Ich habe keine Freunde – außer Nina. Nina würde sagen: Klar haben wir Freunde, eine ganze Menge sogar. In unregelmäßigen Abständen treffen wir uns, reden, erzählen von vergangenen Ereignissen, essen und trinken gemeinsam, umarmen uns beim Abschied. Das machen Freunde so. Sie gehen auch gemeinsam ins Kino oder ins Theater. Sie laden sich gegenseitig zu den Geburtstagspartys ein und halten für Höflichkeit, sogar für einen Freundschaftsdienst, kein Wort darüber zu verlieren, wie öde und oberflächlich die sich in wenigen Variationen wiederholenden Gespräche geworden sind. Es ist aber besser, diese belanglosen – und dennoch emotional mächtig aufgepoppten – Gespräche fünf oder sechs Stunden lang zu ertragen, als keine Freunde zu haben. Und weil ich maßlos hohe und wohl auch extravagante Ansprüche an Freundschaften habe, muss ich sagen, es sind keine richtigen Freunde, es sind enge soziale Kontakte. Denn die sind nötig für eine ausgeglichene Psyche. Trotzdem fühle ich mich – zumal in größeren Gruppen – wie Robinson auf der Insel am Donnerstag. Nina würde übrigens sagen, ich sei gefühlskalt, wenn ich unsere Freunde als bloße „soziale Kontakte“ bezeichne.
Ein echter Freund ist ein Spielkamerad. Die Menschen in unserem Freundeskreis sind eher keine Spieler. Vielleicht wären sie es gern. Ich weiß es nicht. Ich muss erklären, was ich meine, wenn ich sage, ich sei ein Spieler. Es geht nicht um Glücksspiele, Poker, Roulette und dergleichen, sondern um Spiele, die glücklich machen, Gedankenspiele nämlich, die allein zu spielen keinen Spaß machen und dann nur bedingt glücklich machen. Ich habe Fantasie im Übermaß. Die reizt dazu sie weidlich auszukosten. Wie wunderbar, auf Menschen zu treffen, die bereit sind, kleine Absurditäten, die jemand äußert, sofort aufzugreifen und ohne relativierende Fußnote fortzuspinnen:
„Ich frage mich, ob Putin in letzter Zeit überhaupt noch Sex hat. Und wenn ja, mit wem?“ – „Schau dir seine rechte Hand an, schlaff, komplett überanstrengt.“ – „Manchmal stelle ich mir vor, wie Putin abends zu Bett geht, und frage mich, wie es ihm gelingt einzuschlafen und wie es ist, am nächsten Morgen aufzuwachen.“ – „Im ersten Moment siehst du die Sonne durchs Fenster blinzeln und denkst, was für ein wundervoller Morgen. Du könntest im Oktoberdunst durchs feuchte Gras einer Apfelplantage schlendern und von deiner ersten Liebe träumen, die ebenfalls an einem sonnigen Oktobertag begonnen hat. Aber dann kommt der jähe Elektroschock: Herz, Kopf, rote Ohren. Oh Scheiße, ich Zauberlehrling hab‘ ja ‘nen Krieg angefangen, da muss ich mich auch heute ums Töten und Zerstören kümmern. Wie peinlich!“ – „Und zur Ablenkung holt er sich erst mal einen runter.“ – „Und schaut dabei einen Porno auf einem riesigen Bildschirm auf der gegenüberliegenden, zehn Meter entfernten Wand.“ – „Milf.“ – „Gay?“ – „Nee, kein Porno, eher Pinocchio, Heidi oder Biene Maja, so eine regressive Phase vor dem Eisbaden und dem Eiweißfrühstück. Pornos nur abends vorm Einschlafen.“
Nina ist ein prima Spielkamerad. Oft, manchmal nicht. Manchmal lange nicht, wenn sie Stress hat. Gerade hat sie Stress, beruflich. Jede meiner auffälligen oder unauffälligen Aufforderungen zum Spiel quittiert sie mit Augenrollen oder indirekten Vorwürfen. Dann offenbaren sich die beiden unterschiedlichen Identitätsphilosophien. Ja, ich hänge das mal ganz hoch auf und spreche von Philosophie, hake das aber möglichst schnell ab: Woraus auch immer Persönlichkeit und Identität eines Menschen resultieren, ob Genetik, oder sozialer Prägung, oder beidem, irgendwann ist die Kirschtorte fertig und kann kein Apfelkuchen mehr werden, dann bin ich dieser eine unverwechselbare Mensch, der nicht mehr aus seiner Haut herauskann. Was verbal oder nonverbal aus ihm herauskommt, ist Reflex seines Innenlebens, dem er qua Identität hilflos ausgeliefert ist. Jede seiner Äußerungen ist prinzipiell interpretierbar und auf seine relativ statische Persönlichkeit zurückzuführen. Mit anderen Worten: Alles, was der sagt oder tut, sollte man ernst nehmen und als Puzzleteil einer rekonstruierbaren Persönlichkeit betrachten, die kaum etwas anderes im Sinn hat, als andere zu manipulieren, in die Irre zu führen, ihr wahres Ich zu verschleiern, um ihre egoistischen Ziele zu erreichen. Erkenne deinen Mitmenschen, er könnte dir feindlich gesonnen sein! Obacht! Tadle rechtzeitig, bring deine eigenen Interessen und Ziele in Stellung! Erweise dich selbst als moralisch gefestigte Persönlichkeit! Das wäre die eine philosophische Position. Es ist – trotz gelegentlicher Spielfreude – auch Ninas Position. Die zweite unterscheidet sich nur marginal von der ersten: Der Apfelkuchen wird nicht mehr zur Kirschtorte, aber die Äußerungen des Apfelkuchens können – um im Bild zu bleiben – durchaus die Form von Kirschen und Buttercreme annehmen, sogar von Bratwurst und Wirsing. Die Äußerungen eines Menschen, also seine Worte geben nicht notwendigerweise irgendwelche für die Interaktion zurechtgemachte