Ich wünschte, sage ich zu Nina, das Leben wäre spielerischer. Ich wünsche mir Freunde, mit denen ich spielerisch Gedanken austauschen kann.
„Du verstehst, was ich meine: Du äußerst einen Gedanken, entwirfst eine Argumentation und kannst dir sicher sein, der Freund oder die Freundin ist sich darüber im Klaren, dass du einen Gedankengang erprobst, um ihn im nächsten Moment vielleicht wieder zu verwerfen. Mit anderen Worten: Du musst nicht befürchten, dass dieser Freund nach irgendwelchen Subtexten in deinen Äußerungen sucht, nach versteckten Absichten. Im Gegenteil lässt er sich seinerseits spielerisch darauf ein, knüpft daran an und weiß, dass auch ich nicht nach irgendwelchen Subtexten forsche. Und diese verbindende Kraft, die durch die Lust an der Übertreibung entsteht, dieses in Ironie gebettete Einverständnis, dass es nur ein Spiel ist.“
„Das ist mir zu abstrakt“, meint Nina dazu. „Ich kann nicht verhehlen, dass auch bei mir sofort die Subtextsuche eingesetzt hat. Was will mein Gatte mir zu früher Frühstücksstunde mal wieder aufs Brot schmieren?“
„Du kennst diese Angst, manchmal auch nur die Vorsicht, wenn du mit anderen Menschen sprichst, dass sie deinen Worten allzu großes Gewicht beilegen könnten, wenn du versuchst, dich einmal aus dem Geflecht aus gegenseitigen Erwartungserwartungen zu lösen. Ich frage mich immer, was ich wie sagen kann und darf, ohne jemandem zu nahe zu treten, ohne Tabus zu brechen, die ich bei meinem Gegenüber vermute. Mal ganz abgesehen von Fragen der political correctness.“
„Mach mal ein Beispiel, dann muss ich nicht diese großen Lücken mit meinen eigenen Erwartungen dessen füllen, was du vermutlich meinst, aber nicht klar auszusprechen wagst.“

„Alexandra und Stefan, ein auf den ersten Blick glückliches und harmonisches Paar. Freunde im üblichen Sinne, im Prinzip gute Gespräche, politische Themen, manchmal Berufliches, oft Kulturelles. Ich habe trotzdem immer das Gefühl, dass wir und sie in gleichem Maße uns halbbewusst gegenseitig beobachten. Mit unserem feinen Sensorium registrieren wir Reaktionen und Antworten, um die Grenzen dessen, was wir sagen und besprechen können, zu erkunden. Zum Beispiel habe ich manches Mal bemerkt, dass Alexandra sehr still wird, wenn Stefan übers Golfen spricht. Sie hat dann diesen bitteren Zug um den Mund und dreht an ihrem Ehering. Einmal sagte sie ohne jede Ironie und ohne aufzublicken, er lasse ja kein Handicap aus, worauf er sie ziemlich barsch korrigierte, sie habe offenbar noch immer nicht begriffen, was ein Handicap beim Golfen bedeute. Und sie: Ja, mag ja sein, ist ja vielleicht auch nur mein Handicap. Ich weiß, ich interpretiere da vielleicht zu viel hinein. Meiner Meinung nach hat Alexandra für sich das Wort Handicap mit Gelegenheit übersetzt, also sie meinte, er lasse keine Gelegenheit aus. Welche Gelegenheit, bitte? Gelegenheit, was zu tun? Es ist sein Hobby, sie ist ein paar Mal mitgegangen, hat es dann aber wieder sein lassen. Mit wem trifft er sich auf dem Golfplatz? Woher sein Ehrgeiz, der ihn mehrmals die Woche dorthin treibt, obwohl er grinsend bekennt, regelmäßig Schlusslicht zu sein. Hier kommt dann vermutlich der Begriff des Handicaps ins Spiel.“
„Worauf willst du hinaus?“
„Ich glaube, Alexandra ist eifersüchtig.“
„Auf sein Hobby? Oder meinst du, er hat da was mit jemandem am Laufen?“
„Jedenfalls befürchtet Alexandra das. Oder sie hat sogar gute Gründe für die Annahme. Oder dass Stefan zumindest mit diesem Gedanken spielt, sich verknallt hat.“
„Und du findest, das geht dich irgendwas an.“
