Steve de Shazer und Insoo Kim Berg haben die therapeutische Wunderfrage in der klinischen Praxis bei der Therapie psychisch Erkrankter entwickelt. Sie wird in etwa so eingeleitet: „Nach unserer Sitzung heute gehen Sie (der Patient/die Patientin) nach Hause, am Abend tun Sie, was Sie immer tun, vielleicht sehen Sie etwas fern, gehen ins Bett, lesen noch ein wenig in einem Buch, Sie werden müde, schalten das Licht aus und schlafen ein. Während Sie schlafen jedoch geschieht ein Wunder. Sie wissen nicht, wie es geschieht, und Sie wissen, wenn Sie am Morgen erwachen, zunächst auch nicht, was geschehen ist. Aber das Wunder, das sich über Nacht ereignet hat, hat die Probleme, derentwegen Sie in die Therapie gekommen sind, beseitigt. Einfach so. Ohne Ihr Zutun. Ihre Probleme wurden durch das Wunder einfach in Luft aufgelöst. Woran würden Sie, wenn Sie aufwachen, erkennen, dass dieses Wunder stattgefunden hat? Wie würde sich Ihr Tag gestalten? Welche Veränderungen an sich selbst würden Sie wahrnehmen? Welche Veränderungen würden Sie an den Menschen Ihrer Umgebung wahrnehmen? Was würden Sie tun? Was würde sich ändern?“

Aus dem konkreten therapeutischen Setting herausgelöst, in dem es um wirksame Änderungen eines einzelnen psychischen Systems geht, und übertragen auf gesellschaftliche Probleme bekommt die Wunderfrage utopische Dimensionen. Imagine! John Lennon hat die Wunderfrage gestellt und bei seinem imaginären Kehraus zum Mitsingen kurzerhand Himmel, Hölle, Religion, Kapitalismus und Nationalstaaten entsorgt. In seiner Vision stellt sich unmittelbar Friede unter den Menschen ein, denn niemand muss mehr für irgendein höheres Ziel töten oder sterben, niemand mehr hungern. Easy!
Tatsächlich aber sind die Probleme vielfältiger, verschachtelter, verwobener. Schon sie in der kritischen Analyse überhaupt zu identifizieren, bedeutet, Richtiges von Falschem unterscheiden zu müssen und dabei auch in der Wertung richtig zu liegen. Den von einem Krebsgeschwür befallenen Lungenflügel kann der Arzt im Extremfall komplett herausschneiden, die vom Krebs durchwucherte Leber dagegen nicht. Ganz abgesehen davon, dass das Bild vom gesunden (Volks-)Körper selbst schon auf die falsche Fährte führt, der nämlich, es gehe bei der Gesundung um die Totalität eines Organismus respektive einer Gesellschaft, deren Teile ihr als Ganzer untergeordnet sind. Wenn es um den Organismus geht, hat die einzelne Zelle keine Bedeutung mehr. Sie ist verzicht- und ersetzbar, sie wächst nach. Aus einem kranken Organismus können Teile entnommen oder herausgebrannt werden. Der Organismus sorgt im Heilungsprozess für Ersatz, oder das insuffiziente Herz wird durch das eines Verstorbenen ersetzt. Medikamente killen Krebszellen, aber eben auch harmlose Schleimhautzellen, jedenfalls verhindern sie ihr Wachstum. Für den guten Zweck nehmen es Arzt und Patient in Kauf.
