„Schämt Euch!“ – der Beginn eines neuen antipatriarchalen Diskurses?

Von Nina Nekrasov

Wie viele meiner Geschlechtsgenossinnen habe ich das Schicksal und das Aufbegehren der Gisèle Pelicot in den Nachrichten und den Beiträgen der Zeitungen und Magazine mit Entsetzen wie auch Bewunderung verfolgt. Mit Entsetzen, weil mir der Abgrund unbegreiflich bleibt, wie Männer ihren Sexualtrieb an einem Menschen befriedigen können, der betäubt keinerlei Lust auf den sexuellen Akt haben kann, sei er vaginal, oral oder anal. Es ist das Maximum der Objektivierung, Vergewaltigung wehrlosen Fleisches, dem vor und während des Aktes jede Subjektivität, Würde, Menschlichkeit geraubt wurde. Und doch dürften diese massenhaften Vergewaltigungen furchtbare Parallelen in der patriarchalen Geschichte der Menschheit haben. Es sind die vermeintlichen Besitzrechte, die Menschen über andere Menschen zu haben glauben, es ist die durch Status erworbene Macht, die Menschen dies barbarische Instrument in die Hände spielt, anderen ihr Menschsein absprechen zu können, sie dessen zu entkleiden, was sie zu Menschen macht: ihre Freiheit, ihre Würde, ihre Subjektivität, ihre Individualität. Diese totale Macht über Leben und Tod wurde immer wieder zur absurden Hybris, durch die sie denjenigen, die als Nichtige in ihrem Glanz zu schillern wünschten und sich mit ihr identifizierten, die Legitimation erteilte, das Leben anderer zu entwerten, zu schänden und zu vernichten. Als ob es diesen Trieb im Menschen gäbe, ihre Mitmenschen zu quälen, zu missbrauchen oder zu töten. Als ob dieser Trieb nur die Erlaubnis einer Autorität benötigte, um hervorzubrechen. Auch nach der Schoah, noch heute, höre ich Staatenlenker, Generäle sagen, da gebe es Menschen, die keine Menschen seien, sondern Tiere, Bestien. Sie abzuschlachten sei recht und notwendig. Dominique Pelicot hat die Frau, die seinen Namen trägt, als seinen exklusiven Besitz angesehen, so wie viele Männer die Frau an ihrer Seite als Besitz, mehr noch: als Eigentum beanspruchen.

Eifersucht und Neid sind die Gefühle, aus denen das Patriarchat gewirkt wurde, deren Ursprung wir in der Evolution der menschlichen Psyche meinen verorten zu können, weil wir von Kindheit an mit und in ihr verwoben waren. Wir können uns den Menschen nicht ohne Neid und Eifersucht vorstellen. Ist es zu gewagt, diese Gefühle als gesellschaftlich erzeugte soziale Gefühle zu denken?

Als Nordkoreas Präsident Kim Jong-il im Dezember 2011 zu Grabe getragen wurde, weinten die Menschen aus tiefstem Herzen um diesen barbarischen Tyrannen. Als ich die Bilder des Trauerzugs im Fernsehen sah, glaubte ich, sie spielten die Trauer bloß, um nicht als Regime-Gegner identifiziert werden zu können. Heute bin ich mir sicher, dass ihre Trauer echt war. Und das, obwohl ich diese Trauer nicht auch nur ansatzweise nachvollziehen kann. So, wie ich nicht die die Gefühle der Mörder des NS-Regimes nachvollziehen kann, die sie zu ihren Taten befähigten. So, wie ich die 60 oder 80 Männer niemals werde verstehen können, die sich an Gisèle Pelicot vergingen.

Wo Menschen – und genau genommen sind es fast ausschließlich Männer – sich das Recht nehmen, oder sich das Recht von vermeintlich Berechtigten erteilen lassen, andere Menschen oder eine irgendwie kategorisierte Gruppe von Menschen ihrer Rechte, ihrer Würde, ihrer Seele, ihres Lebens zu berauben, herrscht das Patriarchat. Noch in der scheinbar lässlichen, unscheinbaren Entwürdigung, der vielleicht scherzhaft gemeinten Objektifizierung, die mit der Bemerkung über das Aussehen einer Frau einhergeht, wiederholt das Patriarchat diskursiv das Diktum seiner überzeitlichen Gültigkeit und schließt das Gewebe, aus dem es besteht, in aller Betulichkeit und Selbstgewissheit, wo es vielleicht einmal von den wenigen Aufbegehrenden in ohnmächtiger Empörung aufgerissen oder mit messerscharfem Verstand aufgeschlitzt wurde. Und ein tiefer Schnitt ins patriarchale Knotenwerk stellt Gisèle Pelicots schamlose Forderung dar, alle filmisch dokumentierten Vergewaltigungen öffentlich zu zeigen. Darum bewundere ich sie. Weil sie damit vielleicht einen neuen Diskurs initiiert hat, der endlich an alle Gefühle, von denen sich das Patriarchat nährt, tiefe Scham heftet – dass Eifersucht, Neid, Missgunst und die falsche Überzeugung, es gebe irgendetwas oder irgendjemanden, an dem man Eigentum, oder auch nur Besitz haben könne, mit dem unlösbaren Gel der Scham überzogen wird.

