Boccaccio 2020 – 03

Der Tausch von Thomas Holtzmann

Ich mag mein Gesicht nicht, auch nicht meine Stimme. Die Kopfform – der Hinterkopf ist so abgeflacht. Ich tausche meinen Kopf gegen den meines Kollegen. Seine Gesichtszüge sind so sanft, die Haut so glatt, das Lächeln mild. Eine Glatze hat er wie ich, aber sein Kopf ist so über die Maßen schön geformt wie der eines antiken ägyptischen Königs. Zuhause erkennt meine Frau mich natürlich nicht. Ein fremder Mann hat ihr Haus betreten, er hat die Tür mit einem Schlüssel geöffnet. Was tun Sie in meinem Haus? Ich versuche sie zu beruhigen, ich sei doch der, der ich auch zuvor gewesen sei, und wundere mich über den Klang meiner Stimme, tiefer als die meines Kollegen. Meinen Küssen weicht sie aus, sie will mich nicht mehr kennen und spült den Topf, in dem die Tomatensoße gekocht hat. Ich frage, ob sie mich nicht attraktiver finde als vorher. Aber sie will mich nicht kennen, lugt dann doch von unten, von der Seite her, unter ihrer linken Achsel hervor zu mir herüber. Ich streiche mir über die glänzende Glatze. Sie muss so glänzen, wie ich es von meinem Kollegen kenne. So reine Haut. Dabei ist er ganz so alt wie ich. Meine Kinder begrüßen mich wie einen fremden Besucher, neugierig und freundlich. Immerhin duzen sie mich. Meine Frau bittet mich zu gehen, sie erwarte ihren Mann, der gleich nachhause kommen müsse und sie wisse nicht, wie sie ihm erklären solle, dass da ein Mann im Haus sei, der von sich behaupte, ihr Ehemann zu sein. Also gehe ich. Meine Frau braucht Zeit, meine rein äußerliche Veränderung zu begreifen und zu akzeptieren. Wohin aber? Mittlerweile sollte auch mein Kollege in einen Spiegel gesehen und festgestellt haben, dass er nicht mehr seinen, sondern meinen Kopf trägt. Das dürfte ein kleiner Schock für ihn gewesen sein. Als ich seine Wohnung betrete, macht er mir sogleich Vorhaltungen, es könne ja wohl nicht angehen, dass ich mit seinem Kopf herumlaufe. Daran, so entschuldige ich mich scheinheilig, könne ich auch nichts ändern. Ich hätte nicht den blassesten Schimmer, wie es dazu gekommen sei. Ich halte allerdings nicht zurück, dass ich mit meinem neuen Kopf recht zufrieden bin, während mein Kollege über sein neues Aussehen entsetzt ist. Vielleicht, sage ich, wird morgen schon alles sein wie vorher. Er schüttelt nur den Kopf, meinen Kopf, und bettet ihn, Verzweiflung heuchelnd in beide Hände. Vielleicht, sage ich, werden wir uns daran auch mit der Zeit gewöhnen. Daran will ich mich gar nicht gewöhnen, sagt er. Ich streiche ihm tröstend über die Glatze, die glücklicherweise nicht mehr meine ist. Man wird uns nicht mehr erkennen, sagt er, man wird uns verwechseln. Wie kann ich noch ich sein, wenn die anderen mich für dich halten?

