„Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate“ von Juliane Liebert im Deutschunterricht einer 12. Klasse – Fragmente einer Erkundung

Von André M. Kuhl

31. August 2023

Meine Lieben,
aus meiner Sicht war unser gestriges Gespräch sehr ertragreich. Ich habe, wie versprochen, die Ergebnisse einmal zusammengefasst, kategorisiert und mit weiterführenden Fragen verbunden. Je besser wir unser gegenwärtiges Liebeskonzept (schillernd zwischen „romantischer Liebe“ und „Sexualität“) verstehen, desto besser erkennen wir Unterschiede zu Liebeskonzepten anderer Epochen. Und nicht weniger können wir umso besser verstehen, mit welchen Schwerpunkten in der Gegenwartsliteratur Liebe thematisiert wird.

Liebe Grüße
André M. Kuhl

Liebeskonzepte im Deutschkurs DE2 – Kuhl Ergebnisse der ersten Stunde

1. Sexualität

Bemerkenswert war das erste Wort, das halblaut aus männlichem Mund geäußert und von einem leisen Kichern gefolgt wurde: „SEX“. Erst später wurde der Aspekt der Erotik bzw. der Sexualität (diesmal aus weiblicher Perspektive) wieder aufgegriffen, als kurz von „LUST“ die Rede war, die zweifellos zum Themenkreis der Liebe gehört. Welche Bedeutung die Sexualität für die Liebe besitzt, wurde indirekt thematisiert, wenn es um Genetik, den Vergleich mit der Tierwelt und den historischen Wandel der „Liebeskonzepte“ ging.

FRAGE: Sind, wenn man von Liebe spricht, Sexualität und sexuelle Anziehung eher Tabuthemen? Warum?

2. Das Konzept der romantischen Liebe

Im Verlauf des Gespräches verfestigte sich der Eindruck, dass unser vorherrschendes Konzept von Liebe das der „romantischen Liebe“ ist. Zwar wurde das Konzept der romantischen Liebe abgegrenzt von anderen Formen der Liebe, etwa der platonischen (nicht-sinnlichen) Liebe, der Freundesliebe, der Liebe zu Eltern und Geschwistern (auch Fetisch spielte eine Rolle), aber unterschwellig dominierte die Auffassung, wenn man von Liebe rede, gehe es um die romantische Beziehung zwischen zwei Menschen verschiedenen oder gleichen Geschlechts. Mit dem Konzept der romantischen Liebe sind verbunden: die intensiven Gefühle, die Bereitschaft füreinander zu sterben (falls nötig), Bedingungslosigkeit, Zuneigung, das Phänomen der Verliebtheit als Bedingung für eine Verbindung, Geborgenheit, Sicherheit etc. Sehr neutral wurden diese Aspekte als „psychisches Phänomen“ belegt und damit als „naturgegeben“: Sich zu verlieben, kann man nicht verhindern – selbst, wenn die Liebe unerfüllt bleibt.

FRAGE: Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Favorisierung der romantischen Liebe?

3. Liebesbeweise nach dem Vorbild kapitalistischer Tauschgeschäfte

Im Zusammenhang mit unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem scheinen viele im Kurs die Auffassung zu teilen, die Aufrechterhaltung der Liebe sei mit Arbeit und Aufwand verbunden und in gewisser Weise folgten diese Bemühungen oft dem Prinzip des Tauschgeschäftes. Das, was als Ausdruck von Liebe wahrgenommen wird, wird oft analog zu Waren mit bestimmtem Wert gesehen, deren Tausch im Beziehungsgeschäft zu einem gerechten Gleichgewicht der Werte führen muss. Liebe wird hier in einer langfristigen Beziehung angesiedelt, die nicht mehr durch das hormongesättigte Verliebtsein gestützt wird.

FRAGE: Ist das so: Wer liebt, will eine Beziehung führen? Ist die Liebesbeziehung ein Tauschgeschäft?

Aufgabe: Diskutieren Sie die drei Fragen in Gruppen und stellen Sie anschließend kurz Ihre Ergebnisse vor!

11. September 2023

Meine Lieben,
das Programm für heute sieht folgendermaßen aus:

1. Lektüre der Kurzgeschichte „Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate“ von Juliane Liebert ( In : Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht. Hrsg. von Lina Muzur. Berlin, 2018. S. 103 – 110.)

2. Kommentieren und bewerten Sie (schriftlich) die Kurzgeschichte in einem freien – sehr gerne auch betont unsachlichen – Text! (mindestens 400 Wörter)
Das ist nicht leicht, denn die meisten von Ihnen sind mit einer so freien und unkonventionellen Textsorte nicht vertraut. Schon einen Anfang zu finden, stellt so mache/n vor ein Problem. Am besten „fallen Sie mit der Tür ins Haus“, wie man so schön sagt.

Beispiele für Textanfänge:

„Ich habe offene Enden in Kurzgeschichte schon immer gehasst. Die Autorin Juliane Liebert …“

„Nieder mit dem Patriarchat? Da helfen wahrscheinlich nur Wunder. Oder Literatur. Juliane Liebert schreibt in ihrer Kurzgeschichte …“

„Wer liest das schon? Juliane Liebert setzt als „großer, böser Spatz“ auf Provokation, vermiest mir den Nachmittag und landet doch nur als Bettvorleger in ihrer eigenen LGBTQIA+-Bubble.“

„Männer „sind das lächerlichste und erbärmlichste Geschlecht auf Erden“. Stimmt leider.“


3. Ihre Texte wollen wir danach zu einer vertiefenden Analyse und Interpretation nutzen. Hilfreich dafür wären FRAGEN, die Sie an den Text (bzw. die Autorin) stellen und die Sie sich gegenseitig (im Plenum) zu beantworten versuchen. (Vermutlich kommen wir dazu ausführlich aber erst am Mittwoch.)

LG
AMK

13. September 2023

André M. Kuhl: Unsachlicher Kommentar zu Juliane Lieberts Kurzgeschichte „Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate“

Angesichts der gegenwärtigen Kriege, insbesondere des Ukrainekrieges, mag frau sich wohl mit gehässiger Lust an dem Blütentraum der Ich-Erzählerin ergötzen: Mögen sich die Männer, die so gern Krieg spielen, sich gegenseitig in den Arsch ficken und die Frauen nicht weiter mit ihren Gelüsten, Vergewaltigungs- und Mordfantasien belästigen.

Mir selbst wären diese himmlischen Schwanzträger hingegen nicht willkommen. Weil ich homophob bin? Weil ich nicht dieses männliche Idealbild lesbischer Frauen verkörpere, nämlich schwul zu sein?

Was für ein Aufwand! Acht Seiten für eine auf eine Dreiviertelseite gedehnte Message, die kurz gefasst auch auf die Formel „fickt euch selbst“ gebracht werden kann. Ach ja! – und für den Satz: „Über allem die Frau“. Über all dem biologischen Gewimmel auf unserer lächerlichen Erdkruste die Frau. Obwohl: Klingt ganz schön nihilistisch, wenn die biologische Evolution mit Schimmelbewuchs verglichen wird.

Aber die eigentliche Geschichte, Beates Geschichte, bleibt im Verborgenen. So weit reicht die Fantasie der Autorin dann doch nicht. Als ob es reichte, dem wilden Mann mit ruhigem Blick zu begegnen, um ihn in Tränen ausbrechen zu lassen. Und Tränen – worüber eigentlich? Da wird ein kleines Wunder bemüht, das Beate zur Superwoman werden und den notgeilen Chef, den Machtmissbraucher, zur Briefmarke mutieren lässt. Anlecken, aufkleben und abschicken! Adressat unbekannt. Was ist passiert? Was stellt Beate nach ihrem Erweckungserlebnis (respektive Erkenntnisschub) mit dem Kerl an, das am Ende zur Beseitigung des Bösen qua Patriarchat führen wird? Das weiß Juliane Liebert wohl auch nicht. Enthüllt der scheinbar mutig in die männlichen Geschlechtsteile hineingegrätschte Text unterschwellig nur die Resignation der Autorin?

Jedenfalls gibt sie sich für die Bubble der LGBTQIA+-Community sehr vorbildlich: Beziehung bitte ohne Besitzansprüche! Kann man auch in der Brigitte oder im Spiegel lesen. Lieberts Punk-Feminismus verfehlt allerdings seine Zielgruppe: die Uwes dieser Welt, die bald schon wieder bereit sein werden, unliebsame Bücher zu verbrennen.

Ich muss zugeben, ich habe schon vor längerer Zeit mal Juliane Lieberts Insta-Auftritt gestalked. Warum? Weil sie gut aussieht und sich zuweilen recht freizügig zeigt. Beneidenswert so ein Journalistinnen- und Schriftstellerinnenleben! Lifestyle, Partys, Prominente. Und natürlich: keine lästigen Blagen. Und es ist keine reine Fiktion, Juliane Liebert lebt selbst mit einer Frau zusammen, glaub ich. „Hab ich nichts dagegen“ wäre das falsche Wort. An ihrer Stelle würde ich auch mit einer Frau zusammenleben wollen, sprich: Wäre ich eine Frau, dann garantiert lesbisch.

Ich kann Lieberts Sehnsucht nach einem Matriarchat gut verstehen. Es ginge der Menschheit besser. Aber das wusste ich auch schon vor der Lektüre der Kurzgeschichte. Sag mal einer, was dafür zu tun wäre!

Kommentar zum Kommentar

Der Kommentar entspricht selbstverständlich nicht wissenschaftlichen Kriterien. Zum einen fehlen Hinweise auf Textstellen und wörtliche Zitate, zum anderen ausführlichere Erläuterungen, die aufzeigen, wie ich zu meinen jeweiligen Urteilen gekommen bin. Aber in meinem Text stecken auch Übertreibungen und Unschärfen, sowie vorschnelle Urteile.

Alle meine Urteile muss ich am Text erneut überprüfen und mich dabei selbst korrigieren. Das Ziel: herausfinden, welche Intentionen die Autorin mit ihrem Text verfolgt hat. Und auch, welchen Adressatenkreis die Autorin aus welchen vermutlichen Gründen bedient hat.

