfungen auf unserem gemeinsam genutzten PC, die auf pikante Sammlungen von Bildern und Videos verweisen, Anlässe zu erotischen Tagträumen zu bieten. Möglich, dass er es als besondere Form von Grausamkeit empfindet, wie hartnäckig ich diese stummen Impulse ignoriere. „Das ist dein Ding“, sage ich ihm, „es gibt mir nichts, deine Obsessionen zu teilen.“ Es ist nicht so, dass ich von ihnen nicht profitiere, aber wir müssen nicht unbedingt denselben Garten bestellen. In seinem Garten wächst mir einfach zu viel Unkraut. Und wer zu viel düngt, sieht sich bald einem hypertrophen Wachstum gegenüber, das nicht mehr schön ist und den Gärtner geistig und körperlich überfordert. Spricht man nicht auch von geilen Trieben, die keine Früchte tragen? Heute jedoch will ich mich einmal als Pflänzchen in seinen Garten der Lüste begeben und bunte Blüten treiben.

„Was du sagst, Al, finde ich bei genauerem Nachdenken überzeugend. Ich bin über mich selbst überrascht. Es gibt tatsächlich ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Akzeptanz von Gewalt unter Menschen, von Krieg als Mittel der Politik, von Bestrafung, Rache und Freiheitsberaubung auf der einen Seite und Sex auf der anderen.“

„Nicht wahr?“

„Wenn ein Staat Rassismus und Polizeigewalt gegen Minderheiten zulässt und Demonstranten sich berechtigt fühlen, Polizeistationen mitsamt ihren Insassen anzuzünden, wenn die Menschen massenweise Filme und Serien streamen können, in denen alle fünf Minuten irgendwelche Leute massakriert werden, aber Pornographisches als entwürdigend und unmoralisch zensiert wird, dann stimmt irgendwas Entscheidendes nicht. Mea Culpa! Den blutigen Thriller, den wir uns gestern Abend angeschaut haben, habe ich tatsächlich genossen, bei Mitchells Shortbus oder Noés Love war mir dann doch zu blümerant, als dass ich die Filme wirklich hätte genießen können. Peinlich berührt nehme ich innerlich Distanz und mir fallen sofort all die Lächerlichkeiten auf, die ich beinahe jedem noch so schlecht gemachten Thriller nachsehe.“

„Hört, hört! Wird die Saula jetzt doch noch zur Paula?“

Aleksanders Scherze waren schon besser. Folgendes Szenario: Der Gemüsehändler unten in der Straße hat neulich einen erbitterten Streit mit einem Typen gehabt, der seinen Lieferwagen in der Hofeinfahrt geparkt hat, um irgendwas auszuladen und danach im Café gegenüber noch sein zweites Frühstück einzunehmen. Seit ein paar Wochen liefert Ricardo sein Gemüse auch an Privatkunden aus und der Corona-Bote kam wegen des widerrechtlich geparkten Lieferwagens eine halbe Stunde lang nicht aus dem Hof raus. Als der Typ wieder in seinen Lieferwagen steigen wollte, wäre Ricardo beinahe handgreiflich geworden, er fluchte, bis dem anderen, der sich anscheinend in seiner Ehre verletzt sah, der Kragen platzte und damit drohte, Ricardo abzustechen. Ich kam zufällig vorbei, als der Streit eskalierte. Zum Glück kam es nicht zum Schlimmsten. Dennoch hätte ich den Streit schnell schlichten können, wenn ich den beiden Streithähnen einen spontanen Dreier zwischen den Kartons des Lieferwagens vorgeschlagen hätte. „Entspricht das ungefähr deinen Vorstellungen von einer Deeskalationsstrategie, Al? Jedenfalls könnte ich es mir sehr aufregend vorstellen, mit Sex in anderen Menschen das Gute hervorzulocken und meinen Beitrag zum Frieden zu leisten.“

„Du machst dich über mich lustig.“

„Keineswegs, ich nehme dich ernst, dich und das, was du sagst. Wenn du das ehrlich meinst, müsste es auch mir möglich sein, Streit und Gewalt lustvoll in ihr Gegenteil zu verkehren, in Liebe, Zärtlichkeit und Orgasmen. In meinem Beispiel wäre ich sogar gleich zweimal auf meine Kosten gekommen.“

„Mit einem schmierigen Gemüsehändler.“

„Du müsstest ihn mit meinen liebenden und begehrenden Augen sehen. Sollten wir nicht beide bereit sein, um des lieben Friedens Willen sogar Donald Trump einen zu blasen?“

„Würde dir das denn Spaß machen? Ich finde, Sex sollte nicht als Opfergabe betrachtet werden. Dir geht nicht wirklich einer ab, wenn du daran denkst, dem narzisstischen Fettwanst den Schwanz zu lutschen. Oder habe ich mich in dir getäuscht und du hast gerade dein Coming-out?“

„Klar finde ich die Vorstellung eklig. Der ganze Mann ist eklig. Das liegt möglicherweise an diesem Tabu in meinem Kopf, dass ich es als entwürdigend empfinde, einem fremden Mann den Schwanz zu lutschen. Selbst wenn er ihn vorher gewaschen haben sollte. Wenn wir uns deiner Utopie nähern wollen, müssen wir vermutlich hart trainieren, mühsam und entschlossen an uns arbeiten und alle Vorbehalte, Vorurteile und Vorhautphobien ablegen. Sind nicht alle Menschen schön? Ihre Schwänze, Vulven, Titten und Ärsche. Sind nicht alle Menschen wert, geliebt – und sexuell befriedigt zu werden? Oder würdest du da Unterschiede machen wollen?“

Aleksander gibt sich vorerst geschlagen, er schweigt eine Weile nachdenklich, hebt dann den Zeigefinger, sagt: „Gib mir eine Viertelstunde“ und zieht sich im Morgenmantel ins Bad zurück.

Für jede gute und die Gesellschaft verändernde Idee braucht es – ein Bewegung. Einen Kick-down-Start. Und eine Anführer*in. Eine Charismatiker*in. So wie Greta Thunberg. Oder Martin Luther King. Anders liegt die Sache bei Tarana Burke. Warum ausgerechnet ihr Hashtag #MeToo eine derartige Wirkung entfalten konnte, bleibt unerklärlich. Eine Anführerin dieser Bewegung ist sie mit Gewissheit nicht, so engagiert sie sich auch gegen sexuelle Gewalt gewandt haben mag. Viral wurde der Hashtag erst mit Alyssa Jayne Milano. Me-Too ist trotz der wichtigen Initiatorinnen vor allem ein Phänomen, bei dem gesellschaftliche Wirklichkeit auf unberechenbare Schwarmintelligenz traf. Und wie unberechenbar und irrational Schwarmintelligenz sein kann, können wir an den positiven wie negativen Folgen von Me-Too sehen. Sexuelle Gewalt gegen Frauen, auch sexualisierte Gewalt, werden zunehmend tabuisiert; aber nicht minder beinahe jede Form des Flirts und spontaner Zärtlichkeiten, sofern sie von Männern ausgehen (Ach ja: ungehemmt flirtende und die Körpergrenzen übertretende Frauen sind nach wie vor Schlampen!). Dass auch mir sexuelle Anspielungen von Männern, mit denen ich nicht verheiratet bin, eher Angst machen als Lust, ist ein Zeichen für die Schieflage der Geschlechter. Ich könnte das Kompliment für meine Figur oder meine Brüste (in meinem Alter!) durchaus genießen, wenn ich nicht befürchten müsste, diesen sichtbaren Genuss mit einem ungewollten, brutalen oder auch nur lächerlichen und halbherzigen Übergriff büßen zu müssen. Darum gerät das erotisch gemeinte Kompliment zunehmend in die Tabuzone, in der Asservatenkammer gleich neben historischen Masturbationsverboten und den Strafen für vorehelichen Geschlechtsverkehr. Hach, Masturbation ist ja nun wieder erlaubt, sogar geboten! Am besten täglich, der Gesundheit wegen. Aber das macht man/frau ja auch nur mit sich allein. Das scheint überhaupt der ungefährlichste und ideologisch unbedenklichste Sex zu sein, der mit sich selbst.

