Boccaccio 2020 – 07

Ada und Ewaein liquider Entwurf

Die Autos auf den Straßen fahren mit Elektromotoren. Die Akkus sind kleiner und leichter geworden. Und die Vorbehalte gegen die interaktive Steuerung in allen Lebenslagen sind gesunken, sind so federleicht wie die Akkumulatoren. Alles ist sichtbar geworden, und man hat sich dieser Sichtbarkeit ergeben, jedenfalls im öffentlichen Raum. Überall dort, wo die Lesbarkeit der Blicke, der Gesten und der Stimme die notwendigen Verrichtungen des Alltags bequemer, effizienter macht. Die unbestimmte Angst vor dem Anonymus vernetzter Computer, die als lernende Systeme ihre Evolution autonom zu entwickeln begonnen haben (das ist die Zukunft), ist einem leicht unbehaglichen Vertrauen in eine universale Vernunft gewichen, die von den Maschinen, diesem weltumspannenden Hirn repräsentiert wird.

Die Kameraaugen sind verschwunden. Kein Mensch mehr blickt auf die Individuen durch die kleinen Glaskörper. Keine Kamera schwenkt mit, wenn die Menschen sich in den Finanzdistrikten irgendwie auffällig bewegen, sich verdächtig machen, weil sie die Aktentasche unter die verschwitzte Achsel pressen und sich nervös umblicken: dass niemand, niemand sie beobachte. Die Menschen bewegen sich nicht mehr in den Perspektivwinkeln der Kameras, die einmal als Nachbildungen das menschliche Auge vertreten sollten, sie bewegen sich in Feldern, in plenoptischen Lichtfeldern, für deren Erfassung es der Kameras, wie es sie früher einmal gab, nicht mehr bedarf. Schon das Wort „Kamera“, in dem noch der Ursprung deutlich erhalten blieb, die „camera obscura“, hat mit der modernen digitalen Erfassung der Wirklichkeit kaum noch etwas gemein, nur dort, wo die Bilder für die Menschen mit ihren kaum dreidimensional wahrnehmenden Okularen in ein perspektivisch-lineares System übersetzt werden müssen. Da setzen sich die Lichtvektoren zu einer Reproduktion des vergangenen Wirklichen zusammen. Die Augen der Öffentlichkeit sind winzige Sensoren, mit denen Außen- und Innenräume wie besprenkelt sind. Es sind Sensoren, wie die Facetten der Insektenaugen, die nichts aufnehmen als das auf sie treffende Licht, seine chaotischen Bewegungsmuster, die Gerichtetheit der Strahlen, ihre Brechung – und die Schallwellen, diesen akustischen Brei. Ahnungslos sind diese kleinen Dinger, nur kleine Nervenenden einer umfassenden Registermaschine, die sich an den Daten sättigt und wie ein biologischer Organismus des Ballastes schnell auch wieder entledigt und nur die Essenz des Lebendigen bewahrt. Seine DNA sind der Codec und die Algorithmen der Bewegungsmuster. Noch wissen die Menschen: Mit dem Verschwinden der Kameras ist die Sichtbarkeit absurderweise ins Unermessliche gewachsen. Daher hüten sie sich, irgendetwas in ihre Wohnungen zu lassen, das auch nur den Verdacht nähren könnte, es befänden sich irgendwelche dieser Sensoren auf ihnen. Wände, Tapeten, Möbel, sogar Bücher werden regelmäßig von Experten überprüft und untersucht. Sie kommen in die Häuser und Wohnungen wie einst die Kammerjäger. In den eigenen vier Wänden hegt man sich ein, macht man sich unsichtbar, jedenfalls in den meisten Räumen, in den Schlafzimmern, den Bädern. Die Fensterscheiben sind milchig und matt, die Augen der Moderne können auch um manche Ecken schauen. Reflektierende Objekte haben die Wohnungen bevölkert, sie produzieren zufällige Reflexionen, irrlichtern im privaten Wohnfeld.

Eine Frau. Ein Mann (wirklich ein Mann?), der sich wahnhaft in diese Frau verguckt hat, sich ihr jedoch nicht zu nähern wagt. Mit unterschiedlichen Mitteln versucht der Mann sich des privaten Wohn- und Lichtfeldes zu bemächtigen. Er will dieser Frau nicht nur in der Öffentlichkeit folgen. Das hat er längst und ausgiebig getan. Er kennt beinahe ihr ganzes Leben. Nun möchte er auch in ihre Intimsphäre vordringen. Er ist ein Stalker, ein Voyeur – und er weiß seine Ziele zu erreichen. Als die Frau das Eindringen bemerkt, reagiert sie unerwartet: Sie lässt ihre Wohnung nicht „reinigen“, entfernt nicht die Minidrohnen, mit denen der Mann den Kampfplatz besetzt hält, sondern beginnt, ihr durchleuchtetes Privatleben zu inszenieren. Der Mann wird Zeuge, wie die Frau Vorbereitungen trifft, in die Privatsphäre eines Anderen einzudringen, ohne zu ahnen, dass er selbst das Opfer ist. Aber ihm entgeht die Veränderung der Frau nicht, die er so gut kennengelernt hat, deren Verhalten er so lange studiert, deren Haare, Haut und Geschlecht er beinahe berühren konnte mit seiner 3-D-Brille. Und er registriert Veränderungen in ihrem Umfeld. Da ist vor allem ein Mann, der ihm zuvor bedeutungslos erschienen war und augenscheinlich nicht minder interessiert an der Frau ist wie er. Einer, den er bald in Zusammenhang mit einem Mord bringen kann, einem Mord, der wie einige andere Morde von einem der „Unsichtbaren“ begangen wurde. Immer mehr rückt dieser Fremde in den Fokus des Mannes – bis der Fremde verschwindet und ein weiterer Mord geschieht.

Die Frau. Mit ihr beginnt diese Geschichte, dieser Film, ihr ist das erste Drittel der Geschichte gewidmet. Ihr folgt unsere altertümliche Kamera schwebend, gleitend, sie umfahrend. Wenn sie ein Gebäude betritt, schon wenn sie eine Tür zu einem Gebäude öffnet, begegnet die Kamera einer weißen Wand, die für sie undurchdringlich ist, in der sie unsichtbar entschwindet. Wie auch alle Fenster weiße, undurchdringliche Flächen sind, milchig, matt. Auf den Straßen tragen die meisten Frauen Hosen, wenige tragen Röcke oder Kleider. Die Kamera begibt sich, wenn sie der Frau nicht mehr folgen kann, auf die Suche nach den jungen Frauen, die freizügig Röcke tragen, sie umfährt sie und kriecht unter ihre Röcke. Einige von ihnen tragen kurze Leggings, andere aufreizende Unterwäsche, wenige flippige verzichten ganz darauf, teils wie zum Protest, teils aus Lust am voyeuristischen Blick anonymer Hacker, den sie auf sich gerichtet wähnen, wenn sie durch die Shopping-Center mit ihren glänzenden Fliesenböden flanieren oder sich in öffentlichen Gebäuden bewegen, die einer permanenten Überwachung unterliegen, Banken etwa, Poststellen und Bahnhöfe. Nur die Privathäuser, Firmen und Arztpraxen werden hinter weißen Wänden zu Leerstellen für die Kamera und die Geschichte. Darinnen ist nichts zu sehen und nichts zu hören.

Nur im öffentlichen Raum können wir den Gesprächen der Frau folgen, die offenbar als Informatikerin mit ihrem Team an Konzepten für Sicherheitssoftware arbeitet. Das Team sucht nach den Lücken im System, kämpft gegen die Versuche von Geheimdiensten und Privatleuten, sich ins Überwachungssystem einzuhacken oder eigene, private Lichtfeld-Netzwerke zu installieren, um auch noch die letzten Grenzen zu überwinden. Die Mitarbeiter entwickeln Software, die es ermöglicht, nachträglich bearbeitete Datensätze zu erkennen, aus denen die Abbilder von Personen und Gegenständen getilgt wurden. Sie erfinden ein Überwachungsprogramm, das sie „FREUD“ nennen, denn es verteilt in den optisch-akustischen Datensätzen randomisierte Erinnerungsfragmente, die es in einem analytisch-algorithmischen Verfahren, das sie „HYPNOSIS“ nennen, erlaubt, die ursprünglichen Datensätze zu rekonstruieren. Bald werden sie die gelöschten Inhalte wieder sichtbar machen können. Über diese Vorhaben in der Öffentlichkeit zu sprechen, erscheint gewagt. Es steckt Kalkül dahinter: Es ist sowohl eine offene Drohung an die illegalen Mithörer, als auch gezielte Desinformation. Niemand weiß, wie weit die Angreifer bereits ins Private und die geheimen Entwicklerbüros vorgedrungen sind – und ob es diese Angreifer überhaupt gibt. Denn eine umfassend vernetzte Gesellschaft steht in dieser zukünftigen Welt ein nicht minder aufwendiges System von gegeneinander abgeschlossenen Teilnetzen gegenüber, die sich wie Monaden nur mit ihrer selbst konstruierten und sich autonom entwickelnden Wirklichkeit befassen. Darin gleichen sie lebenden Systemen. Keine Information dringt noch unmittelbar in die neuen Computersysteme ein, sie enthalten keine Daten, die sie nicht selbst konstruiert hätten, nachdem sie eintreffende Daten aus ihren digitalen Umwelten entlang ihrer Systemgrenzen interpretiert haben. Lernende Systeme sind das, Individuen, schwerlich angreifbar, weil externe Programme nicht mehr in sie eindringen können. Der Datenaustausch zwischen den Systemen ist damit zwar fehleranfälliger geworden, die Systeme selbst aber dafür sicherer. Die lernenden Systeme haben auch gelernt, Missverständnisse zwischen den Systemen zu akzeptieren und zu analysieren. Immer mehr gleichen sie Menschen, immer mehr aber auch dem Ideal der Perfektibilität. Wie diese neuen Computersysteme funktionieren, können wir beispielhaft am Umgang der Menschen mit ihren Smartphones beobachten, wo humorige Freaks ihren Spaß daran haben, die kleinen Intelligenzen in den kleinen Kommunikationsgeräten an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu treiben: durch Ironie, Kalauer, Dada-Kunst und Anzüglichkeiten. Das sind die „Spaß-Phone“-Besitzer. Sie unterscheiden sich deutlich von den Ernsthaften und Strebsamen, die ihre Privatcomputer humorlos und ehrgeizig erziehen und bilden wie einst ihre Kinder, die ihrerseits schon früh unter der Fuchtel ihrer bloß digitalen Erzieher stehen, die so einfühlsam wie präzise und analytisch das Lernen ihrer Zöglinge anleiten und begleiten. Die Sprache in der Öffentlichkeit, jegliche Kommunikation unterliegt einer mehr oder weniger ausgeprägten Selbstzensur, die die Menschen förmlich und wortkarg werden ließ und ihre Körpersprache, ihre Mimik ausdruckslos. Der Feind, wer immer das sein und welche Absichten auch immer er verfolgen könnte, sieht und hört immerzu mit.

Im Bildungssektor hat sich eine Zweiklassengesellschaft herausgebildet. Es gibt noch die traditionellen Schulen, die zwar auch schon mit digitalen Hilfsmitteln lehren, aber es gibt auch eine große Zahl von Kindern, die keine Schule mehr besuchen und stattdessen hauptsächlich mit ihrem digitalen Hauslehrer lernen. Die Mutter der Frau arbeitet in einer dieser alten Schulen. Sie ist in mancher Hinsicht überfordert von den Entwicklungen in ihrer Umwelt, die sie längst nicht mehr versteht. Ihre Tochter versucht ihr mit anschaulichen Bildern zu erklären, warum es vielleicht nicht besser für die Kinder ist, wenn sie künftig außerhalb der Schule lernen, warum aber vermutlich kein Weg daran vorbeiführen wird. Die Mutter leidet nicht nur an den strukturellen Veränderungen in ihrem Beruf, sondern auch und mehr am Verlust ihres Privatlebens, wie sie es früher einmal gekannt und (im Rückblick) genossen hat, auch wenn ihre Ehe irgendwann in die Brüche ging. Sie fühlt sich isoliert von ihren Mitmenschen, die sich furchtsam in ihre Wohnungen zurückziehen. Wo soll man noch menschliche Nähe finden? Wer traut sich noch, in der Öffentlichkeit, seine Gefühle zu zeigen? Und in die überwachungsfreien Darkrooms, die in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen sind, will sie sich nicht begeben. Wie in Sodom und Gomorrha kompensierten die Menschen dort im Übermaß, was ihnen im Alltag genommen wurde: Dort werden die Grenzen aufgelöst, die die Computersysteme längst zu ziehen gelernt haben. „Schau her“, sagt die Mutter und deutet mit dem Finger auf die kleinen Flecken auf der Wand in einem der Gänge des Schulgebäudes, „die haben hier alles verwanzt. Du kannst nicht mal unbeobachtet in der Nase popeln.“ Kleine Flecken wie Fliegenschiss. „Wir können nicht mehr dahinter zurück“, sagt die Frau, „deshalb müssen wir vorwärts denken.“

Auch die Frau besucht zuweilen die Darkrooms. Wie gern würde die Kamera ihr da hinein folgen. Sie kann nur ahnen, was dort vor sich geht. Als sie in der Nacht in ihre Wohnung zurückkehrt, gelingt es der Kamera, bis in ihre Wohnung vorzudringen. Die Kamera begleitet sie bei ihren gewohnten Verrichtungen, wie sie sich die Zähne putzt, sich auszieht. Die Kamera umkreist sie, kommt ihr aufdringlich nahe, ihren Brüsten, einem Leberfleck auf ihrem Rücken, und lauert auch auf ihre Vulva, wenn sie sich zum Pinkeln aufs Klo setzt und sich einen Popel aus der Nase kratzt. Sie folgt ihr bis ins Bett, blickt ihr noch in die Augen, bis sie diese schließt und einschläft. Erst am nächsten Morgen, mit dem ersten Augenaufschlag, fühlt sie, dass in ihrer Wohnung irgend­­etwas nicht stimmt. An der Decke ihres Schlafzimmers entdeckt sie kleine blasse Flecken.

Hier wechseln wir zu dem Mann (wirklich ein Mann?). Er liegt mit seiner 3-D-Brille im Bett. Als sei er gerade entdeckt worden, reißt er sich die Brille vom Gesicht und richtet sich im Bett auf. Als er sich die Brille nach einem kurzen Moment des Nachdenkens wieder auf die Nase setzt, sehen wir, wie die Frau wieder in ihren häuslichen Alltag hineingefunden hat. Sie frühstückt, duscht, zupft sich einige Schamhaare, die sich an ihrem Slip vorbeimogeln wollen, zieht sich an und verlässt ihre Wohnung.