Ich gebe dem Kollegen meinen Hausschlüssel. Er zeigt mir das Schlüsselbord in seiner Wohnung. Dort hängt sein Schlüssel. Wir verabschieden uns förmlich. Gebeugt von seinem Schicksal steigt er die Treppen hinab. Dann schließe ich die Tür. Ich rufe noch schnell zuhause an und sage, ich käme bald. Ja, sagt sie, aber wer? Wer kommt? Ein Mann, sage ich, der meinen Kopf trägt. In der Wohnung meines Kollegen finde ich keine alkoholischen Getränke. Bieder scheint mir seine Einrichtung, als habe er lange Zeit mit seiner Mutter hier gewohnt, als habe sie ihm ihre Möbel hinterlassen. Die Bücher sind nicht das, was ich lesen würde, die Filme nicht mein Geschmack. Die Anzüge in seinem Schrank gefallen mir dagegen sehr. Sie sind sehr elegant. Nur werden sie mir nicht passen. Er ist noch deutlich schmaler gebaut als ich. Überhaupt hat er einen viel eleganteren Körperbau. Nackt habe ich ihn noch nicht gesehen. Ich suche in den Schränken nach Fotoalben. In einem der Fotoalben sehe ich meinen Kollegen als Jugendlichen. Er ist ungefähr dreizehn Jahre alt, schlaksig, nass vom Baden und die Schultern rund und glänzend wie Reichsäpfel. Da hatte er noch Haare auf dem Kopf. Seinen Kopf, denke ich, wird meine Frau akzeptieren. Aber auch den Gestus, die Art wie er beim Sprechen mit beinahe adeligem Hochmut seine Stimme hebt und senkt, beinahe schnalzt beim Reden? Wenn er sich für die Nacht entkleidet – wird sie das Brusthaar vermissen? Wird sie nicht sofort bemerken, dass es zwar der richtige Kopf, nicht aber der richtige Körper ist? Die Nacht ist kühl. Als ich die Leiter ans Fenster lege, geht im Zimmer gerade das Licht an. Ich steige hinauf und meine Frau sieht mich durchs Fenster an, zwinkert und legt den Zeigefinger an ihren süßen Mund. Dass ich keinen Laut von mir geben möge. Sonst tritt sie nie mit nackten Brüsten ans Fenster, wenn sie die Vorhänge zuzieht.

Boccaccio 2020 – 02

Die zwei Witwen von Justus Stirner

Es waren einmal zwei alte Damen, die waren seit vielen Jahren verwitwet und lebten in einer Reihenhaussiedlung Haus an Haus. Die eine war erst wenige Jahre zuvor in ihr Haus gezogen, nachdem ihr Mann verstorben und ihr das ehemalige gemeinsame Heim zu groß vorgekommen war. Zunächst hatten die beiden Frauen wenig Interesse aneinander gehabt, aber die Einsamkeit bewog sie irgendwann häufiger miteinander über das Wetter und die steigenden Butterpreise zu sprechen. Eines Morgens trafen sie sich vor ihren Haustüren, als die Neue die Zeitung aus ihrem Briefkasten zog. Da fiel ihr auf, dass die Andere noch nie eine Zeitung aus ihrem Briefkasten geholt hatte. So erfuhr die Neue, wie ärmlich die Andere lebte und nicht einmal das Geld für kleinere Reparaturen in ihrem Haus hatte. Von diesem Tag an brachte die Neue jeden Tag um die Mittagszeit die ausgelesene Zeitung zu der Anderen, die sehr dankbar für diese tägliche gute Tat war. Um sich zu revanchieren, lud die Andere die Neue nun regelmäßig zu einer Tasse Kaffee in ihr Haus ein. Die Neue fand diese Einladungen zwar lästig, empfand es jedoch als Gebot der Höflichkeit, sie nicht auszuschlagen. Sie musste respektieren, dass die Andere für die tägliche Gabe etwas zurückgeben wollte. Um der Gerechtigkeit willen. Damit es ein Tausch und kein Gnadenakt war. Bei ihren Gesprächen während der Kaffeestunden kam eines Tages auch das Gespräch auf ihre verstorbenen Männer. Während die Neue wenig Gutes über ihren Mann zu berichten hatte, der ein jähzorniger Mensch gewesen sein musste, erzählte die Andere liebevoll von ihrem Mann, der sehr zärtlich und fürsorglich gewesen sein musste. Sie vermisste ihn immer noch. Noch bis kurz vor seinem Tod hatte er sie jeden Abend gestreichelt und geküsst. Manchmal, sagte sie, stelle sie sich vor, er liege noch immer neben ihr im Bett, wenn sie schlafen gehe. Er lasse seine Hand langsam vom Nacken über ihre Wirbelsäule gleiten. Dann höre sie, wie er leise ihren Namen hauche. Die Neue hatte sich dergleichen noch nie vorgestellt und fragte sich, ob sie je so geliebt worden war wie die Andere. Sie hätte sich auch fragen können, ob sie je selbst so geliebt hatte.