„Nein. Ich halte mich zurück. Aber in meinem Kopf rotieren dann doch diese Gedanken. Ich käme wirklich nicht auf die Idee, Stefan zu fragen, ob sein Interesse am Golfen eher etwas mit den Leuten zu tun hat, die er dort trifft, oder mit einer bestimmten Person. Weil ich weiß, dass er das abstreiten würde. Und weil dann die Gefahr bestünde, dass Alexandra vermuten würde, ich wüsste mehr als sie, was sie in ihrer – vielleicht unbegründeten – Eifersucht nur weiter bestärken würde.“
„Mir ist das nicht aufgefallen. Das mit dem Handicap hat sie so gesagt?“
„Und er machte den Eindruck, als wüsste er, worauf sie anspielt, als hätten sie darüber schon häufiger gesprochen.“
„Dann komm jetzt mal auf den Punkt. Worauf willst du hinaus?“
„Dass wir da, wo es interessant wird, eine imaginäre Grenze ziehen.“
„Obwohl du am liebsten diese Grenze verletzen und das große Drama in Gang setzen würdest.“
„Ich will niemandem wehtun. Deswegen halte ich mich zurück. Weil ich weiß, dass Stefan und Alexandra keinen Sinn fürs Spielen haben. Es wäre so schön, wenn ich fragen dürfte, was Alexandra tun würde, wenn sich Stefan beim Golfen verlieben würde. Oder wie sich Stefan verhalten würde, wenn er sich eingestehen müsste, dass er sich verliebt hat. Ich stelle mir vor, dass Alexandra sagen würde, dann hätten sie ein Problem. Und ich: welches Problem eigentlich? Und sie daraufhin: Ich frage mich schon länger, ob es das Golfen ist, das dich drei Mal die Woche zum Golfplatz treibt.“ Erste Stufe der Eskalation.
„Willst du das?“
„Nein. Aber wenn wir unser Leben in viel größerem Maße als Spiel begreifen könnten, bliebe diese Art von Eskalation möglicherweise aus. Spiel statt Streit und gegenseitige Erniedrigungen.“
Nina schaut mich mit großen Augen an. Und ich spinne mir einen möglichen Verlauf des Gesprächs zurecht, das wir zu viert als Spielende führen würden.
Stefan: Wenn ich mich verlieben würde, wäre ich hin- und hergerissen zwischen diesem überwältigenden Gefühl und meinem schlechten Gewissen Alex gegenüber. Ich würde Alex vermutlich sehr verletzen, wenn ich ihr von meinem Verliebtsein erzählen würde. Bei genauerem Überlegen ergeben sich mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen. Rein spekulativ.
Alexandra: Am einfachsten wäre es, die Sache zu verschweigen, weil du entweder erwartest, dass diese Gefühle wieder vergehen, oder du nicht damit aufhören willst, dich in Träumereien zu aalen, wie es wäre, dein Leben mit einer anderen Partnerin fortzusetzen. Die Idealisierung dieser anderen Frau würde so manche Defizite offenlegen, die dir an mir zuvor nicht in dieser Deutlichkeit bewusst geworden sind. Ich würde merken, wie du dich immer mehr distanzierst. Ab einem bestimmten Punkt fände ich es fair, wenn du mir davon erzählen würdest.
Ich: Eine andere Frage betrifft, wie ich finde, die materiellen Bedingungen, die die Gedanken an eine Trennung aufwerfen würden. Wohlstandseinbußen, die Folgen für die beiden Kinder, die noch zur Schule gehen, die liebgewonnenen Gewohnheiten. Eine weitere Frage ist die nach der Liebe, die man für den Ehepartner noch empfindet. Kann man zwei Menschen zugleich lieben? Wie ist es mit dem Begehren? Wie ist das bei euch beiden? Würdet ihr sagen, ihr begehrt euch gegenseitig in gleichem Maße? Und immer noch wie zu den besten Zeiten?
Nina: Also bei uns gibt es da schon deutliche Unterschiede. Das Interesse an Sex ist bei Al deutlich ausgeprägter als bei mir. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Grund für ihn sein könnte, seine Lust auch mal woanders zu befriedigen.