Der Traum auf Seite 108 etwa zeigt keineswegs das Bild von männlichen Soldaten, die sich gegenseitig anal beglücken. Es handelt sich um eine himmlische „Armee“, die sich in diesem surrealen Bild zur Aufgabe gemacht hat, den Soldaten das zu geben, „was sie sich heimlich schon immer gewünscht“ haben. Diese Unterstellung kleidet die Autorin in einen Wunschtraum und relativiert diese damit bereits wieder. Dahinter stecken Vermutungen, die sich nicht leicht nachweisen lassen. Gibt es ein heimliches Bedürfnis von Männern, nicht bloß die Penetrierenden zu sein, sondern auch penetriert zu werden? Jedenfalls kennzeichnet dieser Traum das weitgehend biologisch determinierte Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen, das diese in Täter und „Opfer“ teilt, er kennzeichnet in der Umkehr der Verhältnisse das biologische Machtgefälle zwischen Mann und Frau – aber möglicherweise hält die Autorin auch diese vermeintliche biologische Konstante für mindestens relativierbar. Stichwort „Knabenliebe“ in der Antike (wenn allerdings auch in der griechischen Antike Sex zwischen Männern verachtet – wenn auch geduldet – wurde).

Auch die „Lücken“ in meinem Kommentar müssen eine Rolle spielen. Welche Funktion hat die Figur des homosexuellen Amir? Und aus welchem Grund legt Juliane Liebert ausgerechnet ihm diese Sätze in den Mund: „Männer sind schwach. Sie sind das lächerlichste und erbärmlichste Geschlecht auf Erden“? (S. 107)

Was ist mit den Klischees, die die Ich-Erzählerin in ihrem Beratungsgespräch (S. 106 – 107) auftischt, nicht ohne selbstkritisch darauf hinzuweisen, dass es sich um spießige Ansichten handelt („Das Wieso war ein Dartpfeil in meine spießige Visage“, S. 105): Mit dem Chef zu schlafen passt nicht zur Emanzipation der Frau (S. 105), Machtmissbrauch, Weinstein, ungewollte Schwangerschaft, verheirateter Mann, zwei Kinder (ebd.). Die Ich-Erzählerin listet eine Reihe von Gründen auf die gegen Beates Vorhaben sprechen und allesamt zum Wertekanon der Leserschaft gehören dürften. Warum lässt die Autorin ihre Erzählerin dies sagen? Und warum belässt sie die Erzählerin ahnungslos, als Beate den Satz äußert: „Es geht um die Beseitigung des Bösen“? (S. 105)

Ich habe in meinem Kommentar unterstellt, dass die Autorin selbst nicht weiß, wie diese „Beseitigung des Bösen“ vonstattengehen soll. Diese Unterstellung mag zutreffen. Ich darf jedoch nicht grundlos annehmen, dass der Autorin diese „Fehlstelle“ nicht selbst bewusst ist. Ich muss davon ausgehen, dass jedes Wort in dieser Kurzgeschichte mit Bedacht und bei vollem (kritischen) Bewusstsein gewählt wurde. Das ist das Grundgesetz der Interpretation.

In meinem Text habe ich alle meine Urteile und Deutungen farbig gekennzeichnet, die mit Hilfe von Zitaten und Erläuterungen belegt werden müssten, um wissenschaftlichen Kriterien zu entsprechen. Sieht ziemlich rot aus! Hinzu kommen die „Lücken“ (Amir. Warum will Beate mit ihrem Chef schlafen? Woran erkennt man, dass es sich bei der Ich-Erzählerin um eine Frau handelt?)

Wie Sie sehen, habe ich hier nicht alle Mängel meines Textes angesprochen. Ist es deshalb übrigens ein schlechter, mangelhafter Text? Weil ich sehr spontan auf den Text reagiert habe, kann ich nun aus dem Vollen schöpfen. Ich habe durch meine Arbeit eine Fülle an sehr subjektiven Urteilen und Interpretationsansätzen gewonnen. Nun bin ich in der Lage, jedes dieser Urteile und jeden Deutungsansatz am Text zu überprüfen, um meine rein subjektive Lesart überwinden zu können. Und ich versuche, meine Erkenntnisse vor dem Hintergrund dessen, dass die Autorin jedes Wort bewusst und absichtsvoll gewählt hat, meine Beobachtungen und korrigierten Urteile zu einer vermutlichen Aussageabsicht (Intention) der Autorin so zusammenzufassen, dass daraus ein homogenes, schlüssiges Bild entsteht. Auf diesem Ergebnis hat abschließend mein persönliches wiederum subjektives Urteil zu fußen.

Aufgaben:

1a. Bilden Sie Gruppen von fünf bis sechs Teilnehmer*innen.

1b. Wählen Sie eine Person als Gesprächsleiter*in. Ihre Aufgabe besteht darin, das Wort zu erteilen und das Gespräch zu strukturieren.

1c.Wählen Sie zudem zwei Personen, die darauf achten, dass die in den Aufgaben 2a und 2b genannten Kriterien angemessen berücksichtigt werden.

1d. Beauftragen Sie eine Person damit, sowohl die identifizierten Urteile, Deutungen und zur Sprache kommenden Gefühle zu protokollieren. Und ebenso die Ergebnisse von deren sachorientierter Überprüfung.

2a. Tragen Sie einander nacheinander Ihre Texte vor. Die Zuhörer*innen haben die Aufgabe, jeweils die in diesen Texten aufscheinenden Urteile, Deutungen und „Lücken“ aufzuzeigen. Machen Sie sich für jeden Text daran, diese Urteile, Thesen und Deutungen am Text zu überprüfen. Fragen Sie immer nach dem WARUM!

2b. Viele Ihrer Texte werden vermutlich Gefühle thematisieren, die bei der Lektüre entstanden sind. Gefühle sind gewissermaßen wichtige Vorstufen der Interpretation. Suchen Sie gemeinsam nach den Gründen für das Entstehen dieser Gefühle (und auch Assoziationen). Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Auslöser dieser Gefühle von der Konfrontation Ihres persönlichen Lebenskontextes mit den Inhalten der Kurzgeschichte herrühren. Formulieren Sie in der Gruppe, welche konkreten Auslöser das sind. Und: Überlegen Sie, ob die Autorin derartige gefühlsmäßige Widerstände bei ihren Leser*innen womöglich beabsichtigt haben könnte.

3.   Fassen Sie in einem gemeinsam formulierten Statement Ihre Deutung und das damit verbundene Werturteil bezüglich der Kurzgeschichte zusammen.

Alternative: Wenn Sie glauben, Ihre eigenen Texte seien nicht ertragreich genug, können Sie sich unter gleicher Aufgabenstellung auch meinen Text vornehmen.

Und: Warum wir diese Aufgaben nicht einfach im Plenum unter meiner Leitung bearbeiten? Weil Sie dann die Verantwortung für die Ergebnisse leicht an andere (vor allem mich) abgeben können und am Ende nicht wissen, wie wir zu den Ergebnissen gekommen sind…

19. September

Guten Morgen,

nachdem sich unsere Interpretationsversuche am Montag anfangs schwierig gestalteten, zeichnete sich gegen Ende der Horizont einer Deutung ab. Ich habe das (neben unseren Aufzeichnungen aus dem Unterricht) in einer eigenen Interpretation einmal zusammengefasst. Vielleicht können wir die Beschäftigung mit Lieberts Kurzgeschichte damit abschließen.

Dann könnten wir uns als nächstes wieder mit Gedichten beschäftigen.

LG
AMK

Juliane Liebert – Der Montagsbuddha…                    Analyse und Interpretation

Interpretationshypothesen aus dem Plenum:

A  Die Autorin weckt durch ihre skandalöse und provokante Schreibweise und Ausführungen von Fantasien negative Gefühle bei Leserinnen und Lesern. (Wirkung)

B  Die Autorin will auf die Missstände bezüglich sexueller Freiheiten in totalitären Staaten aufmerksam machen, bzw. diese anprangern.

Dass Amir mit Einwanderern zu tun hat und sexuell verkehrt, ist nur ein Randgeschehen. Es geht zwar um Sexualität, aber nicht im engeren Sinne um die von homosexuellen Einwanderern.

C  Die Autorin lässt den Leser*innen einen großen Interpretationsspielraum. (Shafiqullah möchte nicht, dass gegendert wird.)

Hier fehlt der Textbezug. Aber es muss möglicherweise geprüft werden, ob das am Ende tatsächlich zutrifft. Z.B. wird nicht erzählt, was zwischen Beate und Uwe geschehen ist, und was danach im Treppenhaus geschieht. Hier steckt eine Aufforderung drin, die eigene Fantasie zu bemühen. Aber warum? Auch Beates Motiv, mit ihrem Chef schlafen zu wollen, bleibt unklar. Warum sind Uwes Reaktionen so gar nicht nachvollziehbar? Amirs Künste werden nicht näher erläutert. Dabei hat Amir in dem erzählten Gespräch nur sehr simple Ratschläge zu erteilen, die wenig überzeugen und sehr pauschal sind. Aus welchem Grund lässt die Autorin diese wesentlichen Punkte offen? Welche Absicht verfolgt sie damit?

D  Die Autorin will mit ihrer Kurzgeschichte ihre Leserinnen verwirren. (Wirkung)

F  Die Autorin kritisiert mit ihrem Text in der Gesellschaft verbreitete Stereotype.

Emotionslose, aggressive, übergriffige Männer. Männer glauben, sie seien hetero…

G  Die Autorin hat eine gewisse politisch-gesellschaftliche Einstellung, die sie in ihrem bizarren Text darlegt.

H  Die Autorin regt mit einem entgrenzten Multi-Kulti-Text zum Denken über unsere Rollen und Freiheiten in der Gesellschaft an.

[…]

Soweit unsere Aufzeichnungen während des Unterrichtsgesprächs. Aus dem weiteren Unterrichtsgespräch ergab sich der Horizont einer Deutung, die sich an der Tatsache festmachen lässt, dass kaum ein Detail der Kurzgeschichte im engeren Sinne realistisch erscheint. Das heißt, wir können die Autorin nicht beim Wort nehmen, sondern sind aufgefordert, den Text vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Dazu der folgende Versuch einer Interpretation:

A dream within a dream – Juliane Lieberts “Der Montagsbuddha oder Beate Beate Beate“

Viele Leserinnen und Leser werden durch Lieberts 2018 erschienene Kurzgeschichte vermutlich in tiefe Verwirrung gestürzt. Dabei ist der Plot der Geschichte im Grunde recht überschaubar: Beate, die Lebensgefährtin der Ich-Erzählerin, hat beschlossen, ihren Chef zu verführen, sucht diesbezüglich Rat bei dem Homosexuellen Amir, dessen Weisheit als grenzenlos gilt, und setzt ihr Vorhaben schließlich um. Dramaturgisch sucht Liebert weder Umwege zum Ziel, noch stellt sie dem Vorhaben Beates nennenswerte Hindernisse in den Weg. Zwar wird Beate mit den Bedenken der Ich-Erzählerin konfrontiert, ihr Chef, Uwe, sei verheiratet und habe zwei Kinder, auch damit, das Vorhaben widerspreche den Errungenschaften der „mühsamen Emanzipation“ (S.105), es passe nicht in die heutige Zeit, setze sie männlichem Machtmissbrauch aus und habe möglicherweise zur Konsequenz, dass sie ungewollt schwanger werde (vergl. S.105), aber Eifersucht entwickelt die Ich-Erzählerin, die ihre Lebensgefährtin aufrichtig zu lieben scheint, allenfalls in homöopathischen Dosen. Und so manövriert die Autorin die Figur der Beate geradlinig zur bereits auf der dritten Seite (S. 105) schamlos gespoilerten Pointe der Geschichte.