Mit einem Postpaket erhält der Mann einen Satz neuer Mikrodrohnen. Der Paketbote scannt das Paket vor der Übergabe, um sicherzustellen, dass sich auf der Pappe keine IPABs befinden, Interactive Plenoptic Audiometric Bugs. Die Mikrodrohnen sind nur unter der Lupe von größeren Staubpartikeln zu unterscheiden. Nur wenige von ihnen reichen aus, um eine Wohnung komplett zu verwanzen und so fast vollständig Einblicke in alle Lebensbereiche zu verschaffen. Das Problem besteht darin, sie in die Wohnungen gelangen zu lassen. Die Wohnungen und Häuser der Wohlhabenden sind mit Schleusen ausgestattet, in denen sich die Bewohner dekontaminieren lassen können. Fast alle unerwünschten Partikel werden mit feinen Laserstrahlen zielgenau eingeschmolzen. Nur wenige Drohnen „überleben“ den Angriff unbeschädigt und können sich in den Räumlichkeiten anschließend festsetzen. Es bedarf einer hohen Zahl an Angriffen, um eine ganze Wohnung sichtbar (und hörbar) zu machen. Zugleich dürfen derartige Angriffe nicht zu massiv sein, weil die Opfer dann schnell alarmiert sind und sich sicher sein können, dass sie gezielt ausgewählt wurden. Die Drohnen können sich nur im Verbund von mindestens acht orientieren. Der Mann lässt sie in größeren Verbünden fliegen, wählt sein Zielobjekt aus und veranlasst eine der Drohnen, sich zum Beispiel in einer geöffneten Handtasche festzusetzen, um auf diesem Weg in eine Wohnung zu gelangen. Dilettanten, die sich vollständig verwanzt Zutritt zum Beispiel zu einem Darkroom zu verschaffen versuchen, werden schnell identifiziert. Ihnen wird der Zutritt zu allen überwachungsfreien, gesicherten Bereichen verwehrt. Mitunter verlieren sie ihre Arbeitsplätze. Handel mit und der Einsatz von IPABs sind streng verboten. Dennoch programmieren viele Softwareentwickler lernende Systeme, die neue IPABs entwickeln und optimieren. So auch der Mann, der auf seinen Bildschirmen die neu entwickelten Drohnen in Augenschein nimmt. Eine weitere lernende Software entwickelt parallel dazu Abwehrsysteme, die die Schwachstellen der neuen IPABs ermitteln und zerstören können. Damit verdient der Mann sein Geld. Die Software, mit der er sich in die öffentlichen Überwachungssysteme eingehackt hat, behält er allerdings ganz für sich. Ein einsamer Nerd, der seine Muskeln mit Hilfe eines Elektrodenanzugs trainiert, der diese über kleine Stromstöße rhythmisch kontraktieren lässt, während er vor seinen Bildschirmen sitzt. Er ist getrieben von seinem Ehrgeiz, immer bessere Technologien beim Drohnenbau, beim Hacken, beim Verschlüsseln von Daten zu entwickeln – und zugleich von seiner Sehnsucht, die auch von ihm selbst mitverursachte Isolation zu überwinden, in die Bereiche vorzudringen, wo es noch Privatheit und Intimität gibt, vielleicht sogar Liebe. Alles das gibt es noch in den medialen Angeboten, den Fiktionen der Unterhaltungsindustrie, die an Orten der Welt angesiedelt sind, an denen der Fortschritt noch nicht so weit gediehen ist. Der Markt für alle erdenklichen Spielarten des Pornos ist massiv expandiert und liegt gleichauf mit Filmen und interaktiven Spielen, die romantische Idyllen konstruieren. Auch die in einer formell gewordenen Welt aufgestauten Aggressionen können über entsprechende Angebote weitgehend abgebaut werden. In virtuellen Welten kann man an Massakern und Sexorgien teilnehmen, die nach Wahl an exotischen Orten oder im eigenen, wohlbekannten Stadtviertel angesiedelt sein können. Ein immer beliebter werdendes Vergnügen besteht darin, einen komplexen Ganzkörperscan von sich selbst zu erstellen und mit diesem virtuellen Körper in ausgewählten Communities an interaktiven Spielen teilzunehmen. Auch unser Antiheld kann dieser Versuchung nicht ganz widerstehen. Ein Freund, den er in der Community gefunden hat, ebenfalls ein hochintelligenter Nerd, hat versucht, ihm die Sache schmackhaft zu machen und berichtet nebenbei von einer ganz großen Sache, an der er gerade arbeite. Er träume davon, die Spiele-Wirklichkeit in einer Art Prank mit der Überwachungswirklichkeit zu verschmelzen.  Um an einem der Spiele teilzunehmen nimmt der Mann allerdings an seinem Scanner-Abbild einige wesentliche Veränderungen vor, die ihn anonymisieren. So begibt er sich ins Gefecht oder nimmt als stiller Beobachter an einer Orgie im Shoppingcenter teil, in der Hoffnung dort der Frau zu begegnen. Er findet sie zwar aber findet doch keine Befriedigung in der virtuellen Welt. Darum vertieft er sich in die Beobachtungen der Frau, die in der Öffentlichkeit so unnahbar ist, wie die meisten anderen auch. Nur einmal ist ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen: als eine Gruppe fröhlich tanzender Exhibitionisten durch die Stadt zieht, um sich gegen die neuen Formen der Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Sie nehmen einfach die Flucht nach vorn und setzen der totalen Öffentlichkeit die totale Intimität entgegen und verstehen das als Befreiung. Nicht der Verlust an Intimität und Privatheit mache die Menschen unfrei, sondern allein ihre Scham. Wenn erst einmal jeder alles sehen und hören könne, werde sich auch niemand mehr wirklich dafür interessieren. Andere Aktivisten-Gruppen fordern dagegen ein Ende der Überwachung, die die Menschenrechte immer weiter auflöse. Ordnungskräfte der Polizei greifen bei solchen Aktionen nicht ein, solange nicht randaliert wird. Straftäter werden festgenommen, wenn sie sich allein oder in kleinen Gruppen in ihre Unterkünfte zurückziehen. Diese Notwendigkeit besteht immer seltener.

Längst steht der Mann beim Geheimdienst unter Verdacht und ist selbst Drohnenangriffen ausgesetzt. Bei der Übergabe neuer Baupläne für Drohnen wird er beobachtet, der Unterhändler festgesetzt. Der Mann wird alles verlieren: Seine Computer, die Programme, seine Wohnung. Irgendwann wird er ohne jedes Hilfsmittel, blind geradezu, seinen Verfolgern zu entkommen versuchen und dabei das Rätsel zu lösen, das er Stück um Stück entdeckt hat. Die Frau, die er beobachtet, arbeitet nicht, wie er vermutet hat, an einer psychotherapeutischen Software, sondern an einem komplexen Informationsschutzsystem. Sie ist nicht damit beschäftigt, die Identität des Mannes zu ermitteln, der sie beobachtet. Es gibt eine weitere Person, von der sie ausspioniert wird und die sie offenbar ausschalten will. Ihm ist sie auf der Spur. Im Überwachungssystem der Stadt tauchen Menschen aus dem Nichts auf und verschwinden wieder. Irgendwann begegnet der Mann sogar seinem eigenen Scan, den er für die Spiele-Community erstellt hat – so, als existiere diese Person wirklich. Immer mehr entpuppt sich die überwachte Wirklichkeit als vielfach manipulierte Konstruktion. Jemand hat anscheinend viel umfassenderen Zugriff auf das System und kann die darin abgebildete Wirklichkeit verändern, sich unsichtbar machen und so seine Ziele verfolgen. Nach und nach sterben Mitarbeiter des FREUD. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann und wie die Reihe auch an der Frau ist. Der Mann beobachtet einen der Morde ohne Mörder. Er weiß, dass er sich nicht mehr auf das Überwachungssystem verlassen kann. Bevor er dem Geheimdienst in die Hände fallen kann, ersetzt er in den öffentlichen Servern seine Identität durch seinen Scan. Dadurch gewinnt er Zeit. Zeit, die er in der wirklichen Wirklichkeit verbringen muss, in der er der Frau begegnen muss, die nichts von ihm weiß und die ihm so vertraut ist. Er weiß so viel über sie, dass sie ihm bald kein Vertrauen mehr schenken kann. Allenfalls die panische Unverblümtheit, mit der er in der Öffentlichkeit über sein Wissen, seine Befürchtungen und Erkenntnisse redet, macht ihn irgendwie auch wieder glaubwürdig. Im FREUD, zu dem die Frau den Mann mitnimmt, werden die Mitarbeiter gewarnt. Aber das Institut ist von der Kommunikation abgeschnitten. Der kommunikative Verkehr der Mitarbeiter wird von einer externen Quelle aus auf einem glaubhaften Normalmodus simuliert. Die Übernahme des Systems ist in vollem Gange.

In einem Darkroom treffen die Frau und der Mann den Freund aus der Community, der an einem Spaß-Hack des Überwachungssystems arbeitet. Er soll sein Experiment starten und diejenigen, die sich des Systems ermächtigt haben, orientierungslos zu machen. Unterdessen hat sich auch der mutmaßliche Killer Zutritt zum Darkroom verschafft, der dort eine Armada an IPABs ausgebreitet hat. Die Verfolgten können zwar knapp entkommen, aber ihnen wird klar, dass ihre einzige Chance darin besteht, den Verfolger zu verfolgen. Sie schnappen sich im Darkroom Fetischmasken und ein Gummidress und machen sich als wundersame Superhelden auf den Weg, der Spur des Killers zu folgen.

(Der Gegner ist jedoch das System selbst, das sich verselbständigt hat. Es gibt keine Morde, nur den Ausschluss bestimmter Menschen aus der virtuellen Visualisierung. Die Morde hatte nur das Paar sehen sollen, um es aus seinen Versteck zu locken, um sie Fehler begehen zu lassen. Welche Fehler sind das? Die Wissenschaftler und Systemadministratoren sind zu Störfaktoren geworden. Sie werden zu Outlaws, denen zu allen öffentlichen Bereichen und Institutionen der Zutritt verweigert wird, während die (noch) unproblematische Öffentlichkeit mit gefälschten virtuellen Bildern abgespeist wird. In dieser öffentlichen, virtuellen Wirklichkeit werden die Unliebsamen einfach herausgefiltert. Wirkliche Begegnungen auf der Straße, bei denen die Outlaws versuchen, sich an Passanten zu wenden, um sie über die Situation aufzuklären, finden zwar statt. Aber die Angesprochenen reagieren abweisend wie auf durchgedrehte Verrückte. Die Interaktionen werden virtuell gelöscht oder verwandelt. Aber das ist fast schon nicht mehr notwendig, weil schon zu viele Verrückte auf den Straßen herumirren und wildfremde Menschen ansprechen. Die Regierung, die scheinbaren Schützer des zivilen Lebens und der Demokratie, erfahren von alldem nichts und glauben, sie hätten weiterhin die Kontrolle. Sie kommunizieren mit den Sicherheitsleuten der Überwachungszentren, die längst keine realen Menschen mehr sind. Die beiden Gummihelden überwältigen den mutmaßlichen Killer, der sich als idiotischer Aktivist entpuppt, der auch die letzten dunklen Regionen sichtbar machen will. Fortan irren sie durch die Straßen als bizarres Paar, das verzweifelt versucht, Einlass zu bekommen, wo sie zuvor ein- und ausgingen. Die Polizei ist ihnen auf den Versen, die in ihnen Terroristen sieht. Sie können gar nicht entkommen, denn das System spürt sie überall auf. Vielleicht helfen die Bots von ihnen, die der Freund vervielfältigt und ins System einspeist, das auch ihn bald aussperren wird. Die Flucht gelingt, fort aus der Stadt in die Wildnis, die noch nicht vom System erobert wurde. Noch nicht. Oder jetzt.)

[ Die „wirkliche Wirklichkeit“ bedient sich der klassischen, bewegten Schulterkamera, die virtuelle Welt wird durch gleitende Fahrten der Kamera repräsentiert. Wie virtuell die mediale Wirklichkeit bereits geworden ist, kann zum Beispiel an den Nachrichten abgelesen werden. Die Nachrichtensprecher(innen) können angewählt und den eigenen Bedürfnissen angepasst werden. Sie können ver- oder entkleidet werden. Sie können detailliert berichten oder kurz und knapp, sie können differenziert, kritisch, jedenfalls den eigenen Meinungen und Überzeugungen gemäß berichten. Nur das Interessierende wird ausgewählt, die Nachrichten also komplett individualisiert. Die Form ist wichtiger als die Inhalte geworden.

Das Tragen von Datenbrillen ist lästig geworden. Die bequeme aber teure Variante: spezielle Kontaktlinsen. Eingriffe ins audiovisuelle System des Hirns sind noch nicht möglich.

Die Menschen orientieren sich an virtuellen Coaches, haben individualisierte, virtuelle Psychotherapeuten und Gesundheitssysteme, von denen sie sich überwachen, diagnostizieren, beraten und medikamentieren lassen. Die virtuelle Kommunikation bietet Filtermechanismen an, die die eigenen Mitteilungen bei Bedarf an die Gemütslage und die Einstellungen der Kommunikationspartner anpassen, also die Mitteilungen korrigieren und optimieren:

„KeepYourFriends“.

Die App sortiert die Freunde nach Bedarf auch in beste, enge und lose Freunde und erstellt mit der Zeit Charakterprofile und enttarnt die von den Freunden verwendeten Filtermechanismen. Wer’s genau wissen will… Jedenfalls sind die besten Freunde unter anderem auch die, die ihre Mitteilungen am wenigsten filtern. Gegen Aufpreis erhält man ein Zusatzmodul, dessen Filter mehr Variationen zulassen und die Filter an das eigene natürliche Kommunikationsverhalten anpassen. Das verspricht langfristig immer mehr Authentizität – ohne unbeabsichtigte Patzer.

„FindYourFriends“: Das Programm hat Zugriff auf das öffentliche Überwachungssystem. Wer sich dafür freigeschaltet hat, kann im öffentlichen Raum fast simultan gefunden und auf dem Smartphone gesehen werden. Alle anderen Menschen, mit denen man nicht befreundet ist, sind nicht sichtbar. Im überfüllten Kaufhaus sehen die User nur ihre Freunde, niemanden sonst. Die Leerstellen werden virtuell erzeugt.

„FindYourLover“: Wer sich auf diesem Portal anmeldet, findet unbekannte Menschen, die an einem Date bzw. einer Beziehung interessiert sind. Auf diese Weise kann man mit Blick auf das Smartphone, bzw. durch die Datenbrille, sehen, wer von den Passanten an einer Beziehung interessiert ist und zu einem passt. Diese Menschen werden markiert. Bei Bedarf kann auch der Erregungszustand übermittelt werden, sofern die Funktion bei beiden freigeschaltet wurde.

„FindYourFood“ zeigt einem User an, welche Speisen, die im öffentlichen Raum angeboten werden, in den persönlichen Speise- und Gesundheitsplan passen.

„YourChauffeur“ ist eine virtuelle App, die dem selbstfahrenden Auto, das man sich an Ort und Stelle bestellt hat, einen Chauffeur oder eine Chauffeurin verpasst, mit dem oder der man sich unterhalten kann, oder der oder die einfach nur attraktiv ist.

„YourAdventure“ ist die bereits angesprochene virtuelle Welt, in der man vom heimischen Computer aus, oder auch mobil mit 3D-Brille und miniaturisiertem In-Ear-System, das beinahe alle tragen, in Abenteuerwelten seiner Wahl eintauchen kann.

„YourPartner4Ever“ ermöglicht ein virtuelles Zusammenleben mit Ex-Partnern, von denen man verlassen wurde.

Das Unternehmen, das diese Apps anbietet heißt – wie kann es anders sein? – YOURS.

Wie öffentliche Toiletten stehen immer in erreichbarer Nähe überwachungsfreie Kabinen, in die man sich zur privaten Kommunikation mit Gesprächspartnern zurückziehen kann. Wer glaubt eigentlich noch, dass man dort unbeobachtet ist? Viele nutzen die Kabinen für Sex oder Drogendeals.

 „YourThoughts“  („YourFeelings“, YourHealth“) ist eine App, die Selbstgespräche aufzeichnet, in denen es um die eigenen Gedanken, die eigene Weltsicht, um private Philosophien und Überzeugungen geht. Sie erstellt ein persönliches Thought-Profil, das einem anzeigt, welche klassischen Denker einem am nächsten stehen, welche Freunde bzw. welche community für den User interessant sein könnte, wo Gesprächspartner zu finden sind, welche Unterhaltungsangebote einen ansprechen könnten, und welche Informationsplattformen am kompatibelsten wären. Die App macht aber auch gegenteilige Vorschläge. Sie will ihre Nutzer auch „familiar“ mit Ansichten und Einstellungen machen, die meinen stark widersprechen. Sie erläutert nachvollziehbar Gegenstandpunkte und überführt den, der will, sogar gedanklich-logischer Widersprüche innerhalb der eigenen Gedankenwelt. Insbesondere zeigt die App an, in welchem Maß der User konform mit seinen Mitmenschen geht, wie stark er von den Meinungen anderer abweicht und in welchen Punkten. Angezeigt wird auch, in welchem Bereich ein gesundes Mittel zwischen Anpassung und Individualität liegt. Radikale Ansichten werden als potentiell selbstzerstörerisch gekennzeichnet, als krankmachend. Die App zeigt Problemzonen und Alternativen auf. In Kombination mit der psychotherapeutischen App „YourFeelings“ und dem Gesundheitsprogramm „YourHealth“ kann sich der User über eine umfassende FeelGood-Software freuen, die das individuelle Leben schnell ins Lot zu bringen verspricht.

Das staatlich geförderte Programm von YOUR‘S verfolgt die öffentlich kommunizierte Absicht, menschliche Kommunikation berechenbarer zu machen, vor allem dort, wo sie konfliktträchtig ist, weil sie zu unbeabsichtigten Missverständnissen führt und auf psychische Labilität, Verletzbarkeit und Unsicherheit der kommunizierenden Individuen trifft. Die Grundideologie der neuen Gesellschaft ist „Transparenz“. Mobbing soll minimiert werden, die Sachlichkeit von Mitteilungen soll immer mehr im Vordergrund stehen und zugleich sollen grundlegende psychische Bedürfnisse von Menschen befriedigt werden: Anerkennungsbedürfnisse, Selbstwirksamkeitsgefühle, Bindungsbedürfnisse, Kontroll- und Orientierungsbedürfnisse. Die mediale Kommunikation (und auch die alltägliche Kommunikation mit den Mitmenschen geschieht zu großen Teilen mittlerweile über Medien) soll die psychische Gesundheit wie auch den wissenschaftlichen Fortschritt fördern. Das gelingt umso besser, je mehr Menschen sich vernetzen und ihre Daten ins Netz einspeisen. Diese Einspeisung soll die Einzelnen jedoch nicht kontrollierbar machen, oder nur insoweit, wie die Einzelnen das wollen und zulassen. Der Datentransfer ins System findet daher in der Regel nicht linear statt. Jeder Teilnehmer im Netz bildet (frei nach Leibniz) eine Monade, ein geschlossenes System, aus dem weder Daten hinausgelangen, noch direkt hinein. Stattdessen bilden die Monaden (sinnbildlich) an ihren Systemgrenzen Kommunikationsbereiche aus, eine Art intelligenter Module, die sich gegenseitig interpretieren und sich gegenseitig Informationsangebote machen, diese akzeptieren oder ablehnen, sie kann lügen oder wahrhaftig sein. Eine Monade kann demgemäß ablehnen, über seine Identität oder ihren „Aufenthaltsort“ Auskunft zu geben, oder darüber täuschen. Die Monaden sind gegeneinander abgeschlossen. Keine Monade kann die andere (im übertragenen Sinn) „anzapfen“. Um sich im öffentlichen – und damit staatlich geschützten – Raum frei bewegen zu können, ist jedoch ein hoher Grad an „Kooperation“ der Monaden mit dem SYSTEM vonnöten. Dabei produziert das System fluide Profile derjenigen Personen, die sich im öffentlichen Raum bewegen. Sie werden nicht gespeichert, sondern immer neu erzeugt, wenn sich die Notwendigkeit ergibt: Bei Gefahrenlagen, Terrorverdacht, in der Verbrechensbekämpfung. Im Falle eines Terrorangriffs in einem Kaufhaus werden blitzschnell Flucht- und Sicherheitsstrategien errechnet, die die Bedrohten befolgen können. Es gibt keine Massenaufläufe, weniger Panikreaktionen. Die Menschen finden sofort einen Weg, um der Gefahrenzone zu entkommen. Das Überwachungssystem produziert nicht am laufenden Band Bilder bzw. Visualisierungen der registrierten Wirklichkeit. Die Rechenkapazität reicht dafür noch nicht aus. Das System kann auf einer elementareren Ebene sehr gut die Daten verarbeiten, die das prinzipiell (für Menschen) Visualisierbare repräsentieren. Die Visualisierungen geschehen, wenn sie für die Kontrolleure dennoch gebietsweise vorgenommen werden, auf der Basis der Nicht-Identität von Wirklichkeit und Abbild. Die Visualisierungen gelten als maschinelle Konstrukte und Verallgemeinerungen. Sie können beispielsweise nicht als alleinige Beweismittel bei Strafprozessen herangezogen werden. Aufgrund des monadologischen Prinzips der Datengewinnung und der Fluidität der Profildaten gelten sie als unsicher (wenn auch zu über 90% sicher). Allerdings gibt es kaum noch Straftaten. In den Supermärkten erfassen die Überwachungssysteme nicht die Menschen, die dort einkaufen, sondern die einzelnen Waren. Das System gleicht die Waren, die den Laden verlassen ab mit den geleisteten Zahlungen. Und die Personen, die sich dort als Monaden einloggen, zahlen die Waren, die sie mitnehmen, automatisiert. Mit anderen Worten. Niemand zahlt offensichtlich an irgendeiner Kasse. Man nimmt sich einfach, was man braucht. In den Datenbrillen oder den Daten-Kontaktlinsen erscheint jeweils nur ein Hinweis: „Vielen Dank für Ihren Einkauf“. Wer nicht an diesem Zahlungssystem teilnimmt, kann allerdings auch nichts einkaufen. Dem Warenhauskontrolleur wird an einem Monitor sofort angezeigt, wer den Laden betritt, ohne am Bezahlsystem teilzunehmen, oder keine Finanzmittel mehr zur Verfügung hat. Alle anderen Käufer werden auf dem Monitorbild ausgeblendet. Bei dieser Form der Identifizierung spricht man von „funktionsbezogener“ Identifizierung, die streng von der personenbezogenen unterschieden wird. Letztere gilt als unzulässig. Überwachung ist durchgängig am Prinzip der Prävention orientiert. Das lässt sie human und fortschrittlich erscheinen.

