Donata reflektiert über Mutterschaft, Vaterschaft und Herrschaft – LIQUID LOVE Archive

Den Männern geht es um Sex und freie Liebe, den Frauen um Schwangerschaft und Kinder. Ist das so? Immer noch? Oder wieder? Justus meint, das sei ein Klischee. Sarah weiß nicht so genau. Donata betont, dass sich die Männer nicht wirklich vorstellen können, welche Bedeutung Schwangerschaft und Kinderkriegen für eine Frau wirklich haben. Beim Sex spielt das immer auch eine Rolle, jedenfalls als Erinnerung und Möglichkeit. Die Vereinigung zweier Körper hat ihren besonderen Zauber auch – wenn nicht vor allem – wegen der prinzipiellen Möglichkeit, dass daraus mehr werden könnte, dass die Lust einen Zweck hat, einen höheren Zweck. Aber wie ist das für die Männer? Ist es für sie wirklich wichtig zu wissen, dass sie und nicht ein anderer für die Leibesfrucht verantwortlich ist? Ein biologisches Programm? Oder ist das nur eine kulturelle Norm? Wenn sich ein Paar für eine künstliche Befruchtung entscheidet, gibt es ja im Prinzip drei Möglichkeiten: die Samenspende (dann ist der Mann nicht der biologische Vater), die Eizellspende (dann ist die Frau nicht die leibliche Mutter – aber sie gebiert das Kind), oder Samen und Ei kommen von fremden Menschen (dann ist es ein „fremdes“ Kind – aber die Frau gebiert das Kind). Die vierte, aber unwahrscheinlichere Möglichkeit ist die Adoption, mal abgesehen von dem illegalen Fall, eine Leihmutter kommt zum Einsatz. Dann würde es allerdings wenig Sinn machen, wenn Samen und Ei von fremden Spendern kämen. Wenn man das mal alles aufdröselt, geht es doch in den meisten Fällen eher darum, überhaupt Kinder zu haben. Also „haben“ im Sinne von „besitzen“. Und wenn es möglicherweise auch nicht um den Besitz geht, dann vielleicht mit größerer Wahrscheinlichkeit um das Bedürfnis, Verantwortung für Kinder zu übernehmen, das Bedürfnis Kinder aufwachsen zu sehen, zu beschützen und zu begleiten. Also, was ist jetzt wirklich der Kitt, der Kinder und Erwachsene zusammenhält? So als Vater, Mutter, Kind. Dass ein Mann seine Gene an ein Kind weitergeben möchte, könnte ja mit den Erzählungen zu tun haben, die mit dynastischer Herrschaftssicherung zu tun haben. Auch wenn der Adel seit langem offiziell abgeschafft wurde, sitzt die Vorstellung in unseren Köpfen ja immer noch ganz fest, dass Adelige irgendwie mehr wert seien als normale Menschen, reiche Menschen, Großindustrielle, Prominente. Die wollen ihr Ego und ihre Besitztümer nicht mit ihrem Dahinscheiden einfach verschwinden sehen. Sie wollen sich in ihren Kindern weiterleben wissen, den Besitz in den Händen seiner natürlichen Stellvertreter sehen. Da geht es dann weniger um die neuen Menschen und ihre Autonomie, sondern im Gegenteil um ihre eingeschränkte Autonomie. Sie repräsentieren bis zu einem gewissen Grad noch immer den Vater. Deswegen ist ja auch in der Bibel oft die Linie der Väter von so großer Bedeutung. Ein Mann ist vor allem (oder zum Teil) identisch mit seinem Vater und dessen Vater undsoweiter. Aber wahrscheinlich nicht, weil er das will, sondern weil ihm gesagt wurde, dass es von großer Bedeutung ist, seine eigene Identität auf den eigenen Vater und die Linie der Vorväter zu beziehen. So funktionieren Dynastien. So kann man Macht auch über seinen Tod hinaus bewahren. Ich schätze mal, das war das Interesse, das es für einen Mann so bedeutsam werden ließ, sicher zu sein, dass er der Vater eines Kindes ist. Und wie so vieles ist dieses patriarchale Modell der Identitätsstiftung und Herrschaftssicherung ins Bürgertum und dann in alle weiteren, tieferstehenden Schichten gesickert. Der Adel als Vorbild. Oder wie sagt man heute: herrschender Diskurs, Narrativ. Vaterschaft hat etwas mit Macht und Herrschaft zu tun, mit persönlicher Macht, mit Egoismus. Als Mann kannst du dein Ego über deine Lebenszeit hinaus nur dann verlängern, wenn du einen Stellvertreter hast, über dessen Herkunft aus dir persönlich du dir sicher sein kannst. Also musst du dafür sorgen, dass die Frau, mit der du schläfst, von keinem anderen Mann besprungen wird. Lebst du in einer promiskuitiven Gesellschaft, fällt das Prinzip der Herrschaftssicherung durch Geburt weg. Dann kannst du vielleicht deinen Nachfolger ernennen, aber das erscheint zu schwach und zufällig. Hast du einen Nachfolger ernannt, der Fehler macht, ist es eben ein Irrtum gewesen. Ein leiblicher Nachfolger kann vielleicht auch Fehler machen, aber er ist nie ein Irrtum, weil es Natur ist. Alles, was deine Kinder leisten, fällt auf dich als Vater zurück. Allerdings auch ihre Fehler. Vielleicht ist das der Ursprung der Erziehung: Deine Kinder sollen ganz so werden wie du selbst. Sie sollen sogar auch noch das Potential entfalten, das in dir nur verborgen geblieben ist. Missrät ein Kind, gibt es zum Glück immer noch die Mutter, die mit ihren minderwertigen Anteilen dafür verantwortlich sein kann. Das Mütterliche bzw. die mütterlichen Anteile müssen unterdrückt, durch Erziehung ausgemerzt werden. Deswegen gilt in den Familien das Gesetz des Vaters, das ein Erziehungsgesetz ist. In ihm ist die Tradition als die Linie der Väter repräsentiert. Ihm müssen sich Kinder und Frauen unterwerfen. Die Frauen, weil sie so großen Einfluss auf die Kinder haben. Dabei geht es allerdings hauptsächlich um die männlichen Nachkommen. Die Mädchen sind als künftige Mütter nur Mittel zum Zweck der Herrschaftssicherung bzw. der Selbstverewigung der Männer. Die Frage, warum dieser Mechanismus unter einem männlichen Vorzeichen steht, ist leicht beantwortet: Die Frauen wussten immer, dass es ihre eigenen Kinder waren. Es bestand für sie nicht die Notwendigkeit, aus der biologischen Evidenz eine gesellschaftliche Norm abzuleiten. Man muss erstmal auf die Idee kommen, Macht und Herrschaft aus Geburt und Herkunft abzuleiten. Das ist ja gar nicht so naheliegend, wie es uns heute erscheint. Und dann war ja der Gedanke, dass die Kinder nur aus dem Samen der Männer entstehen, ziemlich naheliegend, jedenfalls vor der Erfindung des Biologieunterrichts. Die Eier kann man ja nicht sehen, aber der Mann pumpt halt seinen Samen in die Frau rein, die dann schwanger wird und ein Kind gebiert. Da erscheint sie ja zunächst einmal nur als Medium, als „Mutterboden“, in den man einen Samen pflanzt. Die Rolle der Frau erscheint da ziemlich passiv. Die produziert nur und gibt nichts weiter. Also wenn du überhaupt anfängst darüber nachzudenken, wie du als Mann deine Herrschaft oder Bedeutung oder Wichtigkeit über deinen Tod hinaus sicherstellen kannst, ist es naheliegend, das mit dem Nachwuchs zu verknüpfen. Angenommen, in der Frühgeschichte der Menschheit hatten die Menschen promiskuitiven Sex, dann waren das möglicherweise zwei verschiedene Dinge: Sex und Schwangerschaft. Da spielte dann allein Mutterschaft eine Rolle, naja, und die Spiegelneuronen, die dafür gesorgt haben, dass sich die Männer auch vergleichsweise zärtlich und fürsorglich um Kinder gekümmert haben wie die Mütter. Nehme ich jedenfalls mal an. Die Kinder kamen einfach, waren da, in gewisser Weise unabhängig davon, dass jede mit jedem rumvögeln konnte und das wahrscheinlich auch tat. Und wenn es zu viele Nachkommen wurden, entstand möglicherweise Konkurrenz, Streit um Nahrung und Reviere. Da entstanden vielleicht die Rollenmodelle, in denen Frauen sich um die Kinder kümmern, sie beschützen und versorgen, und die Männer kümmern sich um die Absicherung der Reviere, also um Besitz und Herrschaft. Dass diese Aufteilung so fatale Folgen haben würde, konnten die Frauen zu dem Zeitpunkt ja nicht ahnen. Ich glaube nicht, dass Frauen ihre Kinder als Quasi-Erweiterung ihres eigenen Ichs betrachten. Sie sind bei der Geburt, wenn sie das Neugeborene im Arm halten, erstaunt und beglückt über das Andere, das aus ihnen hervorgegangen ist. Darum kümmern sie sich in der Regel besser um ihre Kinder als um sich selbst. Dass ihre Kinder autonome Wesen sind, ist für Mütter viel selbstverständlicher als für Männer, die in den Kindern nach der eigenen Identität forschen, ihre Autonomie und Einzigartigkeit also von Anfang an in Frage stellen und einschränken möchten.