Dieser Blick auf den sanier- und optimierbaren biologischen Organismus entspricht in vieler Hinsicht dem auf die durch nationale Grenzen eingehegte Gesellschaft, den Nationalstaat. Nicht selten wird der Staat im animistischen Bild des notorisch kranken Patienten personifiziert. Schon Ende des 17. Jahrhunderts hatte Thomas Hobbes den Staat als lebendiges, nach menschlichen Vernunftprinzipien geformtes und agierendes Meta-Wesen gezeichnet (das von Vitalität allerdings noch strotzte). Dieses Bild bestimmt nachhaltig unser Nachdenken über dessen Probleme: Gesellschaftliche Probleme sind Probleme, die eine Gesellschaft oder eine Nation (resp. Staat) hat. Ist eine Gesellschaft krank, sind die Ärzte und Quacksalber nicht weit. Entsprechend laut sind die Rufe nach dem Skalpell. Sie dröhnen immer lauter. Von allen Seiten. Ob „Nazis raus“, oder „Ausländer raus“, es geht um die Beseitigung Einzelner oder ihrer Meinungen aus dem gesellschaftlichen Korpus. Es geht um die Schachmattsetzung der für Missstände Verantwortlichen, darum, Menschen mundtot zu machen, die Unwahrheiten oder sogar bewusste Lügen verbreiten. Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper, Gifte und Schlacken müssen ausgeschieden werden, der Körper hat seine eigenen unwandelbaren Diskurse, er ist das Dispositiv für alle organischen Prozesse. Entsprechend werden die Werte und Normen top-down gedacht: Es geht um den Erhalt und die Reproduktion des Organismus‘. Dafür sind alle Mittel recht.
Zwar wird auch der demokratische Staat als ein auf Selbsterhaltung ausgerichteter Organismus verstanden, die politischen Prozesse sind durchweg selbstbezüglich. Aber ins demokratische System ist normativ die Vermittlung dieser Prozesse mit den davon betroffenen Individuen eingeschrieben. Dies, die Verfassung und die Trinität von Legislative, Judikative und Exekutive verhindern die totale Macht des Staates. Sie schützen die Individuen in einer Demokratie vor totalitärer Willkür. Ihre Mühlen jedoch mahlen langsam. Für viele Ungeduldige des beschleunigten digitalen Zeitalters zu langsam. Der Ruf nach Geschwindigkeit und Effektivität wird immer lauter, unterschwellig verbindet sich mit ihm die Projektion eines Staates, der in der Verschmelzung der drei Instanzen zu neuer Macht, zu Effektivität und neuem Glanz gelangt. „Schnellere Entscheidungen, bitte! Keine Klagemöglichkeiten für Windkraftgegner, asylsuchende Straftäter sofort abschieben, das unkorrekte Wort aus den medialen Verteilern verbannen!“ – Beispiele für Lösungen von Problemen, die nichts sind als Etiketten für Gefühle, die selbst noch gar nicht in rationale Relation zu den durch die Verfassung (das Grundgesetz) verbürgten Rechten gesetzt wurden. Schleichend – jedoch vor aller Augen – ballen sich die naiv geäußerten Befindlichkeiten und Ressentiments zu einem verfassungsfeindlichen Diskurs. Er gibt sich einen basisdemokratischen Anschein, wo er, legitimiert durch Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte, Mehrheiten für Meinungen akkumuliert und daraus Forderungen an den Staat ableitet, die auf eine Beschneidung oder gar Abschaffung verfassungsmäßiger Rechte abzielen. Der kranke „Vater Staat“ soll sich diversen operativen Eingriffen unterziehen, angeleitet von einer Schar gewitzter Meinungsführer, die es verstehen, von unbestimmten Emotionen getriebene Schwärme um sich zu versammeln. Der Staat soll Hand an sich legen und sich mit stumpfem Messer das kranke Gewebe aus dem Leib schneiden, er wird zum Aderlass gebeten, Quecksilber und Arsen merzen noch die letzten Keime und Erreger aus und alle gefährlichen Parasiten, die am Volkskörper saugen. Die herbeigebrüllten Selbstheilungskräfte könnte der Staat jedoch allein aus totaler, mindestens aber autoritärer Macht beziehen. Der Staat soll sich selbst in die Lage versetzen, jedes für problematisch gehaltene Phänomen mit starker Hand an den demokratischen Institutionen vorbei schnell und effektiv aus dem Weg zu räumen. Nur so, meint eine bedrohlich wachsende Masse von Bürgern, könne der eigene Staat im neu entbrennenden Konkurrenzkampf mit den anderen Staaten langfristig bestehen. Das vorgebliche Interesse an der Heilung des Staates ist in Wahrheit ein Kampf um die Verwirklichung von Partikularinteressen. Es keimt hier aus egoistischer Gier, dort aus irrationalen Befürchtungen, Privilegien, Wohlstand oder das Stützgerüst kulturell vermittelter Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten zu verlieren.
