Die zwei Witwen von Justus Stirner

Es waren einmal zwei alte Damen, die waren seit vielen Jahren verwitwet und lebten in einer Reihenhaussiedlung Haus an Haus. Die eine war erst wenige Jahre zuvor in ihr Haus gezogen, nachdem ihr Mann verstorben und ihr das ehemalige gemeinsame Heim zu groß vorgekommen war. Zunächst hatten die beiden Frauen wenig Interesse aneinander gehabt, aber die Einsamkeit bewog sie irgendwann häufiger miteinander über das Wetter und die steigenden Butterpreise zu sprechen. Eines Morgens trafen sie sich vor ihren Haustüren, als die Neue die Zeitung aus ihrem Briefkasten zog. Da fiel ihr auf, dass die Andere noch nie eine Zeitung aus ihrem Briefkasten geholt hatte. So erfuhr die Neue, wie ärmlich die Andere lebte und nicht einmal das Geld für kleinere Reparaturen in ihrem Haus hatte. Von diesem Tag an brachte die Neue jeden Tag um die Mittagszeit die ausgelesene Zeitung zu der Anderen, die sehr dankbar für diese tägliche gute Tat war. Um sich zu revanchieren, lud die Andere die Neue nun regelmäßig zu einer Tasse Kaffee in ihr Haus ein. Die Neue fand diese Einladungen zwar lästig, empfand es jedoch als Gebot der Höflichkeit, sie nicht auszuschlagen. Sie musste respektieren, dass die Andere für die tägliche Gabe etwas zurückgeben wollte. Um der Gerechtigkeit willen. Damit es ein Tausch und kein Gnadenakt war. Bei ihren Gesprächen während der Kaffeestunden kam eines Tages auch das Gespräch auf ihre verstorbenen Männer. Während die Neue wenig Gutes über ihren Mann zu berichten hatte, der ein jähzorniger Mensch gewesen sein musste, erzählte die Andere liebevoll von ihrem Mann, der sehr zärtlich und fürsorglich gewesen sein musste. Sie vermisste ihn immer noch. Noch bis kurz vor seinem Tod hatte er sie jeden Abend gestreichelt und geküsst. Manchmal, sagte sie, stelle sie sich vor, er liege noch immer neben ihr im Bett, wenn sie schlafen gehe. Er lasse seine Hand langsam vom Nacken über ihre Wirbelsäule gleiten. Dann höre sie, wie er leise ihren Namen hauche. Die Neue hatte sich dergleichen noch nie vorgestellt und fragte sich, ob sie je so geliebt worden war wie die Andere. Sie hätte sich auch fragen können, ob sie je selbst so geliebt hatte.

