Freundschaftsdienste

Ich habe keine Freunde – außer Nina. Nina würde sagen: Klar haben wir Freunde, eine ganze Menge sogar. In unregelmäßigen Abständen treffen wir uns, reden, erzählen von vergangenen Ereignissen, essen und trinken gemeinsam, umarmen uns beim Abschied. Das machen Freunde so. Sie gehen auch gemeinsam ins Kino oder ins Theater. Sie laden sich gegenseitig zu den Geburtstagspartys ein und halten für Höflichkeit, sogar für einen Freundschaftsdienst, kein Wort darüber zu verlieren, wie öde und oberflächlich die sich in wenigen Variationen wiederholenden Gespräche geworden sind. Es ist aber besser, diese belanglosen – und dennoch emotional mächtig aufgepoppten – Gespräche fünf oder sechs Stunden lang zu ertragen, als keine Freunde zu haben. Und weil ich maßlos hohe und wohl auch extravagante Ansprüche an Freundschaften habe, muss ich sagen, es sind keine richtigen Freunde, es sind enge soziale Kontakte. Denn die sind nötig für eine ausgeglichene Psyche. Trotzdem fühle ich mich – zumal in größeren Gruppen – wie Robinson auf der Insel am Donnerstag. Nina würde übrigens sagen, ich sei gefühlskalt, wenn ich unsere Freunde als bloße „soziale Kontakte“ bezeichne.

Ein echter Freund ist ein Spielkamerad. Die Menschen in unserem Freundeskreis sind eher keine Spieler. Vielleicht wären sie es gern. Ich weiß es nicht. Ich muss erklären, was ich meine, wenn ich sage, ich sei ein Spieler. Es geht nicht um Glücksspiele, Poker, Roulette und dergleichen, sondern um Spiele, die glücklich machen, Gedankenspiele nämlich, die allein zu spielen keinen Spaß machen und dann nur bedingt glücklich machen. Ich habe Fantasie im Übermaß. Die reizt dazu sie weidlich auszukosten. Wie wunderbar, auf Menschen zu treffen, die bereit sind, kleine Absurditäten, die jemand äußert, sofort aufzugreifen und ohne relativierende Fußnote fortzuspinnen:

„Ich frage mich, ob Putin in letzter Zeit überhaupt noch Sex hat. Und wenn ja, mit wem?“ – „Schau dir seine rechte Hand an, schlaff, komplett überanstrengt.“ – „Manchmal stelle ich mir vor, wie Putin abends zu Bett geht, und frage mich, wie es ihm gelingt einzuschlafen und wie es ist, am nächsten Morgen aufzuwachen.“ – „Im ersten Moment siehst du die Sonne durchs Fenster blinzeln und denkst, was für ein wundervoller Morgen. Du könntest im Oktoberdunst durchs feuchte Gras einer Apfelplantage schlendern und von deiner ersten Liebe träumen, die ebenfalls an einem sonnigen Oktobertag begonnen hat. Aber dann kommt der jähe Elektroschock: Herz, Kopf, rote Ohren. Oh Scheiße, ich Zauberlehrling hab ja ‘nen Krieg angefangen, da muss ich mich auch heute ums Töten und Zerstören kümmern. Wie peinlich!“ – „Und zur Ablenkung holt er sich erst mal einen runter.“ – „Und schaut dabei einen Porno auf einem riesigen Bildschirm auf der gegenüberliegenden, zehn Meter entfernten Wand.“ – „Milf.“ – „Gay?“ – „Nee, kein Porno, eher Pinocchio, Heidi oder Biene Maja, so eine regressive Phase vor dem Eisbaden und dem Eiweißfrühstück. Pornos nur abends vorm Einschlafen.“