oder absichtlich gefälschte Kostproben seines wahren inneren Wesens preis, im Gegenteil sind sie Reflex des gesamtgesellschaftlich Denkbaren, Sagbaren und physisch Realisierbaren. Denn alles das sammelt sich in meinem Kopf als potenziell Mögliches. Ich habe nicht mich selbst im Kopf, sondern die Welt, die schöne, bezaubernde, beglückende, himmlische, aber auch eklige, abscheuliche, ungerechte, grausame, mörderische, teuflische Welt. Das ist ein riesiger Krimskrams-Laden in meinem Kopf. Und weil ich das alles nicht sein kann, ist es gedankliches Spielzeug. Wenn ich mir eine Geschichte ausdenke, in der ein putziger Hamster bei lebendigem Leib gefesselt, gehäutet, mit einem Kugelschreiber penetriert und anschließend aufgeschlitzt wird, kann daraus kein Hinweis auf meine Persönlichkeit gelesen werden, sondern nur einer auf das grundsätzlich Menschenmögliche. Überall, wo erwartet wird, ich müsse mich sogleich moralisch von dieser Hamsterfantasie distanzieren, das sei ja wohl das Mindeste, vermute ich das Kongruenzmodell der Identität, das davon ausgeht, dass die Worte eines Menschen Ausdruck und Teil seiner Identität sind, in meinem Fall: Sadist und potenzieller Tierquäler. Vertreter dieses Identitätsmodells hüten das Bild, das andere von ihrer Persönlichkeit entwickeln können, wie ihren Augapfel. Das ist selbstverständlich nicht möglich, aber sie versuchen zumindest, weitgehende Kontrolle darüber zu halten, was die anderen über sie denken könnten. Sie unterstellen, dass es alle so machen, außer vielleicht Schwachsinnige und empathielose Narzissten. Wenn ich also sagen würde, mich würde es interessieren, wie aufregend es wäre, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, würde Nina darin eine unanständige und sogar verletzende Aufforderung sehen und vermuten, ich könne unsere traute und ausschließliche Eheburg schleifen wollen. Was gar nicht meine Absicht ist, obwohl ich die Vorstellung, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, wirklich aufregend finde, was offenbar ein Hinweis auf mein Persönlichkeitsprofil zulässt, dass ich nämlich solche Fantasien mag und das irgendeinen (möglicherweise pathologischen) Grund haben muss. Weil Nina nicht mag, dass ich solche Fantasien habe oder zumindest ausspreche, sage ich nichts. Denn ich weiß, dass sie glaubt, ich würde sagen, was ich wünsche. Wenn sie auf meine Beste-Freundin-Fantasie produktiv antworten würde („Ich glaube nicht, dass ich dich dabei zusehen lassen würde“, oder „Also ich würde mir den Anblick ersparen wollen, wie du Rainer den Schwanz lutschst.“), müsste sie befürchten, ich würde ihre Äußerung als indirekte Zustimmung zu dem Plan, unsere ehelichen Bande zu lockern, auffassen.
Das ist ein Dilemma. Nina hat ihre Gedankenpolizei stark verinnerlicht, schon wegen ihrer katholischen Erziehung, da dringt kaum ein vermeintlich anstößiger Gedanke vorbei ins Bewusstsein. Glaube ich jedenfalls. Sie weiß nicht einmal was von der Polizeistation mit angeschlossenem Geheimdienst in ihrem Kopf. Ich dagegen liefere mir tagtäglich kafkaeske Scharmützel mit meinen internen Vorgesetzten. Weil die verhindern möchten, dass Nina oder unsere gemeinsamen sozialen Kontakte mich mit meinen Gedanken identifizieren, die ja gar nicht meine persönlichen Gedanken sind, sondern im besten Sinne allgemeine. Das Dilemma ist noch vielschichtiger: Wenn ich einen Gedanken äußere, der prinzipiell (mit Blick aufs grundsätzlich Menschliche) wünschenswert ist, obwohl religiös oder kulturell tabuisiert oder aus Tradition geächtet, besitzt er doch auch einen verlockenden Möglichkeitswert. Wenn ich sage, ich stellte mir Ninas Zunge an Henrikes Vulva aufregend vor, ist das zwar keine Aufforderung, sich das als Wochenendprojekt vorzunehmen, aber es ist doch eine Aufforderung mit diesem Gedanken zu SPIELEN, denn schon der Gedanke könnte auch für Nina aufregend, um nicht zu sagen erregend, sein. Und mit Gedanken zu spielen, bedeutet, neue Möglichkeiten zu bedenken und schließlich auch zu erproben. (Kommentar von Nina: „Siehst du, wenn du vermeintlich ohne jede Absicht jede deiner erotischen Fantasien herauspupst, verfolgst du also doch deine Absichten. Was soll ich sagen? Sophist, Manipulator!) Ich meine, wenn wir alle Gedanken zunächst einmal zulassen und mit ihnen spielen, gelingt es vielleicht doch noch, eine bessere Welt zu erschaffen, jedenfalls wenn wir nicht davon ausgehen, dass wir bereits in der besten aller möglichen Welten leben. Okay, das Leibniz-Zitat war rhetorisch gemeint. Wir leben selbstverständlich in einer rundum verbesserungswürdigen Welt bzw. Gesellschaft bzw. Kultur bzw. Weltgemeinschaft. Zum Beispiel leben wir in einer Welt, in der Männer Kriege führen, Frauen unterdrücken und Frauen töten, weil sie Frauen sind. Geht’s noch unheilvoller? Wir brauchen ein umfassendes Therapieprogramm für die Menschheit. Und ich habe mir eins ausgedacht:
Ein Therapiekonzept, das zu einer Graswurzelbewegung wird und die Welt friedlicher machen wird.
