Die Erfolgsgeschichte des wissenschaftlichen und technologischen, überhaupt des zivilisatorischen Fortschritts scheint zugleich eine der institutionalisierten Bildung zu sein. Ob als Korrektiv oder als Beschleuniger hatte die schulische Bildung von Anfang an die Aufgabe, die im Zuge der bahnbrechenden Erfindungen und Entdeckungen von Dampfmaschine bis Verbrennungsmotor, von Elektrizität bis Elektronik, von Chirurgie bis Virologie, vom Atommodell bis zu Kernspaltung (usw.) explodierende Dynamik technologischer Ausdifferenzierung zu kontrollieren, sie gezielt zu hemmen oder zu befeuern, je nachdem ob sie als beängstigend oder berauschend empfunden wurde. Den großen Erfindern sollte eine kenntnisreiche Armee an kleinen Erfindern zur Seite gestellt werden, diesen gegenüber die Bewahrer überlieferter Kultur und mit ihnen folgsame Wachmannschaften. In der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft wiederholt sich das Verhältnis von zügellosem technologischen Fortschritt einerseits und bremsender Metakognition (die, als Reflex der nach wie vor geltenden Überzeugung, bei allem Fortschritt gehe es doch immer um „den Menschen“, den Anspruch erhebt, dem schnell wachsenden Geschwür Grenzen und legitime Expansionsgebiete zuweisen zu können) bis ins kleinste Element hinein, wie bei der im grafischen Fraktal visualisierten Mandelbrot-Menge, dem Apfelmännchen.

Parallel zur sozialen und technologischen Differenzierung differenzierte sich auch das Bildungssystem aus, nicht als vages Abbild des Ganzen, sondern als Fabrikationsstelle zur Bereitung der für den Fortschritt für unabdingbar gehaltenen Kompetenzträger: energetische Quellen für’s Antreiben und Zügeln des sichtbar gewordenen Fortschritts, der wie ein lebendiges Wesen zu züchten, zu trainieren und zu bändigen erscheint, seit sein Organismus, sein Herz-Kreislauf-System seiner gestiegenen Geschwindigkeit wegen – spätestens im 19. Jahrhundert – wahrnehmbar geworden ist. Aus der parallelen Entwicklung von sozialer, wissenschaftlicher und technologischer Differenzierung mit einem immer weiter veränderten, nämlich stetig reformierten Bildungssystem beziehen Schule und Universität ihr Selbstbewusstsein, eigentlich ihre Selbstsicherheit, weil sie ein Bedingungsverhältnis unterstellen: Ohne sie müsste der Fortschritt ins Stocken geraten oder sogar ganz zum Erliegen kommen. Mit welchen Ängsten und wie misstrauisch das Bildungssystem als konstitutives Element des Fortschritts beäugt wird, lässt sich daran ermessen, mit welcher Gewalt – trotz Abschaffung der Prügelstrafe – noch immer den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen beizubiegen versucht wird, was als Wissen und Kompetenz im funktionalen Ganzen für unentbehrlich gehalten wird. Interessant ist demgegenüber, dass die Unternehmen und Forschungsinstitute fortgesetzt die Dysfunktionalität des ihnen überlassenen Humanmaterials beklagen und sich genötigt sehen, bei der Ausbildung sogar vieler Grundlagen selbst Hand anzulegen.

Den Lehrern und Ausbildern, die sich noch der humanistischen Tradition Humboldts halbherzig verpflichtet fühlen, ist das ganz recht, denn sie gehören zu den Bewahrern und Zügelnden, die ihre Zöglinge ja gerade nicht als Rädchen einem sich blindwütig selbst herstellenden Räderwerk überlassen wollen, das den Wert des Einzelnen nur in seiner Funktionalität für das Ganze sieht, mithin den Menschen seiner Würde, seiner Freiheit beraubt. Angesichts der funktionellen Minderwertigkeit vieler Absolventen kann sich der Humanist immerhin einbilden, er habe, abseits des Funktionalismus, seine Zöglinge noch halbwegs zu einem aufgeklärten Selbstbewusstsein verholfen, sie zu sich selbst befreit.