Die eingangs erwähnte Wunderfrage könnte für Antidemokraten so lauten: „Was würde sich ändern, wenn der Staat endlich wieder ein starker Staat wäre? Was, wenn wir die Grenzen schlössen? Was, wenn wir die intellektuellen Eliten endlich entmachtet hätten? Wenn es keine Asylanten mehr gäbe, die EU aufgelöst wäre, der eigene Staat wehrhaft als politische, militärische und wirtschaftliche Großmacht als Verteidiger nationaler Interessen in den Kampf um die versiegenden Ressourcen zöge?“
Naturgemäß kränkelt der demokratische Staat in verschiedensten Bereichen, lebensbedrohlich jedoch sind allein die antidemokratischen Tendenzen in der Bevölkerung. Sie sind vergleichbar mit einer Autoimmunerkrankung, bei der ein Organismus sich selbst attackiert und früher oder später zerstört. Die Frage ist, welche Therapie zu Gebote steht, die nicht selbst wieder eine Autoimmunreaktion wäre.
Steve de Shazer und Insoo Kim Berg entwickelten und praktizierten eine systemische Kurzzeittherapie. Möglicherweise sind einige Ansätze ihrer therapeutischen Praxis auch auf das Handeln in gesellschaftlichen Zusammenhängen übertragbar. Etwa die Überzeugung, es sei bei psychischen Störungen keineswegs angebracht, die Symptome selbst zu bearbeiten, zu analysieren und im Gespräch ihre Ursachen zu erforschen. Die Patienten kommen in der Regel erst dann zur Therapeutin, wenn sie genau das bereits zur Genüge versucht haben: das Problem selbst zu verstehen, zu kontrollieren oder zu beseitigen. Nur die klassische Psychoanalyse verspricht sich Heilung von immer mehr der gleichen Lösung: Sie buchstabiert die psychischen Störungen bis ins Detail aus und veranlasst die Patientinnen, noch weitere Kapitel zu der ohnehin schon endlosen Erzählung hinzuzudichten. Bis heute hat sich die Psychoanalyse nicht den evaluativen Verfahren unterzogen, denen sich die übrigen therapeutischen Verfahren mit unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gestellt haben. Es geht der Psychoanalyse auch gar nicht in erster Linie um Heilung, es geht um die Analyse selbst und die sprachlich strukturierten Erkenntnisse, die anschließend an dieses zeitraubende Verfahren zu Verhaltensänderungen des Analysierten führen sollen – wenn sie denn wirklich dazu befähigten. Eher wird die Analyse im Jahre dauernden Prozess zu einer eigenen Lebensform, die trotz der durch sie, zusätzlich zu den verhandelten Symptomen der Störung, provozierten Qualen (die sich immer wieder auch in glückspendendes Wohlgefallen auflösen und auflösen müssen, um den Erfolg der Therapie zu suggerieren) einen besonderen Narzissmus hervorbringt, der sich gerade von den untersuchten und in sprachliche Strukturen verwandelten Störungen nährt und darum die Heilung gerade meiden muss wie der Teufel das Weihwasser. Die Psychoanalyse ist ein selbstbezüglicher und sich selbst erhaltender Prozess.