Sie beschloss, sich mit diesen Fragen nicht weiter zu quälen, weil sie jetzt ja ohnehin zu alt war für die Trauer über versäumte Zärtlichkeiten. Aber weil die Andere jetzt ein bisschen weinte, erhob sie sich und legte ihre Hände tröstend auf die Schultern der Anderen. Die fing jetzt erst recht an zu weinen, und die Neue wusste nicht, was sie noch tun konnte, um sie zu trösten. Da ließ sie eine Hand auch noch über die dünnen Haare der Alten gleiten. Als sie sich beruhigt hatte, verabschiedete sich die Neue. Bei der nächsten Tasse Kaffee sagte die Andere, es habe ihr sehr gutgetan, von der Neuen berührt und gestreichelt zu werden. Deshalb wolle sie sich revanchieren. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, stellte sich hinter die Neue, legte ihre Hände auf ihre Schultern und streichelte ihren Kopf. Die Neue wusste nicht, wie ihr geschah. Es war ihr unangenehm, von der Alten so berührt zu werden. Und sie war ja auch gar nicht traurig. Aber sie wagte nicht, die Alte von sich wegzustoßen und ließ sich die Zärtlichkeiten gefallen. Sie sorgte ja nur für ausgleichende Gerechtigkeit. Die arme Alte hatte ja sonst nichts, was sie hätte hergeben können als Kaffee und sanfte Berührungen. Und weil die Neue nicht in der Schuld der Anderen stehen wollte, gab sie die Zärtlichkeiten an die Andere zurück. So erweiterte sich ihr Ritual, das zuvor nur durch den Tausch von Tageszeitung gegen Kaffee bestimmt gewesen war, um das des Tausches von Berührungen. So saßen sie nun täglich bei Kaffee und Keksen am Küchentisch der Anderen, erhoben sich nach einiger Zeit abwechselnd von ihren Stühlen, um einander Schultern und Kopfhaut zu massieren. An einem warmen Sommertag trug die Andere nur eine dünne Bluse. Als sich die Neue von ihrem Stuhl erhob, öffnete die Andere die oberen Knöpfe ihrer Bluse und ließ sie leicht von den Schultern herabgleiten. Die Neue zögerte einen Augenblick, aber sie wollte der Anderen auch nicht sagen, sie solle ihre Bluse wieder zuknöpfen, weil sie damit die Gebote des Anstands verletze. Also streichelte sie die nackten Schultern der Alten wie an den Tagen zuvor die bedeckten. Sie konnte die faltige Haut unter ihren Schlüsselbeinen sehen und die erschlafften Brüste in der Bluse, denn sie trug keinen Büstenhalter an diesem warmen Sommertag. Als die Neue an der Reihe war, öffnete die Andere ebenfalls drei Knöpfe der Bluse, die die Neue trug. Die Neue ließ es sich gefallen und fand es nur gerecht. Einige Wochen später fanden die Beiden es naheliegend und praktischer, sich obenherum ganz frei zu machen, wenn sie ihr Ritual begingen. Weil sie durchs Küchenfenster bei ihren Tauschgeschäften nicht gesehen werden wollten, begaben sie sich nun nach dem Kaffee ins Wohnzimmer, dessen Fenster zum Garten hinausgingen. Wieder einige Wochen später, als der Herbst immer dunkler und kühler wurde, entkleideten sie sich ganz und legten sich nebeneinander in das Bett der Anderen. Immer noch wechselten sie sich mit ihren Zärtlichkeiten ab. Erst streichelte die Neue den Rücken der Anderen, dann legte sich die Neue auf den Bauch, um ihren Anteil zu empfangen. Eines Tages fragte die Andere, ob die Neue auch noch Empfindungen da unten, zwischen den Beinen habe. Die Neue wusste es nicht. Dann erzählte die Andere, wie ihr Mann sie früher dort liebkost und wie sehr sie es genossen habe. Sie lächelte und legte ihre knorrigen Finger in den Schoß der Neuen, die sofort bemerkte, dass sie noch immer Empfindungen dort hatte. Die Andere beschrieb, wie sich der Junge, der ihr Mann einmal gewesen war, mit seiner Hand in ihren Slip vorgearbeitet und ihre erblühende Perle berührt und liebkost hatte. Dabei rieb sie sanft die neu erblühende Perle ihrer Bettgenossin. War das ein großes Unrecht, das hier geschah, fragte sich die Neue, und beschloss, dass sie nur Opfer ihrer eigenen Wohltätigkeit geworden war und keine Schuld daran trug. Sie hatte ihre Tageszeitung gegen Kaffee und Gespräche getauscht. Das war nur gerecht gewesen. Sie war immer die vorbehaltlos Gebende gewesen. Die Geschenke, die sie dafür erhalten hatte, waren leider immer noch etwas größer gewesen, als das, was sie gegeben hatte. Nie hätte sie es ertragen können, in der Schuld eines anderen Menschen zu stehen. Das war ein Teufelskreis geworden. Es war eine große Sünde, dass sie sich als alte Frau von einer anderen alten Frau diese Wonnen bereiten ließ. Sie hatte nie davon gehört, dass alte Frauen das miteinander taten. Ausgleichende Gerechtigkeit erschien ihr jedoch, wie immer in ihrem langen Leben, als der höhere Wert. Also trug sie auch jetzt ihren Teil zur Gerechtigkeit bei, beschloss jedoch, als sie sich ankleidete, die Andere nicht wieder zu besuchen und ihre Tageszeitung abzubestellen. Denn der Gerechtigkeit war Genüge getan. Am nächsten Tag trug sie die Zeitung nicht mehr zu der Anderen. Sie glaubte, die Andere werde bald an ihrer Tür klingeln und nach der Zeitung fragen. Aber sie ließ sich an diesem und den folgenden Tagen nicht bei ihr blicken. Nach einer Woche war ihr schlechtes Gewissen so stark geworden, dass sie nun doch einmal nachsehen wollte, wie es der Nachbarin ging. Die öffnete ihre Tür aber nicht. Auch nicht am folgenden Tag. Die Neue stand nun viele Stunden an einem Fenster, das zur Straße hinausging und wartete darauf, dass die Andere ihr Haus für einen Einkauf verließ. Aber sie verließ ihr Haus nie mehr, denn sie war gestorben. Als die Polizisten, die die Neue schließlich gerufen hatte, das Haus der Nachbarin verließen, erfuhr sie, die Andere sei in ihrem Bett friedlich eingeschlafen. Die Neue blieb allein zurück mit einer giftigen Schuld.

