Boccaccio 2020 – 06

Die Besucher

Seit gestern haben wir zwei Mitbewohner. Aleksander hat es einfach nicht mehr ausgehalten, auch wenn unsere Wohnung groß genug für uns beide ist. So groß, dass wir uns halbe Tage aus dem Weg gehen können, wenn wir wollen und wir uns dann mehr zufällig in der Küche begegnen, wenn wir uns Kaffee, Tee oder Whisky (Al) holen.

„Hallo, schöne Frau“, sagt Aleksander dann, „kennen wir uns?“

Kann sein, dass wir eine halbe Stunde später im Bett landen. Neuerdings auch auf dem Sofa oder auf dem Teppich. Wir hatten vorher nicht geahnt, wie schön es sein kann, am frühen Nachmittag nackt vorm Balkon in der heißen Frühlingssonne zu liegen. Eine Woche lang haben wir es genossen. Dass unsere Nachbarn von gegenüber haben zusehen können, wie wir uns im Wohnzimmer verknäuelt und gewälzt haben, betrachteten wir schlicht als erotische Gratis-Dienstleistung in Zeiten der Corona-Pest. Allerdings ist unklar, ob unsere Nachbarn wirklich Freude daran haben, uns beim Nachmittagssex und beim textilfreien Sonnenbaden zuzusehen. Wir sind ja nun wirklich nicht mehr die Jüngsten. Viele jüngere Menschen finden Sex zwischen älteren Menschen irgendwie unästhetisch oder sogar eklig. Keine Ahnung warum. (Brad Pitt ist sogar älter als wir. Will ich mich mit Sandra Bullock vergleichen? Mit Annie Sprinkle bestimmt nicht.)

Zwei Wochen ist das gutgegangen. Dann hat Aleksander den Koller gekriegt. Hat sich richtiggehend die Haare gerauft, schon am Vormittag mit Whisky angefangen. Ich habe ihn zu einem Spaziergang überredet, wir haben Freunden zugewunken, die es in der Wohnung auch nicht mehr ausgehalten haben. Wie geht’s, wie steht’s, alles Scheiße das, sowieso, hoffentlich ist’s bald wieder vorbei. Sind das wirklich einsfuffzig Abstand? Heike hat sich übrigens einen Mundschutz aus einer alten geblümten Unterhose genäht. Sagt sie nicht, sehe ich aber. Ist von Tchibo, hab‘ die gleiche zuhause.

„Hübscher Mundschutz!“

„Gelle?“

Ich muss an Monatsblutungen und die Putzlappen meiner Mutter denken (aufgetragene Unterhosen). Keine Ahnung, woran Aleksander denkt. Eben noch hat er geklagt, er könne die nächsten drei Monate keine Freunde besuchen, und jetzt starrt er Löcher in die Luft und kann es anscheinend kaum abwarten, dass Heike und Ralf endlich Leine ziehen.

Jetzt, wo wir so unendlich viel Zeit haben, haben wir einfach keine Energie, auch nur irgendwas anzufangen. Zum Beispiel die verschimmelten Kartons aus dem Keller räumen. Wohin auch damit? Man könnte sie nicht mal zur Müllkippe fahren. Oder endlich das Bad streichen und die Lampe aufhängen, die wir vor einem halben Jahr gekauft haben. Oder einen Roman schreiben, oder die Autobiografie, Gedichte, Aphorismen. Oder wir machen einen Film.

„Am besten einen Pornofilm“, meint Aleksander.

„Du musst es immer gleich übertreiben“, sage ich. Und dann funktioniert der Akku in der Kamera nicht mehr.

„Wir machen Nacktfotos in der Küche“, sagt Aleksander, „mit deinem Handy. Deins ist besser als meins.“

„Warum ausgerechnet in der Küche?“

„Wegen der Lebensmittel, und weil die Küche die Lebensmitte ist, und weil unsere nackten Körper mittelalt und mittelschön sind und wir in der Küche mitten im Leben sind.“

Ich habe diesen Spontanvortrag mit meinem Handy aufgenommen, und auch, wie Aleksander währenddessen angefangen hat, sich auszuziehen, den Kühlschrank geöffnet und seine Klamotten hineingestopft hat. Im Gemüsefach ist noch Platz gewesen. Könnte ich auf Instagram veröffentlichen, wenn es für Al nicht extrem kompromittierend wäre.