Die anderen, die – allerdings auf dem anderen Auge blind – den ideologischen Selbstbetrug der Humanisten ahnungshaft durchschaut haben, ziehen in der Schule und in den Universitäten die Daumenschrauben nur umso fester an, als ließe sich die Effizienz der Ausbildung im Verhältnis zu der sich weiter beschleunigenden gesellschaftlich-technologischen Entwicklung immer weiter steigern. Die darin sich ausdrückende – durchaus ehrliche – Sorge hat in der Hauptsache eine ideologisierende Wirkung, die nämlich, in die jungen Hirne nachhaltig die Überzeugung zu verankern, es gehe in ihrem individuellen Leben darum, nur sich fortgesetzt selbst optimierende Funktion im undurchschaubar komplexen funktionalen Ganzen zu sein. Noch das diese Überzeugung begleitende Unbehagen der Beschulten, das von einem instinkthaften Wissen um die eigene Kreatürlichkeit und wesensmäßige Freiheit herrührt, wird (Hegels unglücklichem Bewusstsein ähnlich) als Ungenügen an den für legitim gehaltenen Forderungen an ihr Funktionieren gedeutet. Wo diese Ideologie total geworden ist, weil die Deutungshoheit des sich seiner selbst unbewussten Systems bis in die Individuen hineinreicht, die die äußeren Zwänge über das Gefühl der Sorge – empathisch, imitierend – zu den eigenen gemacht haben, ist das zentrale Ziel des Bildungssystems erreicht: Selbst wer in der Schule oder im Studium an den in „Aufgaben“ verwandelten Inhalten scheitert, weil der letzte und immer noch beste Selbstschutz das Vergessen des Zugemuteten ist, hat doch als fortdauerndes schlechtes Gewissen über die eigenen Unzulänglichkeiten die unbezweifelbare Notwendigkeit verinnerlicht, seine Bestimmung nicht in der Teilhabe als Subjekt am objektiven Ganzen, sondern allein in der fügsamen Verschmelzung mit dem Ganzen zu finden, indem er die eigene Autonomie an dieses abtritt. Und wo sich im Subjekt noch Widerwille oder gar Verzweiflung regt, werden diese Gefühle als persönliche Schwäche, als charakterliche Unvollkommenheit, Krankheit, als rätselhafte Fehlfunktion gedeutet. Das Rückzugsgebiet, das reflektierte Subjektivität immer noch darstellt, bietet in seinem ohnehin schon kleinen Reich Raum nur noch für Überlegungen, wie die individuelle Autonomie bis zur völligen Reibungslosigkeit, bis zur Bewusstlosigkeit optimiert werden kann. Selbstbewusstsein ist zum Störfaktor geworden – nicht mehr nur für das gesellschaftliche System, auch für die Subjekte selbst. Es muss in Trance versetzt werden – mit Wellness, Meditation, Sport, Unterhaltung.

Gelänge es tatsächlich, die Reibflächen zwischen Subjekt und objektiver gesellschaftlicher Wirklichkeit optimal zu schmieren oder die Einzelnen wie zum Beispiel kleine Metallkugeln in ein vieldimensionales Kugellager einer großen Fortschrittsmaschinerie einzubinden, könnte auch alles gut sein: In einer zukünftigen schönen neuen Welt wird es – nicht nur medizinische und mediale – Technologien geben, die das widerständige Subjekt beruhigen können ohne es ganz und gar auszulöschen. Vielleicht sogar für alle Menschen auf dieser Erde? Ein Wettlauf mit der Zeit und den irdischen Ressourcen, der möglicherweise zu gewinnen ist? Der gegenwärtige, sich immer weiter beschleunigende technologische Fortschritt ist wie ein riesiges Versprechen. Auf welchen anderen Gott könnten wir sonst noch hoffen, als auf das, fortschreitend in der Zeit, zur Allmacht hin sich selbst verwirklichende, überindividuelle System, das Materie und Geist in ferner Zukunft ganz zu versöhnen verspricht?

