Freundschaftsdienste

Ich habe keine Freunde – außer Nina. Nina würde sagen: Klar haben wir Freunde, eine ganze Menge sogar. In unregelmäßigen Abständen treffen wir uns, reden, erzählen von vergangenen Ereignissen, essen und trinken gemeinsam, umarmen uns beim Abschied. Das machen Freunde so. Sie gehen auch gemeinsam ins Kino oder ins Theater. Sie laden sich gegenseitig zu den Geburtstagspartys ein und halten für Höflichkeit, sogar für einen Freundschaftsdienst, kein Wort darüber zu verlieren, wie öde und oberflächlich die sich in wenigen Variationen wiederholenden Gespräche geworden sind. Es ist aber besser, diese belanglosen – und dennoch emotional mächtig aufgepoppten – Gespräche fünf oder sechs Stunden lang zu ertragen, als keine Freunde zu haben. Und weil ich maßlos hohe und wohl auch extravagante Ansprüche an Freundschaften habe, muss ich sagen, es sind keine richtigen Freunde, es sind enge soziale Kontakte. Denn die sind nötig für eine ausgeglichene Psyche. Trotzdem fühle ich mich – zumal in größeren Gruppen – wie Robinson auf der Insel am Donnerstag. Nina würde übrigens sagen, ich sei gefühlskalt, wenn ich unsere Freunde als bloße „soziale Kontakte“ bezeichne.

Ein echter Freund ist ein Spielkamerad. Die Menschen in unserem Freundeskreis sind eher keine Spieler. Vielleicht wären sie es gern. Ich weiß es nicht. Ich muss erklären, was ich meine, wenn ich sage, ich sei ein Spieler. Es geht nicht um Glücksspiele, Poker, Roulette und dergleichen, sondern um Spiele, die glücklich machen, Gedankenspiele nämlich, die allein zu spielen keinen Spaß machen und dann nur bedingt glücklich machen. Ich habe Fantasie im Übermaß. Die reizt dazu sie weidlich auszukosten. Wie wunderbar, auf Menschen zu treffen, die bereit sind, kleine Absurditäten, die jemand äußert, sofort aufzugreifen und ohne relativierende Fußnote fortzuspinnen:

„Ich frage mich, ob Putin in letzter Zeit überhaupt noch Sex hat. Und wenn ja, mit wem?“ – „Schau dir seine rechte Hand an, schlaff, komplett überanstrengt.“ – „Manchmal stelle ich mir vor, wie Putin abends zu Bett geht, und frage mich, wie es ihm gelingt einzuschlafen und wie es ist, am nächsten Morgen aufzuwachen.“ – „Im ersten Moment siehst du die Sonne durchs Fenster blinzeln und denkst, was für ein wundervoller Morgen. Du könntest im Oktoberdunst durchs feuchte Gras einer Apfelplantage schlendern und von deiner ersten Liebe träumen, die ebenfalls an einem sonnigen Oktobertag begonnen hat. Aber dann kommt der jähe Elektroschock: Herz, Kopf, rote Ohren. Oh Scheiße, ich Zauberlehrling hab ja ‘nen Krieg angefangen, da muss ich mich auch heute ums Töten und Zerstören kümmern. Wie peinlich!“ – „Und zur Ablenkung holt er sich erst mal einen runter.“ – „Und schaut dabei einen Porno auf einem riesigen Bildschirm auf der gegenüberliegenden, zehn Meter entfernten Wand.“ – „Milf.“ – „Gay?“ – „Nee, kein Porno, eher Pinocchio, Heidi oder Biene Maja, so eine regressive Phase vor dem Eisbaden und dem Eiweißfrühstück. Pornos nur abends vorm Einschlafen.“