Ich stelle mir vor, dass Frauen in urzeitlichen Gesellschaften nicht auf die Idee kamen, ihr Lebenssinn bestehe darin, Kinder zur Welt zu bringen, sie zu versorgen und zu erziehen. Wie gesagt: Ich vermute, die Erziehung war eine Erfindung von männlicher Seite, also diese beschneidende, verstümmelnde Erziehung, durch die ein Vater zu seinem Kind sagt, du musst so werden wie ich. Das Kinderkriegen passierte einfach. Der Zusammenhang zwischen Sex und Schwangerschaft war vermutlich schon irgendwie klar. Aber dass aus der milchig-geligen Flüssigkeit Kinder entstehen, ist ja schon irgendwie wundersam. Und warum ein Paar eine feste Bindung eingehen muss, wenn doch so eine Art Dorfgemeinschaft existiert, die genug Schutz für die Neugeborenen bietet, ist erstmal wenig einsichtig. Andererseits haben wir bislang das Verliebtsein ausgespart. Da wäre ja auch mal die Frage interessant, ob es sich dabei um ein kulturelles oder zivilisatorisches Phänomen handelt, oder ob das rein biologisch ist, was im Übrigen auch nicht unbedingt eine romantische Vorstellung wäre, wenn du dich aus rein biologischen Gründen verliebst. Und dann noch die Sache mit dem Oxytocin, diesem Bindungshormon. Einerseits spricht das für eine evolutionäre Entwicklung, die Paarbeziehungen bevorzugt. Das Hormon wird ja insbesondere beim Sex produziert. Ich habe mir bislang immer vorgestellt, dass dieses Hormon dann das Paar, das regelmäßig Sex miteinander hat, aneinander irgendwie bindet. Das ist ja wahrscheinlich auch wissenschaftlich untersucht worden. Aber wie haben denn diese Forschungen konkret ausgesehen? Haben die Forscher zwei Gruppen mit Paaren untersucht, von denen die einen regelmäßig Sex hatten und die anderen keinen? Ich weiß nicht, ob man dazu was im Internet finden würde. Jedenfalls könnte man sich ebenso gut vorstellen, dass man eine Gruppe von Menschen dazu veranlasst, dauernd miteinander Sex zu haben, also mit ständigem Partnerwechsel. Würden dann alle zu allen engere Bindungen empfinden? Allerdings müssten die Voraussetzungen stimmen. Da kämen wir wieder zu dem Punkt mit dem Verliebtsein. Ich würde mich ja nicht in irgendeinen beliebigen Typen verlieben. Da läuft wahrscheinlich irgendein biologisches Programm ab. Du musst den Typen im wahrsten Sinne des Wortes riechen können. Etwas verrät dir, ob sein Körperbau in dein biologisches Fortpflanzungsprogramm passt – und umgekehrt. Also, ein Kerl, der auf dich und dein Interesse überhaupt nicht reagiert, dich nicht anlächelt, dich nicht berühren will, an dem verlierst du ja nach einiger Zeit auch das Interesse. Bei der Zusammenstellung einer Gruppe von Probanden müsste das also berücksichtigt werden, ob die sich sympathisch und anziehend finden, bevor man sie aufeinander loslässt. Ich könnte mir übrigens vorstellen, dass es bei einem solchen Experiment schamlos zugehen würde, weil die Probanden sich ja von den geltenden Normen freigesprochen fühlen würden. Das wäre gewissermaßen Ficken auf Befehl, ein Freischein für Promiskuität im Dienst der Wissenschaft. Man dürfte sie dafür allerdings nicht einsperren wie Panda-Bären im Zoo und ihnen beim Sex zusehen. Das könnte und müsste natürlich alles in „Heimarbeit“ geschehen. Bloß eine einfache Statistik führen: Heinz am Montag, Kurt am Dienstag, Ralf am Freitag, und eine Einschätzung der Qualität, also minimal bis maximal geil, Anzahl und Qualität der Orgasmen, Länge des Vor- und Nachspiels usw. Keine Ahnung, wie man den Hormonspiegel messen kann. Das müsste dann ja auch untersucht werden. Also meiner Meinung nach würde bei dem Experiment herauskommen, dass bei mindestens der Hälfte der Probanden stärkere Bindungsgefühle entstehen würden. Vorausgesetzt, die bekommen alle untereinander nichts von dem jeweiligen Alltagstress und den persönlichen Macken mit. Also Sex pur für lupenreine wissenschaftliche Ergebnisse. Wenn ich so drüber nachdenke, wüsste ich schon, wer sich an einer solchen wissenschaftlichen Studie gern beteiligen würde. Also, um das kurz zusammenzufassen: Es ist nicht klar, dass für Sex und Kinderkriegen eine Paarbeziehung notwendig ist. Ich würde sagen, die Paarbeziehung ist eine Erfindung der Männer, die Familie ist eine Erfindung von Männern. Früher hieß es immer, die Frauen hätten das erfunden, weil sie einen starken Versorger und Beschützer suchen. Wenn das Prinzip der Evolutionstheorie weiterhin Gültigkeit hat, dann sollte das Gesetz der Selektion, also dass sich der Stärkere durchsetzt, auch für den Wettkampf der Spermien gelten. Es wäre absurd, wenn eine Frau die Eignung von Spermien am Muskelspiel und dem Glanz in den Augen eines Mannes ablesen könnte, um dann nur diesen einen an sich ran zu lassen. Der Wettstreit wird wohl eher in der Vagina entschieden. Eine der wirklich wichtigen Fragen ist doch die, warum Männer im Prinzip nur einmal kommen können, also eine wesentlich längere Erholungsphase nach dem Orgasmus brauchen, Frauen aber mehrmals hintereinander kommen können, also im Prinzip beliebig oft. Warum sollte die Natur das so eingerichtet haben, wenn es nicht darum geht, als Frau im optimalen Fall Sex mit mehreren Männern zu haben, damit die besten Spermien gewinnen? Also die Natur sieht vermutlich Promiskuität vor, die – ich sag mal so salopp – patriarchale Kultur die Paarbeziehung, den ausschließlichen Sex, jedenfalls was die Frau betrifft.