So – beinahe – reibungslos die Geschichte selbst ihren Lauf nimmt, so steinig und aufhaltsam ist der Hindernislauf, dem sich Leserinnen und Leser aussetzen, wenn sie die Lektüre nicht schon vorzeitig abbrechen. Denn nicht nur Beates dumpfbackiges Vorhaben, auch die Figur des Amir, dessen vielgerühmte Weisheiten eigentlich nur aus sexistischen Klischees und dümmlichen Pauschalisierungen bestehen, wie etwa der, die Männer seien schwach, erbärmlich und manipulierbar (S. 107), wirkt befremdlich, sogar unrealistisch. Umso mehr, da im Text behauptet wird, Amir habe seit dem Beginn der Flüchtlingskrise mit einer Unzahl männlicher, verheirateter Araber sexuell verkehrt, die zuvor offenbar nicht ihren homosexuellen Neigungen folgen konnten. Nicht weniger unrealistisch erscheint es, dass Beate und die Ich-Erzählerin gemeinsam (sic!) Rat bei ihm suchen, der die Leserinnen und Leser ob seines Irrwitzes und seiner Abseitigkeit wohl fassungslos staunen lässt: Wer einen Mann verführen wolle, müsse mit ihm über Sex mit anderen reden (S.106), ihm selbst sei es bei einem Hetero-Mann mit diesem Trick gelungen. Man mag vielleicht einen Moment über diese Finte nachdenken, wer bei Trost ist, wird sie kaum ernst nehmen können. Nicht so Beate, die sich den Tipp sogar akribisch notiert. Und so reiht sich bis zum Ende ein unrealistisches Szenario ans nächste, bis hin zu einem unbefriedigenden offenen Ende. Neben dem auf Seite 108 geschilderten Traum, in dem eine von Amir angeführte Armee nackter Männer sich über eine Horde aus Blüten hervorgewachsener Soldaten hermacht, die sich anscheinend nichts mehr gewünscht haben, als endlich einmal von einem männlichen Glied penetriert zu werden, dürfte die größte Zumutung des Textes wohl darin bestehen, dass ausgerechnet das zentrale Geschehen, das sich zwischen Beate und ihrem Chef abspielt, im Verborgenen bleibt (S. 108 – 109). Wenn die Geschichte nicht von Anfang bis Ende gaga sein soll, gilt es daher, das Kalkül aufzuspüren, mit dem Juliane Liebert ihren Leserinnen und Lesern ihre Intention näherzubringen versucht.

Dazu muss der Blick noch einmal auf das Geflecht von Unrealistischem und Unwahrscheinlichem gerichtet werden, das die Kurzgeschichte bestimmt. Mit ihm verwoben sind unverhohlen einige im feministischen Diskurs wurzelnde Wunschvorstellungen, moderne Liebeskonzepte und Entwürfe wünschbarer, sehr liberaler Rollen im Miteinander von Männern und Frauen. Diesen liberalen und teils befremdenden Konzepten stehen die dominierenden Werte und Überzeugungen unserer Gesellschaft gegenüber, die Liebert druckvoll zu relativieren versucht. Der verbreiteten Homophobie der Männer stellt Liebert einen selbstbewussten Homosexuellen gegenüber, der davon zu berichten weiß, dass unzählige andere Männer insgeheim ebenfalls homosexuelle Gelüste haben. Den „spießige[n]“ Äußerungen über die Gefahren von Beates Vorhaben, die so ziemlich alle Gefahren und Nachteile auflisten, denen eine Frau ausgesetzt ist, die sich auf einen Mann von Uwes Kaliber einlässt (S. 105), stellt Liebert das Liebesverhältnis zwischen der Ich-Erzählerin und Beate gegenüber, dass anscheinend keine Eifersucht kennt und von dem Selbst- und Fremdverständnis geprägt ist, dass Menschen sich in einer Liebesbeziehung als Freie begegnen, die aneinander keine Besitzansprüche stellen. Wenn Beate mit ihrem Chef schlafen will, ist das zwar möglicherweise eine große Dummheit, aber ansonsten okay. Jedenfalls macht die Ich-Erzählerin Beate keine Szene. Kein Wort von Untreue oder Verrat. Und am Ende von Seite 105 rückt Liebert wohl mit dem inhaltlichen Kern ihrer Kurzgeschichte heraus. Es gehe, so lässt Liebert die studierte Philosophin Beate (S. 104) sagen, „nicht um meinen Chef, es geht um viel mehr. Es geht um die Beseitigung des Bösen“.

Gar zu einfach wäre es, wenn mit dem „Bösen“ allein die „Uwes auf der Welt“ (S. 109) gemeint wären. Das Böse sind die tradierten gesellschaftlichen Verhältnisse, die Männer und Frauen in die uns allen vertrauten und möglicherweise auch erlittenen Rollen gepresst haben, in für unumstößlich gehaltene und ewig gültige Normen, die seit Menschengedenken Frauen den Männern unterworfen, sie zu Sklaven, Minderwertigen, zum Besitz der Männer gemacht haben. Normen, die vorschreiben, dass Sex an Liebesbeziehungen gebunden sein muss, Eifersucht ein legitimer Grund für einen Femizid sein kann und Homo- oder Bisexualität verachtenswert sind, auch wenn es mittlerweile zum guten Ton gehört, die zahlreichen diversen Sexualitäten zu respektieren, solange sie nicht propagandistisch zu Unterrichtsthemen gemodelt werden.

Zwar findet Lieberts Geschichte einen Höhepunkt in dem provokanten Traum, dessen zentraler Wunsch (nach Freud sind alle Träume Wunscherfüllung) darin besteht, alle Soldaten (und überhaupt Männer) dieser Welt möchten doch lieber miteinander vögeln, statt Frauen zu vergewaltigen und in ihren Kriegen Menschen zu töten und sich töten zu lassen, aber bei genauem Hinsehen entpuppt sich die gesamte Geschichte als irrealer Traum, in dem sich neue Rollen, neue Verhältnisse ankündigen, oder vielleicht schon auf dem Weg sind. Aber woher Beate die magischen Kräfte hernimmt, mit denen sie am Ende ihren Chef bezwingt, scheint Liebert nicht zu wissen. Es ist nur ein Traum, eine Wunschvorstellung, dass es einer Frau gelingen kann, dem wilden Mann mit bloßem Blick Einhalt zu gebieten und ihn schließlich in Tränen ausbrechen zu lassen. Worüber? Über die Gewalt und das Unrecht, die Frauen seit dem Beginn der Zivilisation angetan wurden. Was dafür geschehen muss? Die Antwort darauf überlässt Liebert ihren Leserinnen und Lesern. Das Rätsel hat seinen Schlüssel in der Eskalation des Verführungsversuchs und dem Geschehen, das sich anschließend unseren Augen und Ohren verschließt. Angesichts des immer noch undenkbaren Verheilens der Wunde zwischen Mann und Frau sollen wir unsere Fantasie bemühen, wenn wir nicht vor dieser großen Aufgabe resignieren wollen.

So wünschbar und notwendig ein radikaler und feministischer Wandel der Geschlechterrollen und der damit verbundenen unheilvollen Sozialisation ist, scheint es am Ende doch, als überfordere Juliane Liebert mit ihrer Kurzgeschichte ihre Adressaten. Die pauschalen Urteile über die Männer unserer Zeit, die sie Amir in den Mund legt, der es ja wissen muss, wirken, als seien es ihre eigenen. Und weil am Schluss wenig mehr bleibt, als Beates Abrechnung mit Uwe mit einer Gewaltfantasie zu füllen, bleibt die Geschichte eher als ironisch gebrochene Wutrede in Erinnerung, denn als engagierte Einladung zu einer Zeitenwende in den Geschlechterverhältnissen.

Warum man im Flugzeug nicht von Bomben reden sollte

„Language is a virus“ William S. Burroughs

Ein unkorrekter Essay über Kommunikation und Diskurstheorie / Lektion für die Schüler eines 13. Jahrgangs, die sich auf das Abitur im Fach Kunst vorbereiten       –    von André M. Kuhl

„Nur Kommunikation kann kommunizieren“ – dieser Satz des Soziologen Niklas Luhmann klingt absurd. Um ihn angemessen verstehen zu können, müsste man sich in seine Theorie sozialer Systeme vertiefen. Das ist an dieser Stelle nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Trotzdem lassen sich mit Hilfe dieser These manche Phänomene in unserer Medienwelt veranschaulichen.

Ähnlich verhält es sich mit den Begriffen des Diskurses und des Dispositivs, die der Soziologe Michel Foucault in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. Denn mit diesen Begriffen versucht Foucault zu begreifen, wie sich Ideen und insbesondere Ideologien in Gesellschaften verbreiten, ohne dass die Individuen als die vermeintlichen Träger von Ideologien auf diese wesentlichen Einfluss haben. In unserem Fall geht es vorwiegend um die Kommunikation durch Bilder und die Frage, wie Bilder als Mittel der Kommunikation funktionieren.

Luhmann: „Menschen können nicht kommunizieren, nicht einmal Hirne können kommunizieren, nicht einmal das Bewusstsein kann kommunizieren. Nur die Kommunikation kann kommunizieren.“ (Niklas Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt? In H.U. Gumbrecht und K.L. Pfeiffer: Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988, S. 884)

Sprache und Kommunikation

Bleiben wir zunächst einmal auf der Ebene der sprachlichen Kommunikation, denn wenn wir von Kommunikation reden, denken wir meistens sofort an Sprache. Auch wenn Kommunikation häufig nonverbal funktioniert, durch Blicke, Gesten, Mimik. Ein Beispiel alltäglicher Kommunikation: Auf dem Weg zum Supermarkt treffe ich Marina. Wir winken uns nonverbal zu, entschließen uns, aufeinander zuzugehen und bleiben (in Zeiten des Virus) in angemessenem Abstand voreinander stehen. Wir lächeln, ich frage Marina, wie es ihr gehe.