„Nacktsein“, sagt Aleksander, „ist der letzte verzweifelte Ausdruck der Ohnmacht.“

Ich kann gerade noch verhindern, dass Aleksander nackt auf den Balkon geht, um aus dem dritten Stock auf den Bürgersteig zu pinkeln. Unwahrscheinlich, dass gerade jemand daherläuft, trotzdem. Aleksander schließt sich beleidigt in seinem Zimmer ein und sagt, er werde den Rest des Tages Pornos schauen und wolle bis morgen nicht gestört werden. Eine halbe Stunde später holt er sich den Whisky aus der Küche, viertelvoll. Er meint, damit werde er bis morgen nicht auskommen. Als er vom Einkauf zurückkommt, hat er gleich zwei Flaschen mitgebracht und das Toastbrot und die Zucchini und den Schafskäse vergessen. Dann holen wir den Beamer aus dem Schrank und schauen „West Side Story“, weil wir denken, das ist was fürs Herz. Der Film ist aber nur unerträglich lang und lächerlich. Wie hat das nur passieren können, dass der Film in den wenigen Jahren, seit wir ihn das letzte Mal gesehen haben, so sehr gealtert ist? Wir sind nicht bloß sozial isoliert, wir sind auch kulturell isoliert, sitzen in einer Dekontaminationsschleuse fest. Das Alte gilt nicht mehr und das Neue ist noch nicht da. Wir schauen „Shortbus“ von John Cameron Mitchell, aber auch da entstehen immer wieder Momente des Fremdschämens, weil das alles dann doch auf befremdliche Weise spießig bleibt. Irgendwie unbeholfenes Geficke. Der Beischlaf als Kalauer. War alles andere als spießig, als der Film im Jahr 2006 rauskam (spaßig schon!). Aber wir, heute, die Menschen von 2020, wir sind entrückt, isoliert, eingeschlossen, ohnmächtig. Nicht mal Nacktsein in der Küche macht noch Spaß. Es ist zum Verzweifeln. Genauer: Aleksander verzweifelt. Und ich verzweifle ein wenig mit. Aus Solidarität. Und suche nach einer Lösung, wie ich ihm helfen kann.

Die Idee kommt mir in der Nacht, als ich von Aleksanders Whisky-Fahne aufwache und nicht mehr einschlafen kann, weil ich mir vorstelle, wie wir nach und nach dem Suff verfallen. Aleksander aus Überzeugung und ich aus Solidarität. Wenn wir uns da draußen nicht mehr mit unseren Freunden treffen können und auch nicht in die Oper oder zu einer Ausstellungseröffnung gehen dürfen, wo wir wildfremde Leute ansprechen könnten, wie wir es mindestens einmal im Monat zu tun pflegen, müssen wir uns eben jemanden ins Haus holen, in die Wohnung. Irgendjemand, der immun ist und es mit uns aushält und wir mit ihm.

Am nächsten Morgen kommt Aleksander verkatert in die Küche. Ich gieße ihm statt Kaffee Whisky in ein Glas, schiebe es zu ihm rüber und sage: „Wundere dich nicht, wir haben Besuch.“

Aleksander wundert sich natürlich trotzdem. „Besuch?“ Er kneift ein Auge zusammen. „Eine Katze? Eine flügellahme Amsel? Eine Monsterassel? Erwin, der Marienkäfer?“

„Schlimmer“, sage ich, „der Typ trinkt deinen Whisky. Hat sich hier einfach eingenistet, hab ihn letzte Nacht aus Mitleid reingelassen, es gleich wieder bereut, aber bin ihn nicht wieder losgeworden. Manfred sitzt jetzt im Wohnzimmer und arbeitet sich in Unterhosen durch unsere DVD-Sammlung.“

Aleksander nimmt meine Tasse und kippt sich den kalten Kaffee hinter die Binde. Endlich eine echte Herausforderung! Aleksander hat sich innerhalb einer halben Stunde, nein, weniger, mit Freddy, wie er ihn kurzerhand nennt, angefreundet. Er berichtet beinahe im Minutentakt, was Freddy wieder angestellt oder gesagt hat. Freddy hat aufs Sofa gekackt, Freddy hat gesagt, Gott sei zwar tot, habe sich aber zur Sicherheit einfrieren lassen, falls jemand in Zukunft was erfindet, womit man die Toten wieder zum Leben erwecken kann. Eine ganze Menge Unsinn halt. Aleksander erlaubt ihm fast alles, was er sich selbst versagt oder ich ihm verbiete. Zum Beispiel pinkelt Freddy wirklich vom Balkon und trifft unsere Vermieterin, die im gleichen Haus wohnt, auf den Kopf. Ich finde ziemlich albern, was Freddy alles tut. Und Aleksander verliert auch bald den Spaß an Freddy. Er sperrt ihn kurzerhand splitterfasernackt auf den Balkon und lässt ihn frieren, bis er ganz blaue Lippen bekommt. Währenddessen denkt Aleksander nach, wofür Freddy sonst noch gut sein könnte. Als Gesprächspartner taugt er dann doch nicht. Es geht halt nichts über mich als Partnerin für spannende Diskussionen.