Sie beschloss, sich mit diesen Fragen nicht weiter zu quälen, weil sie jetzt ja ohnehin zu alt war für die Trauer über versäumte Zärtlichkeiten. Aber weil die Andere jetzt ein bisschen weinte, erhob sie sich und legte ihre Hände tröstend auf die Schultern der Anderen. Die fing jetzt erst recht an zu weinen, und die Neue wusste nicht, was sie noch tun konnte, um sie zu trösten. Da ließ sie eine Hand auch noch über die dünnen Haare der Alten gleiten. Als sie sich beruhigt hatte, verabschiedete sich die Neue. Bei der nächsten Tasse Kaffee sagte die Andere, es habe ihr sehr gutgetan, von der Neuen berührt und gestreichelt zu werden. Deshalb wolle sie sich revanchieren. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, stellte sich hinter die Neue, legte ihre Hände auf ihre Schultern und streichelte ihren Kopf. Die Neue wusste nicht, wie ihr geschah. Es war ihr unangenehm, von der Alten so berührt zu werden. Und sie war ja auch gar nicht traurig. Aber sie wagte nicht, die Alte von sich wegzustoßen und ließ sich die Zärtlichkeiten gefallen. Sie sorgte ja nur für ausgleichende Gerechtigkeit. Die arme Alte hatte ja sonst nichts, was sie hätte hergeben können als Kaffee und sanfte Berührungen. Und weil die Neue nicht in der Schuld der Anderen stehen wollte, gab sie die Zärtlichkeiten an die Andere zurück. So erweiterte sich ihr Ritual, das zuvor nur durch den Tausch von Tageszeitung gegen Kaffee bestimmt gewesen war, um das des Tausches von Berührungen. So saßen sie nun täglich bei Kaffee und Keksen am Küchentisch der Anderen, erhoben sich nach einiger Zeit abwechselnd von ihren Stühlen, um einander Schultern und Kopfhaut zu massieren. An einem warmen Sommertag trug die Andere nur eine dünne Bluse. Als sich die Neue von ihrem Stuhl erhob, öffnete die Andere die oberen Knöpfe ihrer Bluse und ließ sie leicht von den Schultern herabgleiten. Die Neue zögerte einen Augenblick, aber sie wollte der Anderen auch nicht sagen, sie solle ihre Bluse wieder zuknöpfen, weil sie damit die Gebote des Anstands verletze. Also streichelte sie die nackten Schultern der Alten wie an den Tagen zuvor die bedeckten. Sie konnte die faltige Haut unter ihren Schlüsselbeinen sehen und die erschlafften Brüste in der Bluse, denn sie trug keinen Büstenhalter an diesem warmen Sommertag. Als die Neue an der Reihe war, öffnete die Andere ebenfalls drei Knöpfe der Bluse, die die Neue trug. Die Neue ließ es sich gefallen und fand es nur gerecht. Einige Wochen später fanden die Beiden es naheliegend und praktischer, sich obenherum ganz frei zu machen, wenn sie ihr Ritual begingen. Weil sie durchs Küchenfenster bei ihren Tauschgeschäften nicht gesehen werden wollten, begaben sie sich nun nach dem Kaffee ins Wohnzimmer, dessen Fenster zum Garten hinausgingen. Wieder einige Wochen später, als der Herbst immer dunkler und kühler wurde, entkleideten sie sich ganz und legten sich nebeneinander in das Bett der Anderen. Immer noch wechselten sie sich mit ihren Zärtlichkeiten ab. Erst streichelte die Neue den Rücken der Anderen, dann legte sich die Neue auf den Bauch, um ihren Anteil zu empfangen. Eines Tages fragte die Andere, ob die Neue auch noch Empfindungen da unten, zwischen den Beinen habe. Die Neue wusste es nicht. Dann erzählte die Andere, wie ihr Mann sie früher dort liebkost und wie sehr sie es genossen habe. Sie lächelte und legte ihre knorrigen Finger in den Schoß der Neuen, die sofort bemerkte, dass sie noch immer Empfindungen dort hatte. Die Andere beschrieb, wie sich der Junge, der ihr Mann einmal gewesen war, mit seiner Hand in ihren Slip vorgearbeitet und ihre erblühende Perle berührt und liebkost hatte. Dabei rieb sie sanft die neu erblühende Perle ihrer Bettgenossin. War das ein großes Unrecht, das hier geschah, fragte sich die Neue, und beschloss, dass sie nur Opfer ihrer eigenen Wohltätigkeit geworden war und keine Schuld daran trug. Sie hatte ihre Tageszeitung gegen Kaffee und Gespräche getauscht. Das war nur gerecht gewesen. Sie war immer die vorbehaltlos Gebende gewesen. Die Geschenke, die sie dafür erhalten hatte, waren leider immer noch etwas größer gewesen, als das, was sie gegeben hatte. Nie hätte sie es ertragen können, in der Schuld eines anderen Menschen zu stehen. Das war ein Teufelskreis geworden. Es war eine große Sünde, dass sie sich als alte Frau von einer anderen alten Frau diese Wonnen bereiten ließ. Sie hatte nie davon gehört, dass alte Frauen das miteinander taten. Ausgleichende Gerechtigkeit erschien ihr jedoch, wie immer in ihrem langen Leben, als der höhere Wert. Also trug sie auch jetzt ihren Teil zur Gerechtigkeit bei, beschloss jedoch, als sie sich ankleidete, die Andere nicht wieder zu besuchen und ihre Tageszeitung abzubestellen. Denn der Gerechtigkeit war Genüge getan. Am nächsten Tag trug sie die Zeitung nicht mehr zu der Anderen. Sie glaubte, die Andere werde bald an ihrer Tür klingeln und nach der Zeitung fragen. Aber sie ließ sich an diesem und den folgenden Tagen nicht bei ihr blicken. Nach einer Woche war ihr schlechtes Gewissen so stark geworden, dass sie nun doch einmal nachsehen wollte, wie es der Nachbarin ging. Die öffnete ihre Tür aber nicht. Auch nicht am folgenden Tag. Die Neue stand nun viele Stunden an einem Fenster, das zur Straße hinausging und wartete darauf, dass die Andere ihr Haus für einen Einkauf verließ. Aber sie verließ ihr Haus nie mehr, denn sie war gestorben. Als die Polizisten, die die Neue schließlich gerufen hatte, das Haus der Nachbarin verließen, erfuhr sie, die Andere sei in ihrem Bett friedlich eingeschlafen. Die Neue blieb allein zurück mit einer giftigen Schuld.

Donata sagt: Und die Moral von der Geschicht?

Sarah sagt: Justus macht sich nur über meine nur halb so sonderbare Mutter lustig, die jeden Morgen unsere Zeitung bekommt und sie dann an eine noch betagtere Freundin weitergibt. Frag besser nicht nach dem Sinn.

Justus sagt: Ich bin ein witzbold! Sag mal, Donata, hat dir Thomas jemals seine zunge so tief in den rachen geschoben, dass du einen hustenanfall bekommen hast? Das frage ich mich schon die ganze zeit.

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