Ein ganzes Wochenende verbringen sechs Personen (drei weiblichen und drei männlichen Geschlechts, soweit sich das überhaupt so klar definieren lässt) gemeinsam in einer speziellen Unterkunft, wo sie gemeinsam essen, trinken und schlafen. Das therapeutische Kernstück besteht in einem erotischen und sexuellen Ritual, bei dem zunächst zwei gemischte Gruppen gebildet werden. Alle sind nackt. Jede Person innerhalb der Gruppe wird auf einer Matratze oder auf einer Massageliege ausführlich von den beiden anderen gestreichelt, leicht massiert, genital erregt und schließlich auch mindestens einmal zu einem angenehmen Orgasmus gebracht. Gemischte Gruppen heißt: Auch heterosexuelle Männer versetzen Männer in Erregung und verhelfen ihnen zum Orgasmus, heterosexuelle Frauen kümmern sich sanft um Höhepunkte anderer Frauen, Frauen und Männer bringen sich gegenseitig zum Orgasmus. Was zunächst mit Widerwillen getan werden mag, wird sich nach mehreren therapeutischen Wochenenden vertraut und schön anfühlen. Die Gruppen mischen sich immer neu, Dicke streicheln Dünne, Alte verwöhnen Junge und umgekehrt. Mehrere Gruppen bilden bald eine diverse Community der Wohltäter. Was sich gut und schön anfühlt, wird nach und nach ins Repertoire übernommen. Homophobie und Misogynie lösen sich in Wohlgefallen auf. Vielleicht werden irgendwann auch Großveranstaltungen stattfinden. Aber das Ritual bleibt. Keine wilden Orgien. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich glaube, Orgien passen nicht ins Konzept. Und Rituale haben religiösen Charakter. Die Therapie bezieht ihre Autorität aus dem Ritual, so wie die Religionen. Das Ritual darf nicht aufgelöst werden. Nun ja, ich in einer Dreiergruppe mit Nina und Henrike, das wäre ganz nach meinem Geschmack. Allerdings – in anderer Konstellation – Rainers Sperma an meiner Hand kleben zu haben, finde ich sehr gewöhnungsbedürftig. Aber nicht ausgeschlossen, dass ich ihm eines Tages sogar eine Prostatamassage spendieren werde. Ein Freundschaftsdienst. Es muss ein gutes Gefühl sein, zu wissen, dass ich den allermeisten Nachbarn in meiner Straße mal einen Orgasmus verschafft habe, oder lachen zu können über die Erinnerung an den alten Herrn, der sich anfangs so ungeschickt angestellt hat und nach ein paar Monaten großes Geschick mit Lippen und Zunge bewies. Vielleicht würde ich mit Anette oder Michaela gern einmal richtigen Sex haben, aber das müsste ich erst mit Nina besprechen, bevor ich die beiden frage.
Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich sein Atelier jemals wieder betreten, ob ich ihm jemals wieder begegnen möchte. Aber es führt wohl kaum ein Weg daran vorbei. In wenigen Tagen wird die Ausstellungseröffnung mit der Preisverleihung sein. Unvorstellbar, dass ich an diesem Tag einfach fehlen, mich krankmelden oder aus irgendeinem anderen Grund der Veranstaltung fernbleiben kann. Ich werde wohl tapfer meinen Vortrag halten und ebenso tapfer die interessierten Fragen beantworten müssen, wie es dazu gekommen ist, dass neben all den anderen großformatigen Portraits auch eines hängt, das mich, die Kuratorin der Ausstellung, zeigt. Tapfer werde ich darüber Stillschweigen bewahren, auf welche Weise das Portrait zustande gekommen ist. Was ist das Geheimnis, das diese Portraits so berührend und authentisch wirken lässt? Ich werde die Antwort darauf nicht geben können, ich als allerletzte. Das sei ein Geheimnis, werde ich gebetsmühlenartig wiederholen, in dem der Künstler mit seinen Modellen zum Zeitpunkt der Entstehung und danach ein Leben lang auf besondere Art verbunden bleibe. In diesem künstlerischen Akt verbänden sich Leben, unmittelbares Erleben und eine geistige, spirituelle Erinnerung. Bei dieser mir selbst auferlegten Sprachregelung werde ich auch in meinem Vortrag bleiben und kann gewiss sein, dass ich das Interesse meiner Kollegen und Bekannten und vor allem das meines Mannes nur noch weiter steigern werde. Aber ich werde schweigen. Für wie lange noch? Nicht aus jeder Begegnung mit einem Modell gehe auch ein Gemälde hervor, war in früheren Interviews zu lesen gewesen. Was aber war ausschlaggebend dafür, dass nun auch die Kuratorin sich in die Galerie der „geglückten Begegnungen“ einreihte? Hatte es das schon zuvor gegeben? In Einzelfällen, ja, würde ich sagen. Eine bislang wenig bekannte New Yorker Galeristin war darunter, die Kuratorin eines schottischen Kleinstadtmuseums und ein Ausstellungsmacher und Dokumentarfilmer aus der Berliner freien Szene. Immer wieder hoben die Kritiker hervor, wie einzigartig, geradezu intim die Bilder von Stanislav Bronczek seien, obwohl sie doch nur Gesichter zeigten, die Gesichter von eher durchschnittlichen Frauen und Männern, keine idealen, in Symmetrie vollendeten Gesichter. Sie wirkten wie abwesend und angekommen zugleich, tief entspannt, nah, mit dem Anflug eines Lächelns, dem Einverständnis mit sich selbst und dem Betrachter, irritierende Schamlosigkeit und Blöße, Selbstbewusstsein, Stärke und Verletzlichkeit, vollendete Schönheit. So erschienen sie nicht nur mir, sondern jedem, der von ihnen ergriffen wurde und nach Worten für das beinahe unbeschreibliche Erlebnis der Begegnung mit diesen Bildern suchte. Das war der Grund gewesen, weshalb ich mich auf der Stelle bereit erklärt hatte, die Ausstellung zu kuratieren und dementsprechend auch den Hauptartikel im Katalog zu schreiben. Was war es doch für ein Glücksfall für unser doch eher provinzielles, an der Peripherie gelegenes Museum, eine derart umfangreiche Ausstellung dieses beinahe aus dem Nichts erschienen Shootingstars ausrichten zu dürfen! Trotz aller Faszination, der ich mich nicht entziehen konnte, war mir klar, dass ein Großteil des Erfolgs, den Stanislav Bronczek seit einiger Zeit – sogar international – einheimste, mit seiner konsequenten Geheimnistuerei zu tun hatte, eine Verkaufsmasche, Marketing. So groß meine Neugier auch war, konnte ich mir doch fast sicher sein, ihm sein Geheimnis nicht entlocken zu können. Das änderte sich nach unserem ersten Telefonat, bei dem wir einen Termin für ein Treffen vereinbarten.