Jetzt zu der Frage, ob sich dieses kulturelle oder zivilisatorische Programm einfach rückwärts wieder abwickeln ließe. Das ist wohl kaum vorstellbar. Vielleicht vorstellbar, aber nicht praktisch umsetzbar, weil es zu tief in uns drinsteckt, fest verankert, mit Scham und Schuldgefühlen besetzt. Und das größte Problem, möchte ich mal behaupten, wären die Männer, die verinnerlicht haben, dass die Frauen, mit denen sie mal geschlafen haben, irgendwie in ihren Besitz übergegangen sind, also zu ihrem Herrschaftsbereich gehören. Und die Gesellschaft, die die Kleinfamilie bzw. die Kernfamilie als elementaren Baustein betrachtet. Man könnte sich ja auch eine Gesellschaft vorstellen, in der das Kinderkriegen von dauerhaften Beziehungen abgekoppelt ist und die Frauen, die Kinder haben, vom Staat bestens versorgt werden, also nicht von einem einzelnen Mann, einem Ehemann, Frauen also zwar in einer längeren oder auch lebenslangen Beziehung leben können, aber zugleich selbstverständlich Kinder von verschiedenen Männern haben können, ohne dass die Männer deshalb beleidigt wären und sich zurückgesetzt fühlten. Nein, genaugenommen kann ich mir so eine Gesellschaft nicht vorstellen, jedenfalls nicht eine, die unserer ähnlich wäre. Ehrlich gesagt, kann ich mir keine Männer vorstellen, die nicht eifersüchtig reagieren würden, wenn die Frau, mit der sie gerade Sex gehabt haben, im nächsten Moment mit einem anderen schläft, weil sie gerade Lust dazu hat (Contra: Swingerpartys, Partnertausch, „offene Ehe“). Und eifersüchtige Frauen? Ich denke, die weibliche Eifersucht hat damit zu tun, dass es gesellschaftlich okay ist, wenn ein Mann fremdgeht, den Frauen das aber nach wie vor verboten ist. Das ist so mein Gefühl. Da gibt es immer noch ein Ungleichgewicht. Das hat auch mit der Versorgungssituation durch die Institutionen Ehe und Familie zu tun, weil alles danach ausgerichtet ist. Als alleinerziehende Mutter bist du in den meisten Fällen gearscht. Und was ist mit den kinderlosen Ehen und Beziehungen? Die vermeintliche Katastrophe ist doch, dass der Partner mit einer Anderen vielleicht doch Kinder kriegen könnte – und umgekehrt. Das passt einfach nicht ins kulturelle Programm. Und schließlich: Was ist mit der wunderbaren Vorstellung, als Paar miteinander alt zu werden? Immer die vertraute Person an seiner Seite zu haben? Vielleicht ist das ein sehr natürliches Bedürfnis, mit einem Menschen so eine unzertrennliche Einheit bilden zu wollen. In unserer Kultur ist dieses Bedürfnis, wenn es denn als natürliches, biologisches existiert, an die Ausschließlichkeit der sexuellen Kontakte geknüpft. Also, ich unterstelle mal, dass das ein kulturelles und kein biologisches Programm ist: Die lebenslange Partnerschaft ist an sexuelle Treue gebunden. Man darf die Kräfte der Kultur nicht unterschätzen. Die sind wahrscheinlich ebenso groß wie die der Biologie. Jedenfalls so groß, dass ich nicht plötzlich das Bedürfnis verspüre, jetzt mit allen möglichen Typen rumzuvögeln, obwohl ich das hier gerade geschrieben habe und spontan doch ziemlich von dem überzeugt bin, was ich hier etwas planlos hingetippt habe. Biologisch bin ich wahrscheinlich auf Promiskuität programmiert, kulturell bin ich schon sehr, sehr monogam. Und das ist eher kein Mischverhältnis, die Kultur dürfte bei mir wohl zu 99 Prozent überwiegen. Jedenfalls über 90 Prozent, würde ich sagen.

Justus: Dann schätzt du dich demnach zu 10 prozent als verführbar ein.

Donata: Jain, aber Marie jedenfalls, und vielleicht auch Birthe. Im Jahr 2050 dann wohl nicht bloß 10 Prozent, sondern deutlich mehr. Jedenfalls hat das auch Konsequenzen für die Idee des Mutter-Seins, fürs Kinder-Haben.

Justus: Vieles von dem, was du schreibst, mag ja richtig sein, bleibt aber graue theorie, wenn ich zum beispiel an die batterie von romanen denke, in denen es um eifersucht geht. Das phänomen ist nicht mal eben in drei zeilen erklärt. Ich weiß ja auch nicht, warum in unserem roman das thema kinderwunsch eine derart zentrale rolle spielt. Wer bin ich, wo komme ich her, bin ich meine dna? Das ist schon eine frage, ob mein leben sinn hat oder gehabt haben wird, wenn ich meine dna nicht weitergegeben habe. Bekanntermaßen haben ich und Sarah die für uns behalten und das evolutionäre spektrum nicht um eine variante erweitert. Das hatte zu unterschiedlichen zeitpunkten unterschiedliche gründe. Mal abgesehen von den frühen und danach immer eifriger werdenden selbstversuchen, bei denen unfassbare mengen an wertvollen flüssigkeiten einfach im klo runtergespült wurden, war ich bei meinen ersten sexuellen kontakten nicht im mindesten daran interessiert, kleine plärrende, inkontinente neuerdlinge zu produzieren. Das erste mal war ja noch im gymnasium. Nicht was ihr denkt, nicht auf der schultoilette, natürlich bei einer party und ziemlich betrunken. Damals war ein alkoholpegel von zweieinhalb promille noch keine kontraindikation für manneskraft. Heute schon eher. Da sind einskommafünf schon eher ideal. Du bist angemessen enthemmt, die schwellkörper sind für blutandrang noch empfänglich und du würdest im zweifel auch mit deinem dackel schlafen können (habe leider keinen, aber Sarah ist auch ganz schön behaart). Hinzu kommt die gnade einer dioptrin von zweikommafünf, die die gröbsten spuren des fortgeschrittenen alters deiner partnerin angenehm weichzeichnet. Vor der schönen, die ich erst gegen ende meines studiums kennenlernte und – vorübergehend – zur einzigen und wahren erwählte (Sarah), hatte es freilich andere schöne gegeben, die ich noch mit ungetrübtem auge betrachten und erkunden durfte. Ich will da nicht ins detail gehen, um hier niemanden zu schockieren. Eine von ihnen wollte unbedingt ein kind von mir, vermutlich weil ihr meine gedichte gefielen (damals noch vor allem gedichte und kurze experimentelle prosa à la mayröcker, falls ihr die kennt. Ist mir heute noch peinlich) und das künstlergen anzuzapfen gedachte. Holy shit! Im unterschied zu deiner annahme, Donata, männer wollten sich in ihren kindern und kindeskindern verewigen, schauderte es mich bei der vorstellung, einen poetischen erben auf die welt loszulassen. Der trouble, den ich mit mir und an mir selber hatte (damals!), reichte mir und wahrscheinlich der welt vollkommen aus. Auch wenn das mal irgendwann möglich sein sollte: von mir wird es keinen klon geben. Definitiv nicht. Manuela hat später tatsächlich einen ältlichen dichter abbekommen. Ich traf sie zufällig bei einer lesung. Sie druckste etwas herum, als ich sie danach fragte, ob sie kinder habe (sie sah so mütterlich-verhärmt aus), nachdem sie mir endlos von dem genie und der bedeutung ihres fußlahmen und leider grundlos verkannten poeten vorgeschwärmt hatte. Ja, ein kind hätten sie zustande gebracht. Na toll, sage ich, dann gibt’s ja hoffnung auf eine neue dichtergeneration. Hat eine weile gedauert, bis sie damit rausrückte, dass von dem jungen nicht allzu viel zu erwarten wäre, aber es habe schon downies gegeben, die abitur gemacht hätten. Wahrscheinlich bastelt der heute in einer holzwerkstatt osterhasen und weihnachtsbäume. Immerhin mutig, dass sie nicht abgetrieben hat.