„Gut“, sagt sie, „wie es in diesen seltsamen Zeiten einem eben geht. Kaum Kontakte, Skypen macht auch keinen Spaß, man wird noch viel mehr daran erinnert, dass man isoliert ist, wenn man seine Freunde auf dem Display sieht und sie nicht anfassen kann, es gibt kaum etwas zu sagen, also redet man über Corona. Dabei hab‘ ich es echt satt über Corona zu reden. Der Urlaub ist gecancelt, dabei gibt es im Moment nichts, was ich mir lieber wünschen würde, als einfach wegzufahren, irgendwohin. Nach Italien. Ist natürlich Quatsch. Italien! Wieviele Tote haben die mittlerweile?“

„Sind ja vor allem Alte, die sterben“, sage ich, habe aber im selben Moment schon ein schlechtes Gewissen wegen dieser Äußerung. In Amerika soll ein Gouverneur gesagt haben, er riskiere lieber sein eigenes Leben und das seiner Altersgenossen, als durch den Shut-down eine katastrophale Wirtschaftskrise zu provozieren, die langfristig noch mehr Tote fordern würde und die Zukunft der jungen Menschen ruiniere.

Das könnte ich Marina jetzt genau so sagen, schweige aber. Ich habe das Gefühl,  ich würde damit noch weniger über meine persönliche Situation mitteilen als mit meiner Frage, wie es Marina gehe. Denn damit habe ich zumindest zum Ausdruck gebracht, dass ich mir Gedanken mache, wie es ihr geht. Aber habe ich mir wirklich Gedanken gemacht? Sorge ich mich wirklich um Marina? Augenscheinlich geht es ihr gut. Meine Begrüßung war eine konventionelle Formel. Das sagt man halt, wenn man jemanden trifft. Nicht schlimm, das ist nur höflich. Wir beide sind es gewohnt, Höflichkeitsfloskeln zu verwenden. Daher könnte sich Marina im Klaren darüber sein, dass ich mir nicht wirklich Sorgen um sie mache. Wahrscheinlich wäre sie auch nicht sehr enttäuscht, wenn ich kurz angebunden bliebe und sagen würde, ich hätte leider gerade keine Zeit für ein Gespräch. Muss dringend Mehl kaufen.

Marina hätte auch anders antworten können, indem sie meine Frage („Wie geht es dir?“) absolut ehrlich beantwortet hätte: „Du fragst mich, wie es mir geht? Ich kann das kaum beschreiben. Je länger der Zustand anhält, desto sinnloser kommt mir mein Leben vor. Ich frage mich, wozu ich noch putze und aufräume. Einerseits bin ich froh, dass ich ein paar Tage Urlaub dazubekommen habe – de facto – weil das Homeoffice im Grunde in ein, zwei Stunden gemacht ist. Weniger, viel weniger Anfragen, Mails und so, die Betriebe sind ja irgendwie alle lahmgelegt, da passiert im Moment nicht viel. Kennst du ja. Ich komme morgens kaum aus dem Bett und abends nicht rein. Eine total depressive Stimmung. Gestern habe ich anderthalb Flaschen Wein geleert. Hat mich aber auch nicht glücklicher gemacht. Im Gegenteil. Und ich sehne mich so sehr danach, mal in den Arm genommen zu werden. Gerne auch mehr, wenn du verstehst, was ich meine. Nicht mal Tinder macht noch Spaß. Sich mit einem Typen verabreden, geht ja nicht mehr.“

Es scheint, als hätte ich eine ganze Menge über Marina und ihre derzeitige Situation erfahren. Aber ist das wirklich so? Ich habe eine Reihe von Sätzen gehört, die mich dazu veranlassen, mich in Marinas Situation der modernen Single-Frau hineinzuversetzen. In meinem Kopf wurden einige einschlägige Assoziationen ausgelöst. Ich sehe sie allein vorm Fernseher sitzen, wie sie Rotwein in großen Schlucken in sich hineinkippt, sehe sie am Morgen in ihrem Bett (beige-graue Bezüge) mit verquollenen Augen und wie sie missmutig auf ihrem Smartphone nach links und rechts wischt. Vielleicht muss ich mir Sorgen machen um Marina. Ich sollte später vielleicht noch einmal mit ihr telefonieren, damit es ihr wieder ein wenig besser geht. Es ist sehr wichtig, dass Menschen „miteinander kommunizieren“. Die Kommunikation, die damit gemeint ist, ist eine Tätigkeit, die Menschen einander bestätigt, nicht allein zu sein, wahrgenommen zu werden und mit ihren Gefühlen anerkannt zu werden. Daher ist es manchmal (oder meistens?) gleichgültig, worüber genau man miteinander redet. Beispielsweise könnte ich Marina auch von meiner Kronkorkensammlung erzählen, mich mit ihr über das Wetter unterhalten, über die Stiefmütterchen, die ich heute Morgen im Vorgarten eingepflanzt habe, egal. Es würde ihr möglicherweise ein wenig besser gehen. Viele Menschen finden emotionale Stabilität, wenn sie mit anderen reden. Streicheleinheiten wären wahrscheinlich noch besser, aber die sind in unserer Kultur weitgehend untersagt, tabu, pfui!, macht man nicht, ist übergriffig, tendenziell Missbrauch usw. (Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung sich besser fühlen, wenn sie zum ersten Mal mit einem Psychotherapeuten reden. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob der wirklich ein Therapeut ist, oder ein Hochstapler, oder nach welcher Methode er therapiert. Allein das Reden hilft – und die Illusion, das werde helfen, weil man es mit einem Profi zu tun hat. „Sie haben gerade von Ihrer Katze geredet. Erzählen Sie mehr über Ihre Katze!“ „Über meine Katze? Gern. Hilft das denn?“ „Hätten Sie Ihre Katze erwähnt, wenn sie in Ihrem Leben keine Rolle spielen würde?“ So ungefähr funktioniert Psychotherapie: Es geht nur darum, den Patienten am Reden zu halten, egal worüber… Nach der dritten Therapiestunde lässt der Effekt allerdings deutlich nach.)

„Stiefmütterchen einpflanzen? Du hast es gut, du hast einen Garten.“

“Aber der Blick aus deinem Wohnzimmerfenster ist unbezahlbar. Du kannst auf die Schlei sehen. Und das bei dem schönen Wetter! Außerdem ist es ja noch nicht verboten, spazieren zu gehen.“

„Stimmt. Wenn ich mich dazu aufraffen könnte.“

„Wir können auch mal zusammen einen Spaziergang machen. Im Abstand von zwei Metern. Und ein bisschen reden.“ Das sage ich, habe aber eigentlich gar keine Lust, mit Marina spazieren zu gehen und mir ihre Tinder-Geschichten anzuhören. Wäre ein Akt der Barmherzigkeit. Außerdem könnte Marina mein Angebot falsch verstehen. Ich will keinesfalls der Ersatz für ihre Tinder-Bekanntschaften sein. Sehe ich da nicht einen gewissen Glanz in ihren Augen?

„Spazieren gehen? Du kannst mich auch mal besuchen kommen. Zwei Menschen dürfen ja immer noch zusammenkommen.“ Sie kichert. „Mit Mundschutz, Gummihandschuhen, also mit Vollschutz gewissermaßen. Komplett eingepackt.“

Safer Sex in Zeiten von Corona, denke ich, und fürchte, dass ich schon wieder zu spät für Klopapier sein werde, wenn ich hier noch länger mit Marina herumstehe. (Ganz nebenbei: Ist Ihnen aufgefallen, dass bei dem Wort bzw. den Wörtern „zusammen“ und „kommen“ für die Bedeutung die Schreibweise extrem wichtig – okay, Sie haben es bemerkt, dann ist ja gut!)

Jetzt ist in Ihrem Kopf so nach und nach ein Bild von mir und Marina entstanden. Vielleicht sehen Sie auch schon Marina vor sich, haben eine Idee davon, wie sie aussieht, wie alt sie ist und in welchem Tonfall sie spricht. Trägt sie Make-up? Haben Sie den Chihuahua bemerkt, der schon die ganze Zeit an ihrer Leine zerrt und an meinem Hosenbein schnüffelt? Ich trage seit einer Woche die gleiche Hose. Wirkt anscheinend anziehend auf das Tier. Die Wörter und Sätze, die Sie bis hierhin gelesen haben, haben dazu geführt, dass Sie eine Vorstellung von der Szene entwickelt haben. Sie haben die Sätze und Wörter „verstanden“. Sie sind bei diesem „Verstehen“ allerdings die ganze Zeit mit Ihren eigenen Assoziationen umgegangen, mit ihren eigenen Erinnerungen und Erfahrungen. Wörter und Sätze können sehr viel Verschiedenes bedeuten. Vielleicht (hoffentlich!) habe ich Sie mit meinen Zeilen ein wenig unterhalten. Man nennt das auch INTERAKTION (im Unterschied zu Kommunikation). Sie haben sich von mir angesprochen gefühlt, fühlen sich persönlich gemeint. Das würde allerdings auch mit einem ganz anderen Thema funktionieren. Ich könnte Ihnen zum Beispiel mitteilen, dass ich mich mit drei Paketen Klopapier und zwanzig Dosen Ravioli im Klo eingesperrt und beschlossen habe, es für zwei Wochen nicht mehr zu verlassen. Dass vor der Tür bereits meine Frau, zwei Feuerwehrmänner und ein Psychiater stehen und seit einer halben Stunde auf mich einreden, ich solle doch endlich rauskommen, sonst bliebe ihnen nichts anderes übrig, als die Tür aufzubrechen. Ich drohe, mit Scheiße zu werfen, falls sie es tun sollten.