Donata sagt: Und die Moral von der Geschicht?

Sarah sagt: Justus macht sich nur über meine nur halb so sonderbare Mutter lustig, die jeden Morgen unsere Zeitung bekommt und sie dann an eine noch betagtere Freundin weitergibt. Frag besser nicht nach dem Sinn.

Justus sagt: Ich bin ein witzbold! Sag mal, Donata, hat dir Thomas jemals seine zunge so tief in den rachen geschoben, dass du einen hustenanfall bekommen hast? Das frage ich mich schon die ganze zeit.

Boccaccio 2020

Zombie-Apokalypse

Als wir alle glaubten, das Virus sei endlich besiegt, es habe sich verflüchtigt, oder es sei zur Ruhe gekommen, weil fast alle von ihm infiziert worden waren; als unsere Toten begraben und die Kranken genesen waren, hatte der Juni gerade die lang ersehnte Sonne und Wärme gebracht. Erleichtert verließen wir unsere Wohnungen und Häuser, umarmten unsere Freunde, wenn wir sie auf dem Wochenmarkt trafen, schüttelten Hände und blieben lange stehen, wenn wir Bekannten begegneten, die wir seit Wochen nicht gesehen oder nur aus großem, sicherem Abstand gegrüßt hatten. Und alle Menschen lächelten. Überall trafen sich freundliche Blicke, die sagen wollten: Es ist überstanden, wir können unser Leben wieder genießen. „Sieh die Blumen dort! Ist es nicht eine Pracht? Und das Grün in diesem Sommer scheint mir viel grüner als in allen Jahren zuvor. Fühlst du das auch, dieses Prickeln im ganzen Körper? Als würde ich von innen heraus neu erblühen.“

Wir verabredeten uns mit Freunden, saßen bis tief in die Nacht zusammen, aßen, tranken, lachten – und herzten uns immer wieder, weil wir unser Glück nicht fassen konnten. Dieses Glück, Freunde zu haben, dieses Glück endlich wieder die Nähe zu anderen Menschen zu spüren! Unsere Beziehungen hatten so viele Wochen brachgelegen. Wenn wir uns gegenseitig auf den Bildschirmen gesehen hatten, waren uns nur Bedauern und Klagen über die Lippen gekommen. Bis uns irgendwann die Worte fehlten und die Begegnung im Netz keine Befriedigung mehr brachte.