Nina ist ein prima Spielkamerad. Oft, manchmal nicht. Manchmal lange nicht, wenn sie Stress hat. Gerade hat sie Stress, beruflich. Jede meiner auffälligen oder unauffälligen Aufforderungen zum Spiel quittiert sie mit Augenrollen oder indirekten Vorwürfen. Dann offenbaren sich die beiden unterschiedlichen Identitätsphilosophien. Ja, ich hänge das mal ganz hoch auf und spreche von Philosophie, hake das aber möglichst schnell ab: Woraus auch immer Persönlichkeit und Identität eines Menschen resultieren, ob Genetik, oder sozialer Prägung, oder beidem, irgendwann ist die Kirschtorte fertig und kann kein Apfelkuchen mehr werden, dann bin ich dieser eine unverwechselbare Mensch, der nicht mehr aus seiner Haut herauskann. Was verbal oder nonverbal aus ihm herauskommt, ist Reflex seines Innenlebens, dem er qua Identität hilflos ausgeliefert ist. Jede seiner Äußerungen ist prinzipiell interpretierbar und auf seine relativ statische Persönlichkeit zurückzuführen. Mit anderen Worten: Alles, was der sagt oder tut, sollte man ernst nehmen und als Puzzleteil einer rekonstruierbaren Persönlichkeit betrachten, die kaum etwas anderes im Sinn hat, als andere zu manipulieren, in die Irre zu führen, ihr wahres Ich zu verschleiern, um ihre egoistischen Ziele zu erreichen. Erkenne deinen Mitmenschen, er könnte dir feindlich gesonnen sein! Obacht! Tadle rechtzeitig, bring deine eigenen Interessen und Ziele in Stellung! Erweise dich selbst als moralisch gefestigte Persönlichkeit! Das wäre die eine philosophische Position. Es ist – trotz gelegentlicher Spielfreude – auch Ninas Position. Die zweite unterscheidet sich nur marginal von der ersten: Der Apfelkuchen wird nicht mehr zur Kirschtorte, aber die Äußerungen des Apfelkuchens können – um im Bild zu bleiben – durchaus die Form von Kirschen und Buttercreme annehmen, sogar von Bratwurst und Wirsing. Die Äußerungen eines Menschen, also seine Worte geben nicht notwendigerweise irgendwelche für die Interaktion zurechtgemachte oder absichtlich gefälschte Kostproben seines wahren inneren Wesens preis, im Gegenteil sind sie Reflex des gesamtgesellschaftlich Denkbaren, Sagbaren und physisch Realisierbaren. Denn alles das sammelt sich in meinem Kopf als potenziell Mögliches. Ich habe nicht mich selbst im Kopf, sondern die Welt, die schöne, bezaubernde, beglückende, himmlische, aber auch eklige, abscheuliche, ungerechte, grausame, mörderische, teuflische Welt. Das ist ein riesiger Krimskrams-Laden in meinem Kopf. Und weil ich das alles nicht sein kann, ist es gedankliches Spielzeug. Wenn ich mir eine Geschichte ausdenke, in der ein putziger Hamster bei lebendigem Leib gefesselt, gehäutet, mit einem Kugelschreiber penetriert und anschließend aufgeschlitzt wird, kann daraus kein Hinweis auf meine Persönlichkeit gelesen werden, sondern nur einer auf das grundsätzlich Menschenmögliche. Überall, wo erwartet wird, ich müsse mich sogleich moralisch von dieser Hamsterfantasie distanzieren, das sei ja wohl das Mindeste, vermute ich das Kongruenzmodell der Identität, das davon ausgeht, dass die Worte eines Menschen Ausdruck und Teil seiner Identität sind, in meinem Fall: Sadist und potenzieller Tierquäler. Vertreter dieses Identitätsmodells hüten das Bild, das andere von ihrer Persönlichkeit entwickeln können, wie ihren Augapfel. Das ist selbstverständlich nicht möglich, aber sie versuchen zumindest, weitgehende Kontrolle darüber zu halten, was die anderen über sie denken könnten. Sie unterstellen, dass es alle so machen, außer vielleicht Schwachsinnige und empathielose Narzissten. Wenn ich also sagen würde, mich würde es interessieren, wie aufregend es wäre, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, würde Nina darin eine unanständige und sogar verletzende Aufforderung sehen und vermuten, ich könne unsere traute und ausschließliche Eheburg schleifen wollen. Was gar nicht meine Absicht ist, obwohl ich die Vorstellung, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, wirklich aufregend finde, was offenbar ein Hinweis auf mein Persönlichkeitsprofil zulässt, dass ich nämlich solche Fantasien mag und das irgendeinen (möglicherweise pathologischen) Grund haben muss. Weil Nina nicht mag, dass ich solche Fantasien habe oder zumindest ausspreche, sage ich nichts. Denn ich weiß, dass sie glaubt, ich würde sagen, was ich wünsche. Wenn sie auf meine Beste-Freundin-Fantasie produktiv antworten würde („Ich glaube nicht, dass ich dich dabei zusehen lassen würde“, oder „Also ich würde mir den Anblick ersparen wollen, wie du Rainer den Schwanz lutschst.“), müsste sie befürchten, ich würde ihre Äußerung als indirekte Zustimmung zu dem Plan, unsere ehelichen Bande zu lockern, auffassen.