Ist das alles schon Kommunikation? Oder nur sprachliche Zuwendung? Haben Sie im Moment des Lesens die gleichen Gedanken im Kopf gehabt wie ich beim Schreiben? Wurden durch meinen Text unsere Hirne synchronisiert? Hoffentlich nicht! Funktioniert auch nicht. Wir denken zwar in Sprache, wir handeln mit den Mitteln der Sprache, aber wir haben keine Möglichkeit, eine eigene Sprache zu entwickeln, mit der wir etwas Neues zum Ausdruck bringen, mit der wir Neues benennen könnten. Unsere Sprache ist ein soziales Instrument. Sie gehört uns nicht als Individuen – eher umgekehrt: Unser sprachlich strukturiertes Wissen determiniert, wie wir uns selbst als Persönlichkeiten definieren. Wir können nur zum Ausdruck bringen, was wir mit der Sprache, die wir gelernt haben, formulieren können. Beim Spracherwerb (vom Säuglingsalter an) kommt die Sprache von außen zu uns, wir erlernen sie und entwickeln einiges Geschick bei ihrer Verwendung. Ich kann mit Sprache handeln und auf Menschen einwirken. Ich kann sagen: „Mach mal das Fenster auf!“ Und mein Sohn macht das Fenster auf. Oder auch nicht. Aber er gibt mir wenigstens zu verstehen, dass er verstanden hat, indem er mir das Schweigeeinhorn zeigt. Meine Handlung ist also nicht wirkungslos gewesen (Stichworte für die weitere Recherche: Interaktion, Sprechakttheorie, die britischen Vertreter der „Ordinary Philosophy“).

Das „Schweigeeinhorn“ – selbst so ein schwieriges Wort verstehen Sie, denn Sie haben das Wort sofort in dem Kontext wahrgenommen, in dem es Ihnen gemeinhin begegnet. Sie haben nicht gedacht: „Warum redet der jetzt von einem schweigenden Einhorn? Außerdem gibt es gar keine Einhörner.“ Sie haben sofort begriffen, dass mein Sohn mir den Mittelfinger (wahlweise Stinkefinger) gezeigt hat, als ich ihn aufforderte, das Fenster zu öffnen. Dabei mieft es in seinem Zimmer ganz furchtbar und es wäre wirklich nötig, dass er endlich mal lüftet und die Pizzakartons in die Papiertonne bringt.

Kontexte

Kontext: Dieser Begriff ist Ihnen schon oft begegnet. Zum Beispiel im Deutschunterricht. Kontext unterscheidet sich von Ihren persönlichen Assoziationen zu bestimmten Wörtern, Sätzen, Bildern und Situationen dadurch, dass Kontext definitionsgemäß das Umfeld ist, in dem ein Wort, ein Text oder ein Bild objektiv auftaucht. Kontext bedeutet, dass (um der Einfachheit halber bei einem Wort zu bleiben) ein Text immer innerhalb eines größeren „Textes“ auftaucht. Jeder Text, jede Äußerung ist eingebettet in  einen „Text“ von noch viel größeren Ausmaßen. Der Kontext erklärt uns, wie ein Text oder eine Äußerung zu verstehen ist. Warum „Text“? Der Kontext kann auch ein Ort, eine Umgebung sein, also rein Materielles. Aber wenn Sie diese Materie detailliert beschreiben, haben Sie wieder einen Text. (Beispiel: „Er las ihren Brief, als ihm das Wasser in der Kajüte bereits bis zum Hals stand. Er bemühte sich gar nicht mehr, seine Füße zu befreien, die George mit Kabelbindern …“ usw. Der Kontext der Brieflektüre macht deutlich, welchen Stellenwert der Brief für den todgeweihten Leser gerade hat. Ich wüsste zu gern, was in dem Brief steht. Habe aber gerade keine Zeit, mir das jetzt auch noch auszudenken. Außerdem muss ich noch Mehl und Klopapier kaufen. Schon vergessen?)

„Haben wir uns nicht auch schon auf Tinder getroffen?“ Der Satz hat eine ganz bestimmte Bedeutung, wenn Marina ihn sagt, als wir uns verabschieden und gerade ein bis unters Kinn tätowierter Bandido in frisch eingefetteter Lederjacke einen Einkaufswagen voller Klopapier an uns vorbeischiebt.

„Wie bitte?“

„Na, auf Tinder. Du bist der Typ mit der Perücke und der großen Sonnenbrille. Ich hab‘ dich genau erkannt.“

Der gleiche Satz („Haben wir uns nicht auch schon auf Tinder getroffen?“) hat eine völlig andere Bedeutung, wenn ich ihn zu Marinas Chihuahua sage, nachdem ich mich zu ihm hinunter gehockt und ihm mit dem Finger auf die feuchte Nase gestupst habe. „Du süßer Fratz, du!“

„Mein Schoßhündchen verleihe ich nicht, Alter!“

Pointe verpasst? Siehe da, Marinas Bemerkung ist tatsächlich nicht oder nur halb zu verstehen, wenn man die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Schoßhündchen“ nicht kennt (siehe dazu den Wikipedia-Artikel zu „Schoßhund“!). Kontext eben! In diesem Falle liegt der Kontext im Weltwissen von „Sender“ und „Adressat“. Niemand hat das komplette Weltwissen im Kopf, aber heutzutage haben die meisten Menschen weitreichenden Zugang zum aktuellen Weltwissen. Zum Beispiel über Wikipedia. Sie haben es sich vermutlich nicht nehmen lassen, bei Wikipedia den „Schoßhund“ zu suchen. Und schon haben Sie sich zunutze gemacht, dass in dem Artikel wichtige Begriffe mit eigenen Artikeln verlinkt sind. Daher sind Sie als historisch interessierter Mensch schon beim Artikel über die Renaissance angelangt, oder haben sich für das Fachwort „Cunnilingus“ interessiert. Wikipedia ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie jeder Sachverhalt in verschiedenste Kontexte eingebunden ist. Alles hängt mit allem zusammen.

Wir haben den Kontext (oder zumindest wesentliche Aspekte davon) im Kopf zwar meistens parat und verstehen darum die meisten Äußerungen, „wie sie im Kontext gemeint“ waren. Aber die Kontexte sind eigentlich etwas, was da draußen und nicht in meinem Kopf ist. Allerdings ist das menschliche Gedächtnis sehr leistungsfähig. Man kann sich Dinge merken. Trotzdem, der eigentliche Kontext ist nicht in meinem Kopf, sondern irgendwo in der Wirklichkeit jenseits meiner Hirnwindungen. Wenn ich „Bombe“ in einem Passagierflugzeug sage, ist das Flugzeug der Kontext. Mehr noch: Der Kontext ist die Tatsache, dass es bereits diverse Bombenanschläge oder Anschlagsdrohungen in Verbindung mit Passagierflugzeugen gab. Dass Menschen in Panik geraten können, wenn sie in diesem Kontext das Wort „Bombe“ hören. Zum Kontext gehört auch, dass Menschen, die in Flugzeugen dieses böse Wort gesagt haben, bereits verhaftet und bestraft wurden. Zum Kontext gehört eine Welt, in der Terroristen Anschläge verüben, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Zum Kontext gehört eine Welt, in der Reichtümer ungleich verteilt sind usw. Gewissermaßen kann man den Blick immer weiter ausweiten, wenn man nach den Kontexten sucht. Und man wird wieder einmal feststellen, dass alles mit allem zu tun hat. Trivial.

„Hoffentlich hat niemand eine Bombe in einem Koffer versteckt!“ Diese Aussage ist eigentlich ganz unverfänglich. Nicht böse gemeint. Aber sie kann in dem betreffenden Kontext Panik auslösen. Die Aussage entwickelt – unabhängig davon, was ich gemeint habe – ein Eigenleben, bzw. erhält eine Funktion und eine „Sprengkraft“, die ich nicht beabsichtigt habe. Meine Aussage wird von meinem Umfeld auf eine ganz bestimmte Art und Weise verarbeitet, die mit der Bedeutung der Aussage im Grunde nicht viel zu tun hat.  Die Bedeutung wird der Aussage von außen zugewiesen, selbst dann, wenn einige meiner Mitpassagiere wissen oder ahnen, dass ich nur einen Witz machen wollte. Meine Äußerung gehört mir nicht und ich habe keinen Einfluss darauf, dass sie so von meinem Umfeld verwendet wird, wie ich sie gemeint habe.

Corona-Hasen und Kokosnüsse

Mittlerweile weiß jeder, dass man bestimmte Wörter im Flugzeug nicht sagen darf. Schwieriger wird es, wenn man noch nicht weiß, wie das gesellschaftliche Umfeld auf eine Äußerung oder ein Bild reagieren wird, weil die Handlung oder das Bild neu ist. Ein kleverer Unternehmer hat zum Beispiel die Idee gehabt, Corona-Osterhasen zu entwickeln, Schoko-Hasen mit essbarem Mundschutz und einer Klorolle am Gürtel. Hätte witzig sein können, führte aber zu Empörung und massiven Protesten. Die Häschen wurden flugs wieder aus den Regalen geräumt. Waren da wirklich einzelne Menschen empört? Was war der Grund für diese Empörung? Offenbar gibt es eine gesellschaftliche Norm, die sich blitzschnell ausgebreitet hat, die nämlich, dass man über die Corona-Pandemie keine Witze machen darf. Weil Leute sterben. Stimmt wohl, aber es sterben täglich Hunderttausende. Auch zum Beispiel durch herabfallende Kokosnüsse.  Durchschnittlich werden jedes Jahr 150 Menschen von herabfallenden Kokosnüssen erschlagen. Findet man irgendwie kurios und amüsant, obwohl die individuellen Schicksale sehr traurig sind. Marinas Ex zum Beispiel ist von einer Kokosnuss erschlagen worden. Nicht im exotischen Ausland, sondern bei einer Weihnachtsfeier. Egon (Name aus Datenschutzgründen geändert) hatte sturzbetrunken mit heruntergelassenen Hosen auf einem Tisch getanzt, während sich zwei andere ebenso betrunkene Hanseln eine Kokosnuss zuwarfen. Hin und her. Immer über Egons Kopf hinweg. Fanden die witzig.  Die Nuss fiel einem von ihnen aus der Hand, sie rollte ans andere Ende des Saals, wo ein blonder Bodybuildertyp sie aufhob und einfach nur freundlich sein wollte, als er sie mit Schmackes (wie man im Rheinland sagt) in die lustige Runde zurückwarf. Tragisch das. Aber Sie finden die Geschichte auch irgendwie witzig. Was nichts anderes bedeutet, dass man über lebensgefährliche Kokosnüsse Witze machen kann, nicht aber über eine Bedrohung, die im Prinzip jeden betreffen könnte (mal abgesehen von der Tatsache, dass die Sterblichkeit bei Menschen ohnehin immer noch über 99,9% Prozent liegt. Die Wahrscheinlichkeit, von einer Kokosnuss getroffen zu werden, liegt dagegen bei unter 0,01%. Macht zusammen 100).