In der folgenden Nacht weckt mich Aleksander. Er meint, Freddy fehle eine angemessene Partnerin. Die Sache werde viel spannender werden, wenn Freddy nicht mehr das einzige virtuelle Wesen in unserer Wohnung wäre.

„Frieda?“, frage ich. „Bist du sicher, dass Frieda nicht noch viel mehr Unruhe in unser Leben bringen würde?“ Eben! Unruhe, gerade das ist der Zweck. Weiß ich doch! Ist immerhin alles meine Idee gewesen? Ob es auch eine gute Idee war, muss sich erst noch erweisen, das mit Freddy und seiner Braut, Frankensteins Braut. „Wir nennen sie Franka“, sage ich, „Frieda ist ihre Schwester. Die kommt erst dazu, wenn uns zu Franka nichts mehr einfällt.“ Aleksander ist einverstanden.

Kaum eine Stunde später sitzen wir auf dem Sofa und Al dirigiert Freddy und Franka in die unterschiedlichsten Positionen aus Aleksanders Kamasutra-Handbuch. Was uns beiden nicht mal in der Grundstellung überzeugend gelingt, erledigen Freddy und Franka anfangs mit Bravour, den Brückenpfeiler, Frosch, Zange und Affe. Bis Aleksander unbedingt selbst noch kreativ werden möchte. Frankas rechter großer Zeh flutscht jetzt in Freddys Po, während sie mit dem anderen Fuß Freddys Ohr krault und mit der Zungenspitze seine Eichel bepinselt. In dieser Stellung darf sich Freddy von Franka voll und ganz verwöhnen lassen. Die einzige Herausforderung für ihn: Die Waage machen, was in diesem Fall heißt, mit dem linken Bein knien, das rechte Bein nach hinten ausstrecken, beide Arme nach vorn, der Blick folgt der linken Hand, Schulterblätter auseinander, Becken waagerecht. Die beiden werden immer mehr zu Schlangenmenschen. Franka faltet sich in eine Schublade und Freddy rutscht als Schatten seiner selbst unter den Teppich. Endlich wieder allein!

„Es macht keinen Spaß, wenn sie keinen eigenen Willen haben. Ich bin doch kein Sklaventreiber“, sagt Aleksander.

Ich gebe ihm recht und bin für ein paar Minuten ratlos. Dann kehre ich das Spiel um.

„Du, Pjotr, Lieber, Franka hat mir, ganz im Vertrauen, gesagt, was sie von deinen Kleidungsstil hält. Gar nichts nämlich. Wieso soll Al nicht in seiner alten, fleckigen, beuligen Jogginghose durch die Wohnung laufen, sage ich, sieht ihn ja keiner. Naja, außer dir und Freddy. Sagt sie: Wenn man sich in so einer Situation derart gehen lässt, wird man entweder depressiv oder irre.“

„Depressiv oder irre?“

„Franka meint, auf dich treffe beides zu. Sie findet, wir sollten uns füreinander schick machen, hübsch, adrett. Außerdem kommt ihre Schwester zu Besuch, da will sie sich für uns nicht schämen müssen. Ich glaube, am ehesten hat sie Probleme mit deiner Jogginghose.“

„Das soll Franka gesagt haben? Das soll sie mir selbst sagen.“

Ich schüttele den Kopf und erkläre Aleksander das Spiel: Was einmal gesagt wurde, ist gesagt, das lässt sich nicht mehr revidieren, das müssen alle hinnehmen und respektieren. Die Regel lautet: Angebote akzeptieren!

