Hallo, wir sind mit unserem Blog umgezogen. Deshalb stellen wir hier einige ältere Texte erneut ein.  N. und A.P. Nekrasov

 

Spracherwerb als Modell

Kinder erlernen ihre Sprache mühelos, weil mit ihnen gesprochen wird und kontrafaktisch von den Eltern unterstellt wird, sie verstünden, was man zu ihnen spricht. So entfaltet sich die Sprache in ihnen in ihrer ganzen Systematik, ohne dass sie von den Regeln, die in ihr gelten, etwas wissen müssen. Je differenzierter und reicher an Wortschatz das „sprachliche Umfeld“, in dem sie aufwachsen, ist, desto differenzierter und analytischer ist die damit einhergehende Wirklichkeitswahrnehmung. Kein Wunder, dass die Kinder aus bildungsbürgerlichen Schichten so große Vorteile gegenüber anderen haben, die in sprachlich ärmeren Umwelten aufwachsen.

Die überaus große geistige Leistung, die der Spracherwerb darstellt, wird mit einiger Berechtigung auch auf die parallel dazu ablaufende hirnphysiologische Entwicklung bezogen, die das Lernen in dieser Zeit so einfach macht. Mit Beginn der Schulzeit wird ein grundsätzlicher Wandel der Lernprozesse unterstellt, die nun anscheinend auf Lehre angewiesen zu sein scheinen. Die Forderung einiger Didaktiker, in der Schule müssten statt der nach wie vor herrschenden Lehrmethoden „Lernumwelten“, „Lernumgebungen“ geschaffen werden, bringt den Zweifel an einem solchen Umbruch sehr direkt zum Ausdruck: Auch wenn die rasanten hirnphysiologischen Entwicklungen in einem bestimmten Lebensalter weitgehend abgeschlossen sind, das Hirnwachstum weitgehend zum Stillstand gekommen zu sein scheint, synaptische Verbindungen zu einer schier unüberschaubaren Komplexität gelangt sind, bleibt das Hirn als beobachtbares, materiales System, das mit dem der Beobachtung entgleitenden Geist eine Einheit bildet, doch auch weiterhin plastisch. Fortgesetzt gelingt das Lernen intuitiv in autonomen Reaktions- und Aktionsrastern mit der Folge beobachtbarer synaptischer Veränderungen. Nur: Die Resultate dieses Lernens werden in gesellschaftlich erwünschte und unerwünschte unterschieden. Aus dieser Unterscheidung gehen die Direktiven der Lehre hervor, die systematisch die jungen Lerner dazu bringen sollen, möglichst nur noch das gesellschaftlich erwünschte Verhalten zu produzieren.

Direktiven, Vorgaben, Befehle und Verbote gehören freilich als wesentliche Elemente auch zur familiären Erziehung. In ihnen spiegelt sich das Wertesystem der jeweiligen Familie. Sie beschränken den Freiraum der Kinder, ziehen Grenzen für das Verhalten. Aber sie beschränken das Lernen nicht, geben nicht vor, wie und was genau zu lernen ist.

Der Bruch findet – spätestens – in der Schule statt: Hier begegnen die Direktiven radikal dem Wie und dem Was des Lernens und erklären die natürlichen Lernprozesse und das Glück der autonomen Welterschließung für nichtig – vor allem, weil sie sich nicht kontrollieren und aufgrund zunehmender Komplexität nicht mehr lenken lassen.

Die Schulkinder reagieren gleichwohl auf diesen Zwang, den die dem natürlichen Lernen entfremdeten Lehrgänge darstellen, mit einer bestimmten Form des Lernens: Sie lernen in dieser für sie neuen Umwelt, dass sie nicht umhinkönnen, sich an die Systematik der Lehre anzupassen, weil sie mit Strafen und Erniedrigungen operiert. Sie lernen, was sie müssen. Immer weniger hat das jedoch mit autonomer Welt- und Wirklichkeitserschließung zu tun.

Neben anderem hat die didaktisch-methodische Systematik der Lehre mit einem fatalen Missverständnis zu tun, dem nämlich, dass das in den Wissenschaftssystemen konstruierte, hierarchisch strukturierte Wissen zugleich den Hinweis darauf enthalte, wie es von den Unkundigen, Unwissenden zu erwerben wäre, nämlich in einer Abfolge der Belehrung über die hierarchischen Stufen des jeweiligen Wissensgebietes vom Elementaren, Grundlegenden zum Komplexen und Schwierigen. Dem Denken erscheint das isolierte Elementare jedoch nutzlos und überflüssig, langweilig, weil es mit Welt und Wirklichkeit nur abstrakt und aus der Perspektive des Wissenden und Erfahrenen zu tun hat.

Im Vergleich dazu hat das Kind seine Sprache nur deshalb erworben, weil es sofort mit der ganzen Komplexität des sprachlichen Handelns konfrontiert wurde und niemand auf die Idee käme, es von Geburt an einer wissenschaftlich fundierten Sprachlehre zu unterziehen, die den heranwachsenden Geist mit derlei Zumutungen, Strafen und drohendem Liebesentzug schon im Keim ersticken würde.

Moderner Schulunterricht hat sich in mancherlei Hinsicht geändert und damit formal auf das Inhumane früheren Schulehaltens reagiert. Es gibt den schülerorientierten Unterricht, den handlungsorientierten, den nach Leistung und Interessen differenzierten Unterricht, die Freiarbeit, den Projektunterricht. Dabei geht es der Absicht nach darum, Freiräume für die autonome Welt- und Wirklichkeitserschließung zu schaffen. Der Kontrollwahn und die auf die Alters- bzw. Klassenstufen bezogenen Curricula drohen aber nach wie vor, ein jedes Kind möge sich hüten, die gewährten Freiräume anders zu nutzen als nach der scheinbar altbewährten Lehrgangssystematik. Die neuen Freiheiten in den Schulen sind bloß potemkinsche Dörfer, perfide, weil sie das Falsche der Schule übertünchen und so für die Gegängelten noch in den Vorwurf verkehrt werden können, sie nutzten die ihnen gewährte Freiheit nicht. Wie den Angestellten eines Wirtschaftsbetriebes oder einer Kultureinrichtung, deren Bedürfnisse, Ideen und Kreativität weder anerkannt noch berücksichtigt werden, bleibt ihnen nur die „innere Kündigung“.

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