Woher das Tabu kommt, lässt sich nicht dadurch erklären, dass viele Menschen es von sich aus geschmacklos finden, Schokohasen mit Mundschutz zu verkaufen. Das Tabu entwickelt sich unabhängig von einzelnen Individuen. Klar, es braucht jemanden, der sagt: „Wie geschmacklos! Das geht gar nicht!“ Kann er sagen. Ich kann ebenso gut sagen, dass Grapefruits aussehen wie Brüste und es sexistisch ist, sie im Supermarkt unbedeckt anzubieten. Mal ganz abgesehen von den Gurken. Würde allerdings niemanden scheren. Warum also müssen die Corona-Hasen dran glauben? Die sollten uns doch nur ein wenig aufheitern! Antwort: Weil wir in einer Zeit leben, in der wir alles richtig machen müssen und nichts mehr selbstverständlich ist (das „Dispositiv“ der politischen Korrektheit). Jede Äußerung, jede Handlung, jedes Bild könnte verdächtig sein und gegen bestimmte Formen des Anstands verstoßen. Für das, was anständig und korrekt ist, gibt es allerdings keine klaren Regeln mehr, bzw. nur die Regel, dass prinzipiell alles unanständig sein kann – je nach Kontext. Leider kann niemand alle Kontexte (qua Fettnäpfchen) überblicken. Wenn also jemand ruft: „Keine Osterhasen mit Mundschutz!“, vermuten sofort eine ganze Menge anderer, es gebe da vielleicht eine neue Anstandsregel und es sei daher nur anständig, die neue Forderung zu unterstützen. Gleichwie: Nicht der eine, der als erster gerufen hat, ist verantwortlich, sondern eine IN DER GESELLSCHAFTLICHEN KOMMUNIKATION verankerte FUNKTION, die eine augenscheinlich moralisch gemeinte Äußerung unter bestimmten Bedingungen mit einem normativen Gewicht belegt, das weitere ähnliche Kommunikationen hervorruft. Die Masse der diesbezüglichen Kommunikationen, die danach zu verzeichnen ist, erzeugt dann eine neue Norm. Ein kommunikativer Staubfänger, an dem alle möglichen Äußerungen kleben bleiben. Ein elektrostatisch aufgeladener Luftballon. Haben Sie sich mal gefragt, warum Staub sich in Ihrer Wohnung (jedenfalls am Boden, auf Parkett oder Laminat oder Fliesen) nicht gleichmäßig verteilt, sondern sich nach einiger Zeit kleinere und größere Staubflocken bilden? Oft sind es Haare, um die sich kleinere Staubpartikel ansammeln. Weil Sie in der Wohnung umhergehen (und gewissermaßen mit der Raumluft interagieren) entstehen teils chaotische Luftzüge, die die kleinen Staubflocken mit anderen kleinen Staubflocken zu größeren Staubflocken zusammenbinden. So ähnlich muss das auch mit Diskursen und Dispositiven sein (mehr dazu weiter unten). #MeToo ist so ein Phänomen, das aus einem einzelnen Hashtag entstanden ist und heute unser kritisches Denken und unser Verhalten entscheidend mitbestimmt. Ein feines Härchen sammelt viele kleine Partikel, noch weitere Haare, noch mehr Staub – bis ein riesiger Ballen daraus geworden ist, den Sie einfach nicht mehr übersehen können. Genauso sammeln sich um den Corona-Hasen aufgrund chaotisch anmutender Interaktionen von Menschen (die Raumluft der Kommunikation) Kommunikationen. (Im Lutherjahr 2017 hat eine Jugendorganisation der evangelischen Kirche im Rheinland eine Kondom-Edition mit dem Lutherwort „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ herausgebracht. Aus nachvollziehbaren Gründen wurden die Kondome gleich wieder eingezogen, als die älteren Kirchenvertreter davon erfuhren. Luther und Sex scheint eine tabuwürdige Kombination zu sein. Die Kirchen haben schon sehr lange ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität. #wollmäuseimkreuzgang)

Interessant daran ist, dass es ab einer kritischen Menge von Kommunikationen nicht mehr darauf ankommt, ob die Kommunikationen für oder gegen Corona-Hasen plädieren, für oder gegen MeToo, für oder gegen Luther-Kondome. Es kommt nur darauf an, dass überhaupt (aufgeregt) darüber geredet wird und Unternehmer, Hersteller und Verkäufer um ihre Umsätze und ihren Ruf zu bangen beginnen. Es könnte sogar sein, dass die Person, die sich als erste über die Corona-Hasen beschwert hat, ihre Äußerung bereut. Es hätte keinen lindernden Effekt, wenn diese Person sagen würde, so habe sie das nicht gemeint, und auch nicht beabsichtigt, dass alle Corona-Hasen verschwinden. Und erinnern uns die Hasen nicht eigentlich daran, dass wir uns weiter schützen müssen? Könnten wir mit diesen Hasen nicht unsere Solidarität mit Ärzt*innen und Pfleger*innen in dieser schweren Zeit bekunden? Egal! Ich jedenfalls habe meinen Teil dazu beigetragen, dass die Debatte um die Corona-Hasen fortgesetzt wird. Und darauf kommt es an. Und auch Sie helfen dieser Debatte weiter auf die Sprünge, wenn Sie jetzt auf Google nach Corona-Hasen suchen. Wieder ein paar Klicks mehr! Die Debatte (oder der Diskurs, oder die Kommunikation) nährt sich von Ihrem Interesse. Sie sind der Wirt von parasitären Kommunikationen, in Ihrem Hirn verbreiten sich sprachliche Viren, die Sie alsbald wieder ausspucken und die dann von anderen Menschen eingeatmet werden. Beim Corona-Virus würden Sie auch nicht sagen, dass er Ihre persönliche Meinung widerspiegelt – nur weil Sie ihn beim Husten verbreiten. Sprachliche Äußerungen und Überzeugungen haben beinahe genauso wenig mit Ihnen persönlich zu tun. Bevor Sie Überzeugungen und Meinungen (eventuell leicht mutiert) in die Welt posaunen, sind sie von anderswo her in Ihren Kopf geflogen.

Diskurse und Dispositive

Was wir hier sehen können, ist ein Beispiel dafür, wie ein kleiner, weitgehend unbedeutender DISKURS entsteht, der sich schließlich zu einem DISPOSITIV (s.o. #wollmaus) verfestigt. Der Diskurs empfiehlt oder legt etwas nahe, das Dispositiv legt fest: „Keine Osterhasen mit einer Konnotation, die auf Tod und Sterben verweisen könnte!“ Also auch keine Osterhasen mit Kokosnuss! Fortan bestimmt das Dispositiv auch die mit ihm zusammenhängenden Diskurse. Diskurs bedeutet: Da reden Leute über ein Thema, sie äußern Meinungen und nutzen dafür mehr oder weniger weitreichende Medien. Ob sich das Thema durchsetzt und künftig immer mehr Menschen über dieses Thema reden, wird sich erst noch erweisen. Niemand kann das vorhersagen. (Das ist wie mit den Aminosäuren in der Ursuppe, diese faszinierenden Molekülketten, die sich zumeist synthetisch herstellen lassen und also gut verstanden sind, schwimmen da rum und aus unerklärlichen Gründen verbinden sich einige von ihnen zu einem Eiweiß. Und aus noch viel unerklärlicheren Gründen haben sich irgendwann bestimmte Eiweißketten zu der ersten lebenden Zelle verbunden. Wirklich! Niemand weiß, warum das geschieht bzw. geschehen ist. Deshalb hat man ein sehr schönes Fremdwort dafür bemüht: EMERGENZ. Emergenz bedeutet, dass in einem autonomen Prozess etwas Größeres aus Einzelteilen entsteht, das kausal nicht mehr auf diese Einzelteile zurückgeführt werden kann. Oder mit anderen Worten: Kein Schwein weiß, wie das passiert ist, aber da ist etwas absolut Neuartiges entstanden! In der Biologie genauso wie in der Kommunikation ist das Ursache-Wirkungs-Prinzip ausgehebelt.) Wenn sich im Laufe zahlreicher Interaktionen das Thema durchgesetzt hat, dann verfestigen sich die Meinungen zu einer Norm, oder sogar zu einer Institution (Schule wäre so ein Beispiel für eine aus Diskursen entstandene Institution, ein Dispositiv, das maßgeblich die Diskurse über das Lernen von Kindern bestimmt). Die Norm legt nicht unbedingt fest, wie sich Menschen konkret zu verhalten haben. Aber sie legt fest, dass sie sich vor dem Hintergrund dieser Norm (und der Gegen-Norm) oder zumindest einer Fragestellung verhalten und ihr Verhalten bzw. Handeln aus diesem Blickwinkel beobachten, kontrollieren und reflektieren müssen. Beispiel: Ich kann durchaus weiter mit meinem SUV fahren. Aber ich kann es nicht mehr tun, ohne indirekt oder direkt zu meinem Verhalten Stellung zu beziehen. Der Diskurs fordert mich auf, über die Klimaerhitzung nachzudenken und meine Nutzung eines SUV im Zusammenhang damit zu betrachten und zu bewerten (sogar mich selbst als Nutzer zu bewerten). Auch wenn ich mich der Meinung derjenigen anschließe, die finden, dass es keine von Menschen gemachte Klimaerwärmung gibt. Oder dass jetzt ohnehin alles zu spät ist und ich mein Leben genießen möchte, solange es währt. Ich kann trotz der herrschenden Diskurse meine eigene Meinung haben. Aber die Diskurse bestimmen über mich in der Hinsicht, als dass ich zu ihnen eine Haltung entwickeln MUSS. Ich kann sie nicht ignorieren. Insofern gibt es für mich als SUV-Fahrer eine Welt, in der die Klimaerhitzung existiert, selbst dann, wenn ich glaube, dass das alles nur Fake-News sind. Die Diskurse und Dispositive sind eine Wirklichkeit, die außerhalb von mir existiert. Ich muss mich an sie anpassen (oder mich gegen sie auflehnen), ich kann sie als Einzelner nicht steuern oder verändern. Es gibt so etwas wie die „Materialität der Kommunikation“. Vielleicht ist es vergleichbar mit der Spekulation an der Börse. Ich kann mit meinen bescheidenen Mitteln Aktien kaufen. Aber mit meinem Kauf kann ich den Aktienhandel nicht zielgerichtet und erfolgreich manipulieren. Wenn ich Milliardär wäre, könnte ich riesige Aktienpakete kaufen. Damit würde ich zwar spürbar Einfluss auf die Aktienkurse ausüben, allerdings könnte ich nicht mit Sicherheit vorhersagen, wie die Reaktionen der Börse auf meine Investitionen aussehen würden. Steigende Kurse? Fallende Kurse? Gewinn oder Verlust? Mit Äußerungen von einzelnen Personen (oder größeren Interessengruppen) ist es ähnlich: Ich „investiere“ mit bestimmten Beiträgen in KOMMUNIKATION, aber ich kann nicht mit Sicherheit vorhersagen, wie die „Kommunikationsbörse“ darauf reagiert. In sozialen Netzwerken gehen hin und wieder bestimmte Beiträge plötzlich und unerwartet „viral“. Niemand kann so etwas planen, auch wenn viele das versuchen. Kann irgendjemand das Phänomen Bianca „Bibi“ Claßen erklären? Wird jedenfalls schwierig.