Nina ist ein prima Spielkamerad. Oft, manchmal nicht. Manchmal lange nicht, wenn sie Stress hat. Gerade hat sie Stress, beruflich. Jede meiner auffälligen oder unauffälligen Aufforderungen zum Spiel quittiert sie mit Augenrollen oder indirekten Vorwürfen. Dann offenbaren sich die beiden unterschiedlichen Identitätsphilosophien. Ja, ich hänge das mal ganz hoch auf und spreche von Philosophie, hake das aber möglichst schnell ab: Woraus auch immer Persönlichkeit und Identität eines Menschen resultieren, ob Genetik, oder sozialer Prägung, oder beidem, irgendwann ist die Kirschtorte fertig und kann kein Apfelkuchen mehr werden, dann bin ich dieser eine unverwechselbare Mensch, der nicht mehr aus seiner Haut herauskann. Was verbal oder nonverbal aus ihm herauskommt, ist Reflex seines Innenlebens, dem er qua Identität hilflos ausgeliefert ist. Jede seiner Äußerungen ist prinzipiell interpretierbar und auf seine relativ statische Persönlichkeit zurückzuführen. Mit anderen Worten: Alles, was der sagt oder tut, sollte man ernst nehmen und als Puzzleteil einer rekonstruierbaren Persönlichkeit betrachten, die kaum etwas anderes im Sinn hat, als andere zu manipulieren, in die Irre zu führen, ihr wahres Ich zu verschleiern, um ihre egoistischen Ziele zu erreichen. Erkenne deinen Mitmenschen, er könnte dir feindlich gesonnen sein! Obacht! Tadle rechtzeitig, bring deine eigenen Interessen und Ziele in Stellung! Erweise dich selbst als moralisch gefestigte Persönlichkeit! Das wäre die eine philosophische Position. Es ist – trotz gelegentlicher Spielfreude – auch Ninas Position. Die zweite unterscheidet sich nur marginal von der ersten: Der Apfelkuchen wird nicht mehr zur Kirschtorte, aber die Äußerungen des Apfelkuchens können – um im Bild zu bleiben – durchaus die Form von Kirschen und Buttercreme annehmen, sogar von Bratwurst und Wirsing. Die Äußerungen eines Menschen, also seine Worte geben nicht notwendigerweise irgendwelche für die Interaktion zurechtgemachte oder absichtlich gefälschte Kostproben seines wahren inneren Wesens preis, im Gegenteil sind sie Reflex des gesamtgesellschaftlich Denkbaren, Sagbaren und physisch Realisierbaren. Denn alles das sammelt sich in meinem Kopf als potenziell Mögliches. Ich habe nicht mich selbst im Kopf, sondern die Welt, die schöne, bezaubernde, beglückende, himmlische, aber auch eklige, abscheuliche, ungerechte, grausame, mörderische, teuflische Welt. Das ist ein riesiger Krimskrams-Laden in meinem Kopf. Und weil ich das alles nicht sein kann, ist es gedankliches Spielzeug. Wenn ich mir eine Geschichte ausdenke, in der ein putziger Hamster bei lebendigem Leib gefesselt, gehäutet, mit einem Kugelschreiber penetriert und anschließend aufgeschlitzt wird, kann daraus kein Hinweis auf meine Persönlichkeit gelesen werden, sondern nur einer auf das grundsätzlich Menschenmögliche. Überall, wo erwartet wird, ich müsse mich sogleich moralisch von dieser Hamsterfantasie distanzieren, das sei ja wohl das Mindeste, vermute ich das Kongruenzmodell der Identität, das davon ausgeht, dass die Worte eines Menschen Ausdruck und Teil seiner Identität sind, in meinem Fall: Sadist und potenzieller Tierquäler. Vertreter dieses Identitätsmodells hüten das Bild, das andere von ihrer Persönlichkeit entwickeln können, wie ihren Augapfel. Das ist selbstverständlich nicht möglich, aber sie versuchen zumindest, weitgehende Kontrolle darüber zu halten, was die anderen über sie denken könnten. Sie unterstellen, dass es alle so machen, außer vielleicht Schwachsinnige und empathielose Narzissten. Wenn ich also sagen würde, mich würde es interessieren, wie aufregend es wäre, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, würde Nina darin eine unanständige und sogar verletzende Aufforderung sehen und vermuten, ich könne unsere traute und ausschließliche Eheburg schleifen wollen. Was gar nicht meine Absicht ist, obwohl ich die Vorstellung, Nina und ihre beste Freundin beim Oral-Sex zu beobachten, wirklich aufregend finde, was offenbar ein Hinweis auf mein Persönlichkeitsprofil zulässt, dass ich nämlich solche Fantasien mag und das irgendeinen (möglicherweise pathologischen) Grund haben muss. Weil Nina nicht mag, dass ich solche Fantasien habe oder zumindest ausspreche, sage ich nichts. Denn ich weiß, dass sie glaubt, ich würde sagen, was ich wünsche. Wenn sie auf meine Beste-Freundin-Fantasie produktiv antworten würde („Ich glaube nicht, dass ich dich dabei zusehen lassen würde“, oder „Also ich würde mir den Anblick ersparen wollen, wie du Rainer den Schwanz lutschst.“), müsste sie befürchten, ich würde ihre Äußerung als indirekte Zustimmung zu dem Plan, unsere ehelichen Bande zu lockern, auffassen.