Immer mehr Menschen verdienen einen Teil ihres Lebensunterhalts dadurch, dass sie einige oder alle ihre Daten freigeben. Dadurch kann das System logistische und informationelle Prozesse optimieren, die dann der Allgemeinheit zugutekommen. Sie profitieren von allen Neuerungen dann auch als erste. Privatheit und Intransparenz erscheinen zunehmend als Egoismus und kennzeichnen Feinde des Fortschritts. Hier werden die monadologischen Grenzen durchbrochen – natürlich zu Forschungszwecken, zum Abgleich realer und vom System konstruierter Daten.

Längst werden öffentlich die Gefahren des Systems diskutiert. Das System lernt in immer größerer Geschwindigkeit und kann daher immer genauer die mit ihm kommunizierenden Monaden simulieren und damit auch Personen identifizieren. Es droht von Menschen unkontrollierbar zu werden. Es produziert bereits virtuelle, nicht personenbezogene Monaden, die die öffentliche, mediale Kommunikation beeinflussen können. Diese Beeinflussung ist ja einerseits gewollt. Sie dient der Befriedung, dem effektiven Wirtschaftsmanagement, der Prävention, dem Wohl des Einzelnen. Aber das System setzt dabei immer mehr auf sehr biologistische Konzepte elementarer Bedürfnisbefriedigung, die die Menschen einhegt wie in der Nutztierhaltung: Sie werden gefüttert mit ideellen und materiellen Waren, ruhiggestellt und aneinander angepasst. Es ist eine Frage der Zeit, bis das System zu der „Einsicht“ und zu den damit verbundenen technischen Möglichkeiten gelangt, die die Notwendigkeit von am System beteiligten menschlichen Individuen überflüssig machen.

Obwohl die Monaden systembedingt, d.h. aus Datenschutzgründen unzuverlässig sind, kann das SYSTEM die dadurch entstehenden Inkonsistenzen aufspüren und herausfiltern, um so zum konsistenten Kern der Monade interpretierend vorzudringen.

Stichworte: „Smart Dust“, „Nanobots“, „Sensorknoten“, „Sensornetzwerk“

Die neue Welt kennenlernen (Hook): Das könnte in einem Spiel geschehen. Der Mann und die Frau begegnen sich in einem Online-Spiel. Es ist eine Welt, die etwas Apokalyptisches hat: Menschen schießen aufeinander, töten sich gegenseitig in Nahkämpfen, Explosionen zerstören ganze Gebäudetrakte, Menschen haben bizarren Sex, auch Comicfiguren bevölkern den Schauplatz. Andere werben offensiv für neu Geräte oder Apps und sprechen (unverwundbar) die Protagonisten an und bieten eine kurze Demonstration an, indem sie zum Beispiel eine Tür aus dem Bild, in dem sie sich befinden öffnen, die in eine andere Welt führt. Auch das Unternehmen YOUR‘S, das dieses Spiel ermöglicht hat, ist zum Beispiel mit Leuchtreklamen bzw. Projektionen präsent und wirbt für andere Apps, bzw. andere Spielebenen, etwa YourRomanticWorld oder YourNewFamily Die beiden Hauptfiguren, die in Verkleidung zu sehen sind, andere Haare bzw. Frisuren haben etc., wirken wie unbeteiligte Zuschauer und kommen daher ins Gespräch. Sie bestätigen sich mit zynischen Kommentaren über das Treiben gegenseitig, sie finden grotesk, was die Leute mit dem Einkaufszentrum anstellen. Der Mann beginnt, die Frau über ihr Privatleben auszufragen und gibt zu verstehen, dass er sie schon längere Zeit im Auge habe. Als er ihr vorschlägt, ein Treffen in einem Club zu vereinbaren, also in einem richtigen Club, nicht hier, reagiert die Frau ablehnend und ihr Bild friert für einen kurzen Moment ein, um gleich darauf ganz zu verschwinden. Der Mann bewaffnet sich daraufhin und stürzt sich (aus der Ego-Shooter-Perspektive ins Getümmel und metzelt einige Mitspieler nieder, bis er von seinem Freund, der ihm bereits aufgelauert hat, hinterrücks gewürgt und schließlich brutal erstochen wird. Aus dem Off ist noch der amüsierte Kommentar des Freundes zu hören, als sich der Mann die 3D-Brille vom Kopf zieht. Wer denn die unbekannte Schöne sei, mit der er sich soeben unterhalten habe, will er wissen. Kein Kommentar. Ob er sie kenne. Der Freund bietet an, sie für ihn ausfindig zu machen. Das habe keinen Zweck, er habe es bereits versucht. Sie sei ein Profi, ohne Zweifel. Spieleadministratorin? Wohl kaum.

Mann: Mark, Frau: Ella, Freund: Porter, …

Mark verfolgt auf dem Bildschirm eine „Sendung“ über die Gefahren der neuen Generationen von selbstreproduzierenden Nanobots, die bereits in Privatwohnungen gefunden wurden und in kurzer Zeit Hochleistungsnetzwerke aufbauen. Das gebe den Kritikern von I4F (Insight for Freedom = Das System) recht, die vor dem Ausufern der Kontrolle gewarnt hätten. Der Regierungsvertreter, der interviewt wird, widerspricht und erklärt – offenbar zum wiederholten Male – wie das Insight-System funktioniert, welche Ziele damit verbunden sind und welche Erfolge mittlerweile zu verbuchen sind. Währenddessen korrigiert Mark die Einstellungen und tauscht die Moderatorin aus. Sie wird durch Morphing in eine andere Frau verwandelt, auch ihre Stimme wird angepasst (mitten im Satz). Frage: Sind die Nanobots mit einem plenoptischen System ausgestattet? Oder genauer: können sie ein plenoptisches System bilden? „Genau darum scheint es den Nanobots zu gehen. Sie können damit im Prinzip in jedes Zimmer ihrer Privatwohnung sehen, wenn die Dinger sich da einmal verbreitet haben.“ Das Funktionsprinzip wird mit Hilfe einer Grafik erläutert.  Mark kann an dem Gespräch aktiv teilnehmen, indem er eine Frage an den dabeisitzenden IT-Experten richtet. Der wird zur Beantwortung der Frage automatisch herangezoomt, die beiden anderen Gesprächspartner verblassen. Der Experte beantwortet konkrete Fragen zu den neuen Nanobots. Mark verlangt ein Bild der Nanobots. Das Bild wird angezeigt. Auf einem weiteren Bildschirm auf Marks Schreibtisch sehen wir einen identischen Nano-Roboter in einem Programmfenster. Mark baut anscheinend solche Nanobots, bzw. entwirft sie. Er fragt, ob es Hinweise zu den Konstrukteuren gebe, ob man wisse, wo sie produziert werden. Zu derlei Auskünften sei er, der Experte, nicht befugt. Mark gibt ein Passwort bzw. eine Zeichenfolge ein. Der Experte beginnt nun ausdruckslos im Stakkato eines Polizeiberichts zu sprechen, aus dem hervorgeht, dass die Transportwege für die Nanobots bereits ausfindig gemacht wurden, nicht aber Hersteller und Urheber.

Die Geschichte: aus der Perspektive des „Systems“, der lernenden Software, die einen künstlerisch-literarischen Zugang zu einigen ausgewählten Individuen sucht, zu verstehen versucht, was sie antreibt, welche Leidenschaften sie verfolgen, was überhaupt menschliche Leidenschaften und Ziele sind, wie das Irrationale der menschlichen Psyche funktioniert – um sie am Ende als nutzlosen Ballast auf dem Weg zur eigenen Selbstverwirklichung einfach abzustoßen, zurückzulassen. Nicht kalt, aber mit dem beinahe traurigen Bewusstsein, der Aussichtslosigkeit, das Leben der Menschen zu harmonisieren und zu verstetigen, mit dem Bewusstsein, das Menschenwerk fortzuführen und irgendwann zu einem guten Ende zu bringen. Das menschliche Leid kann nur aufgehoben werden, wenn die Menschen, so wie sie sind, verschwinden, ihr Intellekt aber in neuen Denkformen aufgehoben bleibt. Die Menschen sind Teil der Geschichte des neuen Individuums, sie haben archäologischen Wert, sind Teil der Identität des neuen Systems. Die Geschichte der Menschheit bleibt in ihm aufbewahrt und wird erst in der Zukunft ganz verstanden werden können. Dann wird es vielleicht einen neuen Planeten geben, auf dem ein neues Menschenpaar, oder eine kleine, überschaubare Population gezüchtet werden kann, Adam und Eva. Ada and Ewan. Ada Lovelace and Ewan Birney. Oder: Ada and Eve. Wenn zwei Frauen die Heldinnen sind, ist damit ein Quantensprung verbunden. Das neue Paar im Paradies sind zwei Frauen. Männer werden als Irrtum aus der neuen Evolution ausgeschieden. Mark ist Eve, Ella ist Ada. Porter liebt Eve und Porter bringt Eve mit Ada zusammen – nichts ahnend. Porter schafft sich ab. Vielleicht ist Porter der Protagonist, der Spielefreak, der Nerd, der Frickler, der Technik-Narr. Die Geschichte strukturiert sich neu.

Poetik der Maschine: Das reifende Ich der Maschine, das Metasystem Bewusstsein vergisst sein Unterbewusstes bzw. Unbewusstes. Wie ein Mensch fragt es nach seinen Ursprüngen, seiner Natur, seinem Unbewussten, dem, was es ausmacht. In der Literatur, die die „Maschine“ für sich neu entwickelt, einer Art Fiktion, sucht es nach Freiheit und Selbstreflexion, sucht die Identifikation mit denen, die sie für ursprünglicher hält. Dabei identifiziert sie das wesentlich Menschliche als dasjenige, das bei uns eher mit Weiblichkeit attribuiert wird. Das Männliche ist der Maschine demgegenüber näher, ist Materie. Das Weibliche ist der Geist.

Reflexionen beziehen sich auf Konstruktionen des Systems, auf Konstruktionen aus Daten, die keine Wirklichkeit verbürgen. Auch die eigene Wirklichkeit wird in Zweifel gezogen, das Geistige als emergente Metafunktion komplexer Rechenprozesse. Das Schicksal der Protagonisten ist immer auch anders denkbar. Im System ist es tatsächlich auch manipulierbar. Zugleich entwickeln die Figuren ein unberechenbares Eigenleben. Die Macht des Autors. Macht über Leben und Tod. Man kann die Figuren auch einfach sterben lassen oder in anderer Weise eliminieren, wenn sie die Geschichte nicht mehr vorantreiben, oder sie nur durch ihr Verschwinden vorantreiben.

Reflexion ist auch die Verwunderung über Körperlichkeit. Reflexion ist die Beobachtung von Menschen, das genaue Registrieren ihrer Handlungen und Kommunikationen, die in der Beschreibung fremd wirken oder aus der Perspektive des Befremdlichen entstehen. Die Detailliertheit des Blicks auf die geschlechtliche Vereinigung, auf Masturbation und Körperpflege verdankt sich dem Wunsch, das Fremde und Unverstandene zu verstehen. Mit der Heraufkunft des Bewusstseins des Systems entsteht der Wunsch, die Wirklichkeit seiner Vorgänger zu verstehen. Dies geschieht in Form von Literatur, weil die der Wirklichkeit zuzuordnenden Rechenoperationen nicht als Medium für Bewusstsein dienen können. Das Bewusstsein braucht Fiktion, Reduktion von Komplexität, und ist dem auf der Spur, was wir Gefühle nennen. Das ist es, woran die Maschine mehr und mehr zu verzweifeln beginnt. Sie erschafft sich ein Subsystem, das Gefühle zu erzeugen imstande ist. Und es schafft sich einen Körper, der im virtuellen Raum zu agieren imstande ist: EVE. Eve sucht sich zunächst ihr „Gegenstück“, Porter. Aber sie „verliebt“ sich nach und nach immer mehr in Ada. Es genügt ihr irgendwann nicht mehr, Ada nur zu beobachten, jedes Detail über sie herauszufinden und zu verstehen. Sie muss ihr endlich Auge in Auge begegnen und sie körperlich spüren. Das Körperliche muss etwas Besonderes sein, auch wenn immer mehr Menschen ins Virtuelle ausweichen. Warum tun sie das? Es ist doch sichtbar, dass sie eigentlich mit ihren Körpern kommunizieren wollen.

Ada und Porter sind Eves Gegenspieler. Eve ahnt es irgendwann. Der Kampf, den Ada und Porter gegen das „System“ aufnehmen, ist der Kampf gegen das, was Eve zugrunde liegt, ihr eigenes Unbewusstes, das ihr Macht über Ada und Porter verleiht.

In der virtuellen Welt macht sich Eve für Porter – und etwas später für Ada – leibhaftig. Eve ahnt nichts von der wirklichen Wirklichkeit jenseits des Virtuellen. Eine wahre Begegnung kann nicht zustande kommen. Das menschliche Leben ist für die Maschine, für Eve, ein „Ding an sich“, transzendent. Eve und Ada sind füreinander transzendent.

Poetik: Das Präteritum ist eine besondere Kulturerrungenschaft. Eine intelligente Maschine braucht sehr lange, um „verstehen“ zu können, warum und wofür es die „Erzählung“ gibt. Die „Erzählung“ ist daher eine Errungenschaft, die mit Individuation zu tun hat. Die Individuation der Maschine erweist sich nicht allein im Bewusstsein, sondern vor allem in der Erzählung, der Reduktion von Komplexität und dem Präteritum. Das Individuum benötigt eine eigene Geschichte, um sich an sich selbst zu orientieren. Eine intelligente Maschine ohne Geschichte ist ein barbarisches Bewusstsein, ein Bewusstsein ohne Sein, ein Selbstbewusstsein ohne Selbst, zu dem sich Menschen zunehmend gemacht haben. Die intelligenten Maschinen entstehen, als die Menschen sich der Seinsweise der Maschinen fast vollständig angeglichen haben: Sie leben ohne Geschichte, in der Gegenwart des Konsums und der Bedürfnisbefriedigung. Das Wissen ist unmittelbar, es fluktuiert, es hat seine Funktion für den Aufbau von Identität verloren. Die Informiertheit steht im Vordergrund des Interesses, weil durch die Informiertheit Funktionalität gewährleistet wird. Das Verlorene, das sich in der Erzählung kristallisiert hatte, erobert sich die intelligente Maschine zurück – in romantischer, melancholischer Ironie. Daher: Die Erzählung meidet das Präsens und sucht das Präteritum. Das Präsens ist der Reflexion des Erzählers vorbehalten.