Als ich aufgeregt sein Hamburger Atelier betrat, ein Loft in der obersten Etage eines ansonsten leerstehenden ehemaligen Fabrikgebäudes am Rande der Stadt, empfing mich ein freundlicher, großer und etwas stämmig wirkender Mittfünfziger mit leicht zerzaustem, dunklem Haar und einem angegrauten Dreitagebart. Er hatte darauf bestanden, mich allein zu treffen, niemanden sonst mitzubringen, weil er sich nur sehr ungern auf mehrere Menschen zugleich einlasse. Menschenscheu sei er und liebe doch die Intensität der menschlichen Begegnung. Ich solle mich darauf einstellen, dass er wenig über seine Arbeitsweise erzählen werde, dafür umso mehr daran interessiert sei, den Menschen kennenzulernen, der ihn bei der Vorbereitung seiner Ausstellung begleiten werde. Bei einer wirklich guten Ausstellung komme es auf die spirituelle Bindung zwischen Maler und Ausstellungsmacher an. Das sei ihm in den letzten Jahren immer klarer geworden. Und die tiefste Verbindung entstehe vor allem dann, wenn der Kurator oder die Kuratorin auch materiell, in einem Portrait, Teil der Ausstellung werde. Er könne dies nicht als Bedingung stellen, mit dem Wunsch wolle er dennoch nicht zurückhalten. Die Vorstellung, er könne wirklich daran interessiert sein, mich zu malen, berauschte mich, das muss ich zugeben. Und wie konnte ich da nicht zugleich in sein Geheimnis eingeweiht werden?
So kräftig und groß seine Statur, so zart war sein warmer Händedruck – und zugleich bestimmend. Er ließ meine Hand nicht los und zog mich mit einem sanften Impuls in die lichtdurchfluteten, seltsam leer wirkenden, warmen Räume. Hier eine aufgeräumte Küchenzeile mit einem Kaffeeautomaten, inmitten der glatt-grauen Estrichfläche zwischen zwei alten schmiedeeisernen Säulen eine einsame Garderobe mit einem flusigen Pullover und zwei fleckigen Malerkitteln, vor der rechten Fensterwand ein altes, ehemals purpurrotes, verschlissenes und durchgesessenes Sofa mit einem Tischchen davor, auf dem sich Bildbände und Zeitschriften stapelten, ein großes Bücherregal als Raumteiler, hinten, in einer bunten Wiese von Farbsprenkeln und -schlieren kleinere und größere Staffeleien, an der hohen Ziegelwand große Leinwände mit Portraits in unterschiedlichen Arbeitsstadien, und überall verteilt Fotografien, auf denen Gesichter von Frauen und Männern zu sehen waren. Gleich neben dem wie abgezirkelt wirkenden Arbeitsplatz, dieser Insel der Farben und Bilder, befand sich ein nicht einsehbarer, von hohen, dunklen Vorhängen abgetrennter Bereich, der, wie mir schien, die eher privaten Räumlichkeiten beherbergte.
Bronczek zog mich, immer noch meine Hand haltend, zu dem Sofa. Langsam ließ er Daumen und Zeigefinger bis zur Fingerkuppe meines Mittelfingers gleiten und navigierte mich mit einer kaum spürbaren, eleganten Bewegung zu meinem Sitzplatz. Das musste er jahrelang geübt haben. So viel unaufdringliche Bestimmtheit selbst in den Fingerspitzen, wie ein Meister des Puppenspiels, der mit feinsten Nuancen über unsichtbare Fäden seinen Figuren Leben einzuhauchen versteht. Er löste den Griff, um sich einen Stuhl an den Tisch heranzuziehen, aber mir schien, als bliebe meine Hand, die Finger, die er berührt hatte, alle meine Glieder mit magischen Fäden an ihn geknüpft, sie wurden schwer, ruhig und entspannt. Bronczek setzte sich mir gegenüber, betrachtete mich lächelnd und schwieg eine gefühlte Ewigkeit. Unvermittelt hob er zu reden an. Er habe nun schon sehr viel über mich erfahren, und was er erfahren habe, mache ihn überaus glücklich. Ich versuchte zu lächeln und fragte, um überhaupt etwas zu sagen, was er denn über mich erfahren habe.
„Ich habe gesehen, wie Sie atmen, wie sich Ihre Bauchdecke hebt und senkt, so ruhig und gleichmäßig. Das ist nicht selbstverständlich. Ich habe sehen können, wie Sie gehen, wie Sie sich setzen. Ihre Hände liegen entspannt zu beiden Seiten auf der Sitzfläche. Sie verschränken sie nicht vor der Brust, Sie schlagen nicht ein Bein über das andere, Sie haben Ihre Blicke durch den Raum schweifen lassen, haben alles Wesentliche darin schnell erfasst und sind jetzt doch mit Ihrem Blick ganz bei Ihrem Gegenüber. Vom ersten Augenblick an haben Sie mir sehr viel über sich anvertraut. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Darf ich das sagen? Den ganzen Raum erfüllen Sie mit Wärme und Helligkeit.“
Mein Kopf sagte mir in diesem Moment, ich solle von jetzt an gehörig auf der Hut sein, aber mein Körper versagte mir den dazugehörigen Adrenalinstoß. Stattdessen fühlte ich die angenehme Wärme, von der er gesprochen hatte, ich horchte auf meinen ruhigen Atem und sank entspannt immer tiefer in das Polster ein. Ich dachte an den Zettel in meiner Handtasche mit den Fragen, die ich ihm hatte stellen wollen. Arbeiten Sie immer nach Fotografien? Welche Künstler haben Sie maßgeblich beeinflusst? Was halten Sie vom gegenwärtigen Kunstbetrieb? Wie kamen Sie zum Portrait? Und warum ist es so essentiell für Ihre Arbeit, die Entstehung Ihrer Gemälde mit einem Tuch des Schweigens zu überdecken? Schließen Sie mit den Portraitierten eine Art Vertrag über dieses Stillschweigen ab? Ich fasste zögerlich meine Handtasche, die ich neben mir abgelegt hatte, als Bronczek wieder zu reden begann.