Die systemische Kurzzeittherapie weicht dagegen den Symptomen der psychischen Störung vordergründig aus. Es hilft nicht, sie zu analysieren und ihnen ein komplexes Wortkleid anzupassen. Da der Mensch, der der Therapeutin gegenübertritt, ein hochkomplexes psychisches System darstellt, in dem (in einem wiederum extrem unterkomplexen Bild) viele Zahnräder ineinandergreifen, hilft es womöglich mehr, das System zu verändern, wo es sich verändern lässt, und gerade nicht da, wo es offensichtlich hakt. Probleme sind Probleme, weil sie so widerständig sind. Wo alle Zahnräder im System mit allem direkt oder indirekt verbunden sind, ändert die Einstellung eines zunächst peripher erscheinenden Rädchens, an dem sich aber leicht drehen lässt, das ganze System. Die Veränderung in einem dem Symptom scheinbar abgewandten Bereich des Systems beeinflusst auch das bislang für unveränderlich gehaltene Symptom der psychischen Störung. Die Heilung der Symptome geschieht im günstigen Fall ohne eine ausführliche Analyse und das Verstehen der Symptome sowie der Gründe für die psychische Störung. Das Ausbuchstabieren der psychischen Störung würde diese im Gegenteil noch weiter etablieren oder sogar ausweiten, die betroffenen Synapsen im Hirn nur weiter stärken. Der von Einschlafstörungen geplagte Patient sollte alles andere tun, als über die Beseitigung seiner Störung nachzudenken. Es würde ihn auch weiterhin am Einschlafen hindern. Schlimmer noch: Jede ausführlich reflektierte Maßnahme, die das Einschlafen befördern könnte, böte neue assoziative Anknüpfungspunkte für die Erinnerung an die Störung. Bald würden nicht nur Schäfchen mit ihrer weichen, wärmenden Wolle, sondern auch Mantras, Atemgeräusche, der Wecker, das Blättern im als Ablenkung gedachten Buch, der Anblick von Socken, der Arzneischrank und vieles andere mehr schon vor dem Zubettgehen an den Kampf um die Nachtruhe erinnern. Der therapeutische Diskurs, der die Störung selbst thematisiert, verstärkt die Störung nur.
Im übertragenen Sinn füttert der diskursive Kampf gegen die oben diagnostizierte antidemokratische Autoimmunreaktion westlicher Staaten ausgerechnet die Diskurse und Dispositive, denen der Kampf angesagt wurde. Diesem Problem, den in die Irre laufenden Diskursen auszuweichen, statt sie argumentativ zu bekämpfen und wissenschaftlich differenziert zu analysieren, bedeutet jedoch nicht, sie zu ignorieren. Sie bleiben ja jederzeit sichtbar und spürbar, sie haben eindeutige Gefühlsqualitäten: Es herrschen Hass, Missgunst, Neid, Anerkennungssucht, Eifersucht, Gier. Sie speisen unser kapitalistisches Gesellschaftssystem, das noch bis in die intimsten Zonen des individuellen Lebens hineinregiert und die Menschen sich selbst als Waren und ihre Beziehungen zueinander als Warentausch erfahren lässt. Das Unbehagen Vieler äußert sich, wo Ängste formuliert werden, wo quälende neurotische Zwänge zutage treten, es zeigt sich in Erschöpfung, Hasskommentaren, Diffamierungen, in Wut oder auch schlechtem Gewissen über objektive oder bloß empfundene Ungerechtigkeiten, in Gefühlen der Einsamkeit, fehlender Liebe, Zuwendung und Zärtlichkeit, der unerfüllten Sehnsucht nach Gemeinschaft, gegenseitigem Verstehen und Anerkennung, der verzweifelten Preisgabe von – auch kultureller – Identität zugunsten eines fluiden Marktes, der nach nicht minder fluiden Akteuren und Konsumenten verlangt.
Die Analyse der Ursachen für die Probleme entfaltet sich in unerschöpflichen Diskursen und innerhalb der sich immer weiter ausdifferenzierenden wissenschaftlichen Paradigmen. Die Analyse kennt kein Ende und immer nur vorläufige Teilerkenntnisse über die unüberschaubare Komplexität gesellschaftlicher, kultureller Verhältnisse und der Psychologie der Massen. Die daraus hervorgehenden Urteile, Bewertungen und kämpferischen Kommentare und Agitationen werden in unvorhersehbarer Weise von den herrschenden Diskursen aufgesogen, sie werden zum Rohmaterial eines bewusstlosen Kommunikationssystems, das nach eigenen Regeln kommuniziert. Überspitzt formuliert Luhmann es so: „Nur Kommunikation kann kommunizieren.