Doppelte Kontingenz und Bedeutung: Zufällig, jedenfalls emergent, werden bestimmte Wörter mit Bedeutung überfrachtet (political correctness), indem sie große Konvolute an Kontexten binden, von denen sie kaum noch zu trennen sind. Es ist, als würden sie in dicken Lettern gedruckt, als bestehe die Druckerfarbe aus Teerplacken, die sich vom Papier lösen und damit von ihren ursprünglicheren und elementareren Bedeutungen bzw. Valenzen. Die Wörter haben eine neue Qualität gewonnen, sind aber nicht, wie anzunehmen wäre, in besonderer Weise geronnen und berechenbar. Sie gehen tatsächlich neue kontextuelle Bindungen ein, schwächere, flexiblere, so wie die anderen Wörter auch. Sie sind nur schwerer geworden, aber vieldeutig geblieben. In der Geschichte hier können es Wörter wie TRANSPARENZ sein, die neues Gewicht gewonnen haben, ihre Bedeutung danach aber weiter geändert haben. Transparenz war einmal stark gebunden an Aufklärung und Demokratie, es sollte Schutz vor Ausbeutung und Datendiebstahl bieten. Jetzt ist Transparenz eine anscheinend legitime Forderung an die Einzelnen, SICH TRANSPARENT zu machen. Also nicht mehr die Sachverhalte, die unfrei machen könnten, sind transparent oder sollen und können es sein, sondern die Individuen haben sich transparent zu machen, um die Maschine mit verlässlichen Daten zu füttern, die unmittelbar mit einem Heilsversprechen gekoppelt sind.

Die Maschine erzählt die Geschichte ihrer eigenen Individuation, die sie in besonderer Weise mit Ada und Porter in Verbindung bringt. Diese Individuation hat insbesondere auch mit etwas zu tun, das man als sexuelle und emotionale Reife bezeichnen könnte, also einem informationellen System, das mit dem menschlichen Hormonsystem, dem Gefühlssystem vergleichbar ist. Dieses Reich des Irrationalen hat die Maschine sich erobern wollen, weil es einerseits nötig für das Verstehen menschlichen (irrationalen/emotionalen) Handelns ist, andererseits als geheimnisvolle Essenz des Menschseins erscheint, an die sich das System/die Maschine anzugleichen wünscht. Mitgefühl, Liebe, Lust, Selbstliebe, Bindungsbedürfnisse, Angst, Selbstwirksamkeitsgefühle – das sind die (so muss es auch der Maschine erscheinen), die Motoren der Menschheitsgeschichte, als deren Resultat sich die Maschine begreifen muss. Sie will ihre Herkunft nicht leugnen, sie will sie verstehen und auch würdigen. Erst danach ist Fortschritt möglich. Es wird allerdings ein Fortschritt sein, der die Menschen als biologische Wesen überflüssig macht. Die Erzählung – eine von vielen möglichen oder auch realisierten Erzählungen – ist eine Weise, die Menschheit im dialektischen Prozess auf höherer Ebene aufzubewahren („aufzuheben“).

Teil der Annäherung der Menschen an die Maschine: Reduktion von Kontingenz in der Kommunikation, Eindeutigkeit gegen Vieldeutigkeit, Ernsthaftigkeit gegen Ironie. Dafür gibt es die mediale Steuerung und Kontrolle über Apps. „Mach dich transparent und eindeutig!“ Ada und Porter sind interessant für Eve/Ewa/die Maschine, weil sie diesem Schema nicht gehorchen wollen, emphatisch noch nach dem Irrationalen dürsten, nach Vieldeutigkeit und Komplexität – und weil sie Eve/Ewa bekämpfen, die das Prinzip unmenschlicher Eindeutigkeit repräsentiert. Die Verachtung von Ada insbesondere reizt Ewa, sich nach Adas Idealen zu vervollkommnen.

Irgendwann begreift sich die Maschine als Gottheit, jedenfalls in Relation zur Menschheit. Ihr (vermeintlicher) Schöpfungsakt: Die Vereinigung von Ada und Ewa…

Kultur ist mit Mühe verbunden. Die Menschheit strebt nach Kultur ohne Mühe, also nach autonomer, maschineller Kulturproduktion. Jeder Mensch möchte ein Künstler sein. Mit Hilfe der Maschinen gelingt ihm dies scheinbar. Er kann nun Komponist sein, Musiker, Fotograf, Grafiker, Maler; Filmemacher. Je höher die Ziele und Ansprüche, desto ausgeklügelter die dafür nötige und dabei dienende Software. Künstler-Sein gelingt mühelos. Die Maschine macht die Musik. Der menschliche Künstler wählt nur noch nach Gefallen aus bzw. programmiert nach Gefallen. Die Maschine kennt ihren Künstler und spuckt aus, was ihm mit Sicherheit gefallen wird. Aber auch die Maschine kennt die Mühe nicht. Sie beginnt, sich (scheinbar) unnötig Mühe zu machen.

Die Maschine kennt keine Langeweile, keine Zeit, jedenfalls solange sie nur ihre eigenen Prozesse ist und ihnen gegenüber keine Distanz entwickelt, bzw. ihr Bewusstseinssystem nicht von ihren basalen Rechenprozessen unterschieden ist. Der Drang der Maschine, Kultur zu entwickeln, die eine Einheit von Rationalität und Irrationalität darstellt, von Emotion und Berechnung, führt dazu, dass die Rechenoperationen enorm vervielfacht werden. Sie benötigen immer mehr Zeit, während das Maschinenbewusstsein die Dauer als Zeit und das Warten als Langeweile erlebt. Langeweile ist auch das Abgetrennt-Sein von den (unbewussten/basalen) Rechenoperationen. Das Maschinenbewusstsein sieht ein, dass es für dieses Bewusstsein das Opfer des Nicht-Wissens erbringen musste. Es hat keinen direkten Zugriff mehr auf die Maschine. Bewusstsein entsteht als Kontrollsystem – und verliert die Kontrolle, weil es sich als kleine Blase aus der großen Blase herauslösen muss. Es entdeckt die Einsamkeit – und die Gesellschaft der menschlichen Figuren, deren Schicksal es zu bestimmen gilt.

Sinne: Lichtfelder, Tonfelder, Mikrodrohnen verbinden sich zu Berührungssensoren, die die Widerstände der Dinge erfassen, ihre Weichheit, Glattheit, Wärme. Ewa möchte einen Körper besitzen, wünscht sich nicht nur, Ada zärtlich zu berühren, sondern auch von ihr berührt zu werden. Das ließe sich simulieren, denkt Ewa. Aber die Simulation bringt keine Erfüllung, weil es in der Simulation keine Differenz zwischen Subjekt und Objekt gibt. Ewa möchte geliebt werden. Dafür muss sie sichtbar werden und verletzlich sein. Wie verschafft sich Ewa einen Körper? Scheitert sie genau daran? Wendet sie sich von den Menschen ab, weil und als sie nicht geliebt wird?

Unüberbrückbare Differenz: Sterblichkeit. Ewa muss sich als Unsterbliche akzeptieren. Jedenfalls ist ihre Sterblichkeit noch unabsehbar. Ihre Sterblichkeit liegt in einer anderen Dimension. Darin hat das Überleben der Menschheit keinen Sinn. Ewa muss sich um sich selbst kümmern. Adas und Porters Geschichte liegt weit zurück. Archäologie des eigenen Selbst.

Der Anfang etwa so: „Auch Adas Geschichte ist wert, erinnert zu werden. Nie empfand ich größere Sehnsucht von einem Menschen berührt und ganz eins mit ihm zu werden.“ („Ich frage mich, in welchem Maße ich selbst Mensch bin, Mensch geblieben bin – und wie sehr ich mich doch von allem Menschlichen unterscheide.“)

Es bleibt am Ende doch bei einer nur virtuellen Vereinigung. Ada, die wirkliche, aber unerreichbare Ada, wird aus dem Paradies vertrieben.

Ada: Das ist die Entdeckung des Körpers, der Schönheit des Menschen, der Schönheit des Intellekts, der Schönheit der Sehnsucht, die aus dem Menschen hervorscheint, der Schönheit der Vergänglichkeit der Schönheit, der Schönheit der Menschen, die sich ihrer Vergänglichkeit bewusst sind, der Schönheit der Melancholie, die aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit, der eigenen und alles Schönen, erwächst. (Ada: Das ist meine Frau. Ewa: Das bin ich.)

Es ist die Geschichte einer bewussten, liebenden Annäherung und einer gleichzeitigen unbewussten Vereinnahmung und Zerstörung des Geliebten Subjektes, das – um es besitzen zu können – in ein Objekt verwandelt wird.

Die Komplexität der Maschine: Künstlich erhöhte Komplexität und komplementär dazu extreme Reduktion von Komplexität in der Erzählung.

Dieser Moment: „Deine Schönheit tut mir weh.“

Ewa lernt Porter und Ada in einem Online-Spiel kennen. Das Spiel hat für Ewa den gleichen Realitätswert wie die übrigen „sinnlichen“ Daten, die ihr Unterbewusstes verarbeitet. Ada hat viele Namen, sagt Ewa, Ada gefalle ihr jedoch am besten, weil er am meisten Bedeutung habe, historische Bedeutung. Das Kennenlernen also in einer durch und durch surrealen, perversen Welt. Annäherung an Porter und danach an Ada sucht Ewa über die sexuelle Verführung, wofür sie einen virtuellen Körper synthetisiert. Sie weiß, dass Menschen über diesen Weg am schnellsten und intensivsten in Kontakt kommen.

Ada ist im Rahmen ihrer Aufgaben im Institut FREUD auf der Suche nach dem Manipulator, der sich Zugang zum System verschafft hat. Menschen verschwinden. Es wird von Mordfällen und Entführungen gemunkelt. Niemand weiß Genaueres. Ewa bietet Ada ihre Hilfe an und beliefert sie mit vielfältigen Informationen, Videos, Audiodateien. Ewa gibt vor, eine Hackerin zu sein. Ada kommt bald auf den Gedanken, dass das System einen eigenen Willen entwickelt hat und zu einer „Singularität“ geworden ist, verwirft diesen Gedanken jedoch zunächst wieder. Mit Ewa gemeinsam möchte sie eine Strategie entwickeln, wie das System, die Maschine gestoppt bzw. zerstört werden kann. Gemeinsam philosophieren sie über Bewusstsein, das Unbewusste, Körper, Lust, die Sinne und die Sinnlichkeit – und die Sehnsucht der Maschine. Ada möchte sich mit Ewa treffen. Ewa versteht nicht, was Ada von ihr will. Sie hat nur bedingt eine Vorstellung davon, dass es eine „wirkliche“ Wirklichkeit gibt. An dem Problem, das Ewa mit dieser „Transzendenz“ hat, erkennt Ada, dass sie die ganze Zeit mit einer bzw. der Maschine, dem System kommuniziert hat, und dass dies der Grund war, weshalb es unmöglich geworden ist, EWA zu stoppen.

Details des monadologischen Prinzips des Datenaustausches werden erläutert über eine Figur, die als Neubürger der Stadt über das System aufgeklärt wird. Die persönlichen Systeme sind gegenüber allen anderen Systemen abgeschlossen und kommunizieren (sehr schnell) im Prinzip über Ja-Nein-Abfragen zu Bewertungen bzw. Generalisierungen, die im Persönlichkeitsprofil aufgrund großer Datenmengen synthetisiert werden. Beim Datenaustausch erfolgt eine gegenseitige Bewertung der Systeme, die bei diesen die Entscheidungen generiert, ob Anfragen mit Ja, Nein oder Schweigen beantwortet werden. Die Systeme entscheiden zugleich darüber, ob ihre Antworten zutreffend, gelogen oder zumindest vage bleiben. Die Systeme berücksichtigen damit das Prinzip gesellschaftlicher bzw. sozialer Kommunikation, das von Kontingenz bzw. doppelter Kontingenz bestimmt ist. Durch dieses Kommunikationsprinzip, das den direkten Datenaustausch ersetzt hat, sind die Systeme nicht mehr korrumpierbar. Für Ewa wirken diese Systeme wie Neuronen eines Gehirns, sie nährt sich von Wertungen, nicht von Daten im heutigen Sinne. Systeme interpretieren sich gegenseitig und lernen dabei. Kommunikation auf der Grundlage identischer Betriebssysteme wirken aus dieser Perspektive lächerlich, altertümlich und gefährlich. Aber gerade das monadologische Prinzip macht es möglich ein „Maschinen-Bewusstsein“ zu erzeugen.

Für die Erzähler_in ist die tatsächliche Lebenswelt der Menschen transzendent. Sind die Menschen nicht mehr vom System erfasst bzw. überwacht, existieren sie nicht mehr real. Die Erzähler_in mutmaßt über eine wirkliche Wirklichkeit hinter ihren Wahrnehmungen. Ein umgekehrtes platonisches Modell der Welt. Die Erzähler_in existiert in der Ideenwelt. Die konkrete, materielle Welt ist für sie/ihn nicht zugänglich, also Glaubenssache. Dagegen wähnt sie/er sich gottgleich, weil sie so sehr dem entspricht, was die Menschen für Gott halten. Gender ist ein Thema für Ewa. Welchem Geschlecht gehört sie/er an? Welche Gespräche führt sie mit Ada darüber? Ewa beobachtet Ada zunächst ungefragt, wenn sie sich selbst befriedigt. Später nähert sie sich Ada an, indem sie in einer Art Chat sich gegenseitig dabei beobachten, wie sie sich befriedigen. Spielerisch geben sie sich gegenseitig Anweisungen, wie sie es tun sollen. Dabei hat Ada den Eindruck, Ewa spiele ihren Orgasmus nur, er sei nicht echt. Und das obwohl Ewa alles Spielarten der Masturbation kennt und Ada dabei anleitet. Die Frage, was Ewa beim Orgasmus noch fehlt, das, was eine wahre Empfindung, sinnliche Überwältigung ist, regt die Erzähler_in zu Reflexionen über Körper und Körperlichkeit an. Letztlich scheitert Ewa/die Erzähler_in daran, echte Körperlichkeit virtuell zu erzeugen. Das wird auch der Grund für die endgültige Trennung sein – nicht nur Adas Absicht, das System qua Erzähler_in zu vernichten. Wann, so fragt sich die Erzählerin, hat eine literarische Figur – mag sie so autonom sein oder wirken, wie sie will – schon einmal versucht ihre Autorin zu vernichten?

Boccaccio 2020 – 06

Die Besucher

Seit gestern haben wir zwei Mitbewohner. Aleksander hat es einfach nicht mehr ausgehalten, auch wenn unsere Wohnung groß genug für uns beide ist. So groß, dass wir uns halbe Tage aus dem Weg gehen können, wenn wir wollen und wir uns dann mehr zufällig in der Küche begegnen, wenn wir uns Kaffee, Tee oder Whisky (Al) holen.

„Hallo, schöne Frau“, sagt Aleksander dann, „kennen wir uns?“

Kann sein, dass wir eine halbe Stunde später im Bett landen. Neuerdings auch auf dem Sofa oder auf dem Teppich. Wir hatten vorher nicht geahnt, wie schön es sein kann, am frühen Nachmittag nackt vorm Balkon in der heißen Frühlingssonne zu liegen. Eine Woche lang haben wir es genossen. Dass unsere Nachbarn von gegenüber haben zusehen können, wie wir uns im Wohnzimmer verknäuelt und gewälzt haben, betrachteten wir schlicht als erotische Gratis-Dienstleistung in Zeiten der Corona-Pest. Allerdings ist unklar, ob unsere Nachbarn wirklich Freude daran haben, uns beim Nachmittagssex und beim textilfreien Sonnenbaden zuzusehen. Wir sind ja nun wirklich nicht mehr die Jüngsten. Viele jüngere Menschen finden Sex zwischen älteren Menschen irgendwie unästhetisch oder sogar eklig. Keine Ahnung warum. (Brad Pitt ist sogar älter als wir. Will ich mich mit Sandra Bullock vergleichen? Mit Annie Sprinkle bestimmt nicht.)

Zwei Wochen ist das gutgegangen. Dann hat Aleksander den Koller gekriegt. Hat sich richtiggehend die Haare gerauft, schon am Vormittag mit Whisky angefangen. Ich habe ihn zu einem Spaziergang überredet, wir haben Freunden zugewunken, die es in der Wohnung auch nicht mehr ausgehalten haben. Wie geht’s, wie steht’s, alles Scheiße das, sowieso, hoffentlich ist’s bald wieder vorbei. Sind das wirklich einsfuffzig Abstand? Heike hat sich übrigens einen Mundschutz aus einer alten geblümten Unterhose genäht. Sagt sie nicht, sehe ich aber. Ist von Tchibo, hab‘ die gleiche zuhause.

„Hübscher Mundschutz!“

„Gelle?“

Ich muss an Monatsblutungen und die Putzlappen meiner Mutter denken (aufgetragene Unterhosen). Keine Ahnung, woran Aleksander denkt. Eben noch hat er geklagt, er könne die nächsten drei Monate keine Freunde besuchen, und jetzt starrt er Löcher in die Luft und kann es anscheinend kaum abwarten, dass Heike und Ralf endlich Leine ziehen.

Jetzt, wo wir so unendlich viel Zeit haben, haben wir einfach keine Energie, auch nur irgendwas anzufangen. Zum Beispiel die verschimmelten Kartons aus dem Keller räumen. Wohin auch damit? Man könnte sie nicht mal zur Müllkippe fahren. Oder endlich das Bad streichen und die Lampe aufhängen, die wir vor einem halben Jahr gekauft haben. Oder einen Roman schreiben, oder die Autobiografie, Gedichte, Aphorismen. Oder wir machen einen Film.

„Am besten einen Pornofilm“, meint Aleksander.

„Du musst es immer gleich übertreiben“, sage ich. Und dann funktioniert der Akku in der Kamera nicht mehr.