Das ist ein Dilemma. Nina hat ihre Gedankenpolizei stark verinnerlicht, schon wegen ihrer katholischen Erziehung, da dringt kaum ein vermeintlich anstößiger Gedanke vorbei ins Bewusstsein. Glaube ich jedenfalls. Sie weiß nicht einmal was von der Polizeistation mit angeschlossenem Geheimdienst in ihrem Kopf. Ich dagegen liefere mir tagtäglich kafkaeske Scharmützel mit meinen internen Vorgesetzten. Weil die verhindern möchten, dass Nina oder unsere gemeinsamen sozialen Kontakte mich mit meinen Gedanken identifizieren, die ja gar nicht meine persönlichen Gedanken sind, sondern im besten Sinne allgemeine. Das Dilemma ist noch vielschichtiger: Wenn ich einen Gedanken äußere, der prinzipiell (mit Blick aufs grundsätzlich Menschliche) wünschenswert ist, obwohl religiös oder kulturell tabuisiert oder aus Tradition geächtet, besitzt er doch auch einen verlockenden Möglichkeitswert. Wenn ich sage, ich stellte mir Ninas Zunge an Henrikes Vulva aufregend vor, ist das zwar keine Aufforderung, sich das als Wochenendprojekt vorzunehmen, aber es ist doch eine Aufforderung mit diesem Gedanken zu SPIELEN, denn schon der Gedanke könnte auch für Nina aufregend, um nicht zu sagen erregend, sein. Und mit Gedanken zu spielen, bedeutet, neue Möglichkeiten zu bedenken und schließlich auch zu erproben. (Kommentar von Nina: „Siehst du, wenn du vermeintlich ohne jede Absicht jede deiner erotischen Fantasien herauspupst, verfolgst du also doch deine Absichten. Was soll ich sagen? Sophist, Manipulator!) Ich meine, wenn wir alle Gedanken zunächst einmal zulassen und mit ihnen spielen, gelingt es vielleicht doch noch, eine bessere Welt zu erschaffen, jedenfalls wenn wir nicht davon ausgehen, dass wir bereits in der besten aller möglichen Welten leben. Okay, das Leibniz-Zitat war rhetorisch gemeint. Wir leben selbstverständlich in einer rundum verbesserungswürdigen Welt bzw. Gesellschaft bzw. Kultur bzw. Weltgemeinschaft. Zum Beispiel leben wir in einer Welt, in der Männer Kriege führen, Frauen unterdrücken und Frauen töten, weil sie Frauen sind. Geht’s noch unheilvoller? Wir brauchen ein umfassendes Therapieprogramm für die Menschheit. Und ich habe mir eins ausgedacht:

Ein Therapiekonzept, das zu einer Graswurzelbewegung wird und die Welt friedlicher machen wird.

