Zombie-Apokalypse

Als wir alle glaubten, das Virus sei endlich besiegt, es habe sich verflüchtigt, oder es sei zur Ruhe gekommen, weil fast alle von ihm infiziert worden waren; als unsere Toten begraben und die Kranken genesen waren, hatte der Juni gerade die lang ersehnte Sonne und Wärme gebracht. Erleichtert verließen wir unsere Wohnungen und Häuser, umarmten unsere Freunde, wenn wir sie auf dem Wochenmarkt trafen, schüttelten Hände und blieben lange stehen, wenn wir Bekannten begegneten, die wir seit Wochen nicht gesehen oder nur aus großem, sicherem Abstand gegrüßt hatten. Und alle Menschen lächelten. Überall trafen sich freundliche Blicke, die sagen wollten: Es ist überstanden, wir können unser Leben wieder genießen. „Sieh die Blumen dort! Ist es nicht eine Pracht? Und das Grün in diesem Sommer scheint mir viel grüner als in allen Jahren zuvor. Fühlst du das auch, dieses Prickeln im ganzen Körper? Als würde ich von innen heraus neu erblühen.“

Wir verabredeten uns mit Freunden, saßen bis tief in die Nacht zusammen, aßen, tranken, lachten – und herzten uns immer wieder, weil wir unser Glück nicht fassen konnten. Dieses Glück, Freunde zu haben, dieses Glück endlich wieder die Nähe zu anderen Menschen zu spüren! Unsere Beziehungen hatten so viele Wochen brachgelegen. Wenn wir uns gegenseitig auf den Bildschirmen gesehen hatten, waren uns nur Bedauern und Klagen über die Lippen gekommen. Bis uns irgendwann die Worte fehlten und die Begegnung im Netz keine Befriedigung mehr brachte.

Unsere neu erwachte Lebensfreude war sogar so groß, dass wir spontan mit wildfremden Menschen ins Gespräch kamen. Wir betraten zum ersten Mal das Haus unserer Nachbarn, wir hatten uns immer nur mit höflicher Distanz gegrüßt, einige freundliche Worte gewechselt und – vermutlich beruhte das auf Gegenseitigkeit – beschlossen, dass unsere Herzen keinen Platz für weitere Freunde hatten. Der Sommer aber musste, wie es schien, unsere Herzen geweitet haben und bot nun genügend Platz für neue Freunde, viele Freunde, Menschen, an denen wir wenige Monate zuvor noch achtlos vorübergegangen waren. Ein Mann, der neben uns auf einer Bank beim Busbahnhof hockte, erzählte uns unter Tränen von seiner verstorbenen Mutter. Sie hatte den Virus nicht überlebt. Hannah trocknete seine Tränen mit einem Taschentuch und strich ihm sanft mit dem Handrücken über die Wange. Ich hielt seine Hand und massierte seinen Handballen, wie ich es sonst nur bei Hannah tat, wenn sie Kopfschmerzen hatte. Im Bus stimmte die Fahrerin einen Kanon an: „Vom Aufgang der Sonne, bis zu ihrem Niedergang, sei gelobet der Name des Herrn“, und obwohl die meisten an keinen Gott mehr glauben konnten, stimmten bald alle mit ein. Eine Frau mit einer besonders schönen Stimme sang ein friesisches Liebeslied, das uns zu Tränen rührte. Wir blinzelten durch die staubgetrübten Fenster auf die vorüberziehenden Straßen, wo im gleißenden Licht Junge und Alte zu schweben schienen, aufrecht und wach, als gelte es jedem Stein, jedem Pflänzchen und jedem Vöglein genügend Aufmerksamkeit widmen zu müssen. Als sei jeder Fleck und selbst die bemoosten Ränder der Schaufensterrahmen eine Quelle der Glückseligkeit. Immer wieder sahen wir Menschen, die sich in den Armen lagen. Im Park entledigte sich ein Mann seiner Kleider.

Unsere Kinder wunderten sich nicht, als wir ihnen mitteilten, dass Rudolf bei uns übernachten würde. Er war seit unserer gemeinsamen Busfahrt schon viel munterer geworden. Ich lieh ihm einen Pyjama, nachdem er sich geduscht hatte, und Hannah fand eine unbenutzte Zahnbürste für ihn. Im Bett nahmen wir ihn in unsere Mitte. „Die Bettritze, haha.“ Ja, die Bettritze, wir dachten uns nichts dabei, es war so selbstverständlich, dass er nicht allein schlafen sollte. Es war lange her gewesen, dass ich mit einem Freund gemeinsam im Bett gelegen hatte. Das letzte Mal, als ich in der achten Klasse gewesen war. Man kommt nicht zur Ruhe, die eine Geschichte birgt schon das Stichwort für die nächste. Auch Rudolf wurde nicht müde, aus seiner Kindheit zu erzählen, von seiner Mutter, dem abhanden gekommenen Vater, den verhinderten Liebesgeschichten in der Schulzeit und danach.

„Hast du denn nie eine Freundin gehabt“, fragte Hannah.

„Nein, nie. Vielleicht war ich einfach zu schüchtern.“

„Du hast nie mit einer Frau geschlafen?“

„Oder mit einem Mann“, fügte ich hinzu.