Bei sarah war die sache klar. Irgendwann würden wir ein oder zwei kinder haben wollen. Aber bitte nicht gleich sofort! Der klassiker: erst die karriere, dann das vergnügen. Und daran ist dann ja beinahe alles zerbrochen. Ich blieb in münster und Sarah ging für ihren doc nach italien. Das lässt sich schwerlich als wochenendbeziehung betrachten. Wir hatten schlicht nicht das geld uns häufiger als alle drei monate oder so zu sehen. Mal ein halbes jahr? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich dachte, ist doch unmenschlich, jedes mal ein paar monate auf das nächste date zu warten, und machte den fehler, Sarah in der zwischenzeit freigang für kleinere sexuelle abenteuer anzubieten. Undank ist der welt lohn. Sarah betrachtete das als wunsch, künftig getrennte wege zu gehen. Sie war tief enttäuscht und nahm an, ich würde mir längst selber die eine oder andere ausschweifung genehmigen. Gelegenheiten dazu hatte es gegeben. Ich würde sagen, reichlich. Aber ich hatte mir brav einen freudschen kulturkampf mit meinem samenstau geliefert und die libidinösen energien in meinen ersten roman fließen lassen. Ich hatte Sarah einfach mehr müßiggang unterstellt, als ich mir selbst zugestand, weil sie offenbar einen enormen zeitüberschuss hatte, den sie mit endlosen, auf mich meist eher unentspannt wirkenden telefonaten kompensierte, aus denen ich entnahm, dass sie auch mit vielen ehemaligen freundinnen, ihren eltern, onkel, großeltern und urgroßtante regen telefonischen kontakt pflegte. Ich übertreibe. Es war einfach eine schöne vorstellung, Sarah von ferne das eine oder andere entspannende event erleben zu wissen, etwa mit einem rassigen italiener, der noch bei mami wohnt und da auch wohnen bleiben möchte (der einzigartigen pasta wegen), aber hin und wieder mit kleinen affären das verschrumpelte selbstbewusstsein wieder aufzupolieren gedenkt (aufzuBLASEN wäre hier wohl der passendere begriff). Eifersucht? O ja! Aber die hatte auch was prickelndes. Sarah in den armen dieses schmucken und intelligenten amerikanischen doktoranden, von dem sie eine idee zu oft ins schwärmen geriet? Er zwischen ihren beinen, seine zunge nicht bloß zwischen ihren zähnen? Okay, wenn nichts ernsteres daraus wird, sie gehört mir ja nicht. Wenn es denn sein muss, dann wenigstens mit meiner „erlaubnis“. Ich war selbst überrascht von meiner wohlwollenden rücksichtnahme auf ihre erotische mangelsituation (ASP = akademisches sexprekariat). Sie dagegen war empört, wie gesagt. Zeit der funkstille no.1. Beide glauben an künftig getrennte wege. Ich mit schreibblockade. Ich muss meine aufgestauten energien und säfte anderweitig loswerden. Werde (wieder auf einer party!) von einer fülligen, stark behaarten venus vergewaltigt und erleide beinahe einen labialen erstickungstod. Darauf plötzliches und gänzlich unerwartetes ende der schreibblockade, die ich bis dahin für ein spezifisch amerikanisches ostküstenphänomen gehalten habe, ähnlich wie adhs, das es aber im unterschied zur schreibblockade in den icd 10 geschafft hat. Sarah in rekordzeit zur promotion (2 Jahre!), ich mit dem roman immer noch nicht fertig, mein überraschender auftritt bei der promotionsfeier, hollwoodreifes wiedersehen, allerdings ohne angemessenen soundtrack. Gefühlte drei tage gemeinsame bettlägerigkeit mit preisverdächtigen versuchen, zwei jahre sexueller abstinenz quasi im zeitraffer nachzuholen. Pläne schmieden, umzug organisieren, bewerbungen schreiben, euphorisch dem roman ein neues anfangskapitel verschaffen, dass dann den folgenden fünfhundert seiten leider den rest gibt. Die frühe prosaische seitenhundertschaft liegt immer noch unabgeschlossen in einem schuhkarton auf dem dachboden. Kinder? Warum nicht? Nach Sarahs volontariat in werweißwo und dem ersten jahr in festanstellung im museum xy in irgendwo. Sarah machte vor freude einen salto mortale, als sie positiven bescheid von der maryland universität in baltimore bekam, wo sie sich ohne mein wissen auf eine assistentenstelle beworben hatte. Hä?! Schon wieder ausland? Uni statt museum? Das sei eine laune gewesen, sie habe nicht im entferntesten damit gerechnet angenommen zu werden. Mit summa cum? Rom und Mailand? Drei monate funkstille no.2. Ich war beleidigt, muss ich zugeben. Ich hätte ja auch sofort mitgehen können, wenn ich nicht gerade erst die „l!esm!ch“ gegründet, nicht die drei preise für meine ersten kurzgeschichten bekommen und mein mühsam geknüpftes netzwerk zu gären begonnen hätte. In Baltimore wäre ich ein nichts gewesen. Da wäre ich eingegangen. Dann bin ich doch hinterhergefahren, blieb für drei Monate, schrieb, netzwerkte von Baltimore aus. Jetset-Zeit. Schließlich Sarahs volontariat in germany. Umzug. Eigentlich war ich eher immer Sarahs anhängsel und nicht umgekehrt, also gendermäßig eine gegenwelt. Irgendwie war es dann auch immer Sarahs sache, das mit den kindern zu entscheiden, ob oder nicht und wann. Als es dann soweit war, passierte nichts. Auch gut, haben wir gedacht, das ist dann eben schicksal. Irgendwie spielte das dann eine immer geringere rolle, genaugenommen auch der sex, der spielte auch eine immer geringere rolle, wenn ich das hier so im vertrauen mal sagen darf. Das ging auch durchaus von beiden seiten aus, dieses schwindende interesse, nachdem klar war, dass wir zusammenbleiben.

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Die Kinder selbst haben bislang keine Rolle gespielt. Wie wachsen die Kinder von Donata und Thomas auf? Gibt es Probleme? Oder sind es gerade besonders „gelungene Exemplare“, wie Justus es formulieren würde?

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Der Gedanke (von wem geäußert?): Wenn die Frage ist, wie wir leben wollen, und ein Roman etwas Gehaltvolles zu dieser Frage beitragen wollte ( es sei denn, die Autoren sind der Überzeugung, es gebe nichts Reales, kein materielles und materiales Sein, das den Ideen und Sehnsüchten nach einem idealen Menschsein entspräche oder auch nur nahekommen könne), dann kann es ja nicht in erster Linie darum gehen, das Scheitern zu präsentieren, wie es Hunderte und Tausende Romane vordem auch getan haben. Es gab für viele Jahrzehnte einen großen Irrtum im Bereich der Psychotherapie, den nämlich, von der Psychoanalyse verantwortet, man müsse, um zur Heilung, zu seelischer Ganzheit zu gelangen, durch die Traumata und Verletzungen sich erst noch einmal hindurcharbeiten, dem unbewusst Erlittenen eine bewusste und durchanalysierte Kehrseite verschaffen, um nach der durch das wiederholte und variierte Psychodrama bewirkten Läuterung zu einem selbstbestimmten und erfüllten Leben befreit zu werden. Tatsächlich ist der Fall der nachhaltigen Läuterung eher selten. Dieses Gefühl, eine schwere Last falle von einem ab, kann nach einer dramatischen, schmerzhaften und nervenzerreißenden Analyse häufig auftreten; Erschöpfung, Beruhigung und Ausklang, das angenehme Nachlassen des Schmerzes – das ist nach einer Analysesitzung im Idealfall mit einer kognitiven Einsicht verbunden, die als angenehm und befreiend wahrgenommen wird. Aber dieses Angenehme wird in Verbindung mit den ihm vorausgehenden Schmerzen und Kämpfen abgespeichert, während die kognitiven Einsichten das alltägliche Handeln nicht anleiten, also selten eine Verhaltensänderung zur Folge haben. Der Patient oder die Patientin wird also darauf aus sein, sich immer wieder den schmerzhaften, dramatischen Prozessen der Analyse auszusetzen, nach immer neuen und tiefer sitzenden Deformationen und Verletzungen zu forschen bereit sein, um anschließend diese heilige Einheit von Selbsterkenntnis und Wohlgefühl erfahren zu dürfen. Hierher rührt vermutlich das menschliche Bedürfnis nach Drama und in der Fiktion erlebter Katastrophe. Jede Läuterung, oder auch nur (zumeist) das Nachlassen der Spannung, wird als angenehm und bereichernd empfunden, vor allem, wenn in dieses Gefühl eine irgendwie wertvoll erscheinende Erkenntnis eingelagert ist. Nach dem Drama entsteht bald der Durst nach einem weiteren (sofern es anschließende Beruhigung, das Nachlassen des Schmerzes verspricht), die in der Fiktion entworfenen Krisen, Konflikte und Katastrophen verlangen schon bald nach neuen Anlässen für die Dynamik von Aufregung, Beruhigung und (Schein-)Erkenntnis. Geht es also um den literarischen Entwurf einer echten Utopie, des gelungenen menschlichen Miteinanders in einer perfektionierten Welt, oder auch nur einer humanen und weisen Eintracht mit der Welt, dann kann das Mittel kaum das Drama sein, also nicht das Durchexerzieren von Krisen, Konflikten und Katastrophen. Dann müsste das Wundersame dieser Art Fiktion im Ausbleiben des Scheiterns ihrer Protagonisten bestehen. Ungefähr so wie in den modernen Psychotherapien, in denen die Rückschau auf das missratene Leben vermieden und im Training gelingendes Leben eingeübt wird, neue produktive Schemata gegen alte unproduktive gesetzt werden. Weil es eben nicht viel hilft zu wissen, woher die schädlichen Verhaltensschemata herkommen, welche Geschichte, welche Ursprünge sie haben. Diese (zweifelhaften) Erkenntnisse tragen oft nichts bei zur Initiierung eines heilsamen Verhaltens. Im Gegenteil, sie wecken den Reiz, immer wieder in das alte Drama zurückzukehren und sich an der trügerischen Überzeugung zu laben, davon befreit zu sein, weil der distanzierte Blick darauf möglich geworden ist.