Ein ganzes Wochenende verbringen sechs Personen (drei weiblichen und drei männlichen Geschlechts, soweit sich das überhaupt so klar definieren lässt) gemeinsam in einer speziellen Unterkunft, wo sie gemeinsam essen, trinken und schlafen. Das therapeutische Kernstück besteht in einem erotischen und sexuellen Ritual, bei dem zunächst zwei gemischte Gruppen gebildet werden. Alle sind nackt.  Jede Person innerhalb der Gruppe wird auf einer Matratze oder auf einer Massageliege ausführlich von den beiden anderen gestreichelt, leicht massiert, genital erregt und schließlich auch mindestens einmal zu einem angenehmen Orgasmus gebracht. Gemischte Gruppen heißt: Auch heterosexuelle Männer versetzen Männer in Erregung und verhelfen ihnen zum Orgasmus, heterosexuelle Frauen kümmern sich sanft um Höhepunkte anderer Frauen, Frauen und Männer bringen sich gegenseitig zum Orgasmus. Was zunächst mit Widerwillen getan werden mag, wird sich nach mehreren therapeutischen Wochenenden vertraut und schön anfühlen. Die Gruppen mischen sich immer neu, Dicke streicheln Dünne, Alte verwöhnen Junge und umgekehrt. Mehrere Gruppen bilden bald eine diverse Community der Wohltäter. Was sich gut und schön anfühlt, wird nach und nach ins Repertoire übernommen. Homophobie und Misogynie lösen sich in Wohlgefallen auf. Vielleicht werden irgendwann auch Großveranstaltungen stattfinden. Aber das Ritual bleibt. Keine wilden Orgien. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich glaube, Orgien passen nicht ins Konzept. Und Rituale haben religiösen Charakter. Die Therapie bezieht ihre Autorität aus dem Ritual, so wie die Religionen. Das Ritual darf nicht aufgelöst werden. Nun ja, ich in einer Dreiergruppe mit Nina und Henrike, das wäre ganz nach meinem Geschmack. Allerdings – in anderer Konstellation – Rainers Sperma an meiner Hand kleben zu haben, finde ich sehr gewöhnungsbedürftig. Aber nicht ausgeschlossen, dass ich ihm eines Tages sogar eine Prostatamassage spendieren werde. Ein Freundschaftsdienst. Es muss ein gutes Gefühl sein, zu wissen, dass ich den allermeisten Nachbarn in meiner Straße mal einen Orgasmus verschafft habe, oder lachen zu können über die Erinnerung an den alten Herrn, der sich anfangs so ungeschickt angestellt hat und nach ein paar Monaten großes Geschick mit Lippen und Zunge bewies. Vielleicht würde ich mit Anette oder Michaela gern einmal richtigen Sex haben, aber das müsste ich erst mit Nina besprechen, bevor ich die beiden frage.

Der liquide Roman

„Die Sache ist doch so“, sage ich zu Pjotr, „wenn Disney oder Warner einen neuen Blockbuster raushauen, verdienen die ihr Geld vor allem mit Merchandising-Produkten, T-Shirts, Plastikfiguren und dem ganzen Scheiß. Bands und Leute wie Helene Fischer verdienen ihr Geld nicht mit CDs oder Spotify, sondern mit den Konzerten – und eben mit Merchandising.“ Na und, fragt Pjotr. „Na, ist doch vielleicht so auch mit der Literatur, die verlagert ihren Schwerpunkt allmählich auch in andere Bereiche. Du schreibst ein Buch, aber es geht gar nicht mehr um das Buch, oder jedenfalls nicht nur. Es geht um die Illusionen, die um den Autor oder die Autorin gestrickt werden. Das Buch ist bloß noch der Anlass, um sich mit der Autorin zu beschäftigen. Oder mit irgendeinem angesagten Thema.“ Das war nie anders, meint Aleksander, Goethe, Schiller, Brecht, Grass, irgendwann ging’s immer nur noch um die Autoren, um ihre politischen Überzeugungen, ihre kluggeschissenen Kommentare zum Weltgeschehen, ich meine jetzt nicht Schiller oder Goethe, du weißt schon, wie ich zu Grass stehe.401.jpg