Aleksander zieht eine Schnute, verschwindet im Schlafzimmer und kehrt in Anzughose und Sakko zurück. „Ungebügeltes Hemd macht nix, oder?“

Ich zucke die Schultern. „Musst du Franka fragen. Oder Freddy. Wo steckt der überhaupt?“

„Sitzt auf’m Klo, hat krassen Durchfall.“

„Du immer mit deinen Fäkalideen. Gab es Störungen in deiner analen Phase? Du bist eklig!“

„Nicht ich, Freddy. Den kriegst du die nächsten zwei Stunden nicht mehr vom Pott runter. Vielleicht kann dir ja Franka ein interessantes Angebot machen, falls du mal pinkeln musst. Das Klo ist jedenfalls für die nächsten zwei Stunden blockiert.“

Zwei Möglichkeiten: Ich klingle gegenüber bei Rainer und frage ihn, ob ich trotz Corona sein Klo benutzen kann, oder ich suche mir einen geeigneten Behälter, der sich für die Zwischenlagerung ausgeschiedener Körperflüssigkeiten eignet. Oder ich versuche, zwei Stunden lang einzuhalten. Ich beschließe, ein größeres Durchhaltevermögen zu besitzen als gewöhnlich und ziehe mir was Schickes für Friedas Besuch an.

„Es hat geklingelt“, sagt Al.

„Frieda?“

„Der Postbote. Sagt Franka.“

Ich nehme das Paket wortlos entgegen. „Ein Paket“, rufe ich in die Küche.

„Pack es aus! Was ist drin?“

„Eine Zeitmaschine.“

„Echt jetzt?“

„Damit kann ich die Zeit um zwei Stunden vorstellen.“

„Das ist unfair. Ein mieser Trick.“ Aleksander steht mit heruntergelassenen Hosen in der Küche. Er hat in eine leere Whiskyflasche gepinkelt und blickt mich entgeistert an. „Ich hatte mir gerade einen super Vorsprung erarbeitet.“

Und ich gehe erst mal aufs Klo, bevor es wieder auf unbestimmte Zeit besetzt ist. Al gesellt sich zu mir, setzt sich auf den Badewannenrand und schaut mir bei meinen Verrichtungen zu. „Weißt du“, sagt er, „dieses Spiel könnte auch richtig in die Hose gehen. Wenn es mal nicht bloß um Quatsch geht, sondern um die haarigen Dinge.“ Er muss lachen, weil er mir gerade auf die Muschi starrt, während ich aufstehe.

„Du meinst nicht diese haarige Sache.“ Ich ziehe den Slip hoch und schiebe das enge Kleid über Po und Beine.

„Wenn es um Dinge geht, die man sich sonst nicht zu sagen traut.“

„Gibt es irgendwas, das du dich nicht zu sagen traust?“

„Oder zu fragen wagst.“

Fragen wie: Wer von uns beiden sollte zuerst sterben? Wenn du mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen würdest – welche wesentlichen anderen Entscheidungen würdest du treffen? Und würde ich dabei eine Rolle spielen? So existentielle Dinge? Was wäre, wenn wir Kinder bekommen hätten?

„Sowas. Zum Beispiel hat Freddy gesagt, dass du mit ihm letzte Nacht geschlafen hast. Ich finde ich habe ein gewisses Anrecht darauf, von dir zu erfahren, wie der Sex mit Freddy gewesen ist. Du musst es nicht erzählen, aber ich fände es nur gerecht.“

„Und du und Franka?“

„Was soll gewesen sein? Wird das jetzt eine billige Retourkutsche?“

„Du willst wissen, wie es für mich mit Freddy gewesen ist? Oder überhaupt mit anderen Männern? Oder wie ich mir vorstelle, dass es sein würde.“

„Sein würde? Du hast. Sagt Freddy. Das ist das Spiel.“

„Aber das hat dir Freddy doch schon alles bis ins kleinste Detail erzählt.“

„Stimmt, aber ich möchte wissen, wie es für dich gewesen ist.“ Aleksander greift in seine Jacketttasche. Es ist Zeit für eine Zigarette auf dem Balkon. Es ist kühl dort, der Wind kommt jetzt wieder von Nordwest, der Himmel ist bedeckt.

„Pass auf, jetzt kommt der doppelte Rittberger! Ich kann dich ja nicht zum Reden bringen, wenn dir dabei nicht Franka oder Freddy im Nacken sitzen. Also …“ Al saugt an seiner Zigarette, bläst den Rauch aus, der sofort durch die offene Balkontür in die Wohnung zieht, und blickt in die Ferne. „Franka hat ja alles mit angesehen, das, was du und Freddy, was ihr beide da gemacht habt. Sie hat hat dich zur Rede gestellt, hat sie mir gesagt, und dir das Versprechen abgenommen, dass du es mir erzählst. Und zwar alles.“ Al zwinkert mir zu, aber sein Lächeln wirkt recht bemüht. Ist das der Moment, wo aus dem Spiel Ernst wird?