„Sie haben sicherlich eine Menge Fragen mitgebracht, die Sie mir stellen möchten. Das ist selbstverständlich. Ich werde Sie Ihnen gerne beantworten. Das Faszinierende an den Fragen, die wir stellen wollen, ist aber, dass wir in den meisten Fällen die Antworten auf unsere Fragen bereits kennen. Indem wir sie stellen und auf Antwort warten, möchten wir uns lediglich bei dem, dem wir sie stellen, versichern, dass die Antworten, die wir bereits in uns haben, die richtigen Antworten sind.“
„Ich will ja in meinem Katalogtext nichts schreiben, was nicht korrekt ist, also den Tatsachen nicht entspricht“, sagte ich mit dem Gefühl, mich irgendwie rechtfertigen zu müssen, wenngleich mir durch den Hinterkopf einige meiner Fragen rauschten, die ihre Antworten tatsächlich bereits in sich trugen. Ja, natürlich malte er immer nach Fotografien, das war ja nicht zu übersehen gewesen. Die künstlerischen Vorbilder waren mehr als nur spürbar: Caravaggio, Vermeer, Lucien Freud und Leibl, aber auch die großen Fotografen der 50er bis 70er Jahre, Ed van der Elsken etwa, Fotografinnen des ausgehenden zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts, die früh verstorbene Francesca Woodmann, Sally Mann, Anja Müller. Ich konnte mir zwar nicht sicher sein, aber ich konnte es doch sehen. Und dem Kunstbetrieb stand Bronczek augenscheinlich distanziert gegenüber, er interessierte ihn nicht, aber er nutzte ihn, wo er ihm Möglichkeiten bot, seiner Leidenschaft, seinen künstlerischen Zielen zu folgen, und nur ihnen.
„Tagein, tagaus sind wir mit Fragen beschäftigt. So viele Fragen drehen sich um Alltäglichkeiten. Welche Aufgaben habe ich morgen zu erledigen? Was soll ich zur Party heute Abend anziehen? Was soll ich kochen? Wie lange wird mein Auto noch anspringen, bis ich es endgültig zur Werkstatt bringen muss? Was erwarten die Menschen, die mir nahestehen, mit denen ich arbeite, von mir? Indem wir uns diese Fragen stellen, kennen wir doch immer schon die Antworten. Aber wir sind daran gewöhnt, uns nicht mit den einfachen Antworten zufrieden zu geben und entwickeln komplizierte Strategien, die uns von den einfachen Antworten wegführen. Weil wir unser Umfeld, die Menschen, denen wir begegnen, kontrollieren und berechenbar machen wollen. Aber dabei verlieren wir unsere Mitte und lernen, die einfachen Antworten zu übersehen. Es gibt nur eine sehr überschaubare Anzahl von Bedürfnissen, die Menschen befriedigen wollen – und müssen. Menschen sehnen sich nach Schönheit, nach Liebe, Glück, Lust, Sinn, Anerkennung und Geborgenheit. Und nicht zu vergessen unsere körperlichen Bedürfnisse: Hunger, Durst, Notdurft, Berührungen und natürlich Sex. Jede unserer Fragen lässt sich auf wenigstens eines dieser Bedürfnisse zurückführen.“
Bronczek machte eine lange Pause, ohne mir damit das Gefühl zu geben, ich müsse auf seine Thesen sofort eine Antwort geben oder gar eine Gegenrede liefern. Aber das Leben ist nun einmal kompliziert“, hätte ich sagen können, es wäre schön, wenn die Antworten immer so einfach wären, wie Sie sagen. Aber der moderne Mensch muss sich nun einmal in einem unüberschaubaren Chaos an widerstreitenden Interessen, Erwartungen, Gefühlen, Lügen und Täuschungsmanövern irgendwie orientieren. Um in diesem Wust, dem unausgesprochenen Kampf aller gegen alle, überleben zu können, muss man komplex denken und ausgeklügelte Strategien entwickeln. Und ich muss sagen, ich bin nicht einmal schlecht darin.
Bronczek lächelte. „Es ist schön, Ihnen beim Denken zuzusehen.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob das alles wirklich so einfach ist, wie Sie sagen. Auch wenn es ganz sicher schön wäre.“
„So, wie Sie sich heute angezogen, sich dezent geschminkt haben, der Duft, den Sie aufgetragen haben – damit wollten Sie unter anderem eines meiner unzweifelhaften Bedürfnisse befriedigen, mein Bedürfnis nach Schönheit. So einfach ist das, und ich danke Ihnen dafür.“
Ich fühlte, wie mir ganz heiß wurde. Aber irgendwie hatte er ja auch recht. Und zugleich unrecht. Ich hatte mir in Wirklichkeit sehr viele Fragen zu meiner Garderobe und dem Make-up gestellt. Seriös sollte es wirken, aber natürlich auch anziehend, jedoch nicht ablenkend. Es sollte keinen Aufforderungscharakter haben, ich wollte meine Beine zeigen, aber auch nicht derart aufdringlich, dass Bronczek die ganze Zeit über darauf starren musste. Ich hatte vorm Kleiderschrank keinen Moment an Sex oder zärtliche Berührungen gedacht, aber doch daran, sexy und verlockend auszusehen, ohne dabei zugleich zu offenbaren, dass ich das Interesse verspürte, sexy und verführerisch zu wirken. Mein Gott, das war wirklich kompliziert – und widersprüchlich! Wie aufreibend, einen als angemessen erscheinenden Kompromiss zu finden, der gewährleisten sollte, sowohl anziehend zu wirken, als auch unscheinbar genug, um die Distanz wahren zu können!