Keine unserer Figuren ist frei von Konflikten, und wie es aussieht, versuchen wir jede von ihnen in ihr je eigenes Verderben zu schicken, um sie und unsere Leser (und uns selbst?) ihre Lebenslügen vor Augen zu führen. Und danach? Dann entsteht doch nur der Durst nach neuen menschlichen Katastrophen, die daraus hervorgehenden oder sie begleitenden, durchs Gefühl aufgewerteten, aufgeblasenen Erkenntnisse, bleiben folgenlos. Das ist der Grund, weshalb selbst die manischen Vielleser hochwertiger Literatur aus den Romanen keinen Nutzen für die Verbesserung ihres eigenen Lebens ziehen – oder das anderer. Brainfuck: Die Literatur macht die Welt nicht besser! Also: Was ist eigentlich unser Ziel?

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Am Ende doch wieder: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“  Die Notwendigkeit, sich selbst zu ändern, wird relativiert oder sogar negiert durch den Verweis auf eine inhumane Welt, die sich auch in der Zukunft der Humanität als oberstem Prinzip verweigert. Es bleibe – auch den Literaten – doch nur das Mittel der Anklage, um dem Diskurs einen unter vielen Impulsen zu geben, die ihn in die richtige Richtung driften lassen. (Literatur als Teil des politischen Diskurses?)

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Der Gedanke, nur das Leben selbst – und nicht die Literatur – könne die Frage nach dem richtigen Leben beantworten, ist einer der Anlässe, für einige Wochen nach Rumänien zurückzukehren. (Ein Grund, diese Episode im Leben der Erzählerinnen und Erzähler auszulassen. Zugleich das zentrale Paradoxon des Romans.)

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„Also, wie passt das zusammen: Diese hyperbolische Ideologie der Mutterschaft und die Möglichkeiten der externen Austragung der Embryonen? Ich meine vor allem, dass die Ideologie sich in dem Maße verschärft, wie es unwahrscheinlicher wird, als Mutter noch natürlich zu gebären. Kompensiert die Ideologie die schwindende Biologie?“ – „Was genau meinst du jetzt mit Ideologie?“ – „Dass Mutterschaft oder Vaterschaft oder Elternschaft so zentral wird für den Lebenssinn, dass sich in einem bestimmten Lebensabschnitt auf einmal alles darum dreht. Manchmal habe ich den Eindruck, als könnte man das Leben eines Menschen in unserer modernen, weißen, westlichen Gesellschaft in ziemlich genau festgelegte, klar umrissene Epochen einteilen, die mit ganz bestimmten Inhalten gefüllt sind, also, nur den Umrissen davon, wie in so einem Malbuch für Erwachsene. Du schlägst eine neue Seite deines Lebens auf und es geht darum, die Figuren und Gestalten bunt auszumalen. Du kannst dir die Farben frei auswählen, aber der Inhalt steht fest. Du würdest dir wie ein irres Arschloch vorkommen, wenn du die Seiten mit einer Farbrolle übertünchen würdest oder mit der Spraydose. Warum dann überhaupt noch das Malbuch? In diesem Malbuch, das ein Normen- oder Pflichtenbuch ist, findest du Kindergarten, Schule, Ausbildung, die Zeit spätjugendlicher Freibeuterei, Sorg- und Verantwortungslosigkeit, Berufseinstieg und Karriereplanung, die Phase materieller Absicherung, die Entwicklung eines eigenen Stils, der eigenen (politischen) Meinung und Überzeugungen… Tja und dann kommt eben die Frage nach eigenen Kindern ins Spiel, und es scheint fast, als rücke diese Frage immer stärker in den Focus, als Brennpunkt, auf den alles Vorherige irgendwie zu zielen scheint oder zielen muss. Sobald du kein Kind mehr bist, geht es um deine zukünftige Familie. Die Schule ebnet dir den Weg in den Beruf, im Beruf geht es zwar auch um Selbstverwirklichung, aber die wird immer auch im Zusammenhang mit der Möglichkeit oder Unmöglichkeit gedacht, Kinder haben zu können. Beruf und Selbstverwirklichung kleben gewissermaßen an der Frage nach den eigenen Kindern. Die Entscheidung bezüglich deiner beruflichen Selbstentfaltung ist immer auch zugleich eine danach, ob du Kinder haben willst oder haben kannst. Das war früher mit Sicherheit nicht so, da waren das getrennte Dinge. Dieses Gespann aus Beruf und Familie siehst du als Jugendlicher wie eine rote Linie auf dich zukommen, diese beiden Fragen, die die wichtigsten in deinem Leben zu sein scheinen, bedrängen und bedrohen dich geradezu, sie drohen dich zu enteignen, dich deiner Freiheit zu berauben. Deshalb diese sich immer weiter ausdehnende Phase der Jugend, die heute schon mal bis kurz vors vierzigste Lebensjahr, manchmal sogar noch weiter reichen kann. Du schiebst die Entscheidungen immer länger vor dir her, aber zugleich bekommen diese Entscheidungen eine immer größere Bedeutung und Wichtigkeit. Du musst bis zu diesen Entscheidungen, insbesondere der Kinderfrage, dein Leben hinreichend ausgekostet haben, denn danach endet es und es beginnt ein Leben, in dem es vor allem darum geht, das Leben der neu entstehenden Menschen zu entwerfen, zu gestalten und zu begleiten. Das ist die Selbstverwirklichung, die nach der Phase eines Lebens nach dem Lustprinzip folgt. Jetzt geht es um Verantwortung und das Gelingen einer neuen Biografie, die nicht mehr deine eigene ist, aber irgendwie doch auch, weil das Scheitern deiner Kinder dein eigenes wäre. Die Kinder als Frau selbst zu bekommen, veredelt die Mutterschaft zwar, aber im Kern geht es nicht um die biologischen Vorgänge, sondern um die Steuerung. Du beginnst heute ja schon während der Schwangerschaft mit der Erziehung und Konditionierung. Die Biologie ist da sogar eher ein Störfaktor. Weil die Ideologie von Familie und Kinder-Haben so zentral und stark geworden ist, fällt es irgendwann leicht, die Biologie hinter sich zu lassen oder zu modifizieren. Deshalb ist es heute so leicht vorstellbar geworden, dass schwule und lesbische Paare Eltern werden, dass es keine Schande ist, alleinerziehend zu sein, oder Kinder von unterschiedlichen Männern zu haben. Die Erziehungsaufgabe ist ein zentraler Lebenssinn geworden – es wäre unmoralisch, die Verfolgung und Erfüllung dieses Sinns irgendjemandem zu verweigern. Im Prinzip muss das jeder dürfen. Auch der krebskranke 10-Jährige, der in drei Wochen sterben wird und den Wunsch äußert ein Kind zu haben – im Extremfall. Du kannst es niemandem mehr verweigern, weil es zu einem universalen Menschenrecht und Menschenziel geworden ist. Warum auch immer es dazu gekommen ist, oder gekommen sein wird, wenn ich jetzt wieder auf das Jahr 2050 blicke.“