„Und das hast du dich die ganze Zeit nicht zu fragen getraut? Wie ich mir Sex mit einem anderen Mann vorstelle?“

Aleksander meint es ernst. Er will das wirklich wissen, ich bin mir sicher. Oder er verbindet einen besonderen erotischen Reiz damit, wenn ich vor ihm meine promiskuitiven Fantasien ausbreite. Hab‘ ich die überhaupt? Mal Lust auf einen anderen Mann? Oder eine Frau? Kann schon sein. Aber ich würde es mir nie im Vorhinein ausmalen. Bloß genießen, wenn es passieren würde. So, wie Al sich das vorstellt, funktioniert meine Fantasie einfach nicht. Bei Männern scheint das grundlegend anders zu sein. Aleksander hat sich vermutlich schon häufiger ausgemalt, wie er mich mit einem anderen Mann beim Sex beobachtet, eifersüchtig und erregt zugleich. Wie ich ihm sprichwörtlich Hörner aufsetze. Was interessiert ihn daran? Das Cuckolding ist, wie mir scheint, ein typisches Männerding. Wenn sie die Liebhaber ihrer Frauen nicht ermorden, was früher Standard war, verfallen die Männer ins andere Extrem und ziehen einen besonderen Lustgewinn daraus, der eigenen Frau beim Geschlechtsakt mit einem anderen zuzusehen. Wer soll das verstehen? Oder bin ich einfach zu antiquiert, um das verstehen zu können? Mal ganz nüchtern betrachtet, könnte ich darin auch einen kulturellen Fortschritt sehen. Die neuen Männer betrachten die Frauen, mit denen sie zusammenleben, nicht mehr als ihr Eigentum. Sie gestehen ihren Frauen großzügig außerehelichen Sex zu. Nein, so wird kein Schuh daraus. Das ist noch immer ein patriarchales Programm, ungefähr so, als würde sich Al einen Lamborghini kaufen, aber erst so richtig glücklich damit sein, wenn er seine Freunde auch mal damit fahren lässt, damit sie ihm bestätigen, was für ein geiles Auto das ist. Aber ganz wichtig: Es ist und bleibt sein Auto. Er ist stolz darauf, dass die Freunde sein Auto genauso toll finden, wie er selbst. Der ideelle Wert steigt mit der Begeisterung der anderen über das, was sie selbst nicht besitzen und nur mal ausprobieren durften.

„Sag mal, Al, ist das wirklich eine Fantasie von dir? Dass ich Sex mit einem anderen habe? Würdest du dabei zusehen wollen?“

„Nein, überhaupt nicht! Es war doch nur ein Spiel, Nina. Ich wollte dich herausfordern. Ein wenig in die Enge treiben.“

„Du möchtest wissen, ob ich Lust auf andere Männer habe. Warum fragst du mich nicht direkt?“

„Hast du denn?“

„Wäre das schlimm für dich? Du hast doch auch Lust auf andere Frauen.“

„Ja, schon. Als Fantasie spielt das eine Rolle. Aber mehr als Fantasie muss es auch nicht sein. Mir reicht das vollkommen. Ich kann mir keinen besseren Sex vorstellen als den mit dir. Trotzdem, die Fantasien lassen sich nicht unterdrücken. Die sind einfach da. Ob du irgendwelche Fantasien dieser Art hast, weiß ich allerdings nicht. Das ist schon lange ein blödes Ungleichgewicht zwischen uns, dass du so viel über meine Fantasien weißt, ich aber fast nichts von deinen.“

„Weil ich keine habe“, sage ich und frage mich, ob mit mir irgendwas nicht in Ordnung ist. Dass es zu dem braven Mädchen, das ich immer gewesen bin, einfach nicht passt, sich sowas auszumalen. Klar, ich finde manche Männer, sehr wenige Männer!, interessant, attraktiv. Besonders, wenn ich mich gut mit ihnen unterhalten kann, wenn sie gescheit und witzig sind, Stil haben. Ich schaue auf Hände, ich mag es, wenn ein Mann mich länger ansieht, als es schicklich ist, ich finde intelligente Konversation erotisch. Als wäre ich einem Roman von Jane Austen entsprungen. Bin ich ein antifeministisches Relikt aus der Epoche der romantischen Liebe? Ich stütze meine Ellenbogen auf dem Balkongeländer auf und lege das Kinn in beide Hände. Unten gehen Freddy und Franka vorüber, sie winken uns zu. Mit Freddy würde das nie was werden. Auch nicht mit Franka. Nicht Frankenstein und seine zusammengenähte Braut, eher schon Graf Dracula.