„Ich muss Ihnen etwas sagen“, hob Bronczek erneut an, „und es wird Sie vielleicht im ersten Moment erschrecken, das zu hören, und Sie werden vielleicht für einige Zeit spüren, wie sich etwas in Ihnen dagegen sträubt, darüber nachzudenken. Sie werden sich vielleicht für einen Moment – oder auch für längere Zeit, einige Minuten, Stunden oder Tage – Fragen stellen, deren einfache Antworten sie noch nicht akzeptieren können. Das hängt nicht von mir ab, sondern ganz allein von Ihnen.“
Ich zog meine Stirn in Falten und spürte mein Herz schlagen. Wusste ich bereits, worauf er hinauswollte? Konnte ich mich dem entziehen, was er zu sagen hatte? Sollte ich vielleicht nach der Toilette fragen, um die immer intimere Spannung aus dem Gespräch zu nehmen, um mich sammeln und das Gespräch in andere Bahnen lenken zu können? Noch nie hatte ich mich während einer Unterhaltung, dem Gespräch mit einem Künstler derart passiv erlebt. Es behagte mir nicht, in beruflichen Dingen das Ruder aus der Hand zu geben.
„Alle, die mich, wie Sie, hier in meinem Atelier besuchen, Menschen, die gekommen sind, um sich von mir portraitieren zu lassen, bewegt die Frage, was es mit diesem angeblichen Geheimnis meiner Arbeitsweise auf sich hat. Sie alle geben vor, neugierig und ahnungslos zu sein. Dabei kennen fast alle, die mit dem Wunsch, mein sogenanntes Geheimnis zu lüften, diese Räume betreten, die Antwort. Sie kennen die Antwort auch dann, wenn sie sich entschließen, diesen Schritt nicht zu wagen. Wie oft bin ich schon versetzt worden! Termine wurden abgesagt, um unbestimmte Zeit aufgeschoben, mit manchmal mehr als fadenscheinigen Begründungen. Andere haben sich einfach nie mehr gemeldet. Die, die kamen, wussten jedoch sehr genau, was sie erwartete. Sie kannten die Antwort, aber haben lange eingeübte Strategien genutzt, um die einfache Antwort von sich fern zu halten.“
Alle, die kommen, wissen, was sie erwartet? Was wollte Bronczek damit andeuten? Jedes seiner Worte ließ alles im Unklaren, und doch hatten seine Ausführungen etwas Bedrängendes und Provozierendes. Wie konnte er mir auf so anmaßende Weise unterstellen, ich hätte genau wissen können, was mich in seinem Atelier erwartet, worauf ich mich einlasse? Hatte sein Ton nicht längst unterschwellig und beinahe aggressiv etwas Anzügliches bekommen? Lief das alles auf eine Art sanfter Vergewaltigung hinaus? Ging es um Sex? Nichts anderes als Sex? Und ich sollte mit dem vorauseilenden Einverständnis hierhergekommen sein, mit ihm Sex zu haben? Weil ich es wollte? Von Anfang an? Mit einem mir unbekannten Mann? Wenn er das glaubte, irrte er sich gewaltig! Von einem Moment auf den anderen war ich auf Angriff gepolt. Endlich fühlte ich den Adrenalinstoß, der am Anfang zu meiner Verwunderung ausgeblieben war. Ich griff erneut nach meiner Handtasche und zog mit zitternder Hand meinen Zettel heraus und legte ihn auf meinen Schoß. Unvermittelt hatte ich die Beine übereinandergeschlagen und mich dabei aufgerichtet.
„Lieber Herr Bronczek…“
„Stanislav, wenn Sie wollen.“
„Lieber Herr Bonczek, mit anderen Worten, es gibt also gar nicht so etwas wie ein Geheimnis. Mit welchen Erwartungen kommen die Menschen, die sich portraitieren lassen, zu Ihnen? Sie sagen, es sei Neugier. Ich muss sagen, dass auch mich die Neugier bewogen hat, Sie in Ihrem Atelier zu besuchen – und natürlich auch die besondere Ausstrahlung, die von Ihren Gemälden ausgeht. Wenn es also dieses sagenumwobene Geheimnis nicht gibt, warum ist dann immer wieder die Rede davon?“
„Ich möchte mit einer Gegenfrage antworten, wenn Sie erlauben. Diejenigen, die vor Ihnen hier waren, kamen mit einer Frage, deren Antwort sie in ihrem Innersten bereits kannten. Was glauben Sie, waren ihre Antworten? Und welche Antwort hat sich bereits in Ihrem Kopf eingenistet? Und mit welchen Ihrer grundlegenden Bedürfnisse ist Ihre Antwort verbunden?“
„Wie soll ich das wissen? Wie soll ich wissen, welche unterschiedlichen Absichten Ihre Modelle jeweils verfolgt haben? Menschen sind verschieden. Sie haben unterschiedliche Erfahrungen, Erwartungen, Träume und, ja, vielleicht auch Sehnsüchte, die sie antreiben. Aber daraus ergibt sich eine sehr individuelle Gemengelage. Niemand kann in den Kopf eines anderen schauen, erst recht nicht in die Köpfe von Menschen, die man gar nicht kennt, denen man nie begegnet ist. Ich könnte mir vorstellen, dass nicht Wenige von Eitelkeit getrieben sind. Man möchte sich von einer berühmten Künstlerpersönlichkeit portraitieren lassen. Man liebt es, wenn das Portrait einem schmeichelt, es einen schöner erscheinen lässt, als man wirklich ist, und dennoch ähnlich. Vielleicht enthüllt das Portrait einen Aspekt der eigenen Persönlichkeit, der einem selbst oder anderen bisher verborgen geblieben ist. Es gibt sehr unterschiedliche Gründe, sich portraitieren zu lassen. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, hat bei mir auch irgendwie so etwas wie Eitelkeit eine Rolle gespielt.“
„Und Sie denken, dieses Interesse, Ihre Eitelkeit zu befriedigen, wäre eine gute Grundlage für ein Portrait?“