Dermaßen hat sich das Schulehalten mittlerweile zum Gottesdienst zurückgebildet, als das es – in gewisser Weise – als klösterliche Lateinschule einmal begonnen hat. Das Credo ist der sich selbst verwirklichende technologische Fortschritt, dem alles in Subsystemen (bis hinunter zu den psychischen Systemen) untergeordnet ist, die Geißeln, die die religiösen Gesetze spürbar werden lassen, der Unterricht selbst – für Schüler wie für Lehrer.

Dieser neue Gott duldet keinen Gott neben sich. Und so arbeiten die Geistes- und Sozialwissenschaften ihm längst nur noch zu, statt ihn kritisch zu kontrollieren. Ohnehin war die Hoffnung, ihn unter die Herrschaft der Vernunft zwingen zu können naiv, berechtigt darum schon die Befürchtungen, die zur Gründung der humboldtschen Lehranstalten führten.

Wie wenig Vernunft die Schulen und Universitäten noch hervorbringen oder je hervorgebracht haben, ließe sich experimentell erkunden: Gäbe der Staat seine Hoheit über die Schulen und Universitäten auf und striche auch die Schulpflicht aus dem Gesetz, würde die Gesellschaft, dieses ausdifferenzierte System aus Subsystemen, das Subsystem Bildung in kurzer Zeit rekonstruieren und mit großer Sicherheit weitaus effektiver gestalten, weil der auf Funktionalität schielende Zugriff auf bereits vorgeprägte Kompetenzen sehr viel früher und zielgerichteter geschehen könnte, dem Anschein nach sogar humaner, denn es würde darum gehen, die Stärken der Individuen zu fördern und die Schwächen da zu ignorieren, wo sie sich für die funktionale Zuordnung, und das Funktionieren überhaupt, nicht hinderlich auswirken. Lesen, Rechnen, Schreiben blieben die zentralen Grundlagen, darüber hinaus aber müsste nicht mehr jeder alles in der Schule lernen, was derzeit nur noch fadenscheinig als für die Allgemeinbildung unverzichtbar postuliert wird. Die auf bloßes Allgemeinwissen heruntergekommene Allgemeinbildung besorgt auch heute schon ein weit gefächertes, medial organisiertes Edutainment weitaus zuverlässiger als der Schulunterricht. Die Zurichtung der Individuen für die ihnen fremden Zwecke gelänge – und gelingt schon längst – ganz ohne die Schulen, wie wir sie kennen und für nötig halten. Was an Resten emanzipatorischer Bildung in den Schulen noch zu vermitteln versucht wird, hat schon immer nur die Form des Appells gehabt, der den Inhalten nur angeheftet wurde, ohne dass sich aus den Inhalten selbst und aus der Reflexion darüber vernünftige Urteile und Moral ergeben hätten. Das, woraus sich aufgeklärte Subjektivität, kritischer Verstand, Vernunft und Moral bilden könnten, die Individualität, die frische, überbordende Kreativität bei der Welterkundung, die Selbstentdeckung in der mußevollen und oft scheinbar ziellosen Reflexion, die Lust an Spiel, Experiment und am eigenen Körper, die übermütigen Grenzerkundungen wurden in der Schule immer schon der Disziplin, der Ruhe, dem Stillsitzen, der Systematik des Lehrens und den Lernkontrollen geopfert.

Dabei sind die Bemühungen der Lehrerinnen und Lehrer ja durchaus ernst- und gewissenhaft. Sie haben den Kindern und Jugendlichen etwas beizubringen. Und dass dies wirklich gelingt, soll messbar sein. Mit den mindestens befriedigenden Ergebnissen der ihnen Anvertrauten liefern sie den Nachweis dafür, dass das immer umfassender werdende Bildungssystem den Fortschritt der ganzen Gesellschaft sichert. Gelingende Bildung ist die Wurzel unseres Wohlstandes, heißt es. Misslingt die Bildung, ist der Wohlstand (qua Fortschritt durch Technologie, Wissenschaft und Wirtschaftswachstum) im Kern bedroht. Mindestens entsteht ein sogenannter Wettbewerbsnachteil.