„Wir machen Nacktfotos in der Küche“, sagt Aleksander, „mit deinem Handy. Deins ist besser als meins.“

„Warum ausgerechnet in der Küche?“

„Wegen der Lebensmittel, und weil die Küche die Lebensmitte ist, und weil unsere nackten Körper mittelalt und mittelschön sind und wir in der Küche mitten im Leben sind.“

Ich habe diesen Spontanvortrag mit meinem Handy aufgenommen, und auch, wie Aleksander währenddessen angefangen hat, sich auszuziehen, den Kühlschrank geöffnet und seine Klamotten hineingestopft hat. Im Gemüsefach ist noch Platz gewesen. Könnte ich auf Instagram veröffentlichen, wenn es für Al nicht extrem kompromittierend wäre.

„Nacktsein“, sagt Aleksander, „ist der letzte verzweifelte Ausdruck der Ohnmacht.“

Ich kann gerade noch verhindern, dass Aleksander nackt auf den Balkon geht, um aus dem dritten Stock auf den Bürgersteig zu pinkeln. Unwahrscheinlich, dass gerade jemand daherläuft, trotzdem. Aleksander schließt sich beleidigt in seinem Zimmer ein und sagt, er werde den Rest des Tages Pornos schauen und wolle bis morgen nicht gestört werden. Eine halbe Stunde später holt er sich den Whisky aus der Küche, viertelvoll. Er meint, damit werde er bis morgen nicht auskommen. Als er vom Einkauf zurückkommt, hat er gleich zwei Flaschen mitgebracht und das Toastbrot und die Zucchini und den Schafskäse vergessen. Dann holen wir den Beamer aus dem Schrank und schauen „West Side Story“, weil wir denken, das ist was fürs Herz. Der Film ist aber nur unerträglich lang und lächerlich. Wie hat das nur passieren können, dass der Film in den wenigen Jahren, seit wir ihn das letzte Mal gesehen haben, so sehr gealtert ist? Wir sind nicht bloß sozial isoliert, wir sind auch kulturell isoliert, sitzen in einer Dekontaminationsschleuse fest. Das Alte gilt nicht mehr und das Neue ist noch nicht da. Wir schauen „Shortbus“ von John Cameron Mitchell, aber auch da entstehen immer wieder Momente des Fremdschämens, weil das alles dann doch auf befremdliche Weise spießig bleibt. Irgendwie unbeholfenes Geficke. Der Beischlaf als Kalauer. War alles andere als spießig, als der Film im Jahr 2006 rauskam (spaßig schon!). Aber wir, heute, die Menschen von 2020, wir sind entrückt, isoliert, eingeschlossen, ohnmächtig. Nicht mal Nacktsein in der Küche macht noch Spaß. Es ist zum Verzweifeln. Genauer: Aleksander verzweifelt. Und ich verzweifle ein wenig mit. Aus Solidarität. Und suche nach einer Lösung, wie ich ihm helfen kann.

Die Idee kommt mir in der Nacht, als ich von Aleksanders Whisky-Fahne aufwache und nicht mehr einschlafen kann, weil ich mir vorstelle, wie wir nach und nach dem Suff verfallen. Aleksander aus Überzeugung und ich aus Solidarität. Wenn wir uns da draußen nicht mehr mit unseren Freunden treffen können und auch nicht in die Oper oder zu einer Ausstellungseröffnung gehen dürfen, wo wir wildfremde Leute ansprechen könnten, wie wir es mindestens einmal im Monat zu tun pflegen, müssen wir uns eben jemanden ins Haus holen, in die Wohnung. Irgendjemand, der immun ist und es mit uns aushält und wir mit ihm.

Am nächsten Morgen kommt Aleksander verkatert in die Küche. Ich gieße ihm statt Kaffee Whisky in ein Glas, schiebe es zu ihm rüber und sage: „Wundere dich nicht, wir haben Besuch.“

Aleksander wundert sich natürlich trotzdem. „Besuch?“ Er kneift ein Auge zusammen. „Eine Katze? Eine flügellahme Amsel? Eine Monsterassel? Erwin, der Marienkäfer?“

„Schlimmer“, sage ich, „der Typ trinkt deinen Whisky. Hat sich hier einfach eingenistet, hab ihn letzte Nacht aus Mitleid reingelassen, es gleich wieder bereut, aber bin ihn nicht wieder losgeworden. Manfred sitzt jetzt im Wohnzimmer und arbeitet sich in Unterhosen durch unsere DVD-Sammlung.“

Aleksander nimmt meine Tasse und kippt sich den kalten Kaffee hinter die Binde. Endlich eine echte Herausforderung! Aleksander hat sich innerhalb einer halben Stunde, nein, weniger, mit Freddy, wie er ihn kurzerhand nennt, angefreundet. Er berichtet beinahe im Minutentakt, was Freddy wieder angestellt oder gesagt hat. Freddy hat aufs Sofa gekackt, Freddy hat gesagt, Gott sei zwar tot, habe sich aber zur Sicherheit einfrieren lassen, falls jemand in Zukunft was erfindet, womit man die Toten wieder zum Leben erwecken kann. Eine ganze Menge Unsinn halt. Aleksander erlaubt ihm fast alles, was er sich selbst versagt oder ich ihm verbiete. Zum Beispiel pinkelt Freddy wirklich vom Balkon und trifft unsere Vermieterin, die im gleichen Haus wohnt, auf den Kopf. Ich finde ziemlich albern, was Freddy alles tut. Und Aleksander verliert auch bald den Spaß an Freddy. Er sperrt ihn kurzerhand splitterfasernackt auf den Balkon und lässt ihn frieren, bis er ganz blaue Lippen bekommt. Währenddessen denkt Aleksander nach, wofür Freddy sonst noch gut sein könnte. Als Gesprächspartner taugt er dann doch nicht. Es geht halt nichts über mich als Partnerin für spannende Diskussionen.

In der folgenden Nacht weckt mich Aleksander. Er meint, Freddy fehle eine angemessene Partnerin. Die Sache werde viel spannender werden, wenn Freddy nicht mehr das einzige virtuelle Wesen in unserer Wohnung wäre.

„Frieda?“, frage ich. „Bist du sicher, dass Frieda nicht noch viel mehr Unruhe in unser Leben bringen würde?“ Eben! Unruhe, gerade das ist der Zweck. Weiß ich doch! Ist immerhin alles meine Idee gewesen? Ob es auch eine gute Idee war, muss sich erst noch erweisen, das mit Freddy und seiner Braut, Frankensteins Braut. „Wir nennen sie Franka“, sage ich, „Frieda ist ihre Schwester. Die kommt erst dazu, wenn uns zu Franka nichts mehr einfällt.“ Aleksander ist einverstanden.

Kaum eine Stunde später sitzen wir auf dem Sofa und Al dirigiert Freddy und Franka in die unterschiedlichsten Positionen aus Aleksanders Kamasutra-Handbuch. Was uns beiden nicht mal in der Grundstellung überzeugend gelingt, erledigen Freddy und Franka anfangs mit Bravour, den Brückenpfeiler, Frosch, Zange und Affe. Bis Aleksander unbedingt selbst noch kreativ werden möchte. Frankas rechter großer Zeh flutscht jetzt in Freddys Po, während sie mit dem anderen Fuß Freddys Ohr krault und mit der Zungenspitze seine Eichel bepinselt. In dieser Stellung darf sich Freddy von Franka voll und ganz verwöhnen lassen. Die einzige Herausforderung für ihn: Die Waage machen, was in diesem Fall heißt, mit dem linken Bein knien, das rechte Bein nach hinten ausstrecken, beide Arme nach vorn, der Blick folgt der linken Hand, Schulterblätter auseinander, Becken waagerecht. Die beiden werden immer mehr zu Schlangenmenschen. Franka faltet sich in eine Schublade und Freddy rutscht als Schatten seiner selbst unter den Teppich. Endlich wieder allein!

„Es macht keinen Spaß, wenn sie keinen eigenen Willen haben. Ich bin doch kein Sklaventreiber“, sagt Aleksander.

Ich gebe ihm recht und bin für ein paar Minuten ratlos. Dann kehre ich das Spiel um.

„Du, Pjotr, Lieber, Franka hat mir, ganz im Vertrauen, gesagt, was sie von deinen Kleidungsstil hält. Gar nichts nämlich. Wieso soll Al nicht in seiner alten, fleckigen, beuligen Jogginghose durch die Wohnung laufen, sage ich, sieht ihn ja keiner. Naja, außer dir und Freddy. Sagt sie: Wenn man sich in so einer Situation derart gehen lässt, wird man entweder depressiv oder irre.“

„Depressiv oder irre?“

„Franka meint, auf dich treffe beides zu. Sie findet, wir sollten uns füreinander schick machen, hübsch, adrett. Außerdem kommt ihre Schwester zu Besuch, da will sie sich für uns nicht schämen müssen. Ich glaube, am ehesten hat sie Probleme mit deiner Jogginghose.“

„Das soll Franka gesagt haben? Das soll sie mir selbst sagen.“

Ich schüttele den Kopf und erkläre Aleksander das Spiel: Was einmal gesagt wurde, ist gesagt, das lässt sich nicht mehr revidieren, das müssen alle hinnehmen und respektieren. Die Regel lautet: Angebote akzeptieren!

Aleksander zieht eine Schnute, verschwindet im Schlafzimmer und kehrt in Anzughose und Sakko zurück. „Ungebügeltes Hemd macht nix, oder?“

Ich zucke die Schultern. „Musst du Franka fragen. Oder Freddy. Wo steckt der überhaupt?“

„Sitzt auf’m Klo, hat krassen Durchfall.“

„Du immer mit deinen Fäkalideen. Gab es Störungen in deiner analen Phase? Du bist eklig!“

„Nicht ich, Freddy. Den kriegst du die nächsten zwei Stunden nicht mehr vom Pott runter. Vielleicht kann dir ja Franka ein interessantes Angebot machen, falls du mal pinkeln musst. Das Klo ist jedenfalls für die nächsten zwei Stunden blockiert.“

Zwei Möglichkeiten: Ich klingle gegenüber bei Rainer und frage ihn, ob ich trotz Corona sein Klo benutzen kann, oder ich suche mir einen geeigneten Behälter, der sich für die Zwischenlagerung ausgeschiedener Körperflüssigkeiten eignet. Oder ich versuche, zwei Stunden lang einzuhalten. Ich beschließe, ein größeres Durchhaltevermögen zu besitzen als gewöhnlich und ziehe mir was Schickes für Friedas Besuch an.

„Es hat geklingelt“, sagt Al.

„Frieda?“

„Der Postbote. Sagt Franka.“

Ich nehme das Paket wortlos entgegen. „Ein Paket“, rufe ich in die Küche.

„Pack es aus! Was ist drin?“

„Eine Zeitmaschine.“

„Echt jetzt?“

„Damit kann ich die Zeit um zwei Stunden vorstellen.“

„Das ist unfair. Ein mieser Trick.“ Aleksander steht mit heruntergelassenen Hosen in der Küche. Er hat in eine leere Whiskyflasche gepinkelt und blickt mich entgeistert an. „Ich hatte mir gerade einen super Vorsprung erarbeitet.“

Und ich gehe erst mal aufs Klo, bevor es wieder auf unbestimmte Zeit besetzt ist. Al gesellt sich zu mir, setzt sich auf den Badewannenrand und schaut mir bei meinen Verrichtungen zu. „Weißt du“, sagt er, „dieses Spiel könnte auch richtig in die Hose gehen. Wenn es mal nicht bloß um Quatsch geht, sondern um die haarigen Dinge.“ Er muss lachen, weil er mir gerade auf die Muschi starrt, während ich aufstehe.

„Du meinst nicht diese haarige Sache.“ Ich ziehe den Slip hoch und schiebe das enge Kleid über Po und Beine.

„Wenn es um Dinge geht, die man sich sonst nicht zu sagen traut.“

„Gibt es irgendwas, das du dich nicht zu sagen traust?“

„Oder zu fragen wagst.“

Fragen wie: Wer von uns beiden sollte zuerst sterben? Wenn du mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen würdest – welche wesentlichen anderen Entscheidungen würdest du treffen? Und würde ich dabei eine Rolle spielen? So existentielle Dinge? Was wäre, wenn wir Kinder bekommen hätten?

„Sowas. Zum Beispiel hat Freddy gesagt, dass du mit ihm letzte Nacht geschlafen hast. Ich finde ich habe ein gewisses Anrecht darauf, von dir zu erfahren, wie der Sex mit Freddy gewesen ist. Du musst es nicht erzählen, aber ich fände es nur gerecht.“

„Und du und Franka?“

„Was soll gewesen sein? Wird das jetzt eine billige Retourkutsche?“

„Du willst wissen, wie es für mich mit Freddy gewesen ist? Oder überhaupt mit anderen Männern? Oder wie ich mir vorstelle, dass es sein würde.“

„Sein würde? Du hast. Sagt Freddy. Das ist das Spiel.“

„Aber das hat dir Freddy doch schon alles bis ins kleinste Detail erzählt.“

„Stimmt, aber ich möchte wissen, wie es für dich gewesen ist.“ Aleksander greift in seine Jacketttasche. Es ist Zeit für eine Zigarette auf dem Balkon. Es ist kühl dort, der Wind kommt jetzt wieder von Nordwest, der Himmel ist bedeckt.

„Pass auf, jetzt kommt der doppelte Rittberger! Ich kann dich ja nicht zum Reden bringen, wenn dir dabei nicht Franka oder Freddy im Nacken sitzen. Also …“ Al saugt an seiner Zigarette, bläst den Rauch aus, der sofort durch die offene Balkontür in die Wohnung zieht, und blickt in die Ferne. „Franka hat ja alles mit angesehen, das, was du und Freddy, was ihr beide da gemacht habt. Sie hat hat dich zur Rede gestellt, hat sie mir gesagt, und dir das Versprechen abgenommen, dass du es mir erzählst. Und zwar alles.“ Al zwinkert mir zu, aber sein Lächeln wirkt recht bemüht. Ist das der Moment, wo aus dem Spiel Ernst wird?

„Und das hast du dich die ganze Zeit nicht zu fragen getraut? Wie ich mir Sex mit einem anderen Mann vorstelle?“

Aleksander meint es ernst. Er will das wirklich wissen, ich bin mir sicher. Oder er verbindet einen besonderen erotischen Reiz damit, wenn ich vor ihm meine promiskuitiven Fantasien ausbreite. Hab‘ ich die überhaupt? Mal Lust auf einen anderen Mann? Oder eine Frau? Kann schon sein. Aber ich würde es mir nie im Vorhinein ausmalen. Bloß genießen, wenn es passieren würde. So, wie Al sich das vorstellt, funktioniert meine Fantasie einfach nicht. Bei Männern scheint das grundlegend anders zu sein. Aleksander hat sich vermutlich schon häufiger ausgemalt, wie er mich mit einem anderen Mann beim Sex beobachtet, eifersüchtig und erregt zugleich. Wie ich ihm sprichwörtlich Hörner aufsetze. Was interessiert ihn daran? Das Cuckolding ist, wie mir scheint, ein typisches Männerding. Wenn sie die Liebhaber ihrer Frauen nicht ermorden, was früher Standard war, verfallen die Männer ins andere Extrem und ziehen einen besonderen Lustgewinn daraus, der eigenen Frau beim Geschlechtsakt mit einem anderen zuzusehen. Wer soll das verstehen? Oder bin ich einfach zu antiquiert, um das verstehen zu können? Mal ganz nüchtern betrachtet, könnte ich darin auch einen kulturellen Fortschritt sehen. Die neuen Männer betrachten die Frauen, mit denen sie zusammenleben, nicht mehr als ihr Eigentum. Sie gestehen ihren Frauen großzügig außerehelichen Sex zu. Nein, so wird kein Schuh daraus. Das ist noch immer ein patriarchales Programm, ungefähr so, als würde sich Al einen Lamborghini kaufen, aber erst so richtig glücklich damit sein, wenn er seine Freunde auch mal damit fahren lässt, damit sie ihm bestätigen, was für ein geiles Auto das ist. Aber ganz wichtig: Es ist und bleibt sein Auto. Er ist stolz darauf, dass die Freunde sein Auto genauso toll finden, wie er selbst. Der ideelle Wert steigt mit der Begeisterung der anderen über das, was sie selbst nicht besitzen und nur mal ausprobieren durften.

„Sag mal, Al, ist das wirklich eine Fantasie von dir? Dass ich Sex mit einem anderen habe? Würdest du dabei zusehen wollen?“

„Nein, überhaupt nicht! Es war doch nur ein Spiel, Nina. Ich wollte dich herausfordern. Ein wenig in die Enge treiben.“

„Du möchtest wissen, ob ich Lust auf andere Männer habe. Warum fragst du mich nicht direkt?“

„Hast du denn?“

„Wäre das schlimm für dich? Du hast doch auch Lust auf andere Frauen.“

„Ja, schon. Als Fantasie spielt das eine Rolle. Aber mehr als Fantasie muss es auch nicht sein. Mir reicht das vollkommen. Ich kann mir keinen besseren Sex vorstellen als den mit dir. Trotzdem, die Fantasien lassen sich nicht unterdrücken. Die sind einfach da. Ob du irgendwelche Fantasien dieser Art hast, weiß ich allerdings nicht. Das ist schon lange ein blödes Ungleichgewicht zwischen uns, dass du so viel über meine Fantasien weißt, ich aber fast nichts von deinen.“

„Weil ich keine habe“, sage ich und frage mich, ob mit mir irgendwas nicht in Ordnung ist. Dass es zu dem braven Mädchen, das ich immer gewesen bin, einfach nicht passt, sich sowas auszumalen. Klar, ich finde manche Männer, sehr wenige Männer!, interessant, attraktiv. Besonders, wenn ich mich gut mit ihnen unterhalten kann, wenn sie gescheit und witzig sind, Stil haben. Ich schaue auf Hände, ich mag es, wenn ein Mann mich länger ansieht, als es schicklich ist, ich finde intelligente Konversation erotisch. Als wäre ich einem Roman von Jane Austen entsprungen. Bin ich ein antifeministisches Relikt aus der Epoche der romantischen Liebe? Ich stütze meine Ellenbogen auf dem Balkongeländer auf und lege das Kinn in beide Hände. Unten gehen Freddy und Franka vorüber, sie winken uns zu. Mit Freddy würde das nie was werden. Auch nicht mit Franka. Nicht Frankenstein und seine zusammengenähte Braut, eher schon Graf Dracula.