„Nein, nicht allein. Es muss schon auch ein Vertrauensverhältnis zwischen Künstler und Portraitiertem vorhanden sein. Ich glaube, das ist sehr wichtig bei einem Portrait: dass Künstler und Portraitierter sich gegenseitig vertrauen können. Der Portraitierte muss sich in der Situation irgendwie fallen lassen können, ohne Angst oder Vorbehalte. Man muss sich vielleicht nicht im engeren Sinne umfassend kennenlernen. Gerade aus der Distanz erkennt man als Künstler doch am Anderen manchmal mehr, als wenn man ihn genauer kennt. Das klingt jetzt vielleicht etwas widersprüchlich. Man nimmt ja auch sehr viel intuitiv wahr. Und wenn man einen Menschen genauer kennt, geht diese ursprüngliche Intuition eher verloren und wird überdeckt von den konkreten Erfahrungen, die man mit diesem Menschen gemacht hat, von den Erwartungen, die man mit ihm verbindet, den, ja – auch den Fiktionen und Illusionen, die man ihm unbewusst anheftet. Und dann bereitet es sehr viel Arbeit, diesen Menschen irgendwann wieder unvoreingenommen als den Anderen wahrnehmen zu können, der er im Kern ist. Entschuldigen Sie, könnte ich vielleicht etwas zu trinken bekommen, ein Glas Wasser vielleicht?“
„Natürlich. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen gar nichts angeboten habe! Möchten Sie auch etwas essen?“
„Nein, danke, im Moment nicht. Nur ein Glas Wasser, bitte.“
Bronczek erhob sich und ging hinüber zur Küchenzeile. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert, wünschte jedoch, die Anspannung, die von mir Besitz ergriffen hatte, möge sich nach einem Schluck Wasser wieder einigermaßen verflüchtigen. Bronczek stellte das Glas vor mir auf den Tisch und hatte noch einen Plastikbecher mit Salzstangen mitgebracht. Ich trank und nahm danach unwillkürlich eine der Salzstangen.
„Unser Körper spricht eine wunderbar klare Sprache: Durst, sagt er, und wir folgen ihm gern und unmittelbar. Warum haben wir mit vielen unserer übrigen Bedürfnisse oft so große Probleme?“
„Weil wir unsere Bedürfnisse mit den anderen aushandeln müssen. So einfach ist die Antwort auf diese Frage. Viel schwerer aber ist das Aushandeln selbst. Da fängt es dann an, kompliziert zu werden.“
„Da sind wir uns einig.“
„Und wo, meinen Sie, sind wir uns uneinig?“
„Bei der Frage, ob dieses Aushandeln so kompliziert sein muss oder auch sein sollte, wie Sie annehmen. Ich gehe davon aus, dass wir Menschen fast alle Bedürfnisse teilen. Sie sind etwas, das wir alle gemeinsam haben. Sie haben Durst – ich gebe Ihnen zu trinken. Ich bin müde – Sie geben mir ein Bett, in dem ich schlafen kann, und sorgen dafür, dass niemand mich stört. Sie sind traurig – ich tröste Sie mit einer wie lange auch immer dauernden Umarmung. Ich streichle Sie, bis der Schmerz langsam verklingt. Ich fühle das große Verlangen nach Schönheit – Sie zeigen mir Ihre Schönheit in dem Maße, wie Sie es können und wollen. Wir begegnen uns immer mit bestimmten Bedürfnissen. Diese Bedürfnisse sind immer unsere eigenen, die der anderen sind die der anderen, nicht unbedingt meine, oder vielleicht zu diesem Zeitpunkt gerade nicht meine, oder eben gerade doch. Noch in den aufwendigsten und verschachteltesten Träumen, Wünschen oder Erwartungen verbergen sich immer sehr elementare Bedürfnisse, die so leicht zu befriedigen wären und die jeder Mensch versteht und selbst hat. Und viele der wichtigsten Bedürfnisse können wir nicht für uns alleine befriedigen, ohne die Anwesenheit oder Hilfe eines anderen. Wir kommen ohne andere Menschen nicht aus. Es sind Menschen, die unsere Bedürfnisse verstehen und befriedigen können, weil sie sie selber kennen und haben.“
„Ja, aber doch nicht mit einem x-beliebigen Menschen! Die Menschen sind doch nicht austauschbar.“
„Nein, nie. Niemals mit einem x-beliebigen Menschen.“
„Also werden Sie doch nach einem Menschen suchen, von dem Sie möchten, dass er und genau er ihre Bedürfnisse befriedigt, und nicht irgendein anderer. Und Sie wollen ja auch sicher sein, dass dieser Mensch bereit ist, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Und zwar ohne Sie dabei auszunutzen. Sie wollen vor allem geliebt und akzeptiert werden.“
Bronczek lachte plötzlich laut und herzlich auf.
„Entschuldigen Sie! Aber wir hören uns schon an wie in einem platonischen Dialog.“
„Fragt sich nur, wer für sich die Rolle des Sokrates beansprucht.“
„Sie haben eine Frage gestellt. Beantworten Sie diese Frage!“
„Welche Frage genau?“
„Wer von uns die Rolle des Sokrates beansprucht. Sie kennen die Antwort darauf doch bereits.“
„Ich nehme an, Sie sehen sich als Sokrates – und ich bin das idiotische Echo.“
„Sie sehen sich in der Rolle einer Idiotin? Fühlen Sie sich von mir gedemütigt, mir unterlegen?“
„Auf alle Weise freilich“, entfuhr es mir.
Wir mussten beide lachen.
„Wir hätten unser Gespräch aufzeichnen sollen, anstelle eines vermutlich eher überflüssigen, theorielastigen Katalogtextes.“
„Ich freue mich, dass Sie sich wieder ein wenig wohler fühlen.“
„Ich habe mich gar nicht unwohl gefühlt. Habe ich diesen Eindruck erweckt? Es macht Spaß mit Ihnen zu reden, in dieser inspirierenden Umgebung.“ Das war wirklich nur zum Teil gelogen.