“ Der antidemokratische Diskurs lässt sich nicht diskursiv kontrollieren oder lenken. Er führt ein Eigenleben – und okkupiert das Bewusstsein von immer mehr Menschen. Welchen Sinn haben da noch unsere kritischen Analysen und die durch sie begründeten Appelle und Vorwürfe, mit denen wir wider unsere Absichten den antidemokratischen Diskurs weiter anfeuern? Der Widerspruch gegen alles Falsche thematisiert dies Falsche bereits wieder und provoziert die Gegenrede. Die Rationalität des Diskurses ist die Behauptung, ihr Modus der der Unterscheidung. Diskurse verschwinden nicht durch Argumente, sie differenzieren sich durch sie nur weiter aus. Ohnmächtig vor den selbstbezüglichen Prozessen der Kommunikation, der gesellschaftlichen Wirkungslosigkeit der mit unseren Erkenntnissen, Diagnosen und Appellen verbundenen Absichten werden wir die Analysen und die diagnostische Arbeit bald so entmutigt wie erleichtert den künstlichen Intelligenzen überlassen, denen wir schon jetzt mehr zutrauen als der menschlichen Intelligenz, der humanen Vernunft. Dann werden sich die Analysen vollends als das erweisen, was sie bereits sind: selbstbezügliche Systeme mit undurchdringlichen Grenzen zur ihrerseits selbstbezüglichen, autonomen Wirklichkeit der Diskurse. Die von manchen Wissenschaftlern herbeigesehnte totale künstliche Intelligenz, eine gottgleiche „Singularität“ soll den Menschen künftig Orientierung und konkrete politische, technologische und wirtschaftliche Handlungsanweisungen geben und auf diese Weise die unerträgliche Komplexität der Wirklichkeiten auf ein Menschenmaß reduzieren. Aber schon jetzt lässt sich das Zustandekommen der Ergebnisse, die die Maschinen mit ihren selbstbezüglichen lernenden Algorithmen von Menschen nicht mehr nachvollziehen. Die Maschine verwandelt sich vom kalkulierten Ingenieursprodukt zur autonomen Black Box, der wir unser Schicksal als Menschheit irgendwann anvertrauen werden. Die intelligente Maschine wird zur Zentrale eines totalitären Super-Staates, der zum Zweck seines Selbsterhalts die ihn einst konstituierenden Individuen nur noch als problematische Manövriermasse betrachtet und jedes individuelle Leid, jede Ungerechtigkeit, jede Auslöschung, Vertreibung, Ausgrenzung, Diffamierung, Diskriminierung, Unterdrückung dafür emotionslos in Kauf nimmt.
Totalitarismus entsteht, wo eine Gesellschaft, ein Nationalstaat als autonomer, selbstbezüglicher Organismus gedacht wird, der gesellschaftliche Probleme als Symptome der Dysfunktionalität von Menschen, Gruppen von Menschen und vor allem von Kommunikationen auffasst und diese in einer Weise zu lösen versucht, dass sein eigenes Fortbestehen gewährleistet ist. Totalitarismus entsteht, wo gesellschaftliche Probleme nicht mehr vom Individuum und seinen unverbrüchlichen Rechten aus reflektiert werden. Gesellschaft und Kultur von den Menschenrechten aus zu denken und zu bewerten, was einen notwendigen Perspektivwechsel darstellen würde, macht die Sache allerdings nicht weniger kompliziert, sofern man sich getrieben sieht, zu analysieren, warum überall in der Welt gegen Menschenrechte verstoßen wird; wenn wir die Ursachen dafür in langwierigen theoretischen Disputen ausbuchstabieren und immer neue theoretische Modelle entwerfen, wie das Zusammenleben der Menschen organisiert werden müsste, damit auch im letzten Winkel der (dem Kollaps entgegeneilenden) Welt die Einhaltung der Menschenrechte gewährleistet wäre. Das denkbar menschlichste Konvolut an Werten und Normen, das auch die intelligenteste Maschine für die Menschheit nicht ersinnen könnte, steht aber schon in Stein gemeißelt geschrieben. Es sind die kategorischen Imperative einer allgemeinen menschlichen Vernunft. Sie zu befolgen bzw. ihre Verwirklichung im konkreten Handeln jederzeit zu ermöglichen, ist der Auftrag jedes einzelnen Menschen, ganz gleich, in welchem sozialen System er als scheinbar Ohnmächtiger wirkt.
Imagine! Stell dir vor, während du schläfst, geschieht ein Wunder und du erwachst eines Morgens und „alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten“! Woran würdest du bemerken, dass dieses Wunder wirklich geschehen ist? Wie wäre dein Tag? Wie begegneten dir deine Mitmenschen? Was würde sich verändern?