Ja, weiß ich. Komisch, dass ihm wieder mal nur Männer als Beispiele eingefallen sind. Sei’s drum. „Ich meine, scheiß auf die Autorinnen! Die Romane fangen an, zwischen den Buchdeckeln hervorzuwachsen, sie fließen in die sozialen Medien hinein und beginnen da eine Art Eigenleben. Du weißt schon, dieses blöde Gerede davon, dass Autoren irgendwann hilflos vor ihren selbstgeschaffenen Figuren stehen und mit ansehen müssen, wie die ihre Geschicke selbst zu bestimmen beginnen; wenn Autorinnen begeistert von der Eigendynamik der Story erzählen und behaupten, sie seien irgendwann nur noch Zuschauer oder Chronisten gewesen, weil sich alles von allein ergeben hat. Die Sachzwänge der Fiktion. Aber wenn der Roman anfängt, vor allem in den sozialen Medien zu existieren, da ein Eigenleben entwickelt …“ Fan-Fiktion, unterbricht Al. Aleksander hasst es, wenn ich ihn Al nenne. „Nee, Al, nicht diese Nachahmungsscheiße, sondern: Der Roman geht im Internet weiter, er hört einfach nicht auf, oder er verändert sich. Das Buch ist fertig, aber dann findet so eine Art Zellteilung im Internet statt, und Mutationen. Die Figuren und die Geschichte verwandeln sich weiter, obwohl das Buch schon fertig ist. Der liquide Roman – ist das nicht die logische Konsequenz für die Literatur in der liquiden Moderne? Dass sich nicht nur die Menschen und die Identitäten verflüssigen, sondern auch die Romane? So wie die Serien? Die Leute wollen ohnehin kaum noch was Ausgedachtes lesen, die wollen was aus dem Leben der Autorinnen lesen und es soll möglichst authentisch sein. Und so ein Leben geht ja auch immer weiter. Ich glaube, Serie ist das richtige Stichwort.“ So von Staffel zu Staffel, sagt Pjotr, da steckt aber auch Kontinuität drin, das entwickelt sich vielleicht immer weiter, aber das Ganze hat Konsistenz. Bei einer guten Serie jedenfalls. „Eben. Da muss eine andere Art von Konsistenz her. Stell dir einen Roman vor, der sich permanent verändert, der nach und nach seine eigenen Varianten ausspuckt, bis er sich einerseits nicht mehr ähnlichsieht, aber andererseits sich immer mehr seinem Kern annähert, wenn’s den überhaupt gibt. Eine Phänomenologie der Fiktionen, wenn du so willst, oder eine fiktionale Hermeneutik.“ Du meinst, sagt Pjotr, du schreibst einen Roman wie „Liquid Love“ einfach weiter? „Wir beide?“ Oder du, ich, Uta und André? Hermeneutik – ganz schön hochgestochen. Schreibst du da nicht besser einen Aufsatz für eine literaturwissenschaftliche Zeitschrift?

„Nee, gerade nicht. Es müsste schon Literatur sein. Wir schreiben an unserem Lebensroman doch auch immer weiter, wir hören nie auf damit. Und wir erzählen unsere Geschichte immer wieder neu, interpretieren sie neu, vergessen, konstruieren. Und deshalb wissen wir in keinem Moment, ob wir unser Leben endlich verstanden haben, uns selbst verstanden haben. Wir müssen uns immer wieder selbst auf die Probe und unsere Überzeugungen in Frage stellen. Klar muss ein Roman irgendwann zu Ende sein, wenn er gedruckt werden soll. Aber de facto ist er dann immer noch als ein anderer möglich. So wie mein Leben auch mit einem anderen Mann möglich wäre, oder mit einer Frau. Oder wenn du dich zum Beispiel entscheiden würdest, eine Frau zu werden.“

Willst du das? Ist das eine deiner Fantasien? Dass ich mir den Schwanz aboperieren lasse?