„Eine weitere, eine besonders breite Brücke, ist die Fähigkeit von Männern, auch dann Lust zu empfinden, wenn die Frau erkennbar keine Lust empfindet. Diese traurige „Fähigkeit“ wird nicht etwa als ein Gebrechen des Patriarchats empfunden, vielmehr begründet sie in den Augen vieler ein Anrecht, zumindest verlangt sie Verständnis. Lust haben, ohne Lust zu geben: Darauf fußt natürlich auch die Prostitution. Aber woher kommt es bloß, dass bei vielen Männern die Lust der Frau (des Gegenübers) nicht die Bedingung der Möglichkeit eigener Lust ist? Und um hier zum Thema Scham zurückzukehren: Warum beschämt es sie nicht?“

Das schreibt Bernd Ulrich in der ZEIT, Nr. 54/2024. Und ich bin dankbar, das von einem Mann zu lesen.

In Carolin Emckes großartigem Buch „Wie wir begehren“ lese ich, wie noch der patriarchale Blick das Begehren von mir als Frau prägt. Zwar habe ich in mir noch nicht, wie Emcke, das lesbische Begehren entdeckt, erfüllt es mich nun bei erneutem Lesen doch mit Scham, wie ich durch die männliche Brille, gewissermaßen über Bande, auf Frauen schaue und wie sehr mein eigenes Begehren, auch Männern gegenüber, bloß als Side-Chain der männlichen, normativ-heterosexuellen Begierde pulsiert:

Wie oft habe ich den Mann, mit dem ich zusammenlebe, sagen hören, seine Lust auf mich werde durch meine Lust entfacht. Und ich mutmaßte doch den hinter diesen Worten verborgenen Affekt, mich als Objekt seiner Begierde geschickt verfügbar machen zu wollen. Wie oft bemühte er sich, in mir erotische Phantasien zu wecken, forderte er mich direkt oder indirekt auf, meine Lust produktiv und autonom zu entfalten – und ich wähnte den männlichen Manipulator am Werk, der nur seinen eigenen Trieb zu befriedigen suchte, nachdem er meine Bereitschaft herbeigehandelt hatte. Das ist immer noch in meinem Kopf: die berühmte eheliche Pflicht. All die Jahre habe ich meine eigene Sexualität aus der Perspektive des Patriarchats definiert. Das nicht bloß instinktive Unbehagen daran veranlasste mich fortwährend dazu, dieses Persönlichste, Intimste einzuschließen, einzubalsamieren, zu bandagieren, zu mumifizieren. Dass kein Mensch, kein Mann dieser Welt sich Zugriff auch noch auf dies Letzte verschaffen könnte. Habe ich es darum auch vor mir selbst verschlossen?

Einige Seiten weiter lese ich bei Emcke, nachdem sie „das erste Mal“, „das zweite, das dritte Mal“ mit einer Frau geschlafen habe:

Wenn es Männer wie Bernd Ulrich gibt, Männer wie der an meiner Seite, für die es selbstverständlich zu sein scheint, dass das eigene Begehren erst durch die Lust der begehrten Person entflammt, darf ich vielleicht beginnen, meine Lust, mein Begehren aus dem Schneckenhaus hervorkriechen zu lassen, in das sie sich verkrochen haben. Sex war immer sehr lustvoll für mich, wenn ich erst einmal zärtlich berührt und in Stimmung gebracht wurde. Aber es schien mir selbstverständlich und eine uns Frauen eigentümliche Besonderheit zu sein, von einem Mann erst gereizt und verführt werden zu müssen, um eigene Lust zu entwickeln. Etwas wie ein Verbot schwebte immer über der Entfesselung der eigenen Lust. Die sich frei entfaltende Lust war immer ein Privileg der Männer – und eine Quelle unkalkulierbarer Gefahren für Frauen. Anständig und legitim konnte meine Lust nur sein, wenn ich sie nicht selbst zu verantworten hatte. Mit Carolin Emcke entdecke ich vielleicht nun mein eigenes Begehren, lustvoll, erregend, verboten, rückhaltlos und verletzbar.

Als ich Gisèle Pelicot gestern im Fernsehen sah, fragte ich mich, ob sie jemals wieder Sex haben wird, jemals wieder oder allererst erfüllenden Sex. So, wie mir ihre Vergewaltiger ein fremdes Universum bleiben, wird es mir kaum jemals gelingen, mich emotional und geistig in Gisèle Pelicots Situation hineinzuversetzen. Ich kann ihr nur für ihre beherzte wie kalkulierte Tat danken. Nachdem #metoo beinahe verblasst ist, wird hoffentlich ein neues Hashtag den antipatriarchalen Diskurs befeuern.