Die Me-Too-Bewegung oder auch Fridays-for-Future zeigen, wie wichtig (und unvorhersehbar) der richtige Moment für eine weltumspannende Bewegung ist. Im Jahr 1980 wären die Akteure ausgelacht worden, wahrscheinlich auch noch im Jahr 2000. Es kommt vielleicht sogar auf Monate und Tage an, auf die Kumulation von Ereignissen, auf die Hautes der Diskurse. Wann der richtige Moment für einen neuen Diskurs ist, wissen nur die Diskurse selbst. Und wenn dann eine Bewegung durch die Decke geht, weiß kein Mensch, welche Richtung sie langfristig nehmen und in welchem Maße sie irrlichtern wird, denn kein Mensch kann sie steuern. Wer ein diskursives Geschoss abzufeuern gedenkt, sollte gewieft genug sein, es mit einem Kreiselkompass auszustatten, damit es seine Richtung halbwegs beibehält. Die meisten enden ohnehin als Rohrkrepierer. Wie zum Beispiel die 2003 gegründete Bewegung „Fuck for Forest“, die ihre Umweltschutzprojekte mit ökologisch wertvollen Pornos finanziert. Sehr lustvoll, haarig und naturnah (meine Vagina hat noch keine Mohrrübe gesehen), aber weitgehend wirkungslos. Falscher Zeitpunkt, immer noch sehr verbreitete Vorbehalte gegen tätowierte Körper, tabuisierte Pornographie? Alles möglich. Aber irgendwie muss doch auch absehbar gewesen sein, dass „Fuck for Forest“ kein durchschlagender Erfolg beschieden sein würde.

Nun stelle ich mir Aleksander Pjotr Nekrasov als Anführer einer neuen Friedensbewegung vor. Sein Leitspruch respektive Hashtag: #FuckForPeace. Bei Facebook gibt es eine Gruppe gleichen Namens. 83 Personen haben das abonniert und der letzte Eintrag stammt aus dem Jahr 2014. Instagram weist immerhin 413 Beiträge aus. Al, dein Vorschlag kommt zur Unzeit! Oder auch gerade recht! Denn ein Hashtag ohne nennenswerte Beiträge hat Zukunft und ist noch nicht „ausgelutscht“. #FickenfürFrieden deprimiert mit ganzen 3 Beiträgen noch viel mehr. Entweder die Diskurse halten derzeit nicht viel vom Ficken, oder Aleksander hat gerade eine echte Marktlücke entdeckt, eine Lücke im Diskursmarkt. Marketingtechnisch würde Al allerdings mit #psilocybinforpeace besser liegen – schon wegen der Alliteration.

Der #blackouttuesday verzeichnet heute bald 20 Millionen Beiträge mit lauter schwarzen Quadraten, ich wette auf insgesamt 30 Millionen. Aber morgen ist Mittwoch. Und die black Postenden posten bald munter weiter bunte Bilder. Es bleibt abzuwarten, was der Hype für die Rechte der Schwarzen bringt. Vielleicht hat das von wem auch immer gefakte, aber eindrückliche, komplett schwarze #newyorktimescover die Chance, in die Mediengeschichte einzugehen. Für Aleksanders #worldwideorgyday (0 Beiträge bei Instagram, vielversprechender Kandidat unter den Pennystocks der Hashtagwolke) müssten die Titelblattgestalter der großen Tageszeitungen in ganz anderer Weise kreativ werden. Aber vermutlich würde die Sexspielzeugindustrie das Hashtag in kürzester Zeit gekapert haben.

„Okay“, sagt Aleksander, als er nach einer halben Stunde wieder auf dem Balkon erscheint, „ich versuche dein Beispiel ernst zu nehmen. Auch wenn du das nicht ernst gemeint haben kannst. Ich gebe zu, dass mir deine sexuelle Intervention arg zugesetzt hätte, wenn sie denn tatsächlich stattgefunden hätte. Ich bin zweifellos ein Kind meiner Zeit und meiner Kultur. Meine Eifersucht würde mich in so einem Fall sicher in eine tiefe Depression, in bodenlose Eifersucht und Wut versetzen, alles auf einmal. Ich würde Trennungsängste kultivieren, die Angst verlassen zu werden und die Angst, dich bestrafen zu müssen, indem ich dich verlasse. Dabei gäbe es überhaupt keinen Grund für eine Trennung. Ich müsste mich mit meinen falschen Besitzansprüchen auseinandersetzen, müsste lernen dich freizulassen. Immerhin geht es um deine Lust, deinen Körper, deine Gefühle. Ich habe noch einmal nachgelesen: Das Hormon Oxytocin, das beim Beischlaf freigesetzt wird, macht Menschen tatsächlich friedlicher. Und wenn das zwischen Paaren in einer festen Beziehung funktioniert, müsste es auch bei unverbindlichem Sex mit anderen funktionieren. Stelle ich mir jedenfalls vor.“

„Wäre da nicht die kulturelle Prägung, die uns ausgerechnet aggressiver macht, wenn wir erfahren, dass der Partner oder die Partnerin fremdgegangen ist. Die meisten Femizide gehen wahrscheinlich auf das Konto der Eifersucht und patriarchalen Besitzdenkens. Apropos unverbindlicher Sex – ist das wirklich deine Intention?“

„Wieso patriarchal? Du würdest doch auch ausflippen, wenn ich mit Renate schlafen würde, weil sie meinen Streit mit Ricardo schlichten wollte.“

„Weil es das patriarchale Denken ist, das uns Frauen eingeimpft wurde? Ich könnte mir denken, dass Frauen viel unbekümmerter mit promiskuitivem Sex umgehen würden, wenn der einen ähnlich hohen gesellschaftlichen Stellenwert hätte wie beispielsweise die private Altersvorsorge. Und wenn es dann auch guter Sex wäre, einer, der uns Frauen wirklich gefällt. Wahrscheinlich müsste dafür frauenfreundlicher Sex erst noch für ein paar Jahrzehnte Schulfach in der Oberstufe werden. Obwohl, die Schule würde einem wahrscheinlich den ganzen Spaß im Vorhinein vermasseln. Die Schule sorgt ja auch konsequent dafür, dass den jungen Menschen die Freude an der Literatur ausgetrieben wird. Oder an der Mathematik.“

„Das könnten die Medien viel besser.“

„Meinst du. Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Die Sexualerziehung durch Pornos treibt die widerlichsten Blüten. Und fördert vor allem männliche Fantasien zutage, denen sich Frauen auf die idiotischste Weise anzupassen versuchen. Deine world wide orgy wäre im Übrigen wie Weihnachten für Vergewaltiger und Kinderficker.“

„Man müsste eine Enklave für modernen, frauenfreundlichen Sex gründen, eine Keimzelle des sexuellen Fortschritts.“

„Eine Kommune? Einen Swingerclub? Reicht es nicht, wenn wir selbst, wir zwei beiden so eine Keimzelle werden?“

„Da siehst du’s, du ziehst dich letztlich doch immer wieder auf einen konservativen Standpunkt zurück. Was bringt eine Zweierbeziehung, ein Paar-Zelle für den Rest der Welt? Die da draußen bekommen davon doch gar nichts mit. Außerdem: wieso eigentlich werden? Sind wir’s denn nicht schon?“

Ich wiege mal provokativ den Kopf hin und her. Den Meisterbrief hält Pjotr wahrlich noch nicht in Händen. Umso aufregender, was es für ihn noch alles zu lernen gibt! „Al, dir geht es doch gar nicht um den Frieden in der Welt. Sei ehrlich, es geht dir um deine eigene Befriedigung. Wenn Renate nur deshalb mit dir schlafen würde, weil sie einen Streit schlichten will, wärst du in deiner Ehre gekränkt. Du würdest sie verachten, weil der Sex mit dir für sie nur Mittel zum Zweck wäre. Für guten Sex braucht es die gegenseitige Anziehung – und meistens eine gute Beziehung. Es gibt für Frauen kaum etwas Unbefriedigenderes als den One-Night-Stand. Beim Ficken für den Frieden würde der Orgasm Gap zugunsten der Männer fröhliche Urstände feiern. Warum sollten die Männer weiter abspritzen dürfen, während wir Frauen voller Mitgefühl für die armen, notgeilen Männer unsere Orgasmen weiterhin faken? Ficken für den Frieden? Vielleicht sollten die Männer erst mal unter sich damit beginnen, denn gerade zwischen ihnen liegt es doch seit Jahrtausenden im Argen. Wenn Männer mit Männern Sex haben, werden doch wohl auch die berühmten Bindungshormone ausgeschüttet. Es hätte überhaupt keinen Effekt, wenn ich Donald Trump einen blasen würde. Joe Biden müsste es tun. Und Trump müsste seinen Arsch für Bidens Schwanz mit Vaseline präparieren. Die Frage ist nur, ob die beiden überhaupt noch einen hoch kriegen würden. Wenn nicht, sollten sie aus dem Politikbetrieb ausscheiden. Überhaupt: Bei hochoffiziellen Staatsempfängen sollte es Sitte werden, dass die Staatenlenker zuallererst den öffentlichen Beischlaf zelebrieren. Das wäre ein Anfang! Putin liebt Trump, Trump liebt Kim Jong Un, Xi Jinping liebt Putin. Al, ich glaube, wir brauchen eine homosexuelle Revolution. Wenn alle Männer miteinander ficken würden, hätten wir ganz sicher eine friedlichere Welt.“

„Ausschließlich? Nur Männer untereinander?“

„Ach, warum ausschließlich? Aber für den Frieden solltet ihr Männer alles tun, was in eurer Macht steht.“

Die Sonne beginnt zu brennen. Unten stapelt Ricardo gerade Bananenkisten übereinander. Wir winken ihm zu. Vielleicht wird doch noch alles gut.