Stell dir vor, während du schläfst, geschieht ein Wunder und deine Hautfarbe, dein Geschlecht, deine Sprache, Religion, deine politische oder deine sonstigen Überzeugungen, deine nationale oder soziale Herkunft, dein Vermögen oder dein gesellschaftlicher Status beeinträchtigten nicht mehr dein Zusammenleben mit den anderen! Stell dir vor, dein Hass, deine Gier, deine Eifersucht, dein Neid seien über Nacht verflogen. Was würde sich für dich und die Menschen in deinem Umfeld ändern?
Stell dir vor, ein Wunder geschieht, während du schläfst. Einfach so. Du erwachst mit dem Mut, das Unrecht, das dir oder anderen Menschen geschieht, hörbar zu benennen! Was würde sich für dich und die Menschen, mit denen du verbunden bist, verändern? In deiner Beziehung, in deiner Familie, in deinem Betrieb, deiner Stadt, in deiner Partei, in der Organisation oder Institution, der du angehörst.
Für den Patienten im therapeutischen Setting stellt die Wunderfrage allein noch nicht den ersten Schritt zur Heilung von seinen Symptomen dar, im Gegenteil, sie kann ihm als zynische Zumutung erscheinen. „Wie soll ich mir das vorstellen? Ich erwache jeden Morgen mit meiner Angst. Die geht nicht einfach so weg.“ Die Heilung beginnt erst in dem Moment, wo die Fantasie sich das utopische Szenario des „Als ob“ konstruiert, wo der Patient die veränderte Situation imaginiert, in der er sich selbst anders verhalten würde als bisher und die Gemeinschaft mit anderen eine neue (wenn auch unvorhersehbare) Drift bekäme. Und wäre es auch nur die Vorstellung, wie er am Morgen entspannt eine halbe Stunde länger mit seinem Kaffee am Tisch sitzt, ohne die Angst, von den Erwartungen der anderen weiter im Übermaß getrieben zu sein. Oder die Vorstellung der Patientin, ihrer schizophrenogenen Mutter endlich mit Gleichmut begegnen zu können. Es geht um den Entwurf des eigenen Handelns unter gewandelten Bedingungen. Diese Handlungsentwürfe, diese Verschiebung der Perspektive leitet zu den Verhaltensänderungen an, die das psychische System in Bewegung setzen und es verwandeln. Es sind kreative Brechungen eingeübter Handlungsschemata. Nicht die kräftezehrenden Versuche, die Symptome selbst zu bekämpfen (gegen die Ängste andenken, dem Partner endlich mal die Meinung sagen, ihn verlassen, Selbstkasteiung, sich für seine psychische Störung selbst verantwortlich machen, die ultimative Einschlafmethode erfinden usw.), sondern Veränderungen vorzunehmen, wo sie leicht erscheinen. Und zu beobachten, was sich verändert.

Die Wunderfrage animiert dazu, das eigene Leben und das Leben mit den anderen Menschen in utopischen Dimensionen zu denken, in einem zunächst nur fiktionalen Raum des „Als ob“. In diesem „Als ob“ können wir dann vielleicht unser zukünftiges soziales Handeln entwerfen und vorwegnehmen, das ein besseres und heilsames wäre. Wie eine Stabhochspringerin, die ihren Sprung wochenlang imaginiert, bevor sie wirklich über die Latte fliegt, ohne sie zu berühren. So könnten auch wir im „Als ob“ der Fiktion neue Lebensmodelle imaginieren, die unterm Schutz eines demokratischen Rechtsstaates, der unsere Freiheit garantiert, möglich wären.