Unsere neu erwachte Lebensfreude war sogar so groß, dass wir spontan mit wildfremden Menschen ins Gespräch kamen. Wir betraten zum ersten Mal das Haus unserer Nachbarn, wir hatten uns immer nur mit höflicher Distanz gegrüßt, einige freundliche Worte gewechselt und – vermutlich beruhte das auf Gegenseitigkeit – beschlossen, dass unsere Herzen keinen Platz für weitere Freunde hatten. Der Sommer aber musste, wie es schien, unsere Herzen geweitet haben und bot nun genügend Platz für neue Freunde, viele Freunde, Menschen, an denen wir wenige Monate zuvor noch achtlos vorübergegangen waren. Ein Mann, der neben uns auf einer Bank beim Busbahnhof hockte, erzählte uns unter Tränen von seiner verstorbenen Mutter. Sie hatte den Virus nicht überlebt. Hannah trocknete seine Tränen mit einem Taschentuch und strich ihm sanft mit dem Handrücken über die Wange. Ich hielt seine Hand und massierte seinen Handballen, wie ich es sonst nur bei Hannah tat, wenn sie Kopfschmerzen hatte. Im Bus stimmte die Fahrerin einen Kanon an: „Vom Aufgang der Sonne, bis zu ihrem Niedergang, sei gelobet der Name des Herrn“, und obwohl die meisten an keinen Gott mehr glauben konnten, stimmten bald alle mit ein. Eine Frau mit einer besonders schönen Stimme sang ein friesisches Liebeslied, das uns zu Tränen rührte. Wir blinzelten durch die staubgetrübten Fenster auf die vorüberziehenden Straßen, wo im gleißenden Licht Junge und Alte zu schweben schienen, aufrecht und wach, als gelte es jedem Stein, jedem Pflänzchen und jedem Vöglein genügend Aufmerksamkeit widmen zu müssen. Als sei jeder Fleck und selbst die bemoosten Ränder der Schaufensterrahmen eine Quelle der Glückseligkeit. Immer wieder sahen wir Menschen, die sich in den Armen lagen. Im Park entledigte sich ein Mann seiner Kleider.

Unsere Kinder wunderten sich nicht, als wir ihnen mitteilten, dass Rudolf bei uns übernachten würde. Er war seit unserer gemeinsamen Busfahrt schon viel munterer geworden. Ich lieh ihm einen Pyjama, nachdem er sich geduscht hatte, und Hannah fand eine unbenutzte Zahnbürste für ihn. Im Bett nahmen wir ihn in unsere Mitte. „Die Bettritze, haha.“ Ja, die Bettritze, wir dachten uns nichts dabei, es war so selbstverständlich, dass er nicht allein schlafen sollte. Es war lange her gewesen, dass ich mit einem Freund gemeinsam im Bett gelegen hatte. Das letzte Mal, als ich in der achten Klasse gewesen war. Man kommt nicht zur Ruhe, die eine Geschichte birgt schon das Stichwort für die nächste. Auch Rudolf wurde nicht müde, aus seiner Kindheit zu erzählen, von seiner Mutter, dem abhanden gekommenen Vater, den verhinderten Liebesgeschichten in der Schulzeit und danach.

„Hast du denn nie eine Freundin gehabt“, fragte Hannah.

„Nein, nie. Vielleicht war ich einfach zu schüchtern.“

„Du hast nie mit einer Frau geschlafen?“

„Oder mit einem Mann“, fügte ich hinzu.

„Nein.“

„Das ist traurig“, sagte ich. „Es ist so schön, mit einer Frau zu schlafen. Mit einem Menschen, den du liebst. Es gibt kaum etwas Schöneres als das Begehren. Für mich: die Lust einer Frau, der Duft ihres Geschlechts.“

„Ja“, sagte er. „Aber die Pornos werden irgendwann schal.“

„Ja“, sagte ich, „wenn das alles nicht Wirklichkeit wird.“

Hannah ließ ihre Hand sanft unter sein Pyjamaoberteil gleiten, strich über seinen Bauch, hinauf zur Brust. „Von Händen berührt zu werden. Das kann schon nach wenigen Tagen fehlen.“