Das ist ein Dilemma. Nina hat ihre Gedankenpolizei stark verinnerlicht, schon wegen ihrer katholischen Erziehung, da dringt kaum ein vermeintlich anstößiger Gedanke vorbei ins Bewusstsein. Glaube ich jedenfalls. Sie weiß nicht einmal was von der Polizeistation mit angeschlossenem Geheimdienst in ihrem Kopf. Ich dagegen liefere mir tagtäglich kafkaeske Scharmützel mit meinen internen Vorgesetzten. Weil die verhindern möchten, dass Nina oder unsere gemeinsamen sozialen Kontakte mich mit meinen Gedanken identifizieren, die ja gar nicht meine persönlichen Gedanken sind, sondern im besten Sinne allgemeine. Das Dilemma ist noch vielschichtiger: Wenn ich einen Gedanken äußere, der prinzipiell (mit Blick aufs grundsätzlich Menschliche) wünschenswert ist, obwohl religiös oder kulturell tabuisiert oder aus Tradition geächtet, besitzt er doch auch einen verlockenden Möglichkeitswert. Wenn ich sage, ich stellte mir Ninas Zunge an Henrikes Vulva aufregend vor, ist das zwar keine Aufforderung, sich das als Wochenendprojekt vorzunehmen, aber es ist doch eine Aufforderung mit diesem Gedanken zu SPIELEN, denn schon der Gedanke könnte auch für Nina aufregend, um nicht zu sagen erregend, sein. Und mit Gedanken zu spielen, bedeutet, neue Möglichkeiten zu bedenken und schließlich auch zu erproben. (Kommentar von Nina: „Siehst du, wenn du vermeintlich ohne jede Absicht jede deiner erotischen Fantasien herauspupst, verfolgst du also doch deine Absichten. Was soll ich sagen? Sophist, Manipulator!) Ich meine, wenn wir alle Gedanken zunächst einmal zulassen und mit ihnen spielen, gelingt es vielleicht doch noch, eine bessere Welt zu erschaffen, jedenfalls wenn wir nicht davon ausgehen, dass wir bereits in der besten aller möglichen Welten leben. Okay, das Leibniz-Zitat war rhetorisch gemeint. Wir leben selbstverständlich in einer rundum verbesserungswürdigen Welt bzw. Gesellschaft bzw. Kultur bzw. Weltgemeinschaft. Zum Beispiel leben wir in einer Welt, in der Männer Kriege führen, Frauen unterdrücken und Frauen töten, weil sie Frauen sind. Geht’s noch unheilvoller? Wir brauchen ein umfassendes Therapieprogramm für die Menschheit. Und ich habe mir eins ausgedacht:

Ein Therapiekonzept, das zu einer Graswurzelbewegung wird und die Welt friedlicher machen wird.

Ein ganzes Wochenende verbringen sechs Personen (drei weiblichen und drei männlichen Geschlechts, soweit sich das überhaupt so klar definieren lässt) gemeinsam in einer speziellen Unterkunft, wo sie gemeinsam essen, trinken und schlafen. Das therapeutische Kernstück besteht in einem erotischen und sexuellen Ritual, bei dem zunächst zwei gemischte Gruppen gebildet werden. Alle sind nackt.  Jede Person innerhalb der Gruppe wird auf einer Matratze oder auf einer Massageliege ausführlich von den beiden anderen gestreichelt, leicht massiert, genital erregt und schließlich auch mindestens einmal zu einem angenehmen Orgasmus gebracht. Gemischte Gruppen heißt: Auch heterosexuelle Männer versetzen Männer in Erregung und verhelfen ihnen zum Orgasmus, heterosexuelle Frauen kümmern sich sanft um Höhepunkte anderer Frauen, Frauen und Männer bringen sich gegenseitig zum Orgasmus. Was zunächst mit Widerwillen getan werden mag, wird sich nach mehreren therapeutischen Wochenenden vertraut und schön anfühlen. Die Gruppen mischen sich immer neu, Dicke streicheln Dünne, Alte verwöhnen Junge und umgekehrt. Mehrere Gruppen bilden bald eine diverse Community der Wohltäter. Was sich gut und schön anfühlt, wird nach und nach ins Repertoire übernommen. Homophobie und Misogynie lösen sich in Wohlgefallen auf. Vielleicht werden irgendwann auch Großveranstaltungen stattfinden. Aber das Ritual bleibt. Keine wilden Orgien. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich glaube, Orgien passen nicht ins Konzept. Und Rituale haben religiösen Charakter. Die Therapie bezieht ihre Autorität aus dem Ritual, so wie die Religionen. Das Ritual darf nicht aufgelöst werden. Nun ja, ich in einer Dreiergruppe mit Nina und Henrike, das wäre ganz nach meinem Geschmack. Allerdings – in anderer Konstellation – Rainers Sperma an meiner Hand kleben zu haben, finde ich sehr gewöhnungsbedürftig. Aber nicht ausgeschlossen, dass ich ihm eines Tages sogar eine Prostatamassage spendieren werde. Ein Freundschaftsdienst. Es muss ein gutes Gefühl sein, zu wissen, dass ich den allermeisten Nachbarn in meiner Straße mal einen Orgasmus verschafft habe, oder lachen zu können über die Erinnerung an den alten Herrn, der sich anfangs so ungeschickt angestellt hat und nach ein paar Monaten großes Geschick mit Lippen und Zunge bewies. Vielleicht würde ich mit Anette oder Michaela gern einmal richtigen Sex haben, aber das müsste ich erst mit Nina besprechen, bevor ich die beiden frage.