Ich: Sicher nicht. Glaub ich jedenfalls. Es hat diese Situation einfach noch nicht gegeben. Kenne ich mich wirklich so gut, es kategorisch auszuschließen?
Nina: Unter bestimmten Bedingungen traue ich es dir zu. Das wirft unter anderem die Frage auf, ob Al mich im Besonderen begehrt, oder ob sich sein Begehren auf beliebige Frauen bezieht, nur dass ich gerade in der Nähe und verfügbar bin. Oder mich verfügbar mache. Ich glaube, Letzteres trifft eher zu.
Ich: Die Trennung von Liebe und Sex, eine Fähigkeit, die man ja vor allem Männern unterstellt. Ich glaube, dass Frauen das genauso gut können wie Männer. Sie haben das Tabu jedoch aus kulturellen Gründen tief verinnerlicht. Frau lässt diesen Gedanken, oder auch dieses Gefühl, eher nicht zu.
Alexandra: Ist das so? Kannst du das trennen?
Ich: Und du? Schon mal drüber nachgedacht?
Stefan: Ich könnte das trennen. Meine Befürchtung wäre allerdings, wenn ich mich auf eine außereheliche Beziehung einließe, dass die entsprechende Partnerin emotional viel stärker involviert wäre. Das schreckt ab, wenn du keine neue Partnerschaft eingehen willst. Weil ich weiß, dass Frauen das eher nicht trennen können. Da ist die emotionale Beziehung sozusagen die Voraussetzung für Sex.
Nina: Warum überhaupt Liebe und Sex trennen? Noch einmal die Frage: Kann man mehrere Menschen gleichzeitig lieben und begehren? Mal ganz abgesehen von den logistischen Problemen und den Problemen, über die ich noch nicht nachgedacht habe. Zwei Beziehungen gleichzeitig führen? Das wäre mir zu kompliziert.

Ich: Wären wir gegen derlei Gedanken und Empfindungen nicht durch unsere kulturellen Prägungen gewissermaßen geimpft, könnte das vielleicht sogar …
Nina unterbricht mich in meinem improvisierten Rollenspiel. „Und du meinst, angesichts deines kleinen Komödiantenstadls sollte ich deiner Meinung nach keine Subtexte hören, wenn ich eine geeignete Spielkameradin für dich sein wollte?“
„Wenn du dazu in der Lage wärst; wenn du akzeptieren könntest, dass in unseren Köpfen schlichtweg alles denkbar ist. Dass es möglich ist, alles Denkbare zu durchdenken und alles Fühlbare zu – sagen wir mal – durchfühlen. Ich weiß, dir geht es gegen den Strich, dass ich wieder mal mein Lieblingsthema durchgespielt habe. Aber genauso gut könnten wir auch darüber sprechen, wie wir deine Mutter ermorden würden, wenn wir dafür einen Grund sähen. Mir fällt zwar gerade keiner ein, aber man könnte auch spielerisch darüber nachdenken, welche Gründe es geben könnte, deine Mutter aus dem Weg zu räumen. Doch! Gerade fällt mir sogar ein Grund ein.“
„Mir würde eher ein Grund einfallen, warum deine Mutter…“
„Siehst du, auf einmal kannst du dich auf das Spiel einlassen. Ich weiß sogar, dass du dir ganz besonders fiese und geschmacklose Mordmethoden für meine Mutter ausdenken könntest. Das liegt daran, dass wir beide sicher sein können, dass wir das sowieso nie machen würden. Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering. Reden wir jedoch über Sex, Beziehungen, Liebe, Freundschaft, denken wir über Themen nach, die einen deutlich höheren Bezug zu wahrscheinlichen Handlungen, Gefühlen und Entwicklungen aufweisen. Es macht eben einen Unterschied, ob ich dich frage, wie du deinen Chef ermorden, oder wie du ihn verführen würdest. Ermorden? – ein Scherz. Vergiften, überfahren, im Klo ertränken. Verführen? – oh Gott, never! Das Dementi und die Verweigerung des Spiels sind ein Indiz für die unterstellte Wahrscheinlichkeit. Würdest du mir also ungerührt die detaillierte