Zu selten noch folgen die Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Filme in ihrer Funktion als Reiche der Freiheit den Wunderfragen. Insbesondere die ambitioniertesten unter ihnen spiegeln vor allem das Elend und das Unrecht wider, das uns umgibt und wovon die Medien bereits zur Genüge berichten (was nötig und wichtig ist! Das ist ihre Aufgabe!). In wohlmeinender kritischer und aufklärerischer Absicht spiegeln die Autor*innen etablierte Diskurse, verorten sich (nicht selten selbstverliebt) autofiktional im Getriebe, dem sie zugleich schreibend zu entkommen meinen. Sie schreiben über Wohnungsnot, kapitalistische Heuschrecken, über Depression und Identitätsverlust im kapitalistisch organisierten Warenhaus der Beziehungen. Sie fordern dramaturgisch geschickt Respekt und Empathie für Vertriebene, Geflüchtete und Gestrandete ein. Ihren literarisch gestalteten Diagnosen des Scheiterns und des Unrechts verleihen sie vielleicht am Ende ihrer Erzählungen noch einen Schimmer der Hoffnung, weil sie ihre Leser nicht in Hoffnungslosigkeit zurücklassen wollen. Sie schüren Empörung und die Identifikation mit den Opfern der gesellschaftlichen Verhältnisse, sie sensibilisieren für das Falsche unserer Lebensweise, für die vermeidbaren Irrwege. Sie machen uns betroffen, aber führen uns doch zugleich unsere individuelle Ohnmacht vor. Immer häufiger schildern sie auch nur nonchalant ihre eigene Überforderung von den sie bestimmenden Verhältnissen und schrecken auch nicht vor dem ironisch-komödiantisch verharmlosten Bekenntnis der Resignation vor der eigenen Ohnmacht zurück. Wir Leser können zufrieden sein: „Es sind vielleicht andere Geschichten als meine eigene (oder auch eins zu eins meine Geschichte!), aber es geht den Autor*innen oder den handelnden Figuren letztlich nicht anders als mir. Als in (drohendes) Unheil Verwickelte lesen wir über die womöglich noch viel verwickelteren Anderen. Offenbar hätte es für mich schlimmer kommen können. (Oder: Für mich ist es schlimmer gekommen. Warum lese ich diesen Quatsch?) Gleichwie, ich schlage das Buch zu und widme mich wieder meinen Tagesgeschäften.“
Die literarischen und künstlerischen Fiktionen der Gegenwart stehen mehrheitlich im Dienst herrschender Diskurse. Sie brennen sie den Leser*innen weiter ins Bewusstsein ein. Statt im dialektischen Wechselspiel auch hin und wieder den Wunderfragen zu folgen und utopische Entwürfe gelingenden menschlichen Zusammenlebens zu erfinden, in denen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, in denen sich Liebe, Zuneigung, gegenseitige Anerkennung und Verantwortung entfalten. Kein langweiliges himmlisches Einerlei wäre zu erwarten, auch wenn sich zu Friede und Freude auch mal der Eierkuchen gesellen dürfte. Die Aufgabe, eine fiktionale Welt zu gestalten, in der die Menschenrechte für alle Menschen (oder zunächst nur für eine kleine Gruppe von Menschen) verwirklicht sind, in der auf abenteuerliche Weise sinnlos gewordene Normen und Traditionen überwunden werden, Konflikte originell, kreativ und friedlich ausgefochten und beigelegt werden, Liebe und Zuneigung sich vervielfachen, weiten und die von schmerzlichen Schicksalen Betroffenen in tröstlicher Weise aufgefangen werden, all das böte eine unendliche Zahl aufregender Geschichten und alternativer Lebensmodelle – so unrealistisch (eben utopisch) sie auch sein mögen. Weiter auf die kathartische Wirkung von Tragödien und zynischen Farcen zu hoffen, dürfte vergeblich sein. Die Halbwertszeit kathartischer Wirkungen ist wegen des medialen Überangebots längst überschritten.
Vom Paradies zu träumen, begleitet die Menschheit seit ihren Anfängen. Ihre Kraft beziehen die Erzählungen vom neuen, menschenwürdigen Utopia durch die Irritationen und die Empörung, die sie hervorrufen können, weil sie im harten Kontrast zu den vertrauten Normen unseres falschen, oft erniedrigenden und zerstörerischen Zusammenlebens stehen. Nicht affirmativen Kitsch, Wohlfühl-Fiktionen vom richtigen Leben im falschen, böten solche Erzählungen, sondern derbe, lustvolle Dissidenz. Sie hätten womöglich in höherem Maß als herkömmliche Erzählungen die Kraft, neue, heilsamere Diskurse entstehen zu lassen.