Hannah lächelte, als wir am nächsten Morgen beim Frühstück saßen. „Dass wir das jemals machen würden, das hätte ich noch vor ein paar Monaten nicht für möglich gehalten“, sagte sie. „Ich hätte nicht einmal daran gedacht. Ist das nicht sonderbar?“

„Vor ein paar Monaten. Und vor einer Woche? Hast du da noch nicht gefühlt, dass etwas anders geworden ist?“

Hannah überlegte. „Als ich mich mit Renate noch eine Weile an der Glut in der Feuerschale wärmte, ihr wart schon hineingegangen, Renate war dicht an mich herangerückt, ihre Augen glänzten in der Dunkelheit, da berührte sie unvermittelt meine linke Brust und sagte, sie habe meine Brüste schon immer bewundert, manches Mal habe sie sich gewünscht, mich nackt zu sehen und meine Brüste in den Händen zu halten, sie habe schon lange diesen innigen Wunsch, zu fühlen, wie die Brustwarzen einer anderen Frau vor Erregung fest werden. Sie lächelte und küsste mich auf den Mund. In diesem Moment stellte ich mir vor, wie ich den Reißverschluss ihrer Jeans öffne und meine Finger in ihrem Schoß versenke, sie so lange liebkose, bis sie kommt. Ich habe das noch nie gemacht. Aber plötzlich hatte ich eine riesengroße Lust, Renate dabei zuzusehen, wie sie sich meinen Händen und auch meiner Zunge hingibt. Mir wurde bewusst, dass es etwas ungemein Schönes sein muss, eine Frau zum Orgasmus zu bringen.“

„Das ist es, zweifellos.“

„Und dass ich nicht sterben möchte, ohne das wenigstens einmal erlebt zu haben. Das ist vor einer Woche gewesen. Aber da hätte ich noch nicht den Mut gehabt, dir oder Renate davon zu erzählen.“

„Und vor zwei Wochen hätte ich nie daran gedacht, den Penis eines anderen Mannes anzufassen und diesen Genuss empfinden zu können, wenn er in meiner Hand langsam prall und fest wird. Ich wäre vor Eifersucht gestorben, wenn ich hätte mitansehen müssen, wie deine Lippen seine Eichel umschließen, wie ein anderer Mann in dir kommt, zu spüren, wie sich mein Sperma mit dem eines anderen Mannes in dir mischt. Ich hätte das pervers gefunden.“

„Ist es das vielleicht sogar? Oder sind wir nur in einem Traum, in dem alles möglich geworden ist?“

„Ein Traum, in dem wir vergessen, zur Arbeit zu gehen. Ein Traum von Sorglosigkeit und unbändiger Lust. Da sag‘ ich was, ich habe die ganze Zeit geglaubt, heute sei Sonntag. Dabei ist Dienstag. Ich hätte längst zur Arbeit gemusst. Lustig, oder?“

Es war nur angemessen, dass Rudolf nackt unsere Sonnenterasse betrat. Das Licht war flirrend und auf meiner Stirn stand bereits der Schweiß. Rudolf war in sein Smartphone vertieft, das er in der einen Hand hielt, mit der anderen knetete er genussvoll seinen Penis. „Bislang war klar“, sagte er, „dass das Virus die Lunge befällt, auch den Magen-Darm-Trakt und die Hoden. Jetzt lese ich, dass es auch das Hirn angreift.“

„Das Virus ist besiegt. Oder etwa nicht?“

„Ich les‘ mal die Schlagzeilen vor: Wissenschaftler entsetzt! Zombievirus zeigt sein wahres Gesicht. Moralische Demenz: Virus tötet Angst und Aggression. Experte schätzt: Nur etwa 20 bis 30 Prozent nicht infiziert. Jetzt droht der Kollaps!“

Wir lachten. Wir hatten Glück gehabt, wir gehörten zu den Unversehrten. Auf dem Nachbargrundstück wälzten sich Michael und Steffi seit einer Weile splitterfasernackt mit ihrem Hund auf dem Rasen. Jetzt hatte das Tier seine feuchte Schnauze zwischen Steffis Beinen und Michael hielt das erigierte, blaurote Glied des Golden Retriever fest umschlossen in der einen Hand – und winkte uns mit der anderen fröhlich zu. Bald würden auch unsere Kinder einen Begriff davon haben, was es heißt, im Paradies zu leben.