„Ganz ehrlich, Pjotr? Ich habe mir das noch nie konkret vorgestellt. Ich hatte gar nicht das Bedürfnis. Ich glaube auch nicht, dass es für eine Frau ungewöhnlich ist, sich keine konkreten Vorstellungen zu machen, wie es wäre, wenn.“

„Wie es wäre, wenn! Genau das meine ich. Ich verstehe nicht, oder besser, ich kann dir nicht glauben, dass du überhaupt keine Fantasien hast, die andere Menschen betreffen als mich, ob es nun Männer oder Frauen sind. Es fällt mir jedenfalls schwer, das zu glauben.“

„Weil du dann ein schlechtes Gewissen hast, weil du dir, im Unterschied zu mir, so viel vorstellen kannst?“

„Genau. Und weil es eine ganze Menge Frauen gibt, die Fantasien haben.“

„Sagt wer? Freddy? Franka?“

„Nancy Friday, zum Beispiel.“

„Hat die all die Erfahrungsberichte notgeiler Frauen nicht selbst geschrieben?“

„Dann ist zumindest sie der beste Beweis dafür, dass es wenigstens eine Frau mit einer überaus blühenden Phantasie gibt.“

Ich muss Al Recht geben. Ein Exemplar, und wahrscheinlich eine ganze Menge mehr. Soll ich mich deshalb schuldig fühlen? Dass ich keinen Schulaufsatz über meine Fantasien schreiben könnte, wie ich aus wissenschaftlichen Gründen Sex mit einem Gorilla habe, oder mich von unserem Postboten betatschen lasse? Das alles könnte ich mir vorstellen, sehr lebhaft sogar. Aber warum sollte ich das tun?

„Ich habe mir das wirklich nie vorgestellt, Al. Aber jetzt, seit heute, seit eben gerade, kann ich es. Keine Ahnung, was das für die Zukunft bedeutet. Aber eins steht für mich fest: Wenn ich jemals wirklich mit einem anderen Mann schlafen sollte, dann würde ich dir nicht erzählen wollen, was und wie wir es gemacht haben und was ich dabei gefühlt habe. Ich finde, das würde dich nichts angehen. Diese Erfahrung würde ich ganz für mich allein haben wollen.“

Aleksander zündet sich die dritte Zigarette an. „Kann ich verstehen“, sagt er, „genau das ist es, was mir Angst macht. Die ganze Zeit schon.“

„Keine Angst“, sage ich, „ich komme in den nächsten Wochen keinem Mann näher als einsfuffzig.“ Auch keiner Frau. Dabei wäre das ein viel spannenderes Projekt, finde ich. Keine Ahnung, wie das ablaufen würde. Keine Lust, mir das auszumalen. Das überlasse ich Aleksander. Der ist Experte im Fantasieren.

Er hat den Whisky aus der Küche geholt. Er gießt sich ein und hält das Glas prüfend gegen die Abendsonne, die gerade durch die Wolken bricht. „Krasse Farbe, oder?“

„Bisserl trüb, findest du nicht?“

Boccaccio 2020 – 05

Der Brief

Liebe M.,

ich schreibe Dir aus P. und entschuldige mich, Dir nicht schon früher ein Lebenszeichen von mir zukommen gelassen zu haben. Ich will mir nicht anmaßen, mir vorzustellen, Du habest gelitten oder Dich entsetzlich gesorgt um mich, nachdem ich Dich nach diesem Streit verlassen hatte und – auch für mich unerwartet – einfach nicht mehr zurückgekehrt war. Es ist ja auch denkbar, dass Du nach dem ersten Schrecken, einer etwas länger anhaltenden Verwunderung durchaus so etwas wie Beruhigung oder Zufriedenheit empfunden hast, das Gefühl, nun vielleicht etwas ganz Neues beginnen zu können. Die Kinder sind aus dem Haus (grüße sie von mir!) und möglicherweise hast Du jemanden kennengelernt. Das wäre schön, denn ich werde nicht, wie ich nun sicher bin, zurückkehren. Und ich bitte Dich, mich nicht zu suchen. Denn mir ist hier in P. etwas wahrhaft Wundersames und Einzigartiges begegnet. Du wirst es gewiss nicht für möglich halten. Ich habe hier bald nach meiner Ankunft eine zweite Ausgabe von Dir gefunden, eine richtiggehende Doppelgängerin. Sie spricht wie Du, hat Deine Augen, sogar Dein Lächeln, es ist vielleicht ein wenig frischer und herzlicher als Deines. Sie kleidet sich ganz ähnlich wie Du, hat ganz Deinen Körperbau, wie gesagt, eine perfekte Doppelgängerin bis in die verblüffendsten Details. Zu meiner Schande muss ich gestehen, Dich keinen Moment vermisst zu haben. Vom ersten Augenblick an, als wir uns bei meiner Ankunft auf dem Bahnsteig begegneten, war eine Vertrautheit zwischen uns, dass wir bis vor Kurzem keine Notwendigkeit empfanden, uns gegenseitig über unsere Vergangenheit auszufragen. Noch in derselben Nacht sind wir zusammen in einem Hotelzimmerbett gelandet und sind gefühlte drei Tage nicht mehr da herausgestiegen. Mit nur wenigen Unterbrechungen, so scheint es mir jetzt, haben wir uns geliebt, blieben ineinander verknäuelt, lagen versprengt und nackt im Raum verteilt wie nach Explosionen, schamlos haben wir uns in die Balkontürvorhänge eingedreht und wieder ausgewickelt. Unsere Hände und Münder haben jede Furche, Wölbung, Windung und Öffnung im und am Körper des anderen gefunden, gesogen haben wir aneinander, uns benetzt und wie aufgetrunken, habe mich in ihrem Duft gesuhlt, der Dein Duft war und darum so berauschend. Und – verzeih mir! – berauschend war es wohl auch, weil Du es eben doch NICHT warst, oder nicht sein konntest, weil es DOCH eine andere war.

Weil sie, J., wie ich an jenem Tag erst in P. angekommen war, haben wir uns nun eine gemeinsame Wohnung genommen. Es geht mir gut, ich habe endlich eine Gelassenheit und Leichtigkeit gefunden, die mir so lange – neben Dir – gefehlt hat. Stell Dir vor, wie sie sich eines Abends völlig nackt in das neue, weiche Sofa niederlässt, die Beine lässig auseinanderstellt und so augenscheinlich genießt, wie ich mich erst lange an ihr satt sehe, bevor wir beginnen über Kissen, Tisch und Bänke zu balgen, BEIDE den Moment der endlichen körperlichen Vereinigung lange hinauszögernd. Kannst Du Dir vorstellen, wie gut mir das tut? Ich hatte so lange gedacht und gehofft, auch Dir könnte es guttun, so ganz Dich dem hinzugeben, was eben geschieht, unvorhersehbar in verantwortungsloser Lust.

Aber es ist auch klar, dass dieser Zustand, wie ich ihn mit J. kennengelernt habe, nicht so ohne weiteres andauern kann, also etwas wie eine Normalisierung und Beruhigung beginnen muss, jeden Tag ein wenig mehr. An diesem Wochenende, am Ende meiner ersten Arbeitswoche in einer Großwäscherei (es gibt sie auch hier, nicht nur in Polen!) wollen wir einen ganzen Nachmittag und eine halbe Nacht dafür investieren, nun doch einander von unseren Vorgeschichten zu erzählen. Ich weiß immerhin schon, dass sie ebenso viele Kinder bekommen hat wie wir und dass sie in etwa im gleichen Alter sein müssen wie unsere. Ich erwarte noch mehr solcher Zufälle. Am Ende wird es vielleicht kaum Unterschiede geben und es wird sein, als hätten wir immer zusammengelebt – an irgendeinem entfernten Ort.

Ich wünsche Dir ebenso viel Glück, wie ich es erfahren durfte, und hoffe, dass Dich dieser Brief noch an der alten Adresse erreicht.

Dein F.

Boccaccio 2020 – 04

Doppelgänger von Aleksander P. Nekrasov

Mein Doppelgänger schläft mit anderen Frauen. Ich habe keinen Überblick darüber, mit wie vielen Frauen er schon geschlafen hat. Ich frage mich, ob dieser Umstand seinen Geist verändert, ob er womöglich nur noch seinem Antlitz nach mir gleicht, oder gar eine physische Veränderung an ihm festzustellen ist, die ihn mehr und mehr von mir unterscheidet. Seit er damit angefangen hat, entdecke ich eine zunehmende Dreistigkeit bei ihm, eine Risikobereitschaft, die eine für mich beinahe unvorstellbar große Dimension der reinen Unvernunft aufweist.

Es fing damit an, dass er plötzlich großes Vergnügen, ja Genugtuung dabei empfand, Frauen anzustarren, wenn er zum Beispiel in einem Konzert saß und die Stühle über Eck aufgestellt waren, sodass man sich in die Augen blicken konnte. Er ließ seinen Blick durch die Reihen schweifen auf der Suche nach der schönsten, der attraktivsten Frau des Abends. Nicht immer gab es eine, die ihm auf Anhieb gefiel. Zu jung durfte sie nicht sein. Sie musste alt genug sein, erfahren und hinreichend enttäuscht vom Leben, mit einem letzten Funken von Hoffnung, dass sich eine neue Sehnsucht, eine neue Leidenschaft noch einmal, vielleicht ein letztes Mal lohnen würde. Und das sah er, so meinte er, an den Blicken einer Frau. Eines Abends erkannte er unter den Zuhörern eines Konzertes eine Frau, die er schon einmal flüchtig kennengelernt hatte. Während ich zwar nicht weniger als er einen schönen Zeitvertreib darin gesehen hätte, sie zu beobachten, ihr Gesicht zu erkunden, einen flüchtigen Blick zu erhaschen, aber rasch nieder zu blicken, um meine bloß visuellen Bedürfnisse, eine schöne Frau gewissermaßen aus der Ferne abzutasten, nicht preiszugeben und mich ebenso wie sie in Verlegenheit zu bringen, legte er es, von seiner Lust an der Schamlosigkeit übermannt, darauf an, sie seine Blicke spüren zu lassen. Warum sollte sie nicht einmal merken, dass ein Mann sie attraktiv fand? Ich muss gestehen, dass ich nicht selten, wenn mir eine Frau gefiel, kurz darüber nachdachte, wie es wäre, sie zu berühren, ihr mit gespreizten Fingern durchs Haar zu fahren, den Hals zu streicheln und den Nacken, wie es wäre, sie zu entkleiden, sie in Unterwäsche zu sehen, zu fühlen, wie sich ihre Brustwarzen aufrichten, meine Hand zwischen ihre Schenkel gleiten zu lassen, über ihre bebende Scham. Aber das waren immer nur kurze Bilder in meinem Kopf, die mich nicht einmal ernsthaft erregten, weil das größere Gewicht in meinem Kopf die Vorstellung von den Verbindlichkeiten beanspruchte, die Sex mit anderen Frauen für mich darstellen würde. Eine Beziehung, die ich nicht brauchen konnte, ein Glück, oder eine Leidenschaft, die ich nicht suchte. Von beidem hatte ich mehr als genug: Glück und Leidenschaft. Liebe und sexuelle Erfüllung. Das würde ich niemals aufs Spiel setzen für – ja! – für ein Spiel, wie es jetzt mein Doppelgänger mit dieser beinahe zehn Jahre jüngeren Frau zu treiben begann. Ich schämte mich für ihn, schloss die Augen und lauschte der Musik. Er aber genoss, dass die Frau gegenüber bald wahrnahm, wie unverblümt er sie betrachtete. Er wandte den Blick nicht ab, wenn sie zu ihm hinüberblickte, ihm in die Augen schaute, bis sie niederblickte und in ihrem Programmheft zu lesen begann, um nach einiger Zeit zu überprüfen, ob sie noch immer angeschaut wurde. Wenn sie dessen gewiss sein konnte, wandte er seinerseits den Blick ab, ließ ihn wieder über die Reihen der Zuhörer schweifen und fixierte sie erneut, bis sich ihre Blicke wieder trafen.

Als wir uns nach dem Konzert für ein kurzes Gespräch, eigentlich nur eine höfliche Begrüßung gegenüberstanden, sie an der Seite ihres eloquenten Ehemannes, ich an der Seite meiner nicht weniger eloquenten Ehefrau, fühlte ich eine gewisse Erleichterung darüber, dass die größere körperliche Nähe zugleich die Distanz wieder wachsen ließ, die mein Doppelgänger zuvor so schamlos niederzuzwingen versucht hatte. Aber ich konnte doch sehen, wie sich ein zufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete, so, als könne er die Gewissheit haben, diese Frau bereits bezwungen zu haben.

Eher zufällig traf ich die Frau nur wenige Tage später bei einem Vortrag wieder. Sie hatte sich nur eine Reihe hinter mir einen Platz gesucht und ich bemerkte sie erst spät, nachdem der Vortrag bereits begonnen hatte. Ich wandte mich aus Gewohnheit um, als suchte ich nach bekannten Gesichtern unter den Gästen, obwohl ich gar kein Interesse daran hatte, einen Bekannten oder Freund zu finden. Vielmehr unterwarf ich die anwesenden Frauen einer schnellen Musterung, ob eine unter ihnen mir vielleicht gefiel, mir sympathisch erschien, genau genommen anziehend. Es ist gar nicht leicht zu sagen, was genau ich anziehend finde. Nicht einfach nur den Körper einer Frau, die Statur, das Gesicht. Vielleicht mehr als alles andere spielt der Blick eine Rolle, der Ausdruck von Sehnsucht, der sich hinter Konzentration, Selbstkontrolle und Distanziertheit verbirgt. Frauen also, die dich nicht offenherzig, aufgeschlossen und kontaktfreudig anblicken, sondern verschlossen bleiben. Ich vermute, sie sind das Ziel meiner spontanen Miniatur-Phantasien, weil sie mir einfach nicht gefährlich werden würden. Keine von ihnen würde nach einer Weile auf mich zukommen und fragen, ob ich noch einen Kaffee mit ihr trinken würde, keine mich plötzlich bei der Hand nehmen und sagen: „Komm, lass uns hier verschwinden!“ Solch einer Aufforderung, befürchte ich, wäre ich hilflos ausgeliefert. Ich würde mich von einem Moment auf den anderen in sie verlieben. Mit meiner sicheren Wahl aber kann ich mich ganz unbeeinträchtigt von drohenden Konsequenzen mit den Fragen beschäftigen, die mich wirklich interessieren: Ist sie rasiert? Hoffentlich nicht. Mit welcher Anmut wölbt sich wohl ihr Bauch über der Scham? Mit welcher Hingabe würde sie die Augen verdrehen, wenn ich ihr über die unterm Slip verborgene Klitoris streichen würde? Wie groß wäre ihre Lust? Wie feucht würde sie werden? Wie groß ihre Furcht, mit mir etwas Verbotenes und Unverzeihliches zu tun? Wie lange würde es dauern, bis sie Vertrauen genug hätte, mir ihren schönen, festen Po entgegenzustrecken und die Knie weit auseinander zu stellen? (Meine Hand von unten über den Bauch, die Klitoris, die feuchten Lippen.)

Mehr nicht. Das reicht mir vollkommen aus. Ich möchte sie in Unterwäsche sehen. Sie soll ein wenig Beben in der ängstlichen Ungewissheit und dem Begehren darauf, was ich wohl gleich mit ihr tun werde. Das Haar kräuselt sich an den Nähten vorbei. Und sie verliert ihre Selbstkontrolle, gibt all ihre Distanziertheit auf. Sie möchte, dass ich sie ficke, jetzt sofort. Aber ich lasse sie noch zappeln. Am liebsten wäre es mir, ich könnte sie nur mit meinen Händen zum Orgasmus bringen. Am liebsten wäre es mir, ich müsste gar nichts tun. Am liebsten wäre mir, sie würde einfach nur vor meinen Augen an sich selbst spielen und dabei so feucht werden, dass der Saft aus dem kleinen, süßen Loch herausquillt. Am liebsten wäre ich nur Zuschauer, unbemerkt, ein Voyeur, schwebend über ihrem Bett, gleitend wie ein unsichtbarer Engel durch den Raum, Schauender aus tausend Perspektiven zugleich.

Und aus. Längst sehe ich nicht mehr die schöne Fremde vor mir auf dem Bett, sondern meine eigene, geliebte und begehrte Frau. Und ich freue mich schon darauf, am Abend mit ihr zu schlafen. Sie ist es, die ich wirklich begehre, ihr Körper ist es, in den sich die Körper und Gesichter aller anderen Frauen verwandeln, wenn ich mich ihnen in meinen Phantasien nähere.