Darum stehen Unterricht und Schule immer mehr unter der Fuchtel von (Unterrichts-) Technologie und wissenschaftlicher Transparenz, die Lehrerinnen und Lehrer glauben unter dem Druck und der Verantwortung ihrer Aufgabe sich die Erfolgsrezepte des technologischen Fortschritts zu eigen machen zu müssen und vermehren dadurch doch nur die Quälerei – für sie selbst wie für die Schülerinnen und Schüler, die sich immer früher danach sehnen, sich endlich (wo auch immer) als Rädchen im großen Getriebe einrichten zu dürfen, wo sie sich mehr Ruhe und weniger Gängelung erhoffen.

So ausgeklügelt und überzeugend die wissenschaftlich ausgearbeiteten Stundenentwürfe für den Unterricht, als Beispiele für die allgemeingültige Technik des Lehrens, auch wirken mögen, die sich die auszubildenden Lehramtsanwärter zum Vorbild nehmen, so resistent erweisen sich die hölzernen Werkstücke, denen lange Nasen wachsen, weil sie die Gelehrsamkeit nur heucheln – und heucheln müssen. Bald ist das mühsam Gelernte wieder vergessen, Pinocchio neugierig vom Weg abgekommen. Was dagegen mühelos hängenblieb, hätte der methodisch versierten Lehre kaum bedurft. Und diejenigen, die im emphatischen Sinne als „Gebildete“ die Schule oder die Universität verlassen, haben meist trotz und nicht wegen der Schule früh genug zu fruchtbarer Autonomie gefunden. Ihnen reichten allenfalls einige der Inhalte, die ihr Interesse wecken konnten. Schon die Methoden der Vermittlung waren kaum von Belang. Dass die Mittelmäßigkeit der Vielen immer schon am meisten über die Qualität der Schule verrät, die gelungene Bildung der Besten jedoch gar nichts, war schon immer bekannt. Dennoch misst die Schule ihren Erfolg ungern an den Mittelmäßigen und den Versagern und viel lieber an den Erfolgreichsten. Zugleich zielen die Unterrichtstechnologien auf die Mittelmäßigen, ohne dabei überzeugende Ergebnisse zu zeitigen, die Fortschritt indizierten. Das Versagen wird den Versagern selbst zugeschrieben, ihrer Dummheit oder ihrem bösen Willen. Wie seltsam, dass sich dennoch die Mär von der Essentialität des Bildungssystems für den Fortschritt so hartnäckig hält und alle Welt mit Sorge auf die Bildung der nachwachsenden Generationen blickt. Immer schon war nur der Wunsch Vater des Gedankens, die Phantasie nämlich, man habe an entscheidender Stelle alles unter Kontrolle. Noch nie aber war – das ist vielleicht etwas holzschnittartig gesprochen – das Bildungssystem der Motor des technologischen und wirtschaftlichen Fortschritts, nie das Instrument vernünftiger Steuerung künftiger Entwicklungen, als das es immer noch gern ausgegeben wird („Unsere Zukunft ist die Bildung unserer Kinder!“)

Das Bildungssystem hatte immer nur marginal etwas mit Fortschritt und Wirtschaftswachstum zu tun, nachdem es im 19. Jahrhundert tatsächlich mit großer Wirkung die Zahl der Hochschulabsolventen vervielfacht und damit die Wirtschaftskraft in Deutschland ganz enorm befeuert hatte. Mit der gymnasialen Ausbildung und dem daran anschließenden Studium waren neue Kanäle geöffnet worden, Zugänge zu den Instrumenten der Technologisierung und Rationalisierung. Damals wie heute hat das Bildungssystem jedoch kaum etwas mit wahrer Bildung zu tun, wenn man mit Bildung reife, kritische Subjektivität, Vernunft und Moral verbindet. Verdienstvoll zeigen sich Schule und Universität heute vor allem darin, dass sie absichtslos die Nachwachsenden erfolgreich für ihre Selbstaufgabe trainieren und ihren Glauben an den neuen Gott festigen.

Unterdessen überspült der technologische Fortschritt, eigentlich das autonom gewordene und darum von keiner zivilen Macht zu bändigende globale Gesellschaftssystem, der sich selbst erzeugende und selbst erhaltende, sich von menschlichem Bewusstsein – und mehr noch: dem Unbewussten – ernährende Golem, die Grenzen der Subjektivität, im Begriff, als Sintflut alles Leben, allen Geist zu ertränken.

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