„Die Melancholie in den Augen der verhinderten Mütter um die 50, das ist schon auffallend. Und das Bedauern der Ehemänner, die eigentlich nichts vermisst haben, aber mit ihren trauernden Frauen mitfühlen, oder jedenfalls dieses Mitgefühl vorzutäuschen versuchen und nach Rechtfertigungen für die Kinderlosigkeit suchen. Die bemühte Fröhlichkeit, mit der das immer noch glückliche Eheglück trotz Kinderlosigkeit zelebriert wird. Dieses „Glück trotz“, das ist eine Negativdefinition. Es scheint, als könntest du das Eheglück, die lebenslange Beziehung nicht unabhängig von Elternschaft denken, definieren und bewerten. Hast du keine Kinder gehabt, dann kannst du sagen, wir sind glücklich, OBWOHL wir keine Kinder hatten. Aber du kannst nicht sagen, wir waren glücklich und sind es immer noch. Auch wenn du diesem Obwohl entgehen möchtest, es zu verdrängen versuchst, es kommt doch immer wieder zu dir zurück, sogar in den Blicken der Anderen, die unausgesprochen fragen: glücklich obwohl? Es liegt nicht in deiner Hand, das zu definieren.“ – „Ja, da ist ja oft gar nicht diese Melancholie, von der du sprichst, die Anderen deuten den Blick als melancholisch und die Fröhlichkeit als aufgesetzt und inszeniert. Irgendwann glaubst du dir dein Glück selber nicht mehr, weil so klar ist, dass die Anderen dir nicht glauben. Du fängst irgendwann wirklich an, das den anderen vorzuspielen, zu übertreiben, damit dein Lebensgefühl sichtbar wird. Dass dein Leben gut ist, obwohl du keine Kinder und Enkelkinder hast. Aber da ist es auch schon wieder, dieses OBWOHL.“ – „Lustigerweise kannst du das Prinzip beliebig ausweiten, also mal austesten, wo es überall funktioniert: Ich bin glücklich, obwohl ich nie verheiratet war, obwohl ich seit zwanzig Jahren ohne festen Lebenspartner lebe, obwohl ich mir kein Haus gebaut habe, obwohl ich meinen Beruf aufgegeben und mich auf ein bescheidenes Leben eingestellt habe. Und immer hörst du die Frage aus dem Off: Wie kannst du so leben, wie kannst du so glücklich sein?“ – „Ein nicht ganz uninteressantes Spiel: Ich bin glücklich und zufrieden, obwohl ich den Mann, mit dem ich lebe, schon lange nicht mehr liebe; Ich bin glücklich, obwohl mein einziges Kind vor drei Jahren gestorben ist; Ich bin glücklich, obwohl ich schon lange keinen Orgasmus gehabt habe, obwohl ich fett bin, obwohl mein Mann mich betrügt. Wenn ich aber sage, ich bin glücklich, obwohl mich mein Mann verlässt, kann ich auch sagen, weil mein Mann mich verlässt, zum Beispiel.“ – „Nein, wenn du verlassen wirst, dann erleidest du den Verlust und musst betrübt sein, glücklich kannst und darfst du nur dann sein, wenn du diejenige bist, die jemanden verlässt, also wenn du etwas tust und eine Entscheidung triffst. Deinen Mann zu verlassen ist anscheinend heutzutage keine per se falsche Entscheidung mehr. Im Gegenteil. Aber die Entscheidung, keine Kinder zu bekommen gilt heute mehr als früher als falsche und dumme Entscheidung. Dafür musst du dich schämen oder mit einer wirklich akzeptablen Rechtfertigung aufwarten. Mir scheint, du kannst die Sprache abtasten, die Sätze danach – wie soll ich sagen  – „erschmecken“, ob sie mehr zum Bitteren, zum Sauren oder Süßen tendieren, ob sie das Obwohl, die Rechtfertigung, Zustimmung und Gratulation oder nichts von beiden einfordern. Und irgendwie kann auch alles gemischt und uneindeutig auftauchen, ungefähr so wie bei einer Trennungsgeschichte, wo du sagen kannst: schlimm, aber irgendwie auch gut und richtig, wenn die Frau sich entscheidet zu gehen, und es dann heißt, das war die richtige Entscheidung, wichtig für ihr weiteres Leben, aber auch ein wenig unverantwortlich gegenüber dem Mann und vielleicht den Kindern. Wir sind noch nicht so weit, dass man sagen kann, eine allein lebende Frau werde höher bewertet als eine verheiratete, die in der Bindung weiterlebt, also auch unter größeren persönlichen Opfern die Beziehung weiter durchzieht.“ – „Kennst du so jemanden?“ – „Also graduell, würde ich sagen, sind doch so ziemlich alle davon betroffen, also ich jedenfalls, wenn auch nicht in einem kritischen Ausmaß. Ich meine, du opferst doch immer irgendwas für den Partner, für die Aufrechterhaltung der Beziehung. Es gibt bestimmt eine ganze Menge Frauen, die lieber darauf verzichten, einen Orgasmus beim Sex zu haben, als die Beziehung dadurch zu gefährden, dass sie ihre diesbezüglichen Rechte einfordern oder ihre Lust mit anderen Menschen befriedigen. Ist doch eigentlich komisch, oder? Also, da ist die Opferbereitschaft oft ziemlich groß, und das wird allgemein akzeptiert, da empört sich kaum jemand, ist ja auch Privatsache, man redet ja nicht mal drüber. Aber bei der Kinderfrage ist die Sache klar. Da brauchst du gute Gründe, und die müssen wirklich überzeugend sein: Mein Mann und ich sind absolut asexuell, immer schon. Oder: Er oder ich ist unfruchtbar, leider, leider. Das mit der IVF war uns zu riskant wegen des Eingriffs in Hannelores Hormonhaushalt. Ich wäre eine schlechte Mutter gewesen, käme als Argument ganz schlecht. Denn dann bist du auch grundsätzlich, so ganz und gar ein schlechter, egoistischer, hartherziger Mensch. Es gibt schon zu viele Kinder auf der Welt, geht da als Rechtfertigung schon eher, obwohl es albern, ideologisch und vorgeschoben erscheint, denn du lebst ja in einem Land, das angeblich auszusterben oder überfremdet zu werden droht. Da musst du schon auf Leute treffen, die sehr, sehr global denken – oder Inder sein. Gerade komme ich auf den Begriff des ökologischen Fußabdruckes. Du kannst ja sagen, du willst nicht, dass dein ökologischer Fußabdruck durch Kinder noch größer wird. Klingt erstmal gut und verantwortungsvoll. Aber du bestätigst damit auch, dass deine Kinder DEINEN ökologischen Fußabdruck vergrößern, und eben nicht sie selbst, sie sind Teil deines eigenen Seins, also nicht wirklich autonom. Es hätte ja sonst auch keinen Sinn, das Kinder-Haben so wichtig zu finden, wenn es nicht diese krebsgeschwürartige Wucherung wäre, die sich in das Sein, in die Autonomie deiner Kinder hineinfrisst. Das macht den Kindern ja auch das Abnabeln so schwer. Ich habe einen Cousin, der noch mit über Fünfzig bei seinen Eltern zu Ostern Eiersuchen geht. Er lebt in einer langjährigen Beziehung, hat aber keine Kinder und bedauert das zuweilen. Glaub ich ihm jedenfalls. Unsere Kinder sollen die Außenposten unserer Identität sein, Fragmente eines erweiterten Ich, aber sie sollen gefälligst auch autonom sein und dann auch noch so angepasst und berechenbar wie möglich. Kinder sind ein unentbehrlicher Teil dieses Programms.“

Justus: Foucault würde hier vom „herrschenden diskurs“ sprechen. Kannst du nicht wissen, liebe Donata, aber du erfindest gerade die diskurstheorie nochmal neu. Allerdings ist das bei Foucault noch etwas komplexer und differenzierter gedacht. Aber dennoch: meine hochachtung vor dieser intuitiven und zugleich intellektuellen reflexionsleistung, zu der nicht viele fähig wären. Es sind ja zumeist frauen, die bei diesem thema eher in hausapothekenpsychologie abdriften. Bei dir kommt immer was von qualität heraus. Wird allerdings schwierig werden das dann noch zu literarisieren, ohne die journalistischen veröffentlichungen der letzten jahre, die diese themen schon lange abarbeiten und dabei gemeinhin zu flacher allgemeinverständlichkeit tendieren, bloß ungeschickt zu illustrieren oder zu verdoppeln.

*

„Um das noch mal klarzustellen, weil es so selbstverständlich ist, dass man es leicht wieder vergisst: Wenn wir darüber reden, wie wir leben wollen, wie Menschen grundsätzlich leben wollen, dann geht es darum, dass Menschen mit anderen zusammen leben wollen. Sie wollen nicht alleine sein, allerdings auf eine angenehme Weise nicht alleine sein. Wenn wir über die Stabilität von Beziehungen reden, Beziehungen relativieren, das Recht betonen, aus einer Beziehung rauszugehen, dann scheint mir das auch irgendeiner Ideologie zu folgen, denn den Menschen geht es doch um die Aufrechterhaltung von Beziehungen, das Verbinden und Verbundensein. Ich möchte keine Angst haben müssen, irgendwann vollkommen alleingelassen zu sein. Mein Körper lebt nicht nur von Essen und Trinken, er will auch berührt und gestreichelt werden. Wenn dafür mal keiner mehr da wäre, das wäre schlimm. Wenn ich alt werde, ist es vielleicht gut, wenn einer da ist, der selber alt geworden oder mit mir alt geworden ist und versteht, wie wichtig es ist, noch immer gestreichelt und in den Arm genommen zu werden. Ich habe darüber längere Zeit nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass Marie möglicherweise neben ihrem Job als Fotografin auch ältere, einsame Menschen, Männer und Frauen, betreut und ihnen bis zu einem gewissen Grad gibt, was sie im Alter vermissen: berührt und gestreichelt zu werden.“