Der Kult der Coolness – und eine hitzige Entdeckung: The Raindance Kid

 

Vor ein paar Jahren schon sind wir durch einen Tipp von einem wirklich „coolen“ Typen auf unserem alten Blog auf eine junge Band aufmerksam gemacht geworden, die uns seitdem nicht mehr losgelassen hat. Irgendwo aus dem Nirwana des Internet tauchte ein faszinierendes, aufwendig und aus mehreren Kameraperspektiven gedrehtes Video eines Live-Auftritts einer unbekannten Band auf. Lauter nette, sympathische Musiker, darunter eine bildhübsche Violinistin. Aber das war’s eben nicht. Da war dieser Sänger, der mit der einen Hand einer etwas altertümlich anmutenden Orgel Luft in ihre gefächerte Lunge pumpte (wie bei der Erstversorgung eines Verunglückten mit Sauerstoff) und mit der anderen ein paar Tasten drückte. „Two Hearts Black“, die Musik atmete schwer und konvulsivisch, „I want you to be happy, when I’m gone.“ Entrückt, wie in Trance sang er seinen Text. Dieser Gesang, das war’s. Ansonsten eine Art wundersamer, ekstatischer Post-Rock, nichts vollkommen Neues. Trotzdem erschien uns, was wir sahen und hörten, als etwas Ereignishaftes und unerhört Neues. Die zunächst unerklärliche Faszination, die der Clip erzeugte, veranlasste uns spontan dazu, nach weiteren Clips der Band zu suchen und dem Sänger und offenbar auch Autor und Bandleader Nikolas Benedikt Kuhl auf die Spur zu kommen. Es gab aber nur ein paar wenige Aufnahmen, die anscheinend in einem dunklen Proberaum gemacht worden waren. Sollte das wirklich Country-Musik sein? Weil da einer auf dem Banjo spielte (das bevorzugte Instrument von Nikolas Kuhl)? Post-Country? Post-Rock? Egal, denn das war nicht die Frage. Das Genre spielt doch nur dann eine Rolle, wenn man eine Sache, die letztlich mittelmäßig ist, einsortieren und abhaken möchte. Diesem Affekt verfällt man selbst dann, wenn einem etwas recht gut gefallen hat und es den (in diesem Falle musikalischen) Geschmacksnerven ausgesprochen schmeichelt.

Wir haben gelernt, auf der Hut zu sein, wenn uns etwas gar zu spontan gefällt. In den seltensten Fällen sind wir dann noch bei uns selbst, sondern nur Teil einer Bewegung, einer Mode oder Ideologie, von der wir noch gar nicht gemerkt haben, dass wir ihr angehören. Gefällig sind Raindance Kid aber auf keinen Fall. Stattdessen einigermaßen sperrig und düster. Woher also kam das Interesse? Erst ein paar Tage später die plötzliche Eingebung: „Brel“, sagte Nina, „Jacques Brel“. „Was willst du damit sagen? Wie kommst du plötzlich auf Jacques Brel?“ „Der Sänger von dieser Band. Ist zwar irgendwie abwegig, weil der was ganz anderes macht als Brel, keine Chansons und so, außerdem hat er nicht so hässliche Zähne. Aber diese Emotionalität, das ist es.“

Aber was heißt schon Emotionalität? Wir alle haben Emotionen. Und Musik transportiert doch eigentlich immer Emotionen. Fragt sich nur, welche Emotionen das sind, wodurch sie ausgelöst werden und welche Normen und Diskurse sie in uns verankern sollen. Wir haben uns einmal der wenig vergnüglichen Mühe unterzogen, die Single-Charts und die Charts für Alternative-Rock und Country-Rock auf Youtube durchzuhören. Wir konnten nichts finden, was auch nur ansatzweise der Musik und den Inhalten ähnelte, die wir bei Raindance Kid hörten. Die Charts scheinen einem Kult der absoluten Coolness zu gehorchen. Selbst in Liebesdingen, die immer noch zu den bevorzugten Inhalten der meisten Songs gehören, scheint die Jugend, die sich in den Chartstürmern widerspiegelt, abgeklärt und pragmatisch zu sein. Die neue Generation ist eine der Monaden, für die Autonomie in der Wertehierarchie einen sehr hohen, wenn nicht den höchsten Stellenwert hat. Aber diese gesellschaftlich verordnete Autonomie ist symbiotisch mit der kapitalistischen Marktlogik verbunden. Beziehungen, in besonderer Weise auch Liebesbeziehungen und Partnerschaften werden vorwiegend als Handelsbeziehungen aufgefasst, in denen es für jede Leistung immer auch eine Gegenleistung geben muss. Sie sind verinnerlicht als etwas, das den Gesetzen von Warenbeziehungen gehorcht. In ihnen wird die eigene Individualität wie auch die des Partners entlang ideologischer Wertehierarchien atomisiert – nach Eigenschaften, Kompetenzen, Vorzügen. Die Körper werden ebenso wie die Persönlichkeiten vermessen, fragmentiert und begrifflich kategorisiert. Wie ein Produkt, das wir bei Amazon bestellen können, sehen wir uns selbst und die anderen aus bewertbaren und verwertbaren Segmenten und Eigenschaften zusammengesetzt, aus denen sich Gesamtwert und auch das Preis-Leistungsverhältnis ermitteln lässt. Wie präsentierst du dich auf dem Beziehungsmarkt, wie hoch setzt du deinen Preis an? Wieviel bekommst du zurück, wenn du dich zum Tausch anbietest? Die Verhaltensregeln, die sich angesichts dessen herausbilden, sind sehr schlicht: Versuche, dich nicht unter Wert zu verkaufen, sieh zu, dass du möglichst mehr bekommst, als du gibst, und: Bewahre dir deine Autonomie! (Typische Textzeile: „I don’t need your love anymore!“) Wenn du in irgendeine Abhängigkeit gerätst, hast du schon verloren.

Hinter der Fassade einer coolen, selbstsicheren und spaßorientierten Jugend verbirgt sich Angst vor Statusverlust und Wertlosigkeit, Unsicherheit und der Stress der differenzierten Selbstwahrnehmung und der dazu komplementären Selbstoptimierung aus dem Blickwinkel der Anderen. Bei allem nach außen hin inszenierten Spaß, der zelebrierten Lockerheit, der Offenheit für eine von Bindungen abgekoppelte Sexualität werden die starken und irrationalen Gefühle der Liebe und des Verliebtseins systematisch gedrosselt, weil sonst der Kontrollverlust droht. Coolness ist Verkaufsstrategie und moderne Seinsweise in einem geworden. Und genau das spiegeln die Chart-Singles ohne Ausnahme wider. Noch die triefendsten Schnulzen, von denen es immer noch einige gibt, sind outriert und in den Ausdrucksmitteln konventionalisiert. Sie feiern nur scheinbar die Liebe und das vorgeblich ersehnte und angebetete Gegenüber, sie aalen sich in selbstbezüglichen, schablonenhaft zum Ausdruck gebrachten Emotionen, in einem Narzissmus, der nur auf seine vorhersehbare Wirkung in der Außenwelt schielt. Nirgendwo wagt noch jemand, der es im Musikbusiness zu etwas bringen möchte oder gebracht hat, den irrationalen Ausbruch, den einer ungezügelten, keinen artifiziellen Ausdruckskonventionen unterworfenen Emotionalität. Die unterliegt längst einem Tabu. Emotionalität, sich als ein Ganzes den eigenen überwältigenden Emotionen im performativen Akt zu überantworten und damit den vollständigen Kontrollverlust zu riskieren, gilt geradezu als unanständig und obszön. Es fragt sich nur, ob diese neuen Verhaltens- und Beziehungsnormen, die sich in den Rock- und Pop-Charts widerspiegeln und diese diskursiv verstärken, noch den menschlichen Sehnsüchten und wichtigsten Bedürfnissen gerecht werden können und ob in den fragmentierten Individuen noch echte und tiefe Gefühle brodeln.