„Ganz ehrlich, Pjotr? Ich habe mir das noch nie konkret vorgestellt. Ich hatte gar nicht das Bedürfnis. Ich glaube auch nicht, dass es für eine Frau ungewöhnlich ist, sich keine konkreten Vorstellungen zu machen, wie es wäre, wenn.“

„Wie es wäre, wenn! Genau das meine ich. Ich verstehe nicht, oder besser, ich kann dir nicht glauben, dass du überhaupt keine Fantasien hast, die andere Menschen betreffen als mich, ob es nun Männer oder Frauen sind. Es fällt mir jedenfalls schwer, das zu glauben.“

„Weil du dann ein schlechtes Gewissen hast, weil du dir, im Unterschied zu mir, so viel vorstellen kannst?“

„Genau. Und weil es eine ganze Menge Frauen gibt, die Fantasien haben.“

„Sagt wer? Freddy? Franka?“

„Nancy Friday, zum Beispiel.“

„Hat die all die Erfahrungsberichte notgeiler Frauen nicht selbst geschrieben?“

„Dann ist zumindest sie der beste Beweis dafür, dass es wenigstens eine Frau mit einer überaus blühenden Phantasie gibt.“

Ich muss Al Recht geben. Ein Exemplar, und wahrscheinlich eine ganze Menge mehr. Soll ich mich deshalb schuldig fühlen? Dass ich keinen Schulaufsatz über meine Fantasien schreiben könnte, wie ich aus wissenschaftlichen Gründen Sex mit einem Gorilla habe, oder mich von unserem Postboten betatschen lasse? Das alles könnte ich mir vorstellen, sehr lebhaft sogar. Aber warum sollte ich das tun?

„Ich habe mir das wirklich nie vorgestellt, Al. Aber jetzt, seit heute, seit eben gerade, kann ich es. Keine Ahnung, was das für die Zukunft bedeutet. Aber eins steht für mich fest: Wenn ich jemals wirklich mit einem anderen Mann schlafen sollte, dann würde ich dir nicht erzählen wollen, was und wie wir es gemacht haben und was ich dabei gefühlt habe. Ich finde, das würde dich nichts angehen. Diese Erfahrung würde ich ganz für mich allein haben wollen.“

Aleksander zündet sich die dritte Zigarette an. „Kann ich verstehen“, sagt er, „genau das ist es, was mir Angst macht. Die ganze Zeit schon.“

„Keine Angst“, sage ich, „ich komme in den nächsten Wochen keinem Mann näher als einsfuffzig.“ Auch keiner Frau. Dabei wäre das ein viel spannenderes Projekt, finde ich. Keine Ahnung, wie das ablaufen würde. Keine Lust, mir das auszumalen. Das überlasse ich Aleksander. Der ist Experte im Fantasieren.

Er hat den Whisky aus der Küche geholt. Er gießt sich ein und hält das Glas prüfend gegen die Abendsonne, die gerade durch die Wolken bricht. „Krasse Farbe, oder?“