Männer, Frauen, Logik, Pornografie und Feminismus

Seit einiger Zeit beschäftigt sich Nina mit der Frage, ob Pornografie sich eigentlich mit Feminismus verträgt. Sie meint, nein. In einer Vielzahl von Online-Magazinen, die Nina in den letzten Wochen durchstöbert hat, wird Frauen eine neue, oder nicht mehr ganz so neue Form eines sogenannten „sex-positiven Feminismus“ und einer damit korrespondierenden „feministischen Pornografie“ angepriesen. Frauen, so scheint es, leben in einem Zeitalter der letzten Stufe sexueller Befreiung. Sogar halbwegs seriöse Frauenzeitschriften bringen Artikel darüber, wie und wie oft Frauen sich am besten selbst zu befriedigen haben. Das sei gesund und frische den Teint auf. Statistiken fluten die Medien, in denen zu erfahren ist, dass bereits mehr als dreißig Prozent der Frauen Pornos im Internet schauen. Rückständig wäre, wer sich jetzt nicht in die einschlägigen Seiten einklickte, die frauenfreundliche Pornografie versprechen, in der es vorrangig um die Lust der Frauen und ihre sexuellen Phantasien geht. Pornografie von Frauen für Frauen. Aber die Frauen in diesen sogenannten frauenfreundlichen Pornos würden sich doch auch nur zu Objekten männlichen Begehrens machen, meinte Nina neulich. Ja, sagte ich, aber die genießen das vielleicht trotzdem. Das sei kein Argument, fand Nina, über Jahrhunderte hinweg hätten Frauen gelernt, ihre Wünsche an denen der Männer auszurichten. Das immer noch herrschende Patriarchat habe die Frauen derart umfassend unterworfen, dass sie nicht einmal mehr den Funken einer Ahnung hätten, welche Bedürfnisse ihre eigenen und welche ihnen einfach nur eingetrichtert worden seien. Jahrtausende, sagte Nina, haben Frauen nicht das geringste Bedürfnis verspürt, anderen beim Sex zuzusehen, und auf einmal würden Frauen geradezu pathologisiert, wenn sie sich nicht dafür interessieren und sich nicht wie ihre Männer vor den Bildschirm setzen und zu scheinbar aufgeilenden Szenen masturbieren. Anders als Nina fand ich die Sache nicht so eindeutig. Die ist doch viel komplizierter, sagte ich. Erstens werden die Frauen ja von anderen Frauen dazu ermuntert, und zweitens wäre es ja möglich, dass Frauen sich gerade deshalb nicht oder sehr viel weniger für Pornografie interessierten, weil ihre Sexualität eigentlich immer unterdrückt oder jedenfalls in Schach gehalten wurde. Und gewiss, da habe sie Recht, Frauen hätten im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende gelernt, die von Männern aufgestellten Normen als ihre eigenen zu verinnerlichen: Eine anständige Frau sollte möglichst keine sexuellen Gelüste haben, sollte beim Sex niemals die Initiative ergreifen, hat möglichst eine passive, erduldende Rolle zu spielen und die Arbeit dem Mann zu überlassen, der ja als einziger mit einem ernstzunehmenden Sex-Werkzeug ausgestattet ist. Es sei doch vielleicht ganz gut, wenn Frauen so nach und nach eine eigene Vorstellung von ihrer Sexualität entwickelten, ihren Wünschen und Phantasien. Woher willst du denn wissen, dass die anderen Frauen, für die du ja nicht sprechen kannst, nicht vielleicht doch ein größeres Interesse an Sex und Pornografie entwickeln, wenn sie sich nur erst einmal darauf einlassen. Und warum sollten sie, fragte Nina. Sollen sie ja gar nicht. Aber dürfen sie nicht? Nina ließ nicht locker: Niemand sagt, dass Frauen kein Interesse an Sex haben, aber warum sollen sich Frauen Pornos anschauen, aus denen sie doch auch nur wieder lernen, dass sich Frauen Männern unterzuordnen haben, sich zu Objekten der männlichen Begierde machen müssen, um ihre wahre Bestimmung zu finden. Sieht doch ganz so aus, als würde den Frauen mit wachsender Vehemenz nahegelegt, den Sinn ihres Lebens im Sex zu suchen. Mag ja sein, sagte ich zu Nina, aber sei doch mal ehrlich: Fändest du ein Leben ohne Sex nicht auch ziemlich sinnlos?

Nach einem Kurzvortrag über notwendige und hinreichende Bedingungen musste ich leider eingestehen, dass Sex für ein sinnvolles Leben lediglich eine hinreichende Bedingung ist und ich, sollte ich bei einem Unfall mein „Sex-Werkzeug“ einbüßen, immer noch ein sinnvolles und sogar glückliches Leben haben könnte. Rein logisch betrachtet. Aber es gibt Tage, an denen habe ich es nicht so mit der Logik. Da setze ich mehr auf Empirie. Und die Behauptung, Frauen hätten jahrtausendelang kein Interesse daran gehabt, anderen beim Sex zuzusehen, lässt sich empirisch leider gar nicht beweisen.

„Wie viele dieser feministischen Pornos hast du dir denn schon angesehen“, wollte ich wissen.

„Keine.“

„Und wie viele klassische Pornos?“

„Keine. Was meinst du überhaupt mit klassisch?“

„Aber wie kannst du da zu einem gültigen Urteil gelangen, wenn du gar keine empirischen Studien betrieben hast?“

„Ich soll mir Pornos anschauen? Dann tue ich doch genau das, was gerade von mir verlangt wird. Dass ich als Frau wie meine Geschlechtsgenossinnen mit dem Pornokonsum anfange. So wie die Männer schon lange.“

Ninas Rechnung ging so: Pornografie ist so ein Männerding. Du kannst Frauen als reine Sex-Objekte konsumieren, ohne dich auch nur ansatzweise mit ihrer Persönlichkeit beschäftigen zu müssen. Umgekehrt gibt es wohl kaum eine Frau, die Männerkörper zum Zwecke des persönlichen Lustgewinns von deren Persönlichkeit abspaltet. Die Reduktion von Frauen auf ihre Körper und ihre erotischen Reize in der von Männern dominierten Pornografie wurde im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zu Recht skandalisiert. Weil in kaum einem anderen Lebensbereich das nach wie vor herrschende Patriarchat bildlich evident wird. Und weil es illusionär wäre, Pornografie einfach zu verbieten, haben einige Frauen genau das gemacht, was viele andere vor ihnen auch gemacht haben: Statt sich wirklich zu emanzipieren, haben sie versucht, männliches Verhalten zu kopieren, weil sie glaubten, auf diese Weise den Männern ebenbürtig werden zu können. Deshalb halten es heutzutage viele, wenn nicht die meisten Menschen für emanzipiert, wenn sich Frauen in bestimmten gesellschaftlichen Handlungsfeldern männliche Verhaltensweisen zulegen, wo sie sich unterrepräsentiert und unterlegen fühlen. Deshalb werden Frauen Soldaten, beschließen als Politikerinnen Kriege und ziehen als Unternehmerinnen ihre Arbeitskräfte über den Tisch. Sie spielen die Machtspiele der Männer, lügen, betrügen – und machen nun neuerdings auch noch Pornos. Das ist weder eine sexuelle noch irgendeine Befreiung. Das ist immer noch das alte Schema der Anpassung. Und die Männer lassen es sich natürlich gerne gefallen, denn es bestätigt nur ihre Anschauungen. Sie haben halt schon immer Recht gehabt, auch was den Sex betrifft. Alles dreht sich nur um Sex, Sex ist gesund, Sex ist natürlich und – am allerwichtigsten – Sex hat nichts mit Liebe und Bindung zu tun. Wenn bald alle Frauen Pornos schauen –  und sie möglicherweise für Papas Privatkino selber drehen – , dann werden sie sich bald auch keinerlei Gedanken mehr darüber machen, warum sie sich als Objekte männlicher Begierde nicht dauerhaft verfügbar halten sollten.