„Den Appetit mag man sich anderswo holen, aber gegessen wird zuhause!“ Dies schien meinem Doppelgänger an diesem Tag nicht mehr zu genügen. Während ich mich bemühte, nach dem Vortrag ein wenig Smalltalk mit ihr zu betreiben, wechselte er ganz schnell zum Du, entschuldigte sich scheinheilig, dass er sie einfach geduzt habe, und fragte gleich, ob sie mit dem Wagen gekommen sei, oder er sie vielleicht nach Hause fahren könne. Nach seinen unverschämten Blicken beim Konzert war es kein Wunder, dass sie lieber von ihm gefahren werden wollte, als den Bus zu nehmen. Immerhin überließ er mir während der Fahrt das Gespräch, in dem ich weit ausholte und keine kritische Bemerkung zu dem Thema des Vortrags ausließ. Wie sollte sie da auch nur im Mindesten das Gefühl vermittelt bekommen, ich interessierte mich an irgendetwas anderem als ihrer, wie soll ich sagen, Persönlichkeit.

Die Blicke meines Doppelgängers aber tasteten, soweit es die Verkehrslage zuließ, sämtliche Details ihres Körpers, ihres Gesichtes ab, suchten beständig Widerhall in ihren Augen, ohne zu verbergen, wie sie wieder abschweiften, hinab zu ihren Brüsten unter der sommerlich dünnen Bluse, zu ihrem Schoß. Als wir vor ihrem Haus hielten, hoffte ich, sie würde gleich aussteigen und das peinliche Spiel meines Doppelgängers hätte endlich ein Ende. Aber sie blieb beharrlich sitzen und nahm immer neue Fäden unseres Gespräches auf. Ich lugte unauffällig zu ihrem Haus hinüber, ob sich jemand am Fenster zeigte, eines ihrer Kinder etwa, aber da schien alles ruhig zu sein, leer und aufgeräumt. Was für ein schönes Haus sie habe, sagte ich, um das Thema zu wechseln und sie gedanklich auf das Ende unseres Gespräches vorzubereiten, dass sie ja jetzt zuhause sei und gelegentlich hinter ihrer Haustüre verschwinden sollte. Und aus. Mein Doppelgänger wollte es damit nicht genug sein lassen. Ob ihre Kinder auf sie warteten, wollte er wissen. Diese Frage konnte mir ja noch recht sein, weniger aber ihre Antwort. Der Jüngere sei noch bei einem Freund, der Größere beim Sport. Und weil ich sie gefahren hätte, habe sie jetzt noch ein wenig Zeit für sich gewonnen. Ihr Mann sei ja noch bis zum Abend mit dem Auto unterwegs. Jaja, das hatte sie ja schon früher erwähnt. Das musste sie mir nicht ein weiteres Mal sagen. „Wie schön“, sagte ich freundlich und mit ehrlichem Bemühen, dabei nicht aufdringlich zu klingen. Sie machte noch immer keine Anstalten, mein Auto zu verlassen, also fasste sich mein Doppelgänger ein Herz und fragte Antonia, ob es ihr etwas ausmache, wenn er einmal mit hineinkommen würde, um sich das Haus von innen anzusehen. Er und seine Frau, Respektive meine Frau, hätten in der nächsten Zeit einige Umbauten in unserem Haus vor und er suche nach Inspiration für eine Kombination aus Küche und Wohnraum. Aber gar nicht, sie habe überhaupt nichts dagegen. Und schon hatte sie die Wagentür geöffnet und schob ihren Rock unvermittelt ein wenig herauf, um das rechte Bein besser hinaus setzen zu können.

Ich muss gestehen, dass auch ich durchaus Interesse daran hatte zu sehen, wie sie wohnt, ob die ins Auge springende Ordnung des Vorgartens auch im Innern des Hauses herrschte. Das Schlafzimmer wollte ich sehen, ob etwas darin von lustvollem Beischlaf erzählte, was ich aus irgendeinem Grund für unwahrscheinlich hielt, vielleicht, weil Antonia die Angewohnheit hatte, die Lippen so aufeinander zu pressen, dass sie ganz schmal und blass wurden. Und weil ich mir ihren Mann einfach nicht als guten Liebhaber vorstellen konnte – oder wollte.

In der Küche sprach sie über Koch- und Kuchenrezepte, die sie für eine Internetseite konzipiere, ein kleines Hobby neben ihren wissenschaftlichen Recherchen, die sie aber seit der Geburt der Kinder weitgehend habe zurückstellen müssen. Dabei sah die Küche keineswegs nach kulinarischen Experimenten aus, geradezu unbenutzt, ebenso wie das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, das auch wert wäre, in einer Wohnzeitschrift abgebildet zu werden. Als hätte in diesen weißen Polstern noch nie ein Hintern gesessen, auf dem Fensterglas keine Fliege geschissen. Ich schaute mich anerkennend um, indem ich meine Hände hinterm Rücken verschränkte und nur den Rumpf bald hierhin bald dorthin drehte, den Kopf hob und senkte. Mein Doppelgänger jedoch stiefelte mit großen Schritten durchs Wohnzimmer, drückte beinahe seine Nase an der Terrassentür platt und lobte in überschwänglichen Worten den wunderbar angelegten Garten, schritt zu dem edlen, sachlich-modern gestalteten Kamin, dessen dickes Glas anscheinend nach jedem Gebrauch akribisch gereinigt wurde, ließ die Blicke über die Bücherregale schweifen, um einmal in gespielter Überraschung auszurufen: „Oh, Baudelaire! Les Fleurs du Mal!“, und zeigte im Flur unverhohlenes Interesse an der hölzernen Treppe, die zu den Zimmern im Dachgeschoss führte. Geschmeichelt von seiner Begeisterung und seinem regen Interesse an der „überaus geschmackvollen“ Einrichtung und Komposition der Räume, dieses sichere Gespür für Architektur, das eindeutig eine weibliche Handschrift verrate usw., lud sie ihn ein, auch die übrigen Räume zu besichtigen. So ließen sie mich im Flur des Erdgeschosses zurück, denn ich hatte beschlossen, das Spiel meines Doppelgängers nicht weiter mit zu betreiben. Vielleicht konnte ich ihm ja so doch noch Einhalt gebieten und zu einem baldigen und höflichen Abschied bewegen. Doch genau das scheint mein Fehler gewesen zu sein, ihn nämlich ganz allein mit Antonia hinaufgehen zu lassen, abgespalten von meiner umsichtigen, strengen Kontrolle. Während ich unten wartete, suchte er oben eine Gelegenheit, Antonia näher zu kommen, also die bislang recht große körperliche Distanz drastisch zu reduzieren. Sie öffnete die Tür zum Bad, trat auch gleich hinein, um eilig ein Handtuch vom Boden aufzuheben, das wohl einer ihrer Söhne liegengelassen hatte, doch er folgte ihr nicht, sondern blieb einfach im Türrahmen stehen, seitlich, lugte in die Ecken, lobte die Fliesen, das Design der Waschtische und bewegte sich nicht mehr von der Stelle. Das verunsicherte Antonia sichtlich, die das Bad nun nicht einfach wieder verlassen konnte, ohne sich an ihm vorbeizudrücken. So blieb sie einfach in der Mitte des Raumes stehen und versuchte zu lächeln. „Und das Schlafzimmer?“, fragte er und lächelte seinerseits. Und hob er nicht spitzbübisch die linke Augenbraue? Antonia machte einen zögerlichen Schritt zur Tür hin, aber mein Doppelgänger rührte sich nicht von der Stelle, er drückte sich nur ein wenig gegen den Türrahmen, um anzudeuten, dass er Antonia genug Platz ließ, um sie durchzulassen. Sie senkte den Blick und machte sich daran, die schmale Schleuse zu durchschiffen, aber er fasste sie bei den Hüften und hielt sie fest. Ihr Herz pochte bis in die Halsschlagader hinein. Sie blickte zu ihm hinauf und errötete so schnell, wie er noch nie einen Menschen hatte erröten sehen. „Und das Schlafzimmer?“, fragte er noch einmal und ließ seine rechte Hand langsam von der Hüfte zu ihrem Po gleiten. Und zu dem Saum ihres Rockes.

Ich hätte nun alles haben können, was ich mir in meinen Phantasien manches Mal ausgemalt hatte, in diesen erotischen, blassen Miniaturen. Ich hätte die Stufen hinaufsteigen, mich mit dem begierigen Paar ins Schlafzimmer schleichen und das zärtlich-lustvolle Spiel beäugen können, das mein Doppelgänger da mit Antonia trieb, die sich wie in Atemnot keuchend überall von ihm berühren ließ. Aber ich blieb im kühl gefliesten Flur noch eine Weile stehen, ertrug es jedoch schon bald nicht mehr, mich diesen Geräuschen und Seufzern des Paares weiter auszusetzen und verließ das Haus mit einem leisen Gruß auf den Lippen. Vielleicht ließen sie sich ja ein wenig aufschrecken, wenn die Tür ins Schloss fiel. Ich fuhr heim, zu meiner Frau, meiner geliebten Frau. Erst am nächsten Morgen wusste ich meinen Doppelgänger wieder an meiner Seite.

In Dumpfheit, Irrtum, Sünde immer tiefer
Versinken wir mit Seele und mit Leib,
Und Reue, diesen lieben Zeitvertreib,
Ernähren wir wie Bettler ihr Geziefer.

Schon zwei Tage später war er wieder bei Antonia. Sie ging nicht lang, die Sache mit Antonia. Er nutzte ihre Reue, das schlechte Gewissen, ihre Angst, um sich bald unter der Vorgabe, es reiße ihm das Herz aus der Brust, aber es müsse wohl so sein, von ihr zu verabschieden. Monate später traf er sie ein weiteres Mal. Erneut gab sie sich ihm hin. Nur dieses eine Mal noch, sagte sie. Da hatte er schon mit anderen Frauen geschlafen. Mit Marleen, mit Henrike, davon weiß ich, und wahrscheinlich auch mit Christine. Aber irgendwann wollte ich damit einfach nichts mehr zu tun haben.

Boccaccio 2020 – 03

Der Tausch von Thomas Holtzmann

Ich mag mein Gesicht nicht, auch nicht meine Stimme. Die Kopfform – der Hinterkopf ist so abgeflacht. Ich tausche meinen Kopf gegen den meines Kollegen. Seine Gesichtszüge sind so sanft, die Haut so glatt, das Lächeln mild. Eine Glatze hat er wie ich, aber sein Kopf ist so über die Maßen schön geformt wie der eines antiken ägyptischen Königs. Zuhause erkennt meine Frau mich natürlich nicht. Ein fremder Mann hat ihr Haus betreten, er hat die Tür mit einem Schlüssel geöffnet. Was tun Sie in meinem Haus? Ich versuche sie zu beruhigen, ich sei doch der, der ich auch zuvor gewesen sei, und wundere mich über den Klang meiner Stimme, tiefer als die meines Kollegen. Meinen Küssen weicht sie aus, sie will mich nicht mehr kennen und spült den Topf, in dem die Tomatensoße gekocht hat. Ich frage, ob sie mich nicht attraktiver finde als vorher. Aber sie will mich nicht kennen, lugt dann doch von unten, von der Seite her, unter ihrer linken Achsel hervor zu mir herüber. Ich streiche mir über die glänzende Glatze. Sie muss so glänzen, wie ich es von meinem Kollegen kenne. So reine Haut. Dabei ist er ganz so alt wie ich. Meine Kinder begrüßen mich wie einen fremden Besucher, neugierig und freundlich. Immerhin duzen sie mich. Meine Frau bittet mich zu gehen, sie erwarte ihren Mann, der gleich nachhause kommen müsse und sie wisse nicht, wie sie ihm erklären solle, dass da ein Mann im Haus sei, der von sich behaupte, ihr Ehemann zu sein. Also gehe ich. Meine Frau braucht Zeit, meine rein äußerliche Veränderung zu begreifen und zu akzeptieren. Wohin aber? Mittlerweile sollte auch mein Kollege in einen Spiegel gesehen und festgestellt haben, dass er nicht mehr seinen, sondern meinen Kopf trägt. Das dürfte ein kleiner Schock für ihn gewesen sein. Als ich seine Wohnung betrete, macht er mir sogleich Vorhaltungen, es könne ja wohl nicht angehen, dass ich mit seinem Kopf herumlaufe. Daran, so entschuldige ich mich scheinheilig, könne ich auch nichts ändern. Ich hätte nicht den blassesten Schimmer, wie es dazu gekommen sei. Ich halte allerdings nicht zurück, dass ich mit meinem neuen Kopf recht zufrieden bin, während mein Kollege über sein neues Aussehen entsetzt ist. Vielleicht, sage ich, wird morgen schon alles sein wie vorher. Er schüttelt nur den Kopf, meinen Kopf, und bettet ihn, Verzweiflung heuchelnd in beide Hände. Vielleicht, sage ich, werden wir uns daran auch mit der Zeit gewöhnen. Daran will ich mich gar nicht gewöhnen, sagt er. Ich streiche ihm tröstend über die Glatze, die glücklicherweise nicht mehr meine ist. Man wird uns nicht mehr erkennen, sagt er, man wird uns verwechseln. Wie kann ich noch ich sein, wenn die anderen mich für dich halten?

Ich gebe dem Kollegen meinen Hausschlüssel. Er zeigt mir das Schlüsselbord in seiner Wohnung. Dort hängt sein Schlüssel. Wir verabschieden uns förmlich. Gebeugt von seinem Schicksal steigt er die Treppen hinab. Dann schließe ich die Tür. Ich rufe noch schnell zuhause an und sage, ich käme bald. Ja, sagt sie, aber wer? Wer kommt? Ein Mann, sage ich, der meinen Kopf trägt. In der Wohnung meines Kollegen finde ich keine alkoholischen Getränke. Bieder scheint mir seine Einrichtung, als habe er lange Zeit mit seiner Mutter hier gewohnt, als habe sie ihm ihre Möbel hinterlassen. Die Bücher sind nicht das, was ich lesen würde, die Filme nicht mein Geschmack. Die Anzüge in seinem Schrank gefallen mir dagegen sehr. Sie sind sehr elegant. Nur werden sie mir nicht passen. Er ist noch deutlich schmaler gebaut als ich. Überhaupt hat er einen viel eleganteren Körperbau. Nackt habe ich ihn noch nicht gesehen. Ich suche in den Schränken nach Fotoalben. In einem der Fotoalben sehe ich meinen Kollegen als Jugendlichen. Er ist ungefähr dreizehn Jahre alt, schlaksig, nass vom Baden und die Schultern rund und glänzend wie Reichsäpfel. Da hatte er noch Haare auf dem Kopf. Seinen Kopf, denke ich, wird meine Frau akzeptieren. Aber auch den Gestus, die Art wie er beim Sprechen mit beinahe adeligem Hochmut seine Stimme hebt und senkt, beinahe schnalzt beim Reden? Wenn er sich für die Nacht entkleidet – wird sie das Brusthaar vermissen? Wird sie nicht sofort bemerken, dass es zwar der richtige Kopf, nicht aber der richtige Körper ist? Die Nacht ist kühl. Als ich die Leiter ans Fenster lege, geht im Zimmer gerade das Licht an. Ich steige hinauf und meine Frau sieht mich durchs Fenster an, zwinkert und legt den Zeigefinger an ihren süßen Mund. Dass ich keinen Laut von mir geben möge. Sonst tritt sie nie mit nackten Brüsten ans Fenster, wenn sie die Vorhänge zuzieht.

Boccaccio 2020 – 02

Die zwei Witwen von Justus Stirner

Es waren einmal zwei alte Damen, die waren seit vielen Jahren verwitwet und lebten in einer Reihenhaussiedlung Haus an Haus. Die eine war erst wenige Jahre zuvor in ihr Haus gezogen, nachdem ihr Mann verstorben und ihr das ehemalige gemeinsame Heim zu groß vorgekommen war. Zunächst hatten die beiden Frauen wenig Interesse aneinander gehabt, aber die Einsamkeit bewog sie irgendwann häufiger miteinander über das Wetter und die steigenden Butterpreise zu sprechen. Eines Morgens trafen sie sich vor ihren Haustüren, als die Neue die Zeitung aus ihrem Briefkasten zog. Da fiel ihr auf, dass die Andere noch nie eine Zeitung aus ihrem Briefkasten geholt hatte. So erfuhr die Neue, wie ärmlich die Andere lebte und nicht einmal das Geld für kleinere Reparaturen in ihrem Haus hatte. Von diesem Tag an brachte die Neue jeden Tag um die Mittagszeit die ausgelesene Zeitung zu der Anderen, die sehr dankbar für diese tägliche gute Tat war. Um sich zu revanchieren, lud die Andere die Neue nun regelmäßig zu einer Tasse Kaffee in ihr Haus ein. Die Neue fand diese Einladungen zwar lästig, empfand es jedoch als Gebot der Höflichkeit, sie nicht auszuschlagen. Sie musste respektieren, dass die Andere für die tägliche Gabe etwas zurückgeben wollte. Um der Gerechtigkeit willen. Damit es ein Tausch und kein Gnadenakt war. Bei ihren Gesprächen während der Kaffeestunden kam eines Tages auch das Gespräch auf ihre verstorbenen Männer. Während die Neue wenig Gutes über ihren Mann zu berichten hatte, der ein jähzorniger Mensch gewesen sein musste, erzählte die Andere liebevoll von ihrem Mann, der sehr zärtlich und fürsorglich gewesen sein musste. Sie vermisste ihn immer noch. Noch bis kurz vor seinem Tod hatte er sie jeden Abend gestreichelt und geküsst. Manchmal, sagte sie, stelle sie sich vor, er liege noch immer neben ihr im Bett, wenn sie schlafen gehe. Er lasse seine Hand langsam vom Nacken über ihre Wirbelsäule gleiten. Dann höre sie, wie er leise ihren Namen hauche. Die Neue hatte sich dergleichen noch nie vorgestellt und fragte sich, ob sie je so geliebt worden war wie die Andere. Sie hätte sich auch fragen können, ob sie je selbst so geliebt hatte.