Story der Verführung deines Chefs auftischen, müsstest du befürchten, ich glaube, du hättest das Szenario schon häufiger durchgespielt und habest sogar ein hinlänglich großes Interesse daran, es zu tun. Aber weil ich das aus irgendeinem Grund nicht glauben soll, sagst du, es käme dir überhaupt nicht in den Sinn irgendjemanden zu verführen. Stattdessen nimmst du an, ich wollte dich animieren, über den Seitensprung nachzudenken, damit ich ausloten kann, wie du prinzipiell darüber denkst und welche Chancen für mich bestehen, dass du meinen eigenen Seitensprung eventuell tolerieren würdest. Das Ergebnis ist Schweigen oder Streit. Das Spiel jedoch würde uns ermöglichen, uns gegenseitig noch besser kennenzulernen, es würde unser kreatives Denken schulen und darüber hinaus auch noch aufeinander geil machen.“
„Und wo würde das Spiel aufhören? Woher soll ich wissen, wann du spielen willst und wann du es ernst meinst?“
„Hört sich einfacher an, als es vermutlich ist. Ich würde dich fragen, wie du deinen Chef verführen würdest, wenn du es wolltest. Und du antwortest: Ich will meinen Chef verführen, ich weiß nur nicht, wie ich es anfangen soll. Ich will, ich möchte, ich habe vor, ich denke darüber nach, wie… Dann wird die Sache ernst.“
„Das wäre eine harte Schule. Ich habe selten von dir gehört, was du willst oder möchtest, insbesondere, was du von mir willst. Meist kommt das nur in Andeutungen, ich soll es erraten, du spielst über Bande, um notfalls später sagen zu können, das habest du nicht beabsichtigt oder gemeint. Sei ehrlich, gib’s zu!“
„Unsere gemeinsame private Kultur ist defensiv, sozial verträglich. Wir möchten einander nicht mit Forderungen bedrängen. Wir wissen, dass wir nur allzu gern einander unsere Wünsche erfüllen, selbst wenn es uns eigentlich widerstrebt.“
„Deshalb findest du so großen Gefallen an dem, was du Spiel nennst. Du stellst zwar keine Forderungen, aber kannst wenigstens alle deine Wünsche ins Gespräch – respektive Spiel – bringen und meine Toleranz testen. Ich finde, du solltest, wenn dir, wie so oft, ein Wirbelwind durch den Kopf fegt, offen und direkt aussprechen, was du willst, möchtest, bevorzugst, wünschst. Dann kann ich, wenn es mich betrifft, entscheiden, wie ich damit umgehe und ob ich darauf eingehe. Nur so würdest du offensiv meine Freiheit respektieren.“
„Und an dem freien Spiel hättest du keine Freude?“
„Du wünschst dir, dass ich mit dir spiele. Gerne! Aber jetzt mal Nägel mit Köpfen: Was wünschst du dir konkret? Wo lassen dich deine Erwartungserwartungen verstummen?“
Wieder einmal ist es Nina gelungen, den Spieß umzudrehen und mich mit meinen eigenen Waffen zu schlagen. Ja, würde ich sagen, wenn ich mich traute, ich wünsche mir, dass du mir hin und wieder mit brutaler Schamlosigkeit begegnest, dass du mir am Morgen unvermittelt unter mein Nachthemd greifst und Spaß daran entwickelst, spontan meine Lust zu entfachen. Ich wünsche mir, dass du dich unvermittelt ausziehst, dich mit gespreizten Beinen aufs Sofa pflanzt und mich zuschauen lässt, wie du dich selbst in Stimmung bringst. Ich wünsche mir, dass du dich in meiner Gegenwart selbst berührst und stimulierst, wenn dir danach ist. Ich wünsche mir, dass dir viel häufiger danach ist. Ich wünsche mir, dass du bei unserem nächsten Waldspaziergang unter einem kurzen Rock kein Höschen trägst, dich im Dickicht an einen Baum lehnst und mich an deiner Muschi…

„Woran denkst du gerade, mein lieber Pjotr? Wovon träumst du?“
„Ich denke gerade daran, wie sehr ich dich liebe.“