„Bisserl trüb, findest du nicht?“

Boccaccio 2020 – 02

Die zwei Witwen von Justus Stirner

Es waren einmal zwei alte Damen, die waren seit vielen Jahren verwitwet und lebten in einer Reihenhaussiedlung Haus an Haus. Die eine war erst wenige Jahre zuvor in ihr Haus gezogen, nachdem ihr Mann verstorben und ihr das ehemalige gemeinsame Heim zu groß vorgekommen war. Zunächst hatten die beiden Frauen wenig Interesse aneinander gehabt, aber die Einsamkeit bewog sie irgendwann häufiger miteinander über das Wetter und die steigenden Butterpreise zu sprechen. Eines Morgens trafen sie sich vor ihren Haustüren, als die Neue die Zeitung aus ihrem Briefkasten zog. Da fiel ihr auf, dass die Andere noch nie eine Zeitung aus ihrem Briefkasten geholt hatte. So erfuhr die Neue, wie ärmlich die Andere lebte und nicht einmal das Geld für kleinere Reparaturen in ihrem Haus hatte. Von diesem Tag an brachte die Neue jeden Tag um die Mittagszeit die ausgelesene Zeitung zu der Anderen, die sehr dankbar für diese tägliche gute Tat war. Um sich zu revanchieren, lud die Andere die Neue nun regelmäßig zu einer Tasse Kaffee in ihr Haus ein. Die Neue fand diese Einladungen zwar lästig, empfand es jedoch als Gebot der Höflichkeit, sie nicht auszuschlagen. Sie musste respektieren, dass die Andere für die tägliche Gabe etwas zurückgeben wollte. Um der Gerechtigkeit willen. Damit es ein Tausch und kein Gnadenakt war. Bei ihren Gesprächen während der Kaffeestunden kam eines Tages auch das Gespräch auf ihre verstorbenen Männer. Während die Neue wenig Gutes über ihren Mann zu berichten hatte, der ein jähzorniger Mensch gewesen sein musste, erzählte die Andere liebevoll von ihrem Mann, der sehr zärtlich und fürsorglich gewesen sein musste. Sie vermisste ihn immer noch. Noch bis kurz vor seinem Tod hatte er sie jeden Abend gestreichelt und geküsst. Manchmal, sagte sie, stelle sie sich vor, er liege noch immer neben ihr im Bett, wenn sie schlafen gehe. Er lasse seine Hand langsam vom Nacken über ihre Wirbelsäule gleiten. Dann höre sie, wie er leise ihren Namen hauche. Die Neue hatte sich dergleichen noch nie vorgestellt und fragte sich, ob sie je so geliebt worden war wie die Andere. Sie hätte sich auch fragen können, ob sie je selbst so geliebt hatte.