Sie beschloss, sich mit diesen Fragen nicht weiter zu quälen, weil sie jetzt ja ohnehin zu alt war für die Trauer über versäumte Zärtlichkeiten. Aber weil die Andere jetzt ein bisschen weinte, erhob sie sich und legte ihre Hände tröstend auf die Schultern der Anderen. Die fing jetzt erst recht an zu weinen, und die Neue wusste nicht, was sie noch tun konnte, um sie zu trösten. Da ließ sie eine Hand auch noch über die dünnen Haare der Alten gleiten. Als sie sich beruhigt hatte, verabschiedete sich die Neue. Bei der nächsten Tasse Kaffee sagte die Andere, es habe ihr sehr gutgetan, von der Neuen berührt und gestreichelt zu werden. Deshalb wolle sie sich revanchieren. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, stellte sich hinter die Neue, legte ihre Hände auf ihre Schultern und streichelte ihren Kopf. Die Neue wusste nicht, wie ihr geschah. Es war ihr unangenehm, von der Alten so berührt zu werden. Und sie war ja auch gar nicht traurig. Aber sie wagte nicht, die Alte von sich wegzustoßen und ließ sich die Zärtlichkeiten gefallen. Sie sorgte ja nur für ausgleichende Gerechtigkeit. Die arme Alte hatte ja sonst nichts, was sie hätte hergeben können als Kaffee und sanfte Berührungen. Und weil die Neue nicht in der Schuld der Anderen stehen wollte, gab sie die Zärtlichkeiten an die Andere zurück. So erweiterte sich ihr Ritual, das zuvor nur durch den Tausch von Tageszeitung gegen Kaffee bestimmt gewesen war, um das des Tausches von Berührungen. So saßen sie nun täglich bei Kaffee und Keksen am Küchentisch der Anderen, erhoben sich nach einiger Zeit abwechselnd von ihren Stühlen, um einander Schultern und Kopfhaut zu massieren. An einem warmen Sommertag trug die Andere nur eine dünne Bluse. Als sich die Neue von ihrem Stuhl erhob, öffnete die Andere die oberen Knöpfe ihrer Bluse und ließ sie leicht von den Schultern herabgleiten. Die Neue zögerte einen Augenblick, aber sie wollte der Anderen auch nicht sagen, sie solle ihre Bluse wieder zuknöpfen, weil sie damit die Gebote des Anstands verletze. Also streichelte sie die nackten Schultern der Alten wie an den Tagen zuvor die bedeckten. Sie konnte die faltige Haut unter ihren Schlüsselbeinen sehen und die erschlafften Brüste in der Bluse, denn sie trug keinen Büstenhalter an diesem warmen Sommertag. Als die Neue an der Reihe war, öffnete die Andere ebenfalls drei Knöpfe der Bluse, die die Neue trug. Die Neue ließ es sich gefallen und fand es nur gerecht. Einige Wochen später fanden die Beiden es naheliegend und praktischer, sich obenherum ganz frei zu machen, wenn sie ihr Ritual begingen. Weil sie durchs Küchenfenster bei ihren Tauschgeschäften nicht gesehen werden wollten, begaben sie sich nun nach dem Kaffee ins Wohnzimmer, dessen Fenster zum Garten hinausgingen. Wieder einige Wochen später, als der Herbst immer dunkler und kühler wurde, entkleideten sie sich ganz und legten sich nebeneinander in das Bett der Anderen. Immer noch wechselten sie sich mit ihren Zärtlichkeiten ab. Erst streichelte die Neue den Rücken der Anderen, dann legte sich die Neue auf den Bauch, um ihren Anteil zu empfangen. Eines Tages fragte die Andere, ob die Neue auch noch Empfindungen da unten, zwischen den Beinen habe. Die Neue wusste es nicht. Dann erzählte die Andere, wie ihr Mann sie früher dort liebkost und wie sehr sie es genossen habe. Sie lächelte und legte ihre knorrigen Finger in den Schoß der Neuen, die sofort bemerkte, dass sie noch immer Empfindungen dort hatte. Die Andere beschrieb, wie sich der Junge, der ihr Mann einmal gewesen war, mit seiner Hand in ihren Slip vorgearbeitet und ihre erblühende Perle berührt und liebkost hatte. Dabei rieb sie sanft die neu erblühende Perle ihrer Bettgenossin. War das ein großes Unrecht, das hier geschah, fragte sich die Neue, und beschloss, dass sie nur Opfer ihrer eigenen Wohltätigkeit geworden war und keine Schuld daran trug. Sie hatte ihre Tageszeitung gegen Kaffee und Gespräche getauscht. Das war nur gerecht gewesen. Sie war immer die vorbehaltlos Gebende gewesen. Die Geschenke, die sie dafür erhalten hatte, waren leider immer noch etwas größer gewesen, als das, was sie gegeben hatte. Nie hätte sie es ertragen können, in der Schuld eines anderen Menschen zu stehen. Das war ein Teufelskreis geworden. Es war eine große Sünde, dass sie sich als alte Frau von einer anderen alten Frau diese Wonnen bereiten ließ. Sie hatte nie davon gehört, dass alte Frauen das miteinander taten. Ausgleichende Gerechtigkeit erschien ihr jedoch, wie immer in ihrem langen Leben, als der höhere Wert. Also trug sie auch jetzt ihren Teil zur Gerechtigkeit bei, beschloss jedoch, als sie sich ankleidete, die Andere nicht wieder zu besuchen und ihre Tageszeitung abzubestellen. Denn der Gerechtigkeit war Genüge getan. Am nächsten Tag trug sie die Zeitung nicht mehr zu der Anderen. Sie glaubte, die Andere werde bald an ihrer Tür klingeln und nach der Zeitung fragen. Aber sie ließ sich an diesem und den folgenden Tagen nicht bei ihr blicken. Nach einer Woche war ihr schlechtes Gewissen so stark geworden, dass sie nun doch einmal nachsehen wollte, wie es der Nachbarin ging. Die öffnete ihre Tür aber nicht. Auch nicht am folgenden Tag. Die Neue stand nun viele Stunden an einem Fenster, das zur Straße hinausging und wartete darauf, dass die Andere ihr Haus für einen Einkauf verließ. Aber sie verließ ihr Haus nie mehr, denn sie war gestorben. Als die Polizisten, die die Neue schließlich gerufen hatte, das Haus der Nachbarin verließen, erfuhr sie, die Andere sei in ihrem Bett friedlich eingeschlafen. Die Neue blieb allein zurück mit einer giftigen Schuld.

Donata sagt: Und die Moral von der Geschicht?

Sarah sagt: Justus macht sich nur über meine nur halb so sonderbare Mutter lustig, die jeden Morgen unsere Zeitung bekommt und sie dann an eine noch betagtere Freundin weitergibt. Frag besser nicht nach dem Sinn.

Justus sagt: Ich bin ein witzbold! Sag mal, Donata, hat dir Thomas jemals seine zunge so tief in den rachen geschoben, dass du einen hustenanfall bekommen hast? Das frage ich mich schon die ganze zeit.

Boccaccio 2020

Zombie-Apokalypse

Als wir alle glaubten, das Virus sei endlich besiegt, es habe sich verflüchtigt, oder es sei zur Ruhe gekommen, weil fast alle von ihm infiziert worden waren; als unsere Toten begraben und die Kranken genesen waren, hatte der Juni gerade die lang ersehnte Sonne und Wärme gebracht. Erleichtert verließen wir unsere Wohnungen und Häuser, umarmten unsere Freunde, wenn wir sie auf dem Wochenmarkt trafen, schüttelten Hände und blieben lange stehen, wenn wir Bekannten begegneten, die wir seit Wochen nicht gesehen oder nur aus großem, sicherem Abstand gegrüßt hatten. Und alle Menschen lächelten. Überall trafen sich freundliche Blicke, die sagen wollten: Es ist überstanden, wir können unser Leben wieder genießen. „Sieh die Blumen dort! Ist es nicht eine Pracht? Und das Grün in diesem Sommer scheint mir viel grüner als in allen Jahren zuvor. Fühlst du das auch, dieses Prickeln im ganzen Körper? Als würde ich von innen heraus neu erblühen.“

Wir verabredeten uns mit Freunden, saßen bis tief in die Nacht zusammen, aßen, tranken, lachten – und herzten uns immer wieder, weil wir unser Glück nicht fassen konnten. Dieses Glück, Freunde zu haben, dieses Glück endlich wieder die Nähe zu anderen Menschen zu spüren! Unsere Beziehungen hatten so viele Wochen brachgelegen. Wenn wir uns gegenseitig auf den Bildschirmen gesehen hatten, waren uns nur Bedauern und Klagen über die Lippen gekommen. Bis uns irgendwann die Worte fehlten und die Begegnung im Netz keine Befriedigung mehr brachte.

Unsere neu erwachte Lebensfreude war sogar so groß, dass wir spontan mit wildfremden Menschen ins Gespräch kamen. Wir betraten zum ersten Mal das Haus unserer Nachbarn, wir hatten uns immer nur mit höflicher Distanz gegrüßt, einige freundliche Worte gewechselt und – vermutlich beruhte das auf Gegenseitigkeit – beschlossen, dass unsere Herzen keinen Platz für weitere Freunde hatten. Der Sommer aber musste, wie es schien, unsere Herzen geweitet haben und bot nun genügend Platz für neue Freunde, viele Freunde, Menschen, an denen wir wenige Monate zuvor noch achtlos vorübergegangen waren. Ein Mann, der neben uns auf einer Bank beim Busbahnhof hockte, erzählte uns unter Tränen von seiner verstorbenen Mutter. Sie hatte den Virus nicht überlebt. Hannah trocknete seine Tränen mit einem Taschentuch und strich ihm sanft mit dem Handrücken über die Wange. Ich hielt seine Hand und massierte seinen Handballen, wie ich es sonst nur bei Hannah tat, wenn sie Kopfschmerzen hatte. Im Bus stimmte die Fahrerin einen Kanon an: „Vom Aufgang der Sonne, bis zu ihrem Niedergang, sei gelobet der Name des Herrn“, und obwohl die meisten an keinen Gott mehr glauben konnten, stimmten bald alle mit ein. Eine Frau mit einer besonders schönen Stimme sang ein friesisches Liebeslied, das uns zu Tränen rührte. Wir blinzelten durch die staubgetrübten Fenster auf die vorüberziehenden Straßen, wo im gleißenden Licht Junge und Alte zu schweben schienen, aufrecht und wach, als gelte es jedem Stein, jedem Pflänzchen und jedem Vöglein genügend Aufmerksamkeit widmen zu müssen. Als sei jeder Fleck und selbst die bemoosten Ränder der Schaufensterrahmen eine Quelle der Glückseligkeit. Immer wieder sahen wir Menschen, die sich in den Armen lagen. Im Park entledigte sich ein Mann seiner Kleider.

Unsere Kinder wunderten sich nicht, als wir ihnen mitteilten, dass Rudolf bei uns übernachten würde. Er war seit unserer gemeinsamen Busfahrt schon viel munterer geworden. Ich lieh ihm einen Pyjama, nachdem er sich geduscht hatte, und Hannah fand eine unbenutzte Zahnbürste für ihn. Im Bett nahmen wir ihn in unsere Mitte. „Die Bettritze, haha.“ Ja, die Bettritze, wir dachten uns nichts dabei, es war so selbstverständlich, dass er nicht allein schlafen sollte. Es war lange her gewesen, dass ich mit einem Freund gemeinsam im Bett gelegen hatte. Das letzte Mal, als ich in der achten Klasse gewesen war. Man kommt nicht zur Ruhe, die eine Geschichte birgt schon das Stichwort für die nächste. Auch Rudolf wurde nicht müde, aus seiner Kindheit zu erzählen, von seiner Mutter, dem abhanden gekommenen Vater, den verhinderten Liebesgeschichten in der Schulzeit und danach.

„Hast du denn nie eine Freundin gehabt“, fragte Hannah.

„Nein, nie. Vielleicht war ich einfach zu schüchtern.“

„Du hast nie mit einer Frau geschlafen?“

„Oder mit einem Mann“, fügte ich hinzu.

„Nein.“

„Das ist traurig“, sagte ich. „Es ist so schön, mit einer Frau zu schlafen. Mit einem Menschen, den du liebst. Es gibt kaum etwas Schöneres als das Begehren. Für mich: die Lust einer Frau, der Duft ihres Geschlechts.“

„Ja“, sagte er. „Aber die Pornos werden irgendwann schal.“

„Ja“, sagte ich, „wenn das alles nicht Wirklichkeit wird.“

Hannah ließ ihre Hand sanft unter sein Pyjamaoberteil gleiten, strich über seinen Bauch, hinauf zur Brust. „Von Händen berührt zu werden. Das kann schon nach wenigen Tagen fehlen.“

Hannah lächelte, als wir am nächsten Morgen beim Frühstück saßen. „Dass wir das jemals machen würden, das hätte ich noch vor ein paar Monaten nicht für möglich gehalten“, sagte sie. „Ich hätte nicht einmal daran gedacht. Ist das nicht sonderbar?“

„Vor ein paar Monaten. Und vor einer Woche? Hast du da noch nicht gefühlt, dass etwas anders geworden ist?“

Hannah überlegte. „Als ich mich mit Renate noch eine Weile an der Glut in der Feuerschale wärmte, ihr wart schon hineingegangen, Renate war dicht an mich herangerückt, ihre Augen glänzten in der Dunkelheit, da berührte sie unvermittelt meine linke Brust und sagte, sie habe meine Brüste schon immer bewundert, manches Mal habe sie sich gewünscht, mich nackt zu sehen und meine Brüste in den Händen zu halten, sie habe schon lange diesen innigen Wunsch, zu fühlen, wie die Brustwarzen einer anderen Frau vor Erregung fest werden. Sie lächelte und küsste mich auf den Mund. In diesem Moment stellte ich mir vor, wie ich den Reißverschluss ihrer Jeans öffne und meine Finger in ihrem Schoß versenke, sie so lange liebkose, bis sie kommt. Ich habe das noch nie gemacht. Aber plötzlich hatte ich eine riesengroße Lust, Renate dabei zuzusehen, wie sie sich meinen Händen und auch meiner Zunge hingibt. Mir wurde bewusst, dass es etwas ungemein Schönes sein muss, eine Frau zum Orgasmus zu bringen.“

„Das ist es, zweifellos.“

„Und dass ich nicht sterben möchte, ohne das wenigstens einmal erlebt zu haben. Das ist vor einer Woche gewesen. Aber da hätte ich noch nicht den Mut gehabt, dir oder Renate davon zu erzählen.“

„Und vor zwei Wochen hätte ich nie daran gedacht, den Penis eines anderen Mannes anzufassen und diesen Genuss empfinden zu können, wenn er in meiner Hand langsam prall und fest wird. Ich wäre vor Eifersucht gestorben, wenn ich hätte mitansehen müssen, wie deine Lippen seine Eichel umschließen, wie ein anderer Mann in dir kommt, zu spüren, wie sich mein Sperma mit dem eines anderen Mannes in dir mischt. Ich hätte das pervers gefunden.“

„Ist es das vielleicht sogar? Oder sind wir nur in einem Traum, in dem alles möglich geworden ist?“

„Ein Traum, in dem wir vergessen, zur Arbeit zu gehen. Ein Traum von Sorglosigkeit und unbändiger Lust. Da sag‘ ich was, ich habe die ganze Zeit geglaubt, heute sei Sonntag. Dabei ist Dienstag. Ich hätte längst zur Arbeit gemusst. Lustig, oder?“

Es war nur angemessen, dass Rudolf nackt unsere Sonnenterasse betrat. Das Licht war flirrend und auf meiner Stirn stand bereits der Schweiß. Rudolf war in sein Smartphone vertieft, das er in der einen Hand hielt, mit der anderen knetete er genussvoll seinen Penis. „Bislang war klar“, sagte er, „dass das Virus die Lunge befällt, auch den Magen-Darm-Trakt und die Hoden. Jetzt lese ich, dass es auch das Hirn angreift.“

„Das Virus ist besiegt. Oder etwa nicht?“

„Ich les‘ mal die Schlagzeilen vor: Wissenschaftler entsetzt! Zombievirus zeigt sein wahres Gesicht. Moralische Demenz: Virus tötet Angst und Aggression. Experte schätzt: Nur etwa 20 bis 30 Prozent nicht infiziert. Jetzt droht der Kollaps!“

Wir lachten. Wir hatten Glück gehabt, wir gehörten zu den Unversehrten. Auf dem Nachbargrundstück wälzten sich Michael und Steffi seit einer Weile splitterfasernackt mit ihrem Hund auf dem Rasen. Jetzt hatte das Tier seine feuchte Schnauze zwischen Steffis Beinen und Michael hielt das erigierte, blaurote Glied des Golden Retriever fest umschlossen in der einen Hand – und winkte uns mit der anderen fröhlich zu. Bald würden auch unsere Kinder einen Begriff davon haben, was es heißt, im Paradies zu leben.