Gesellschaftliche Wirklichkeit wird maßgeblich durch Kommunikation erzeugt – und durch Kommunikationen aufrecht erhalten. Es ist nicht einmal notwendig, dass Menschen diejenigen sind, die kommunizieren, das können (im Internet) in vielen Fällen auch Bots übernehmen. Die Kommunikation steuert sich selbst, sie besitzt ein faszinierendes wie bedrohliches Eigenleben. Sie verarbeitet nur diejenigen Kommunikationen, die ihrem Selbsterhalt dienen. Unpassende Kommunikationen ignoriert sie. Das Eigenleben der Kommunikation muss nicht unbedingt sinnvoll sein. Wir leben in einer Welt, in der deutlich wird, dass uns die AUTONOMIE der Kommunikation an den Rand des Abgrunds treibt. Das hat damit zu tun, dass es im Grunde genommen nicht DIE Kommunikation gibt, sondern viele verschiedene von einander getrennte KOMMUNIKATIONSSYSTEME. Die Theorie sozialer Systeme, die durch Kommunikation gebildet werden, würde an dieser Stelle zu weit führen. Aber wenn Sie sich vorzustellen versuchen, dass es zum Beispiel ein Politiksystem gibt und ein Wirtschaftssystem und ein Rechtssystem und ein Kunstsystem und viele weitere Systeme mit einer je eigengesetzlichen Kommunikation, dann ahnen Sie vielleicht auch, dass das Wirtschaftssystem nicht von dem Politiksystem ferngesteuert werden kann, und das Politiksystem nicht von einer Bewegung, die „Fridays For Future“ heißt. Und FFF nicht vom Wissenschaftssystem, auch wenn da ein enger Zusammenhang behauptet wird. FFF funktioniert eben nicht wie Wissenschaft. Und die Wissenschaft hat es jahrzehntelang nicht vermocht, die Politik von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass die industriellen Emissionen drastisch reduziert werden müssen. Kommunikation im Politiksystem funktioniert eben anders. Das ist so, weil jedes soziale System eine eigene kommunikative und autonome Sphäre mit eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt hat, die in anderen sozialen Systemen nicht unbedingt gelten. Sogar Politiker verzweifeln daran, dass sie im Politiksystem nicht tun können, was sie wirklich für richtig halten, weil das Politiksystem abweichende Kommunikationen entweder aussortiert oder sanktioniert. Zu kompliziert? Ist es. Sie müssen das nicht verstehen. Aber es lohnt sich, sich mit diesen komplizierten Zusammenhängen zu befassen. Irgendwann.

Bilder

Kommen wir nun zu den Bildern. Auch Bilder stellen Kommunikationen dar. Viele würden vielleicht sagen, sie seien Mittel zur Kommunikation. Dann würde man sie allerdings als Werkzeuge missverstehen, mit denen Menschen miteinander kommunizieren. Aber: „Menschen können nicht kommunizieren […]. Nur Kommunikation kann kommunizieren“. Menschen verarbeiten oder verbreiten Kommunikationen (oder „Kommunikate“, wie manche Wissenschaftler sagen würden). Das Unternehmen bzw. das Lifestyle-Magazin „Fit for Fun“ hat ein Foto veröffentlicht. Es lässt sich daraufhin untersuchen, wie es an Kommunikation beteiligt ist.

Wir sehen sofort, dass die auf dem Foto abgebildeten Personen dabei sind, Sport zu treiben. Wir kennen die entsprechende Funktionskleidung aus anderen Abbildungen, aus Filmen, aus der eigenen sportlichen Praxis, weil wir selbst beim Sport ähnliche Kleidung tragen usw. Wir wissen auch sofort, dass die seltsame Haltung, in der sich die Beiden befinden, eine gymnastische Übung sein muss und kein Begrüßungsritual oder ein Balztanz. Gleich werden sie sich in Bewegung setzen und weiter durch den Wald laufen. Wir wundern uns nicht über das, was wir sehen und fragen uns auch nicht, warum der Hund keine bunte Funktionskleidung trägt. Könnte er ja, der beste Freund des Menschen. Das Bild gehört zu einem Dispositiv, das noch nicht sehr alt ist und das von uns fordert, Sport zu treiben. Vor zweihundert Jahren gab es das in dieser Form noch nicht. Aber es geht nicht nur um Sport. An diesem Bild sind mehrere verschiedene soziale Kommunikationssysteme beteiligt, sie überlagern sich:

  1. Das Gesundheitssystem. Wir müssen uns wegen unserer bewegungsarmen Berufe in unserer Freizeit fit halten. Dann leben wir länger und sind im Beruf verlässlichere Arbeitnehmer, die nicht so häufig krank werden. Kränkliche Arbeitnehmer sind zu teuer.
  2. Insofern spielt hier auch das Wirtschaftssystem eine Rolle. Wegen der gesteigerten Arbeitskraft. Aber auch weil wir Konsumenten von Funktionskleidung sein sollen. Mit dieser Kleidung würden wir keinesfalls in einer Bank arbeiten. Wir brauen beim Sport dringend Funktionskleidung, die deutlich macht, dass das, was wir gerade tun, Sport ist und nichts anderes. Durch unseren Sportdress zeigen wir, dass wir gesund leben und modebewusst sind. Wenn jemand mit Alltagskleidung und Straßenschuhen durch einen Wald rennt oder durch eine Fußgängerzone, dann nehmen wir nicht an, dass diese Person gerade Sport treibt. Dann ist sie vielleicht auf der Flucht – oder verrückt.
  3. Wir lernen auch etwas über Schönheitsideale: Frauen haben lange Haare und einen knackigen Hintern, der in diesem Bild besonders betont wird, denn der Mann streckt seinen Hintern nicht so raus wie die Frau. Sähe auch albern aus, finden Sie nicht? Männer haben Muskeln und dürfen auch etwas kräftiger gebaut sein.
  4. Bewegung in der Natur scheint den Menschen besonders gemäß zu sein. Wir sehen Bäume, Gras und Büsche. Was wir nicht wahrnehmen, ist, dass diese „Natur“ Teil einer künstlich geschaffenen Kulturlandschaft ist. Hier ist sogar der Weg asphaltiert.
  5. Die beiden Menschen könnten ein Paar sein, so wie sie sich berühren. Eine Frau und ein Mann. Wir haben es hier mit dem herrschenden Dispositiv der Heterosexualität zu tun. Warum begrapschen sich hier nicht zwei Männer? Heterosexualität ist eben das „Normale“. Und zu dieser Normalität gehört heutzutage auch, dass man eher mit seinem Hund als mit seinen Kindern draußen herumläuft. Hunde gehören zum perfekten Glück einfach dazu! Mit Kindern geht man auf den Spielplatz oder zur Eisdiele.

Das Bild transportiert alle diese Normen – und wahrscheinlich noch einige mehr. Indem wir selbst Sport treiben und uns die dazu passende Kleidung kaufen (und den passenden Hund), erfüllen wir die Forderungen der zuständigen Dispositive (oder Kommunikationssysteme). Wir eignen uns die Normen an und glauben, wir erfüllten uns damit eigene, sehr persönliche Bedürfnisse. Es mag sein, dass wir das Bedürfnis haben, uns zu bewegen, uns zu verausgaben. Sicher ist das allerdings nicht. Anthropologen bescheinigen den Menschen vermutlich eine ursprünglich ausgeprägte Faulheit. Klar, auf der Jagd mussten die Urmenschen weite Strecken zurücklegen. Aber wenn sie nicht mussten, haben sie es auch gelassen. Über vierzig Kilometer zu rennen, hat nicht mehr viel mit der Natur des Menschen zu tun. Haben Sie schon mal Menschen nach einem Marathon kotzen und zusammenbrechen sehen? Haben Sie mal Boris Becker laufen sehen? Sport kann ziemlich ungesund sein, Leistungssport ist es fast immer. Aber was sage ich da? Mit meinem Urteil, Sport sei ungesund, bediene ich nur wieder das Sport-Dispositiv. Ich teile Meinungen mit, die ich irgendwo mal aufgeschnappt und mir zu eigen gemacht habe. Und es gibt genügend andere, die von den Gesundheitseffekten des Sports erzählen könnten. Ich bestätige mit meinem Beitrag nur, dass Sport ein für die Menschheit wichtiges und unverzichtbares Thema (oder Dispositiv) ist. Ich helfe mit, den Sport als Kommunikationssystem am Leben zu halten. Ich REDE zwar negativ über den Sport, aber ich helfe dem Sport dadurch, weiter im Gespräch zu bleiben und dadurch wichtig zu erscheinen. Selbst wenn ich meinen Fußweg zur Schule als Sport bezeichne, bestätige ich (trotz meiner Verachtung für die Ideologie des Sports), dass Sport ein diskurswürdiges Thema ist. Ich entkomme dem Sport nicht. Selbst wenn ich auf die Frage, ob ich Sport treibe, sage: „No sports!“ und dafür ein ironisches Lächeln ernte und hören muss, dafür sei ich aber ganz schön beweglich, merke ich, dass ich meinen Körper nicht jenseits des Sports denken kann. Ich bin sogar stolz, noch so fit zu sein, OBWOHL ich keinen Sport treibe. Ich kann meinen Körper und mein Wohlbefinden nicht jenseits von Sport denken und beurteilen. Gemessen an meinen Sport treibenden Freunden bin ich vergleichsweise fit. Auch wenn ich bereits nach fünf Kilometern Laufen kotzen müsste und nicht erst nach 42. Kondition ist nicht so mein Ding. Dafür müsste ich schon regelmäßig laufen. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sollte mal wieder Sport treiben.