Musik ist wie keine andere Kulturtechnik in der Lage, unmittelbar Emotionen auszulösen. Das kann mit einfachsten Mitteln gelingen, in der ernsten Musik ebenso wie in der Unterhaltungsmusik. Anschaulich wird das am besten in der Demonstration von Axis Of Awesome, die mit den immer gleichen vier Akkorden die Refrains von 38 Chart-Songs ironisch herunternudeln. Hier gleicht ein Ei dem anderen, und doch können wir uns den Gefühlen kaum entziehen, die Akkorde und Gesang beim Hören sofort auszulösen vermögen. Diese Klaviatur lässt sich leicht bedienen. Auch Jacques Brels „Amsterdam“ kommt mit nur sechs Akkorden aus. Auf Youtube findet sich eine beeindruckende Vielzahl von Coverversionen dieses Chansons, von Laien ebenso wie von einigen Größen des Musikbusiness. Es ist eine einzige Revue des Scheiterns. Allein die große Edith Piaf kann mit ihrer Version überzeugen. In allen anderen Fällen bleibt ein schales Gefühl zurück. Es ist mithin nicht der Song selbst, nicht die musikalische Struktur und auch nicht der Inhalt, der ihn so einzigartig und legendär gemacht hat. Nicht einmal Jacques Brel mochte ihn, weshalb es keine einzige Studioaufnahme davon gibt. Das Geheimnis liegt in Jacques Brel selbst. In seiner – wenn man es einmal so neutral ausdrücken möchte – Performance. Performance kann man heute getrost mit „Masche“ oder „Stil“ gleichsetzen, mit der Interpreten sich auf der Grundlage der vier oder sechs Akkorde von den anderen zu unterscheiden versuchen. Was bis heute an Brels Chansons fasziniert, lässt sich allerdings nicht im mindesten als kalkulierter Stil oder als Selbstvermarktungsmasche bezeichnen. Getragen vom tonalen Arrangement brechen aus Brel mit scheinbar größter Unmittelbarkeit die Gefühle hervor, die er mit seiner Musik verbindet. Gefühl, Leidenschaft und Gesang verschmelzen zu einer authentischen Einheit, als spreche durch ihn als Medium eine Art Gottheit – oder weniger religiös aufgeladen – das Mensch-Sein selbst. So wie wir von der aufrichtigen Freude, dem Lachen oder dem Weinen eines Menschen unmittelbar gefangen genommen werden. Während das Meiste, was uns an gesanglicher Performance heute dargeboten wird, sich darin erschöpft, Emotionen zitathaft nur zu indizieren, also auf die Emotionen zeichen- und formelhaft lediglich zu verweisen, um sie der geschulten und nicht minder genormten Einbildungskraft der Hörer zu überantworten, scheint Brel die natürliche, materiale Trennung der Menschen mit suggestiver Unmittelbarkeit zu überwinden. Da macht es nicht einmal etwas, wenn man die Texte gar nicht versteht. Mein Französisch jedenfalls ist dafür viel zu rudimentär.

Die poetischen und oft düsteren Texte bei Raindance Kid machen es einem aus anderen Gründen nicht gerade leicht. Vielleicht muss man sie auch gar nicht verstehen, denn – wie bei Brel – werden wir von den authentischen Gefühlen in Bann gezogen, die uns der Gesang von Bandleader Nikolas Kuhl geradewegs ins Herz verpflanzt. Die Texte selbst könnten auch aus lauter Kauderwelsch bestehen und dennoch würden uns die Songs gefangen nehmen. Dabei sind weder die Texte noch das musikalische Arrangement banal.

Wir haben in den letzten Jahren aufmerksam die Entwicklung der Band beobachtet, die irgendwo in Hamburg und in unbeachteten Nischen des Internet eher zögerlich voranschritt. Gegründet von einer kleinen Gruppe von Filmstudenten, traten Raindance Kid zunächst in kleinen Kaschemmen auf, veröffentlichten hin und wieder Video-Ausschnitte von Auftritten, posteten auf Soundcloud und veröffentlichten dort auch eine erste EP. Zum Beeindruckendsten gehören die auf Youtube veröffentlichten Songs, die 2017 auf der Hebebühne in Hamburg aufgenommen wurden. Interessanterweise findet sich bei intensiverer Recherche weit Älteres aus der Werkstatt des heute schätzungsweise 30-jährigen Komponisten, das auf eine beeindruckend lange musikalische Entwicklung verweist. Noch unter dem Künstlernamen Simp reichen seine Veröffentlichungen im Internet bis ins Jahr 2007 zurück, wo er wahrscheinlich gerade erst der Schule entsprossen ist. Und die Bandbreite reicht von Rap über Electro bis hin zu teils sinfonisch anmutendem Alternative-Rock. Mit dem Banjo als Leitinstrument hat sich dann in den letzten Jahren das musikalische Profil verfestigt, das aber immer noch Elemente des Alternative Rock, des Sinfonischen enthält – neben Einflüssen aus der psychedelischen Musik und anscheinend auch des Bluegrass.

Jetzt ist endlich das Debut-Album von Raindance Kid erschienen, „Swayer“, ein durchgefeiltes Konzeptalbum, das man – mit großer Vorsicht gesprochen – als die Wiedergeburt des Existenzialismus in „einer Art Country-Musik“ bezeichnen könnte, die gerade das eigentlich am allerwenigsten ist: Country. Die Weiten des amerikanischen Westens oder eher noch der Südstaaten als symbolschwere Welt der Innerlichkeit. Denn es geht in allen Tracks um die Innerlichkeit des im zweiten Track, dem „Anthem“ vorgestellten „Raindance Kid“, einem aus dem „lyrischen Ich“ hervorgehenden dämonischen zweiten Ich, seinem alter ego: „I mute my own voice, let him do, let him do the talking” und „My guard became my fiend, as we cannot agree, I’m gonna loose myself, I am more him than me.” Dieses Bild eines gespaltenen, ebenso verlorenen wie befreiten Selbst zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Album. Es geht um ominöse Bedrohungen, die sich wie gewaltige Gebirge vor dem inneren Auge aufbauen und in nicht minder gewaltigen Bildern oder Metaphern personalisiert werden und ein eigenes Leben entwickeln („Wintersland“); um ein kleines Universum von Sehnsüchten, Besessenheiten, Versprechen von Freiheit, die auf schwerwiegende Hindernisse stoßen.

Für die Hörer ein ständiges Wechselbad der Gefühle, denen sie sich kaum entziehen können, schon wegen des drängenden, mitreißenden Gesangs, der nuanciert bis in feinste Regungen beinahe jedes nur erdenkliche Gefühl stimmlich-musikalisch ausformuliert, dramaturgisch-kompositorisch so geschickt ins musikalisch immer wieder überraschende Arrangement verwoben, dass die Hörer nur mit großer Mühe auf Distanz gehen können, wo sie sich vielleicht wundern könnten, wie maßlos hier Betroffenheit zum Ausdruck gebracht wird. Aber so weit kommt es eben nicht, und das unterscheidet das Album vom heute gängigen gekünstelten und hemmungslos narzisstischen Betroffenheitskitsch, der die Charts geflutet hat und die menschliche Stimme immer häufiger den technischen Ausdrucksmitteln des Autotune überantwortet. Diese Musik berührt vom ersten Moment an, weil sie – allein schon auf der musikalischen Ebene – den verwundeten Seelen ihrer Hörer aus dem Herzen spricht, die alle gern dazu befreit wären, in dieser Weise selbst von Sehnsucht, Freiheit, existentieller Bedrohung, Verlassenheit und Angst zu singen und geradezu ungehemmt zu klagen („Letter to David“). Wir modernen Menschen sind längst unter der neuen Kultur der Kälte erstarrt, die überbordende Emotionalität als Schwäche beargwöhnt und immer stärker tabuisiert.

Dieses Tabu wird hier überzeugend gebrochen. Wer mit prüfendem Ohr die auf dem Album versammelten Tracks bloß kurz anspielt, wird kaum eine Entdeckung machen, die sofort bis ins Kleinhirn funkt, kein Hit, kein Ohrwurm, der eine zunächst große, aber falsche Versprechung macht. Es bedarf eines geschulten Ohres, um die musikalischen Schätze, etwa von „Dead Heart Choire“ zu heben, was nicht nur zu einem musikalischen, sondern auch durchaus intellektuellen Genuss führt, besonders wo die geradezu sinfonischen Schichtungen mit ihren ausgeklügelten, zarten Dissonanzen hörbar werden. Die Texte aber bleiben schwierig und oft undurchdringlich. Sie sperren sich dagegen, gar zu schnell verstanden zu werden. Da ist einer, der sich in einer winterlichen, jedenfalls wenig heimeligen Landschaft bewegt; und im Subtext vermeint man noch das berühmte Gedicht „Vereinsamt“ von Friedrich Nietzsche zu vernehmen, in dem die Krähen „schwirren Flugs zur Stadt“ eilen und das einsame lyrische Ich heimatlos in der Kälte zurückbleibt. (Nina assoziiert damit sogar Schuberts „Winterreise“, im romantischen Sinne als Metapher einer Lebensreise. Überhaupt, sie höre in den Songs, Texten wie Musik, sehr viel Romantisches.) Es ist einer, der auf dem Weg ist, „between two shores“ („Wintersland“), einer, der gespalten ist, von einem dunklen, bedrohlichen zweiten Ich bedrängt und unterworfen wird, das aber mehr und mehr zu seinem eigentlichen Ich wird, das an seiner Statt zu sprechen und zu singen beginnt, wo sonst nur Sprachlosigkeit bliebe („Anthem“).