Sie beschloss, sich mit diesen Fragen nicht weiter zu quälen, weil sie jetzt ja ohnehin zu alt war für die Trauer über versäumte Zärtlichkeiten. Aber weil die Andere jetzt ein bisschen weinte, erhob sie sich und legte ihre Hände tröstend auf die Schultern der Anderen. Die fing jetzt erst recht an zu weinen, und die Neue wusste nicht, was sie noch tun konnte, um sie zu trösten. Da ließ sie eine Hand auch noch über die dünnen Haare der Alten gleiten. Als sie sich beruhigt hatte, verabschiedete sich die Neue. Bei der nächsten Tasse Kaffee sagte die Andere, es habe ihr sehr gutgetan, von der Neuen berührt und gestreichelt zu werden. Deshalb wolle sie sich revanchieren. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, stellte sich hinter die Neue, legte ihre Hände auf ihre Schultern und streichelte ihren Kopf. Die Neue wusste nicht, wie ihr geschah. Es war ihr unangenehm, von der Alten so berührt zu werden. Und sie war ja auch gar nicht traurig. Aber sie wagte nicht, die Alte von sich wegzustoßen und ließ sich die Zärtlichkeiten gefallen. Sie sorgte ja nur für ausgleichende Gerechtigkeit. Die arme Alte hatte ja sonst nichts, was sie hätte hergeben können als Kaffee und sanfte Berührungen. Und weil die Neue nicht in der Schuld der Anderen stehen wollte, gab sie die Zärtlichkeiten an die Andere zurück. So erweiterte sich ihr Ritual, das zuvor nur durch den Tausch von Tageszeitung gegen Kaffee bestimmt gewesen war, um das des Tausches von Berührungen. So saßen sie nun täglich bei Kaffee und Keksen am Küchentisch der Anderen, erhoben sich nach einiger Zeit abwechselnd von ihren Stühlen, um einander Schultern und Kopfhaut zu massieren. An einem warmen Sommertag trug die Andere nur eine dünne Bluse. Als sich die Neue von ihrem Stuhl erhob, öffnete die Andere die oberen Knöpfe ihrer Bluse und ließ sie leicht von den Schultern herabgleiten. Die Neue zögerte einen Augenblick, aber sie wollte der Anderen auch nicht sagen, sie solle ihre Bluse wieder zuknöpfen, weil sie damit die Gebote des Anstands verletze. Also streichelte sie die nackten Schultern der Alten wie an den Tagen zuvor die bedeckten. Sie konnte die faltige Haut unter ihren Schlüsselbeinen sehen und die erschlafften Brüste in der Bluse, denn sie trug keinen Büstenhalter an diesem warmen Sommertag. Als die Neue an der Reihe war, öffnete die Andere ebenfalls drei Knöpfe der Bluse, die die Neue trug. Die Neue ließ es sich gefallen und fand es nur gerecht. Einige Wochen später fanden die Beiden es naheliegend und praktischer, sich obenherum ganz frei zu machen, wenn sie ihr Ritual begingen. Weil sie durchs Küchenfenster bei ihren Tauschgeschäften nicht gesehen werden wollten, begaben sie sich nun nach dem Kaffee ins Wohnzimmer, dessen Fenster zum Garten hinausgingen. Wieder einige Wochen später, als der Herbst immer dunkler und kühler wurde, entkleideten sie sich ganz und legten sich nebeneinander in das Bett der Anderen. Immer noch wechselten sie sich mit ihren Zärtlichkeiten ab. Erst streichelte die Neue den Rücken der Anderen, dann legte sich die Neue auf den Bauch, um ihren Anteil zu empfangen. Eines Tages fragte die Andere, ob die Neue auch noch Empfindungen da unten, zwischen den Beinen habe. Die Neue wusste es nicht. Dann erzählte die Andere, wie ihr Mann sie früher dort liebkost und wie sehr sie es genossen habe. Sie lächelte und legte ihre knorrigen Finger in den Schoß der Neuen, die sofort bemerkte, dass sie noch immer Empfindungen dort hatte. Die Andere beschrieb, wie sich der Junge, der ihr Mann einmal gewesen war, mit seiner Hand in ihren Slip vorgearbeitet und ihre erblühende Perle berührt und liebkost hatte. Dabei rieb sie sanft die neu erblühende Perle ihrer Bettgenossin. War das ein großes Unrecht, das hier geschah, fragte sich die Neue, und beschloss, dass sie nur Opfer ihrer eigenen Wohltätigkeit geworden war und keine Schuld daran trug. Sie hatte ihre Tageszeitung gegen Kaffee und Gespräche getauscht. Das war nur gerecht gewesen. Sie war immer die vorbehaltlos Gebende gewesen. Die Geschenke, die sie dafür erhalten hatte, waren leider immer noch etwas größer gewesen, als das, was sie gegeben hatte. Nie hätte sie es ertragen können, in der Schuld eines anderen Menschen zu stehen. Das war ein Teufelskreis geworden. Es war eine große Sünde, dass sie sich als alte Frau von einer anderen alten Frau diese Wonnen bereiten ließ. Sie hatte nie davon gehört, dass alte Frauen das miteinander taten. Ausgleichende Gerechtigkeit erschien ihr jedoch, wie immer in ihrem langen Leben, als der höhere Wert. Also trug sie auch jetzt ihren Teil zur Gerechtigkeit bei, beschloss jedoch, als sie sich ankleidete, die Andere nicht wieder zu besuchen und ihre Tageszeitung abzubestellen. Denn der Gerechtigkeit war Genüge getan. Am nächsten Tag trug sie die Zeitung nicht mehr zu der Anderen. Sie glaubte, die Andere werde bald an ihrer Tür klingeln und nach der Zeitung fragen. Aber sie ließ sich an diesem und den folgenden Tagen nicht bei ihr blicken. Nach einer Woche war ihr schlechtes Gewissen so stark geworden, dass sie nun doch einmal nachsehen wollte, wie es der Nachbarin ging. Die öffnete ihre Tür aber nicht. Auch nicht am folgenden Tag. Die Neue stand nun viele Stunden an einem Fenster, das zur Straße hinausging und wartete darauf, dass die Andere ihr Haus für einen Einkauf verließ. Aber sie verließ ihr Haus nie mehr, denn sie war gestorben. Als die Polizisten, die die Neue schließlich gerufen hatte, das Haus der Nachbarin verließen, erfuhr sie, die Andere sei in ihrem Bett friedlich eingeschlafen. Die Neue blieb allein zurück mit einer giftigen Schuld.

Donata sagt: Und die Moral von der Geschicht?

Sarah sagt: Justus macht sich nur über meine nur halb so sonderbare Mutter lustig, die jeden Morgen unsere Zeitung bekommt und sie dann an eine noch betagtere Freundin weitergibt. Frag besser nicht nach dem Sinn.

Justus sagt: Ich bin ein witzbold! Sag mal, Donata, hat dir Thomas jemals seine zunge so tief in den rachen geschoben, dass du einen hustenanfall bekommen hast? Das frage ich mich schon die ganze zeit.