„Wieso das? Wäre das deiner Meinung nach nötig, um eine Frau zu werden?“ Aleksander zieht sich verzweifelt die Decke über den Kopf. „Ich mag deinen Schwanz, wie du weißt, du sollst ihn ja gar nicht abschneiden. Aber wenn du es wollen würdest und es tun würdest, dann würde sich ja zweifellos etwas ändern zwischen uns. Es war auch nur ein Beispiel. Aber wenn du es wirklich tun würdest, dann wäre es doch selbstverständlich, dass ich anfange, meine Geschichte mit dir noch einmal aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Das Ereignis würde meine und deine Geschichte nachhaltig verändern. Hast du dir immer schon gewünscht eine Frau zu sein? War der Sex, den wir hatten, irgendwie immer schon lesbischer Sex? Aber mir geht es im Moment gar nicht um unser Leben, sondern um Literatur. Wer sagt, dass ein Roman ein Ende haben muss? Und dass ein Roman sich nicht verändern darf? Dass eine Autorin nicht sagen darf, Leute, es ist 2020 und am 21. Januar hat ich endlich das erste Kapitel des Romans mit dem Titel soundso verändert. Es ist nicht nur besser geworden, sondern es ist eine weitere interessante Figur dazugekommen. Seit gespannt, denn diese neue Figur wird sich möglicherweise in unseren Protagonisten verlieben, was eine ganze Menge infragestellt, das wir für unumstößlich gehalten haben. Undsoweiter. Dieser Werkgedanke – der löst sich immer mehr auf. Das Werk löst sich auf. Das ist das Schicksal der Moderne: In dem Moment, wo etwas fertig zu sein scheint, hat sich die Welt, in die dieses Etwas gestellt wird, schon wieder so sehr verändert, dass sich dieses Etwas diesem Wandel sofort anpassen möchte und seine Gestalt verändert. Denk einfach an den Berliner Flughafen! Neue Bauvorschriften, neue Baustelle, Eröffnung zum siebten Mal verschoben. Der Online-Roman der Zukunft verändert sich laufend, ist unfassbar und formlos wie eine Amöbe im Heuaufguss. Oder so.“

Und wird nie fertig. So wie der Berliner Flughafen. Aber dein Geld musst du dann immer noch mit dem Buch, ich meine, mit dem gedruckten, fertigen Buch, verdienen, sagt Aleksander. Aber das ist ja jetzt schon fast unmöglich. Internet ist noch kein Merchandising. Wenn klar ist, dass dein Buch noch gar nicht fertig ist, wenn es erscheint – aus welchem Grund sollte es dann jemand kaufen? Die Leute leben ein unfertiges und oft genug unbefriedigendes Leben – warum sollten sie sich dann auch noch ein unfertiges Buch kaufen? Wenigstens der Roman sollte ein Ende haben, am besten ein Happy End, ein Ende, das sein Licht auf die zurückliegende Geschichte wirft und ihr Sinn verleiht. Also: warum ein unfertiges Buch?

„Einfach weil es eine geile Idee ist und es nicht mehr diesen Moment gibt, wo du dir sagst: Ich habe nur noch drei Seiten zu lesen, dann ist der Roman zu Ende, aber ich möchte weiterlesen, weiter, immer weiter. Die Leute wollen vielleicht ein richtiges Ende haben, aber im nächsten Moment wollen sie, dass es sofort weitergeht, also eben noch nicht zu Ende ist. Und ja, geil ist auch, wenn die Figuren nicht dieselben bleiben. Denn ich möchte auch nicht immer dieselbe bleiben.“

André Kertész

Du möchtest vielleicht auch noch irgendwann mal ein Mann sein. Und einen Gummipenis in der Hose tragen.

„Oder unterm Rock.“

Woher weißt du, dass du damit nicht einer fatalen Ideologie aufsitzt, die dich langfristig total aushöhlt? Mit dieser Idee der liquiden Persönlichkeit und dem liquiden Roman, das ist ja bloß die Fortsetzung oder Steigerung dessen, was bislang die Moderne war. Der Begriff der Moderne kommt, wie du weißt, von Mode. Als die Menschen im Neunzehnten Jahrhundert bemerkten, dass sich ihre Lebensverhältnisse spürbar veränderten, Moden einander abwechselten, in den Großstädten die Kanalisation eingeführt wurde, Gaslampen, Elektrifizierung, Maschinen, neue Anschauungen usw., als die Menschen nicht mehr umhin konnten zu sehen, dass alles das, was Jahrhunderte zuvor gegolten hatte, nun innerhalb weniger Jahrzehnte oder Jahre stürzen konnte, durch Neues ersetzt wurde, entstand die Moderne, das Zeitalter der Innovationen. Es hält bis heute an. Postmoderne? Zweite Moderne? Papperlapapp! Wir sind innovationssüchtig wie keine Generation vor uns. Und jetzt wird es nur immer schneller, so schnell, dass es zu fließen scheint. Keine Statik mehr, alles fließt.