Auch im Arrangement übereinander gelagerter Vocals wird das unmittelbar anschaulich: Nur selten bleibt die Stimme von Nikolas Kuhl roh und singulär, sie spaltet sich auf in einen Bass von intensiver, mal bedrohlich, mal warm und beschützend wirkender Untergründigkeit und einen wendigen, spielerisch alternierenden, unruhigen Tenor, der bis ins hohe, zarte Falsett zu reichen vermag, weich in den mittleren Lagen, selten schroff und hart.

Neben den Gefühlen der Einsamkeit und Verlorenheit geht es immer wieder auch um brüchige, jedenfalls unklare Liebesbeziehungen. Anders als im Durchschnitt der in den Charts laufenden Liebeslieder geht es hier aber nicht um den Liebesschmerz der Begehrenden, Verschmähten und Verlassenen, oder um die Aufkündigung einer Beziehung, die keinen persönlichen Gewinn mehr abwirft. Bei Raindance Kid geht es um bestehende Beziehungen, die sich zwischen Sehnsucht, Selbstbetrug und bis zu selbstzerstörerischer Aufopferung aufspannen: „Forgive me, girl, for I have sinned. Scatter our ashes in the wind. The breath of air will take us both away” („Last Song“). Die Beziehungen spiegeln nichts von ihrem gegenwärtig verbreiteten Warencharakter wider, sondern bewegen sich stattdessen in den Sphären von Schuld und Sühne: „Here I am, and my eyes became cold, for I know somehow, I’m still on that road”. In „The Road“, mit dem das Album endet, ist von Dankbarkeit die Rede, dem Wunsch nach Hause zurückzukehren, etwas wie Heimat zu finden, aber auch von dem mit Bedauern geäußerten Wunsch fortzugehen, frei und unabhängig zu sein, oder einfach ganz zu verschwinden, sich lieber aufzulösen, als den Partner oder die Partnerin zu verlassen – ein Drama, das sich nur in moralisch-ideellen Dimensionen abspielen kann.

Dem stellt sich antithetisch Nikolas Kuhl, dieser Raindance Kid mit seiner trancehaften, ekstatischen Musik entgegen, wie ein Heiler, ein Schamane, der in hypnotischer Entrückung die aufgefächerten Widersprüche auf höherer Ebene versöhnt. Ein „Swayer“, einer, der über andere herrscht, weil er, anziehend und fortstoßend, einen zermürbenden Widerspruch lebt. Ein trotzig-optimistischer Regentänzer in verdorrter Gefühlslandschaft. Kein einsamer, gesetzloser Cowboy. Für uns eher indianischer Medizinmann – eben Schamane. Geht zur Not auch mit Cowboyhut.

 

Über Kapitalismus und eheliche Zugewinngemeinschaft

Eine interessante wissenschaftliche Frage wäre, ob die Ehe, dieses als lebenslanges Bündnis gedachte Verhältnis zweier Menschen nun Henne oder Ei des Kapitalismus sind. Folgte das oberste gesellschaftliche Prinzip der Kapitalanhäufung der Notwendigkeit, dem ehelichen Bund und vor allem der Versorgung der daraus hervorgehenden Kinder eine verlässliche ökonomische Basis zu verschaffen, oder folgte das bis heute anhaltende goldene Zeitalter des Kapitalismus auf die sich nach und nach etablierende Formation der genetisch definierten Groß- und später zum Standard gewordenen Kleinfamilie? Das ist keine triviale Frage, weil von ihrer Beantwortung auch abhängt, ob die immer noch vorherrschenden in den Familienbund eingeschriebenen patriarchalen Strukturen eher eine Frucht der gesellschaftlichen Differenzierung in Familien sind, oder die eines Kapitalismus, der emergent aus den Beziehungen der wirtschaftenden, Tauschhandel treibenden und Werte anhäufenden Einzelnen hervorgegangen ist.

Für uns Heutige ist es nachgerade unhinterfragbar, dass zur Einrichtung des eigenen, selbstständigen Lebens die Sorge um die ökonomische Basis gehört, denn ein moderner „Jäger und Sammler“, der sich einfach bei allem Vorhandenen, spontan Vorfindlichen bediente, gälte in den Augen der Mehrheit als Dieb, Parasit, Aus- oder Freibeuter. Noch der ewige Single glaubt, er bedürfe langfristig eines gewissen Konvoluts an Eigentümern, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Und das geht weit über Dach, Koch- und Schlafstelle hinaus. Im Kleinen rekonstruiert er für sich allein, was einmal vor allem für den bürgerlichen Familienhaushalt konstitutiv und davor dem Adel vorbehalten war. Beinahe alle Produkte, die das kapitalistische Wirtschaftssystem hervorbringt, sind eingeflochten in das Gewebe, aus dem es besteht. Weder lassen sie sich wieder aus ihm herauslösen, um sie in das Sortiment eines neuen und ganz anderen gesellschaftlichen Gefüges in neuer Funktion und Wertung einzubinden, noch ließe sich ganz auf sie verzichten, weil ihre Abbilder zu ideellen Bausteinen der Subjekte geworden sind, weit mehr als nur Statusobjekte. Eigenheim, Auto, Einbauküche, Elektrizität, Wasserspülung, Heizsysteme, Computer, Musikanlage und Couchgarnitur stehen pars pro toto für das Ensemble von Einrichtungsgegenständen und Funktionen, mit denen wir die Puppenstübchen unserer begrenzten Lebenszeit auszustatten wünschen. Über sie, ihren Besitz und ihre private Verfügbarkeit definieren wir uns als Subjekte und verlinken sie kausal mit erhofftem Glück und Lebenserfolg. Das gelungene Leben ist eines, das nahezu Vollausstattung mit den verfügbaren Produkten suggeriert. Diesem Ziel sind alle Absichten und Tätigkeiten innerhalb der Familie untergeordnet, sogar das anfängliche Ehe- und Treue-Versprechen, nämlich als gegenseitige Absicherung für die gelingende kapitalistisch organisierte Zugewinngemeinschaft. Der Ehevertrag, der Einkommen und Besitztümer notariell differenziert und den jeweiligen Parteien im Vorhinein zuschlägt, ist demgegenüber kein Fortschritt. Vielmehr zeigt er die Fratze des Kapitalismus nur weniger verschleiert. Im Falle der Scheidung wird dann ja auch in der Zugewinngemeinschaft doch wieder aufgeteilt. Der Ehevertrag offenbart den berechtigten Zweifel an der romantischen Idee eines lebenslangen Liebesbundes, die immer noch als mystischer Grund der Eheschließung unterstellt wird. Deshalb bleibt der Ehevertrag auch weiterhin eine allgemein mit Argwohn betrachtete Seltenheit. Vergeht über die Jahre die Liebe zwischen den Partnern, unmerklich, weil sie der Gewöhnung und Verwöhntheit weicht, heißt es dann, die Paare müssten nun an ihrer Beziehung arbeiten, im besten Falle ihre Liebe wieder auffrischen, kennzeichnet gerade das Verb „arbeiten“ das kapitalistische Schema der Ehe: Es geht nur vordergründig um die Prolongation der Liebesgefühle, im Kern aber um die Sicherung von gemeinsam erworbenem Besitz, dem an Immobilien, Fahrzeugen, Möbeln, Ersparnissen, Versicherungen und Renten. Meist dienen die eigenen Kinder als Rechtfertigung für den Erhalt der familiären ökonomischen Basis. Für sie scheinen fast alle Objekte des Puppenhauses angeschafft worden zu sein, denn die Kinder brauchen ein Heim, in dem sie sich wohlfühlen und gedeihen können, das alle Widerstände für die gelungene Erziehung der Heranwachsenden buchstäblich aus dem Weg räumt. Das fängt beim warmen Bad an, in dem die Säuglinge nicht frieren müssen, und hört bei Smartphone und Playstation noch nicht auf. Sie wachsen auf in einem Umfeld, das ihnen zu verstehen gibt, es komme bei allem, was Familie, überhaupt Leben in der Gesellschaft ausmacht, auf die materiellen Bedingungen und die Verfügbarkeit so vieler Produkte wie möglich an, auf Luxus und scheinbare Befreiung von Arbeit. Das ist die Sicherheit, die ihnen als individuelle Vermögen emotionale Stabilität, Bildungsbereitschaft, schulische wie berufliche Zielstrebigkeit und Produktivität verschaffen soll. Das sind die Bedingungen zukünftigen Glücks. Sind die Kinder einmal aus dem Haus, wird das kapitalistische Familiensystem weder aufgekündigt noch neu strukturiert, obwohl es doch durch Liebe und insbesondere durch die Notwendigkeiten der Erziehung der Kinder legitimiert wurde. Gehen die Kinder ihre eigenen Wege und sind die herzlichen Liebesgefühle verflogen, setzt sich der Alltag in der ehelichen Gemeinschaft doch einfach und nicht wesentlich verändert fort. Gelingt es nicht, die einstige romantische Liebe wenigstens durch innovative und abwechslungsreiche Sexualpraktiken zu ersetzen und entstehen Missgunst, Verachtung und Hass aufgrund des ausbleibenden Glücks, kommt es vielleicht zur Trennung, wenn nicht Mattig- und Gleichgültigkeit die Oberhand gewonnen haben und allabendlich der Fernseher zum angenehmen Verweilen aufruft, oder welche medialen Angebote auch immer. Und jede Trennung, jede Scheidung wird vor allem als schmerzlicher materieller Verlust wahrgenommen, nicht als Trauer über die verlorene Liebe. Scheidungen sind in der Regel erbitterte Verteilungskämpfe, bei denen es gilt, möglichst vieler Anteile der ehelichen Objekte und Gewinne habhaft zu werden, weil sie als je eigener Verdienst rekonstruiert werden. Die Erniedrigung, die zumeist beide Seiten dabei empfinden, verdankt sich der vagen und beschämenden Erkenntnis, dass nicht Liebe, sondern Ökonomie das eigentliche Band gewesen ist, das alles zusammenhielt. Diese einfache, immer schon in den Hinterköpfen schwelende Erkenntnis wird nur deswegen selten zu einer klaren, weil wir gelernt haben, sie mit einer Schicht von Emotion zu überdecken, die ihre Anlässe aus den Idealen bezieht, die ihrerseits schon das Ökonomische und Objekthafte der ehelichen Beziehung verschleiern sollen. Emotionen erfüllen wichtige gesellschaftliche Funktionen, sie stabilisieren noch den absurdesten zivilisatorischen oder kulturellen Standard, weil sie im Unterschied zum Gedanken, zu der aus geistigem Bemühen erlangten Erkenntnis, die sich immer auch als falsch erweisen kann, grundsätzlich Wahrheit zu verbürgen verspricht. Sie ist unmittelbar und nicht weiter in einander begründende oder sich widersprechende Teile zerlegbar, nur feststellbar, als mentales Phänomen nicht analysierbar, jeder Kritik enthoben. Sie zeigt sich positiv in der Euphorie, auch in Wut und Hass, negativ im schlechten Gewissen, das nur dem Wortlaut nach etwas mit Reflexion gemein hat. Mit dem schlechten Gewissen hat – in einem kruden Beispiel – etwa die Mutter zu kämpfen, die selbst in einem Akt der Barbarei genital beschnitten wurde und nun meint, bei ihrer Tochter diese Tradition fortsetzen zu müssen. Möglicherweise wird sie mit Inbrunst dafür kämpfen und die größten Hindernisse überwinden. Sie glaubt, ihr Gefühl gebe ihr das Recht dazu. Mit vergleichbar großer Inbrunst werden in unserer Kultur die Allermeisten die Institution der Ehe, vor allem aber die eigene Ehe verteidigen, weil sie als Norm mit starken Emotionen getränkt ist, selbst dann noch, wenn die Enttäuschung bereits groß ist.