„Nein.“

„Das ist traurig“, sagte ich. „Es ist so schön, mit einer Frau zu schlafen. Mit einem Menschen, den du liebst. Es gibt kaum etwas Schöneres als das Begehren. Für mich: die Lust einer Frau, der Duft ihres Geschlechts.“

„Ja“, sagte er. „Aber die Pornos werden irgendwann schal.“

„Ja“, sagte ich, „wenn das alles nicht Wirklichkeit wird.“

Hannah ließ ihre Hand sanft unter sein Pyjamaoberteil gleiten, strich über seinen Bauch, hinauf zur Brust. „Von Händen berührt zu werden. Das kann schon nach wenigen Tagen fehlen.“

Hannah lächelte, als wir am nächsten Morgen beim Frühstück saßen. „Dass wir das jemals machen würden, das hätte ich noch vor ein paar Monaten nicht für möglich gehalten“, sagte sie. „Ich hätte nicht einmal daran gedacht. Ist das nicht sonderbar?“

„Vor ein paar Monaten. Und vor einer Woche? Hast du da noch nicht gefühlt, dass etwas anders geworden ist?“

Hannah überlegte. „Als ich mich mit Renate noch eine Weile an der Glut in der Feuerschale wärmte, ihr wart schon hineingegangen, Renate war dicht an mich herangerückt, ihre Augen glänzten in der Dunkelheit, da berührte sie unvermittelt meine linke Brust und sagte, sie habe meine Brüste schon immer bewundert, manches Mal habe sie sich gewünscht, mich nackt zu sehen und meine Brüste in den Händen zu halten, sie habe schon lange diesen innigen Wunsch, zu fühlen, wie die Brustwarzen einer anderen Frau vor Erregung fest werden. Sie lächelte und küsste mich auf den Mund. In diesem Moment stellte ich mir vor, wie ich den Reißverschluss ihrer Jeans öffne und meine Finger in ihrem Schoß versenke, sie so lange liebkose, bis sie kommt. Ich habe das noch nie gemacht. Aber plötzlich hatte ich eine riesengroße Lust, Renate dabei zuzusehen, wie sie sich meinen Händen und auch meiner Zunge hingibt. Mir wurde bewusst, dass es etwas ungemein Schönes sein muss, eine Frau zum Orgasmus zu bringen.“

„Das ist es, zweifellos.“

„Und dass ich nicht sterben möchte, ohne das wenigstens einmal erlebt zu haben. Das ist vor einer Woche gewesen. Aber da hätte ich noch nicht den Mut gehabt, dir oder Renate davon zu erzählen.“

„Und vor zwei Wochen hätte ich nie daran gedacht, den Penis eines anderen Mannes anzufassen und diesen Genuss empfinden zu können, wenn er in meiner Hand langsam prall und fest wird. Ich wäre vor Eifersucht gestorben, wenn ich hätte mitansehen müssen, wie deine Lippen seine Eichel umschließen, wie ein anderer Mann in dir kommt, zu spüren, wie sich mein Sperma mit dem eines anderen Mannes in dir mischt. Ich hätte das pervers gefunden.“

„Ist es das vielleicht sogar? Oder sind wir nur in einem Traum, in dem alles möglich geworden ist?“

„Ein Traum, in dem wir vergessen, zur Arbeit zu gehen. Ein Traum von Sorglosigkeit und unbändiger Lust. Da sag‘ ich was, ich habe die ganze Zeit geglaubt, heute sei Sonntag. Dabei ist Dienstag. Ich hätte längst zur Arbeit gemusst. Lustig, oder?“

Es war nur angemessen, dass Rudolf nackt unsere Sonnenterasse betrat. Das Licht war flirrend und auf meiner Stirn stand bereits der Schweiß. Rudolf war in sein Smartphone vertieft, das er in der einen Hand hielt, mit der anderen knetete er genussvoll seinen Penis. „Bislang war klar“, sagte er, „dass das Virus die Lunge befällt, auch den Magen-Darm-Trakt und die Hoden. Jetzt lese ich, dass es auch das Hirn angreift.“

„Das Virus ist besiegt. Oder etwa nicht?“

„Ich les‘ mal die Schlagzeilen vor: Wissenschaftler entsetzt! Zombievirus zeigt sein wahres Gesicht. Moralische Demenz: Virus tötet Angst und Aggression. Experte schätzt: Nur etwa 20 bis 30 Prozent nicht infiziert. Jetzt droht der Kollaps!“

Wir lachten. Wir hatten Glück gehabt, wir gehörten zu den Unversehrten. Auf dem Nachbargrundstück wälzten sich Michael und Steffi seit einer Weile splitterfasernackt mit ihrem Hund auf dem Rasen. Jetzt hatte das Tier seine feuchte Schnauze zwischen Steffis Beinen und Michael hielt das erigierte, blaurote Glied des Golden Retriever fest umschlossen in der einen Hand – und winkte uns mit der anderen fröhlich zu. Bald würden auch unsere Kinder einen Begriff davon haben, was es heißt, im Paradies zu leben.

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