„Aber das könnte doch auch schön sein, wenn alle, Männer wie Frauen, in gleicher Weise Spaß am Sex haben – und eben auch Spaß an Pornografie. Wäre das so schlimm?“

„Das ist wie mit der Prostitution. Wenn Frauen genug Geld zum Leben haben, wenn sie unabhängig und wenigstens in bescheidenem Wohlstand leben können, wenn ihnen alle Berufe und beruflichen Positionen wirklich offenstehen, kommt keine einzige Frau auf die Idee, ihren Körper zu verkaufen, sich erniedrigen zu lassen und für ihre Freier Lust zu heucheln. Mit anderen Worten: Frauen, die in Pornos auftreten sind Frauen, die unterdrückt werden. Oder weniger plakativ ausgedrückt: Solange Frauen in Pornos als Objekte sexueller Begierde auftreten, ist das Ausdruck fortdauernder patriarchaler Strukturen, Beweis der anhaltenden Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen. Sollen die Männer in ihren Pornos doch unter sich bleiben. Das fände ich okay.“

„Schwulenpornos? Lässt du da nicht die komplette Gender-Debatte der letzten Jahrzehnte außer Acht? Ich finde deine Überlegungen ziemlich inkonsequent. Mal angenommen, Frauen haben früher keine Pornos geguckt, weil das eben als so ein Männerding galt, heißt das ja noch lange nicht, dass nicht auch Frauen Pornos gut finden, wenn es dann mal eine andere Art Pornos gibt, die mehr so ein Frauending wäre. Du gehst aus irgendeinem Grund davon aus, dass es diesen Naturzustand gibt, bei dem Männer gern Pornos sehen und Frauen nicht. Dass Frauen meinen, sie würden nicht gern Pornos sehen, könnte ja auch eine Folge der Unterdrückung sein. Und überhaupt: Die Männer in den Pornos prostituieren sich doch auch. Sind das dann auch unterdrückte Männer?“

„Klar, das Patriarchat unterdrückt auch die Männer. Die sind genauso deformiert wie wir Frauen.“

Schwer zu sagen, warum ich mich von Ninas Argumentation angegriffen fühlte, aber es war so. Vielleicht weil ich im Unterschied zu ihr schon hin und wieder Pornos schaue und mich deshalb vielleicht schuldig fühlen sollte. So wie ich eigentlich weniger oder gar kein Fleisch mehr essen, nicht mehr mit dem Auto fahren, auf das Fliegen verzichten und nur noch fair trade einkaufen, keinen Raubbau an der Natur und keine Kinderarbeit unterstützen sollte usw., sollte ich wahrscheinlich auch aufhören Pornos zu schauen. Den Frauen zuliebe, für eine bessere Welt. Dummerweise hatte ich das dringende Gefühl, dass bei mir der Spaß beim Sex aufhört. Hatte der Feminismus für mich eine empfindliche Grenze erreicht, wenn es darum ging, mir meine Lust zu verbieten? Die Lust an schönen Frauen. Die Lust an Frauennasen, Frauenohren, Frauenaugen, Frauenhaaren, Frauenhüften, Frauenhintern – aber auch an Brüsten und Vulven. Was sollte schlecht an diesen Gelüsten sein?

„Niemand will dir deine Lust an den Frauen austreiben. Auch wenn ich es ein wenig verletzend finde, dass dir die eine anzuschauen anscheinend nicht ausreicht.“

Ich hatte da so meine Zweifel und zog mich erstmal zum Nachdenken in mein Zimmer zurück.

Es gibt eine ganze Menge guter Argumente, die gegen Pornografie sprechen: Ist das nicht eine sehr entfremdete Form von Sexualität? Eine ohne Anfassen, ohne Beziehung, ohne echtes Begehren? Werden die Darstellerinnen und Darsteller nicht wirklich ausgebeutet? Haben die Spaß bei ihren stilisierten und manchmal höchst absurden Darbietungen und Verrenkungen? Sind das glückliche Menschen? Muss man nicht einen psychischen Defekt haben, um sich derart zu exhibitionieren? Wie hoch ist die Selbstmordrate unter Pornodarstellerinnen? Wie verbreitet der Drogenkonsum? Was haben Pornos überhaupt mit echter, erfüllender Sexualität zu tun? Sind das nicht falsche Vorbilder? In der Mehrzahl frauenfeindliche Akte? Darstellungen erniedrigter Frauen, die abwechselnd in Arsch und Mund gefickt, gefesselt, deren Gesichter mit Sperma und Pisse bespritzt werden? Alles das schaue ich mir auch nicht gerne an. Was aber wären dann schön anzusehende Pornos? Und wer sollte sie machen? Am ehesten noch authentische Sexfilme mit echter Zärtlichkeit und echten Orgasmen. Pornos von Frauen. Mal abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen kann, selber in einem Pornofilm zu spielen, den dann Freunde, Kollegen und Bekannte anschauen können, ließe sich vielleicht dennoch eine zukünftige Gesellschaft denken, in der es normal ist, sich  – unter Freunden? – gegenseitig privat produzierte Filmchen zu zeigen oder nach dem gemütlichen Abendessen gegenseitig dem vergnüglichen Beischlaf beizuwohnen. Warum sollte die schönste Sache der Welt nicht auch die öffentlichste sein? Woher kommt dieses Tabu eigentlich? Ist das nicht auch ein zutiefst patriarchalisches? Der Mann sagt: Das ist meine Frau, die gehört mir. Niemand soll sie ansehen können. Die ist nur zu meinem eigenen Vergnügen da. „Ja, soll denn etwas so Schönes nur einem gefallen? Die Sonne, die Sterne gehör’n doch auch allen.“ So jedenfalls heißt es in einem berühmten alten Schlager. Ich fand zunehmend Gefallen an dem Potenzial an Toleranz und Liberalität, das in Sachen Sex in mir zu schlummern schien. Dann jedoch kam mir wieder Ninas Vortrag zu notwendigen und hinreichenden Bedingungen in den Sinn. Private Pornofilme tauschen und sich gegenseitig beim Live-Sex zu beäugen, sind ja nur hinreichende Bedingungen für sexuelle Liberalität. Wo das bloße Zuschauen hinreichend sein mag, reichen Mitmachen, Partnertausch und zügellose Promiskuität am Ende nicht weniger hin. Das wäre dann eine bedingungslos hin- und herreichende Bedingung. Nina würde ich ganz bestimmt nicht hin- und herreichen wollen. Weil ich eben immer noch ein waschechter Patriarch mit unumstößlichen Besitzansprüchen bin? Wenn ich als guter (männlicher) Feminist gelten wollte – müsste ich da nicht einerseits auf Pornos verzichten, aber andererseits auch jeglichen Besitzanspruch gegenüber Nina fallen lassen und ihr also vollkommene sexuelle Freiheit gewähren? Weil ich wusste, dass Nina diese Form sexueller Libertinage noch viel grauenhafter finden würde, als mit einem Halb-Feministen zusammenzuleben, der potenziell frauenverachtende Pornos guckt, trug ich ihr am nächsten Tag meine streng logischen Überlegungen vor, in der stillen Hoffnung, sie am Ende doch noch dazu zu bewegen, endlich mit dem empirischen Teil ihrer Forschungen zu beginnen.

„Meinst du das ernst?“

„Es ist nur eine rein theoretische Überlegung. Genauso, wie du rein theoretisch über Pornos nachdenkst, ohne sie dir anzusehen.“

„Natürlich könnte ich mit anderen Männern Sex haben, wenn ich das wollte. Wie solltest du mir das verbieten können? Aber würdest du es wollen, nur damit du dich nicht als Patriarch fühlen musst und du dir so deine Liberalität beweisen kannst?“

„Nein, natürlich nicht. Aber wäre das nicht die logische Konsequenz aus deiner Forderung, Pornos zu verbieten? Jedenfalls unter der Voraussetzung, dass kein Weg daran vorbeiführt, dass Männer nun mal gerne Frauen ansehen? Frauen, überhaupt Menschen beim Sex zusehen wollen? Sex-Fantasien haben?“

Wie erbärmlich, notleidend, meiner eigenen Sexualität ohnmächtig ausgeliefert ich mich bei diesen Sätzen fühlte! Was sollen wir armen Männer denn machen? Ohne Sex sind wir doch nur halbe Menschen. Viertel-Menschen. Minder-Menschen. Soll es denn bald gar kein Erbarmen für uns, das schwache Geschlecht, mehr geben? Nina schaute mich mit einem schwer zu deutenden Blick an. Irgendwas in dem breiten Spektrum zwischen echtem Bedauern und triumphierender, vernichtender Ironie. In meiner aufwallenden existentiellen Verzweiflung gelang es mir nur noch halb- oder viertelwegs Ninas nun folgenden Ausführungen zu folgen. Ich erinnere mich nur noch an einen Satz, der ungefähr folgendermaßen lautete: Es gebe eine besondere Form des logischen Denkens, das vor allem Männern eigne, eine Logik der Sachzwänge, eine Wenn-Dann-Logik der Konsequenz in einer hypothetischen, unterkomplex konstruierten Immanenz, eine Vergeltungslogik, mit der im schlimmsten Fall sogar Kriege gerechtfertigt werden. Wenn ich besser verstehen würde, was sie damit gemeint hat, würde ich es wahrscheinlich überzogen finden.

Letzte Nacht ist Nina sehr spät zu mir ins Bett gekrochen. Und heute Morgen sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln, sie habe sich gestern dann doch entschieden, die eine und andere Sache mal genauer in Augenschein zu nehmen. Leider weiß ich jetzt nicht mehr, wie ich das finden soll. Ich möchte das einfach nicht konsequent zu Ende denken.