In einer lieblos gewordenen Ehe schlagen doch die Emotionen hohe Wellen, wenn einer der Partner des Fremdgehens überführt wird, oder auch nur der Verdacht entsteht. Die Eifersucht gibt sich als Kehrseite der Liebe. Oft ist aber die Eifersucht eher Wut und Enttäuschung über den Vertragsbruch, den die Untreue darstellt, nicht aber enttäuschte Liebe. In ihr scheint auch der Reflex auf, der Partner selbst sei etwas wie Besitz, also weniger Subjekt und mehr Objekt. Dennoch lautet der Vorwurf gegen den Treulosen, seine Liebe sei erloschen und habe das schon längere Zeit verschwiegen, habe nicht rechtzeitig über seine schwindenden Gefühle offen gesprochen, während die eigene Eifersucht als Beweis der eigenen immer noch lodernden Liebesflamme hinlänglich ausreicht, um den anderen verurteilen zu können. Wo beim Betrogenen zuvor alle Liebe erloschen schien, scheint sie im Gewand der Eifersucht mit voller Wucht zurückzukehren. Tatsächlich sind jedoch nicht Liebe und Partnerschaft bedroht, vielmehr drohen ökonomische Verluste, immer noch vor allem für die Frauen, die sich seltener aus einer Ehe verabschieden – trotz des Treuebruchs des Partners-, wo noch Kinder zu versorgen sind, dafür resoluter und ehrlicher die Partnerschaft beenden, wenn sie für ihre ökonomischen Bedürfnisse alleine sorgen können. Eifersucht, Hass und Verachtung, die in einer lieblos gewordenen Beziehung dem Treuebruch folgen und der den drohenden Wechsel des Partners in eine neue Lebensgemeinschaft indiziert, substituieren die bloße Sorge um Verluste und verlorenen Komfort, weil unsere Kultur die Idee, die Ehe sei vor allem eine ökonomische Versorgungsgemeinschaft, ächtet, heute weit mehr als zu früheren Zeiten, wo das Ökonomische noch im Vordergrund stand, aber allerdings auch Ehefrau und Kinder als Eigentum des Mannes begriffen wurden. Darum folgt auch so oft dem Fremdgehen die Trennung. Die ökonomischen Nachteile werden in Kauf genommen, damit die Ehe nicht als ein im Kern ökonomisches Verhältnis enthüllt wird. Kälte unterstellen wir der Frau, die in gelassenem Ton berichtet, ihr Mann schlafe mit anderen Frauen, aber es sei für beide Seiten von Vorteil, wenn die Ehe als Versorgungs- und Zugewinngemeinschaft erhalten bleibe. In der durchökonomisierten, kapitalistischen Welt möchte sich kaum jemand als bloße Funktion in diesem inhumanen Getriebe begreifen. Das ist eines der stabilsten Tabus unserer Zeit. Darum muss das Ideal der romantischen Liebesgemeinschaft so gut es geht aufrechterhalten werden, für sich selbst und für alle anderen.

Ein Irrtum wäre zu meinen, man könne diesen vom Kapitalismus durchwirkten Sphären entkommen und ein richtigeres Leben ohne diese Substitution von Emotionen und Werten führen. Aber es ließe sich doch eine andere ökonomische Gewichtung denken, bei der Absicherung und moderater Wohlstand von staatlicher Seite unabhängig von ehelicher oder familiärer Bindung gewährleistet wären. Wenn etwa Mutterschaft mit einem Einkommen verbunden wäre und auch schon jedes Neugeborene nicht bloß mit Brosamen bedacht würde, die beinahe nur für die Monatsration an Windeln reichen; wenn der Gedanke, durch die Weitergabe der eigenen Gene an neue Menschen entstünde eine Art Eigentumsrecht an diesen, weil sie eben als Produkte, ökonomische Objekte begriffen werden, ersetzt würde durch die Anerkennung der Tatsache, dass der neue Mensch auch eine neue und einzigartige DNA besitzt, die sich nur unerheblich von der aller anderen Menschen unterscheidet und nur einen Funken weniger von der ihrer Spender.

Die wahrhaften Tragödien spielen sich dort ab, wo die Partner sich lieben und doch die tradierte Norm der ehelichen sexuellen Treue – um die Seitensprünge geht es ja in den meisten Fällen – im betrogenen Subjekt mit Übermacht die gebotene Trennung einfordert, obwohl die Partnerschaft in beinahe allem dem hochgehaltenen Ideal entspricht und damit dem ökonomischen Bund zwar nicht Hohn spricht, aber ihn doch übertrumpft: Vertrauen, Vertrautheit, Zuneigung, Begehren, Kennerschaft, Achtung, Anerkennung, Verehrung, Wertschätzung – Liebe. Niemand wäre befugt irgendeinem Menschen dies abzusprechen, wie deformiert er von den gesellschaftlichen Verhältnissen auch sein mag. Schuldlos schuldig scheinen die Partner zu werden, wo Liebe in Hass und Verachtung umschlägt, weil es das internalisierte, vom kapitalistischen Logos geformte, mindestens aber überformte Logos des Ehe- und Familiensystems gebietet und das fest Gefügte (mehr als „Marmor, Stein und Eisen“) zu spalten und zu zerreißen vermag, so dass die irren Kräfte walten können, die die verbliebenen Besitztümer zusammenscharren, mit scharfem Blick um den je eigenen Vorteil bedacht. Dabei müsste, trotz des verständlichen Schmerzes, der starke und liebende Bund doch eigentlich jeder Anfechtung genügend Widerstand entgegensetzen können. Mehr noch: Müsste – wenn es um lebenslange oder auch nur langdauernde Partnerschaft geht – nicht gerade dieses urtümlich Menschliche, das nach immer neuen Reizen und neuer Befriedigung suchende sexuelle Begehren, das doch im Widerspruch zu Treue und lebenslanger Partnerschaft zu stehen scheint, aus dem Kanon dessen entlassen werden, was als konstitutiv für Ehe und Familie gilt? Oder sind für diese Befreiung die emotionalen und normativen Gravitationskräfte einfach zu groß?