„Kommen Sie“, sagte Bronczek und stand energisch von seinem Stuhl auf, „ich zeige Ihnen mein Fotostudio, in dem die Aufnahmen entstehen. Gleich hier.“
Er wies mit der Hand auf den dunklen Vorhang.
„Wenn Sie meinen, dass ich dafür schon bereit bin“, sagte ich und giggelte verlegen.
Hinter dem Vorhang schien die Luft noch wärmer zu sein. Eine alte Stehlampe mit einem omahaften Lampenschirm beleuchtete den Raum nur spärlich, dieses hohe weite Zelt. Am hinteren Ende des Studios standen ein großes Bett mit vielen Kissen, daneben eine tiefrote Chaiselongue, in einer anderen Ecke ein Ensemble aus einem alten Tisch, auf dem eine Kamera lag, und zwei einfachen Holzstühlen, auf dem Boden lag ein beiger Flokati von beachtlichen Ausmaßen. Im Raum verteilt standen auf schweren Stativen große Lichtschirme. Bronczek durchmaß den Raum mit großen Schritten und schaltete einen Lichtschirm nach dem anderen an, die ein helles, aber warmes Licht verströmten. Ich stemmte die Hände in die Hüften und gab meinem Erstaunen und meiner Bewunderung Ausdruck, indem ich beide Backen aufblies. An einem Haken in der Backsteinwand hing eine Art Gewand aus hellem, seidig wirkendem Stoff über einem Bügel. Ich deutete darauf.
„Ist das das Kleid, das Ihre Modelle bei den Aufnahmen tragen? Mir wird erst jetzt klar, dass bei allen so ein heller, weiter Kragen, oder vielmehr Ausschnitt zu sehen ist. Es ist immer dasselbe.“
„Bei fast allen Menschen gibt es so ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Ritualen. Dies hier gehört zu meinen Ritualen. Mit dem äußeren Ritual, das mit einem durchaus heiligen Ernst durchgeführt werden muss, vollzieht sich zugleich eine innere Reinigung.“
„Und wie vollzieht sich dann Ihr Ritual? Also, was genau passiert dann mit Ihren Modellen und mit diesem Kleid?“ Ich stellte mich vor einen der Stühle und hielt die Lehne mit beiden Händen fest umklammert.
„Sie kennen die Antwort.“
Ich zögerte, blickte auf den knöchelhohen Flokati und stellte mir vor, wie Millionen von Staubmilden darin herumkrabbelten und auf einmal begannen, sich zu paaren. Eine einzige, millionenfache Staubmilben-Orgie.
„Dann versuche ich mal eine Antwort: Die Modelle ziehen sich aus und streifen sich das Kleid über? So in etwa?“
„Sie sind zwar mutiger geworden, aber immer noch sehr vorsichtig. Sie möchten die Kontrolle über die Situation bewahren. Das heißt, Sie befürchten, die Kontrolle verlieren zu können.“
„Kontrolle? Wieso Kontrolle? Ich habe alles unter Kontrolle. Glaube ich wenigstens. Hoffe ich.“
„Ja, Sie können sich sicher sein. Sie haben die Kontrolle. Weil Sie gemerkt haben, dass Sie mir vertrauen können, obwohl Sie sich von mir bedrängt gefühlt haben. Es wird nichts geschehen, was Sie nicht erwarten oder erhoffen. Sie können alles sehen. Nichts ist verborgen. Ihre Antworten sind die Antworten auf Ihre Fragen. Sie kennen meine Bedürfnisse genau. Sie müssen danach nicht mehr fragen. Sie kennen meine Ziele. Es sind Gemälde. Es sind die Gemälde, die Sie gesehen haben. Diese Gemälde, nicht ich, der Maler, haben Sie hierhergeführt. Nun haben Sie auch den Maler kennengelernt. Aber Sie allein bestimmen, wie sie die Bedürfnisse, mit denen Sie sich auf den Weg in mein Atelier gemacht haben, befriedigen können und in welcher Form ich dabei eine Rolle spielen soll. Ich kann auch eine Weile fortgehen und Sie alleine lassen, solange Sie wollen. Eine einzige Bedingung aber will ich stellen. Ich stelle sie als Künstler. Ich erbitte sie von Ihnen. Wenn alles das geschehen ist, was Sie für sich und für mich entschieden haben und entscheiden werden, will ich das eine Foto machen, nach dem ich mein Gemälde anfertigen werde. Nur dieses eine Foto wird entstehen, nachdem Sie für einen Augenblick Ihre Mitte wiedergefunden haben.“
Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich fühlte mich wie erstarrt. Warum war ich hergekommen? Woher kam das Gefühl, ganz und gar ausgeliefert zu sein? Und wem ausgeliefert? Bronczek oder mir selbst? Wie in Trance machte ich einige Schritte in die Mitte des Raumes. Bronczek legte das Kleid behutsam auf das Bett, trat dann an mich heran und blickte mir lange in die Augen. Ich spürte seinen Atem. Dann hob er seine Hände und begann, mir die Bluse aufzuknöpfen. Ich ließ es geschehen. Meine Arme wurden schwer, mein ganzer Körper warm, ich blinzelte in einen der großen Lichtschirme wie in die Sonne an einem südlichen Strand. Da war auf einmal die ruhige Gewissheit. Ja, ich wollte es. Und auch alles das, was folgte. Nachdem Bronczek sein Foto gemacht hatte, ließ ich nicht mehr viel Zeit vergehen, bis ich ging. Über die Ausstellung würden wir später sprechen. Am Telefon? Ein Termin für eine Besprechung in den Ausstellungsräumen? Bronczek lächelte, nickte und bedankte sich ein weiteres Mal. Wieder auf der Straße zu stehen hatte etwas Unwirkliches. Ich wusste nicht mehr, wo ich mein Auto geparkt hatte und lief einfach in eine Richtung los, wie auf der Flucht. Ich bemerkte bald, dass ich mich verlaufen hatte. Vor einem Steh-Café trank ich einen heißen Kaffee. Ich blinzelte in die warme Sonne. Ich musste lachen. Und weinen. Beides zugleich.