Exkurs

Seit ich mich bei Instagram angemeldet habe, begegnen mir extrem häufig Bilder von alleinstehenden oder zumindest kinderlosen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die Fotos ihrer Hunde posten. Ich muss zugeben, dass ich Hunde allenfalls aus der Entfernung mag und mir auch zwischendurch vorgestellt habe, wie Marinas Chihuahua von einem SUV geplättet wird. Ich habe kein schlechtes Gewissen bei derlei Fantasien – allerdings ein schlechtes Gewissen, dass ich kein schlechtes Gewissen habe, also eine Art Meta-Schlechtes-Gewissen. Dass „Geistesarbeiter*innen“ offenbar ein Faible für Hunde haben, könnte einerseits an ihrem Beruf liegen, der sie für Hundeliebe (siehe auch: Zoophilie) besonders sensibilisiert. Es könnte aber auch an der wirtschaftlichen Situation liegen, mit der Schriftsteller*innen zu kämpfen haben. Die ist nämlich zumeist äußerst prekär. An Familiengründung ist da oft nicht zu denken. Und wenn man keine Familie gründen kann, ohne den Traum vom eigenen Buch aufzugeben, dann sind oft auch die Liebesbeziehungen anfällig für plötzliche Trennungen. Ein Hund dagegen ist Garant für Zärtlichkeit, Treue und unproblematische „Kommunikation“. Wie bitte? Kann man mit Hunden kommunizieren? Leider nein. Aber wir können mit Hunden INTERAGIEREN. Und das tut vielleicht manchmal gut. Ungefähr so gut, wie mit Marina ein längeres Gespräch zu führen oder mit ihr anderweitig „vollgeschützt“ zu interagieren.

Obst und Gemüse

Apropos Obst und Gemüse: Erinnern Sie sich an mein absurdes Beispiel mit den Grapefruits? Offenbar gar nicht so weit hergeholt. Es gibt eben keine wirklich originellen Ideen. Bis gerade eben wusste ich nicht, dass diese Netto-Werbung existiert (oder hatte es vergessen…). Immerhin habe ich dafür  gesorgt, dass Sie Grapefruits nicht mehr anschauen können, ohne dabei an Brüste zu denken (und haben Sie mal original österreichische Germknödel gesehen?).

Sie ahnen es schon: Diese Nettowerbung kam Ende 2019 nicht gut an. Dabei war sie wirklich gut gemeint. Unverpacktes Obst und Gemüse kann durchaus sinnvoll für die Umwelt sein. Glaube ich jedenfalls. Das finden auch viele Verbraucher im Netz. Trotzdem gab es einen regelrechten Shitstorm: „[…] das Stichwort „zeitgemäß“ scheint der Marktingabteilung oder der beauftragten Werbeagentur wohl nicht so viel zu sagen. Anders lässt sich der aktuelle Reklameaufschlag nicht erklären: Da halten junge Frauen Äpfel oder Paprika vor ihre Brüste, da bedecken Männer ihren Penis mit Kopfsalaten und daneben prangt die Zeile „Nackte Tatsache„. Dass die armen Models dabei auch noch völlig entrückt und leicht irre vor sich her grienen, lassen wir mal außer acht“, schreibt der Stern. Und weiter: „Bleibt die Frage: Wer findet im Jahr 2019 eine solche Werbeidee richtig gut? Die User in den sozialen Netzwerken schon mal nicht. Von „Dein Ernst, Netto“ bis zu „sexistischer Kackscheiße“ reicht da die Bandbreite. „Neulich bei #Netto: ‚Wir machen Werbung für unser unverpacktes Gemüse. Ideen?‘ ‚Wir könnten was mit Zwischenebene machen, wie…‘ ‚NE NACKTE!!!!! Wir nehmen ne Nackte, die sich die Hupen mit Gemüse bedeckt!‘ Allgemeines Nicken brandet in donnernden Applaus. Tränen kullern“, kommentiert ein anderer Twitter-User. „Unfassbar, dass so eine Werbung heute noch möglich ist… Für Dich zum mitschreiben Netto-Marken-Discount: Verpackungen reduzieren ja, aber Sexismus nein!“, schreibt ein anderer User. Und eine andere Userin kommentiert: „Ich finde diese Art Werbung sooo unnötig und einfallslos.. Egal ob mit Männlein oder Weiblein.“


Verstehen Sie das? Ich nicht. Aber was wir feststellen können, ist, dass offenbar ein DISPOSITIV entstanden ist, das Nacktheit in Werbung heutzutage grundsätzlich ächtet. Interessant ist, dass die Argumente sogar selbst mit sexistischen und misogynen Aussagen daherkommen dürfen: „Wir nehmen ne Nackte, die sich die Hupen mit Gemüse bedeckt!“ Es ist anzunehmen, dass der betreffende Twitterer gar nichts gegen den Anblick nackter Frauen hat, vielleicht sogar ein eifriger Pornokonsument ist. Aber Werbung scheint eine davon abgetrennte Sphäre zu sein. Und dazu aufgefordert, die Netto-Werbung zu kommentieren, bezieht er dazu Stellung, wie es die Frage („Wer findet die Werbeidee gut?“) nahelegt. Die Frage impliziert nämlich schon die gültige Auffassung, mit Nacktheit dürfe nicht für Produkte geworben werden. Jetzt gilt das auch schon für beide Geschlechter, was man für einen Fortschritt halten könnte.

Der misogyne Kritiker hat vermutlich nicht seine eigene (durch langes Reflektieren erarbeitete) Meinung kundgetan, sondern nur interaktiv, das geltende Dispositiv gestärkt, weil das seiner Meinung nach (???) von ihm erwartet wird. Vermutlich ist er persönlich nicht besonders spießig, aber er leistet mit seinem Kommentar einen Beitrag dazu, unsere Gesellschaft noch ein wenig spießiger zu machen.

2012 – das nur nebenbei – durften Kunden in Süderlügum in einem Supermarkt an einem Tag sogar bis zu einem Preislimit umsonst shoppen, wenn sie „blank zogen“.

Muss ich nicht unbedingt haben, aber schlimm finde ich das auch nicht. Angesichts wirklich sexistischer Werbung ist die Netto-Werbung harmlos und eher niedlich. Offenbar gibt es auch eine gewisse Zahl an Menschen, die gerne mal nackt einkaufen würden. Auch in Museen werden seit längerer Zeit hin und wieder abendliche Nacktführungen angeboten, und das Nacktwandern auf ausgewiesenen Strecken in ausgedehnten Wäldern ist auch schon seit Längerem in Mode.

Der lange währende Kampf von Feministinnen gegen sexistische Werbung hat augenscheinlich Früchte getragen. Was durchaus zu begrüßen ist, wenn man sich einschlägige Beispiele ansieht.

Aber über ein diskursiv erzeugtes Dispositiv hat irgendwann niemand mehr die Kontrolle, es macht sich einfach selbstständig und schüttet sprichwörtlich das „Kind mit dem Bade“ aus. Und es kleidet sich mit dem Etikett eines überindividuell gültigen moralischen Wertes. Es dauert nicht lange, dann reagieren wir alle auf Nacktheit in der Werbung spontan ablehnend und empört. Und wir glauben wirklich, unser spontanes, affektives Urteil komme aus tiefstem Herzen. Und das ist dann auch so. Wir empfinden wirklich diese tiefe Abneigung. Und was ist persönlicher als ein Gefühl?

Die Netto-Werbung ist nur ein sehr harmloses Beispiel. Auf Nacktheit in der Werbung können wir schmerzlos verzichten. Schlimmer wird es, wenn es andere Dispositive und Diskurse sind, die sich in unsere Herzen versenken: Antisemitismus, Ausländerhass, die Überzeugung, dass Greta Thunberg nervt und den Klimawandel übertreibt, sogar lügt, um ein lukratives Geschäftsmodell am Laufen zu halten; Nationalismus, Totalitarismus, Nationalsozialismus. Alle diese Überzeugungen und Ideologien sind kommunikative Phänomene, die nicht oder nur schwer zu bändigen oder kontrollieren sind. Weil sie sich durch Kommunikation gestützt und verstärkt werden. Platt gesagt: Das zur Zeit wieder aufkeimende Dispositiv des Faschismus profitiert sogar noch vom Antifaschismus, weil der Antifaschismus Faschismus thematisiert. Interessanterweise stammt der Begriff des Faschismus sogar von seinen Gegnern.

Das Kommunikationsmodell der Systemtheorie ist problematisch

An dieser Stelle kommen wir zu einem äußerst problematischen Aspekt der Luhmann’schen Systemtheorie. Wenn wir davon ausgehen, dass „nur Kommunikation kommunizieren“ kann, dann sind die einzelnen Individuen in einer Gesellschaft dieser sich verselbständigenden Kommunikation ohnmächtig ausgeliefert. Nicht einmal Kritik hilft. Denn die Kritik Einzelner dürfte schon wieder abhängig von der Sphäre der Kommunikation sein, also selbst schon wieder ideologisch. Kann es da noch objektiv Richtiges und Falsches geben? Lohnt es da überhaupt noch, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu analysieren und Verbesserungsvorschläge zu machen? Die Politik zum Beispiel ist beinahe resistent gegen objektiv sinnvolle Vorschläge, wenn sie nicht zu den Eigengesetzlichkeiten der Politik passen. Ist es nicht zum Verzweifeln, dass Greta Thunbergs Mahnungen und Forderungen beinahe wirkungslos verhallen? Fasst man sich nicht an den Kopf, wenn selbst die Grünen nur 60 Euro für eine Tonne CO2 fordern (vorher sogar nur 30 Euro)? Die Ohnmacht, die wir Tag für Tag erfahren müssen, scheint dem Modell von Luhmann recht zu geben. Aber es ist eben nur ein theoretisches Modell. Genauso wie Foucaults Modell von Diskursen und Dispositiven. Beide Modelle habe ich hier nicht wirklich korrekt wiedergegeben. Schon sie so zu vermischen, wie ich es getan habe, ist eigentlich nicht zulässig. Es zu tun, erschien mir zweckmäßig, dem Zweck geschuldet, über Kommunikation aufzuklären. Wenn wir von den Modellen der Soziologen (Luhmann und Foucault) zu denen der Philosophen wechseln, begegnen wir auch wieder anderen Bildern des Menschen. Viele philosophische Theorien stellen die Freiheit und die Würde des Menschen ins Zentrum. Aus der Perspektive der Philosophie lohnt das Aufbegehren gegen übermächtige Systeme und Ideologien. An erster Stelle steht die Selbstaufklärung der Menschen, wie sie Immanuel Kant gefordert hat. Einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leistet jeder Einzelne, wenn er versucht, die irrationalen Mechanismen der Kommunikation zu analysieren und zu durchschauen – um dann neue Diskurse zu starten. So wie Greta Thunberg.