Am Ende steht wieder der zum „Single“ Vereinzelte. Er lebt in Beziehung zu den leblosen oder auch nur „animierten“, „virtuellen“ Objekten, er identifiziert sich mit ihnen. Das scheint ihm größtmögliche Freiheit zu bieten, ungebunden an Menschen, die zu lieben und von ihnen geliebt zu werden doch ein Stück vom menschenmöglichen Glück bedeuten würde. Er versteht sie, selbst zum Objekt unter Objekten geworden, die Anderen, nurmehr als Objekte einer unerkannten und ungestillten Begierde, Objekte, die retour geschickt oder gegen neue, bessere, passendere, im weitesten Sinne ergonomischere einfach ausgetauscht werden können. Nach Ehe und Familie folgt nur noch das Beziehungsgeschäft als Tauschhandel im Einverständnis mit dem Übermächtigen, das ohnehin schon total geworden ist.

Geschichten

Immer wieder kommen wir auf Kants Erkenntnis zurück, der menschliche Verstand sei an die Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität gebunden. Dem Verstand gilt als Erkenntnis allein, was sich in kausalen Ketten verknüpfen lässt und als Verknüpftes unmittelbar oder in der mühsameren Analyse erscheint, Kausalitätsketten, deren jedes Glied sich im Raum verorten und in der Zeit – schon hier eine Metapher der Raumkategorie – lokalisieren lässt. Vorher-nachher, hier und dort. So schmieden die Erkenntniskräfte in einem fort Geschichten. Wenn ich meine Hand auf eine heiße Herdplatte lege, verbrenne ich mich und der Schmerz und die Verletzung rühren zweifellos von der heißen Herdplatte her. Schon die Funktionsweise meines alten Transistorradios verstehe ich nicht mehr. Ich begnüge mich mit den einfachen Kausalitätsketten des Bedienens: Ich kann das Radio einschalten und ausschalten. Mit einem Drehrad kann ich nach Sendern suchen und mit dem Lautstärkeregler die Lautstärke regeln. Als ich ein kleiner Junge war, genügten mir diese einfachen Kausalketten irgendwann nicht mehr. Ich trug alte Radios vom Sperrmüll mit nach Hause, öffnete sie und suchte, fasziniert von den komplex verbundenen Transistoren, Widerständen, Dioden und Kondensatoren, nach den kausalen Zusammenhängen, die in dem kleinen Lautsprecher die wunderbar aus dem Äther empfangenen Signale hörbar machten. Aber die Funktionsweise blieb unbeobachtbar, ich konnte das System der auf der Platine verknüpften Teile nicht verstehen, weil ich schon nicht den blassesten Schimmer davon hatte, was es mit den Transistoren, Kondensatoren und Widerständen auf sich hatte. Ich experimentierte mit einem Stück Draht und stellte bei laufendem Betrieb Kurzschlüsse auf der Platine her und hatte immerhin schon so viel Verständnis für die Zusammenhänge, dass ich bewusst vermied, Kurzschlüsse direkt von der Spannungsversorgung des Transformators aus herzustellen. Einige der Kurzschlüsse, die ich herstellte, ließen den Lautsprecher verstummen oder drückten die Spule des Lautsprechers aufgrund einer hohen Spannung mit einem kurzen Geräusch weit heraus. Andere erzeugten Töne unterschiedlicher Frequenz, manchmal sogar rhythmische Sequenzen mit gleitend ansteigenden Frequenzen. Soviel wusste ich: Es hatte mit den über die Transistoren gesteuerten Entladungszyklen irgendwelcher Kondensatoren zu tun. Dennoch: Das System, das die Platine mit all seinen Elementen darstellte, verstand ich nicht. Der Elektro-Ingenieur dagegen liest den Bauplan einer Platine wie ein Buch, denn sie ist endlich und ein determiniertes System, das bestimmte, festgelegte Zustände realisiert, Spannungszustände, Stromflüsse, die sich untereinander steuern. Zustände und Bewegungen lassen sich noch passabel in einem System kausaler Beziehungen beschreiben. Die Komplexität ist noch überschau- und berechenbar.

Selbst ein Computer-Betriebssystem – um ein Vielfaches komplexer – ist im Prinzip noch überschaubar. Aber schon die Notwendigkeit, fortlaufend daran Verbesserungen vornehmen zu müssen, verdeutlicht, dass bei der Entwicklung und Programmierung der Software nicht mehr alle möglichen Folgen bestimmter Kombinationen im Vorhinein absehbar sind. Die Bugs sind ein untrügliches Zeichen einer enorm hohen Komplexität. Als menschliche Konstrukte sind die Programme bzw. Computersysteme aber vollständig der Kausalität unterworfen, weil sie aus kausalen Verknüpfungen gedanklich hervorgingen. Die auf dem Weg kausaler Verknüpfungen herstellbare Komplexität dürfte im Prinzip infinit sein und mit ihr prinzipiell auch rational bis ins kleinste Element analysierbar. Die vielfach rekursiven kybernetischen Konstrukte sehen in allem grundsätzliche Beherrschbarkeit vor, verhüten das Zufällige. Der Zufall selbst wird noch als nur vorläufig nicht analysierte Kausalkette gedeutet. Aus der Sicht der Konstrukteure gibt es schlechterdings keine Zufälle. Noch der Klassiker unter den Zufallsgeneratoren, das Würfelspiel, müsste kausalen Kräften unterworfen sein. Könnte man alle Parameter des Würfelns, von der Beschaffenheit der würfelnden Hand, des Würfels, des Untergrundes, der Muskel- und Luftbewegungen, der Anziehungskräfte, der Erdrehung usw. kontrollieren bzw. steuern, wäre jeder Wurf voraussagbar. Das jedenfalls ist die Geschichte, die wir uns als Konstrukteure von Komplexität erzählen müssen – das transzendentale Erfolgsrezept moderner Technologie.

Ein möglicherweise unzulässiger Schluss wäre dagegen, aufgrund dieser Apriori-Logik auch allen natürlichen, nicht von Menschenhand bzw. von Menschengeist konstruierten komplexen Systemen durchgängig kausale Prinzipien zu unterstellen. Denn zunächst einmal ist das System Natur als komplexes Miteinander namentlich unterscheidbarer Teilsysteme wie Wetter, Gravitation, biologische Prozesse, Hirnphysiologie usw. als Komplexität transzendent und das heißt jenseits transzendentaler Logik, die mit den Kategorien Raum, Zeit und Kausalität operieren muss. Die nur schwer – wenn überhaupt – denkbare Frage ist die, ob die (der Denkmöglichkeit nach) prinzipielle Unendlichkeit der Komplexität konstruierbarer Systeme deckungsgleich ist mit der Unendlichkeit natürlicher Systeme bzw. des „Natur“- oder „Materie“-Systems, das sich selbst konstruiert und organisiert, also jenseits von menschlichem Geist, der darin allenfalls etwas wie ein Subsystem ist.

Die Frage klingt akademisch und wissenschaftlich (sogar philosophisch) rückwärtsgewandt. Als Wissenschaftler kann ich nicht angesichts der Erhabenheit und unfassbaren Komplexität der Welt erstarren. Das Forschen, die Suche nach neuen kausalen Zusammenhängen ist, was die Menschen in besonderer Weise auszeichnet. Wann jedoch wird die Überzeugung, alles verstehen und analysieren zu können zur gefährlichen Hybris?

Der Schaltplan meines Personalcomputers ist – wenn auch nicht für mich – analysierbar, in finite kausale Verknüpfungen zerlegbar. Diese Analyse ist kein Modell, sondern lückenlose Beschreibung einer Wirklichkeit – jedenfalls solange ich die zu Grunde liegenden quantenphysikalischen Zusammenhänge außer Acht lasse. Ich kann sie außer Acht lassen, weil die Platine im erwarteten Sinne funktioniert und auch nur im Hinblick auf diese beabsichtigten Funktionen konstruiert wurde.

Die Analyse menschlicher Beziehungen, die Analyse von Hirn- bzw. Denkprozessen, von Leben im umfassenden Sinne bleibt demgegenüber immer Modell. Wir betrachten natürliche Systeme aus dem Blickwinkel ihres vermeintlichen Konstrukteurs, nämlich so, als ob sie nach rationalen Kriterien transzendentaler Logik geformt wären. Mit Hilfe eines fröhlichen Nominalismus unterscheiden wir (ob grob oder immer feiner) Funktionseinheiten, wir schreiben immerfort neue Kurzgeschichten der Dinge, der Sachverhalte, Phänomene. Wir unterscheiden Körper und Geist, Fauna und Flora, Himmel und Erde, Männer und Frauen, Schizophrenie und Neurose, Hirn, Hormon- und Nervensystem. Wir müssen die tatsächliche Komplexität reduzieren, um erkennen und verstehen zu können. Erkannt und verstanden werden kann aber schließlich nur das Reduzierte als ein Konstrukt der Beobachtenden. Wir können uns der Wirklichkeit nur nähern, indem wir sie reduzieren und zerlegen. Wir beobachten, was wir uns in Geschichten selbst konstruiert haben. Es sind Modelle – und dann bald auch Module konstruierter Wirklichkeit, die wir als verstandene und vollständig analysierte wieder wie ein Puzzle zusammenfügen: Hypermodelle.