„Stimmt, und weil sich alles immer schneller verändert, wollen wir uns nicht bloß an die Veränderungen anpassen, sondern immer schon am Ziel sein, bevor das Neue wirklich da ist, wie bei der Fabel vom Hasen und dem Igel. Ich bin jetzt die eine, aber in Zukunft werde ich schon immer die andere gewesen sein. Ich will ja gar nicht sagen, dass ich das gut finde. Aber ich gehöre bereits zu dieser Generation. Ich kann gar nicht anders. Das hat nämlich alles einen langen Vorlauf gehabt. Als Sechzehnjährige habe ich Sartre gelesen und bin fasziniert von der Vorstellung gewesen, dass ich mein Sein durch meine Entscheidungen, also durch mein Handeln erst erschaffe. Und heute ist diese Idee ins kollektive Unbewusste herabgesunken. Es ist absolut selbstverständlich geworden, das eigene Sein, die eigene Persönlichkeit, die eigene Geschichte zu erschaffen, jedenfalls davon überzeugt zu sein, dass man es kann und in begrenztem Rahmen auch tut. Mit einem wesentlichen Unterschied zu Sartres Theorie: dass ich meine Geschichte nicht mehr zu sein habe. Ich kann jederzeit eine andere sein und meine Geschichte hinter mir lassen. Und sagen: Diese Geschichte, das war ich mal, aber die bin ich nicht mehr, die hat mit mir nicht mehr viel zu tun. Ist natürlich Quatsch. Ich kann meine Geschichte nicht verändern. Ich kann sie vielleicht neu interpretieren, aber ich kann sie nicht ändern. Genauso wenig kann ich sie selbst erschaffen, es sind wahrscheinlich nur Spurenelemente von Selbsterschaffenem in meinem Ich. Aber es gibt diese neue Idee vom Menschen, der sich selbst erschafft, sich optimiert und sich vollständig verwandeln kann. Vom Fettkloß zum super tiny Model, vom Alkoholiker zum Abstinenzler, vom Anwalt zum Schriftsteller, vom Museumsdirektor zum Busfahrer. Mir fallen gerade nicht so geile Beispiele ein. Aber du verstehst schon. Du kannst durch Ratgeberliteratur, Therapie, Bildung, Tutorials auf Youtube, durch implantierte Chips in deinem Gehirn, durch Crispr oder was auch immer ein anderer Mensch werden. Scheiße! Das will ich gar nicht. Ich will das gar nicht für mich. Ich kann das auch gar nicht. Aber ein Roman, mein lieber Al, der kann das. Der Roman unserer Zeit muss das vielleicht sogar.“

Das ökonomische Problem hast du damit aber noch nicht gelöst.

„Warum sollte das ein Problem sein? Der Roman wird wie ein E-Book vertrieben, aber du kaufst auch die Updates dazu, jedenfalls für eine gewisse Dauer. Du kannst auch nur das fertige Buch kaufen. Aber es ist doch viel spannender ein Buch durchzulesen, um dann wieder vorne anzufangen und festzustellen, dass der Anfang jetzt ganz anders aussieht, oder ein wenig anders. Und! Ganz wichtig! Damit das wirklich schnell genug funktioniert, brauchst du Autorenkollektive, die das permanent neu schreiben, so wie bei den Computerspielen oder den Netflix-Serien. Da sind auch meistens mehrere Autoren am Werk. Oder Drehbuchschreiber, Regisseurinnen, Kameraleute, Dramaturgen usw. Das kann keiner mehr allein.“

Und das richtige Geld mit den Merchandising-Produkten verdienen.