Nicht diese forschende Tätigkeit, nicht dieses einzig so mögliche Verstehen-Wollen ist das Problem. Das Problem ist die fahrlässige oder auch hochmütige Verwechslung der Wirklichkeitsmodelle mit der transzendenten Wirklichkeit, dem „Ding an sich“, wobei dieses „Ding an sich“ im engeren Sinne kein „Ding“ ist, sondern das – metaphorisch gesprochen – sich selbst herstellende und organisierende System jenseits unserer Denknotwendigkeiten. Diesem unerreichbaren Jenseits stehen unsere „Geschichten“ gegenüber. Demütig vor dem Unerkennbaren müssten wir uns fragen, welche „Geschichten“ wir uns warum erzählen und warum nicht auch andere? Warum wir zum Beispiel Körper und Geist wie getrennte Module unterscheiden, Krankheit und Gesundheit vor der Folie der Diskontinuität betrachten. Warum zum Beispiel wollen wir das Lernen unserer Kinder „in den Griff“ bekommen? Warum konstruieren wir ein Bild prototypischer Menschen parallel zum Konstrukt Schule? Warum interessieren uns bestimmte Funktionen des menschlichen Zusammenlebens, andere aber nicht? Wir müssen „unsere“ Wirklichkeit(en) erforschen – aber warum sparen wir bestimmte Bereiche aus? Warum nehmen wir bestimmte Erkenntnisse nicht ernst? Warum hängen wir so verzweifelt an den Geschichten, die wir uns einmal geschrieben haben oder die uns erzählt wurden, und ignorieren die anderen möglichen Geschichten? Weil die soziale Konstruktion von Wirklichkeit so wirkmächtig ist wie die Natur, die Welt, das Universum. Und weil diese soziale Wirklichkeit evolutionär ebenso langsam ist wie die Evolution insgesamt. Sie wird angetrieben durch die „Geschichten“, die – komplex – sich immer widersprechen, schon weil nicht klar ist, wo sie anfangen und wo sie enden und ob sie Haupt- oder Nebenhandlung darstellen sollen.

Nina und Aleksaner P. Nekrasov – Blog

Hallo, wir sind mit unserem Blog umgezogen. Deshalb stellen wir hier einige ältere Texte erneut ein.  N. und A.P. Nekrasov

 

Spracherwerb als Modell

Kinder erlernen ihre Sprache mühelos, weil mit ihnen gesprochen wird und kontrafaktisch von den Eltern unterstellt wird, sie verstünden, was man zu ihnen spricht. So entfaltet sich die Sprache in ihnen in ihrer ganzen Systematik, ohne dass sie von den Regeln, die in ihr gelten, etwas wissen müssen. Je differenzierter und reicher an Wortschatz das „sprachliche Umfeld“, in dem sie aufwachsen, ist, desto differenzierter und analytischer ist die damit einhergehende Wirklichkeitswahrnehmung. Kein Wunder, dass die Kinder aus bildungsbürgerlichen Schichten so große Vorteile gegenüber anderen haben, die in sprachlich ärmeren Umwelten aufwachsen.

Die überaus große geistige Leistung, die der Spracherwerb darstellt, wird mit einiger Berechtigung auch auf die parallel dazu ablaufende hirnphysiologische Entwicklung bezogen, die das Lernen in dieser Zeit so einfach macht. Mit Beginn der Schulzeit wird ein grundsätzlicher Wandel der Lernprozesse unterstellt, die nun anscheinend auf Lehre angewiesen zu sein scheinen. Die Forderung einiger Didaktiker, in der Schule müssten statt der nach wie vor herrschenden Lehrmethoden „Lernumwelten“, „Lernumgebungen“ geschaffen werden, bringt den Zweifel an einem solchen Umbruch sehr direkt zum Ausdruck: Auch wenn die rasanten hirnphysiologischen Entwicklungen in einem bestimmten Lebensalter weitgehend abgeschlossen sind, das Hirnwachstum weitgehend zum Stillstand gekommen zu sein scheint, synaptische Verbindungen zu einer schier unüberschaubaren Komplexität gelangt sind, bleibt das Hirn als beobachtbares, materiales System, das mit dem der Beobachtung entgleitenden Geist eine Einheit bildet, doch auch weiterhin plastisch. Fortgesetzt gelingt das Lernen intuitiv in autonomen Reaktions- und Aktionsrastern mit der Folge beobachtbarer synaptischer Veränderungen. Nur: Die Resultate dieses Lernens werden in gesellschaftlich erwünschte und unerwünschte unterschieden. Aus dieser Unterscheidung gehen die Direktiven der Lehre hervor, die systematisch die jungen Lerner dazu bringen sollen, möglichst nur noch das gesellschaftlich erwünschte Verhalten zu produzieren.

Direktiven, Vorgaben, Befehle und Verbote gehören freilich als wesentliche Elemente auch zur familiären Erziehung. In ihnen spiegelt sich das Wertesystem der jeweiligen Familie. Sie beschränken den Freiraum der Kinder, ziehen Grenzen für das Verhalten. Aber sie beschränken das Lernen nicht, geben nicht vor, wie und was genau zu lernen ist.

Der Bruch findet – spätestens – in der Schule statt: Hier begegnen die Direktiven radikal dem Wie und dem Was des Lernens und erklären die natürlichen Lernprozesse und das Glück der autonomen Welterschließung für nichtig – vor allem, weil sie sich nicht kontrollieren und aufgrund zunehmender Komplexität nicht mehr lenken lassen.

Die Schulkinder reagieren gleichwohl auf diesen Zwang, den die dem natürlichen Lernen entfremdeten Lehrgänge darstellen, mit einer bestimmten Form des Lernens: Sie lernen in dieser für sie neuen Umwelt, dass sie nicht umhinkönnen, sich an die Systematik der Lehre anzupassen, weil sie mit Strafen und Erniedrigungen operiert. Sie lernen, was sie müssen. Immer weniger hat das jedoch mit autonomer Welt- und Wirklichkeitserschließung zu tun.

Neben anderem hat die didaktisch-methodische Systematik der Lehre mit einem fatalen Missverständnis zu tun, dem nämlich, dass das in den Wissenschaftssystemen konstruierte, hierarchisch strukturierte Wissen zugleich den Hinweis darauf enthalte, wie es von den Unkundigen, Unwissenden zu erwerben wäre, nämlich in einer Abfolge der Belehrung über die hierarchischen Stufen des jeweiligen Wissensgebietes vom Elementaren, Grundlegenden zum Komplexen und Schwierigen. Dem Denken erscheint das isolierte Elementare jedoch nutzlos und überflüssig, langweilig, weil es mit Welt und Wirklichkeit nur abstrakt und aus der Perspektive des Wissenden und Erfahrenen zu tun hat.

Im Vergleich dazu hat das Kind seine Sprache nur deshalb erworben, weil es sofort mit der ganzen Komplexität des sprachlichen Handelns konfrontiert wurde und niemand auf die Idee käme, es von Geburt an einer wissenschaftlich fundierten Sprachlehre zu unterziehen, die den heranwachsenden Geist mit derlei Zumutungen, Strafen und drohendem Liebesentzug schon im Keim ersticken würde.

Moderner Schulunterricht hat sich in mancherlei Hinsicht geändert und damit formal auf das Inhumane früheren Schulehaltens reagiert. Es gibt den schülerorientierten Unterricht, den handlungsorientierten, den nach Leistung und Interessen differenzierten Unterricht, die Freiarbeit, den Projektunterricht. Dabei geht es der Absicht nach darum, Freiräume für die autonome Welt- und Wirklichkeitserschließung zu schaffen. Der Kontrollwahn und die auf die Alters- bzw. Klassenstufen bezogenen Curricula drohen aber nach wie vor, ein jedes Kind möge sich hüten, die gewährten Freiräume anders zu nutzen als nach der scheinbar altbewährten Lehrgangssystematik. Die neuen Freiheiten in den Schulen sind bloß potemkinsche Dörfer, perfide, weil sie das Falsche der Schule übertünchen und so für die Gegängelten noch in den Vorwurf verkehrt werden können, sie nutzten die ihnen gewährte Freiheit nicht. Wie den Angestellten eines Wirtschaftsbetriebes oder einer Kultureinrichtung, deren Bedürfnisse, Ideen und Kreativität weder anerkannt noch berücksichtigt werden, bleibt ihnen nur die „innere Kündigung“.