Der liquide Roman

„Die Sache ist doch so“, sage ich zu Pjotr, „wenn Disney oder Warner einen neuen Blockbuster raushauen, verdienen die ihr Geld vor allem mit Merchandising-Produkten, T-Shirts, Plastikfiguren und dem ganzen Scheiß. Bands und Leute wie Helene Fischer verdienen ihr Geld nicht mit CDs oder Spotify, sondern mit den Konzerten – und eben mit Merchandising.“ Na und, fragt Pjotr. „Na, ist doch vielleicht so auch mit der Literatur, die verlagert ihren Schwerpunkt allmählich auch in andere Bereiche. Du schreibst ein Buch, aber es geht gar nicht mehr um das Buch, oder jedenfalls nicht nur. Es geht um die Illusionen, die um den Autor oder die Autorin gestrickt werden. Das Buch ist bloß noch der Anlass, um sich mit der Autorin zu beschäftigen. Oder mit irgendeinem angesagten Thema.“ Das war nie anders, meint Aleksander, Goethe, Schiller, Brecht, Grass, irgendwann ging’s immer nur noch um die Autoren, um ihre politischen Überzeugungen, ihre kluggeschissenen Kommentare zum Weltgeschehen, ich meine jetzt nicht Schiller oder Goethe, du weißt schon, wie ich zu Grass stehe.401.jpg

Ja, weiß ich. Komisch, dass ihm wieder mal nur Männer als Beispiele eingefallen sind. Sei’s drum. „Ich meine, scheiß auf die Autorinnen! Die Romane fangen an, zwischen den Buchdeckeln hervorzuwachsen, sie fließen in die sozialen Medien hinein und beginnen da eine Art Eigenleben. Du weißt schon, dieses blöde Gerede davon, dass Autoren irgendwann hilflos vor ihren selbstgeschaffenen Figuren stehen und mit ansehen müssen, wie die ihre Geschicke selbst zu bestimmen beginnen; wenn Autorinnen begeistert von der Eigendynamik der Story erzählen und behaupten, sie seien irgendwann nur noch Zuschauer oder Chronisten gewesen, weil sich alles von allein ergeben hat. Die Sachzwänge der Fiktion. Aber wenn der Roman anfängt, vor allem in den sozialen Medien zu existieren, da ein Eigenleben entwickelt …“ Fan-Fiktion, unterbricht Al. Aleksander hasst es, wenn ich ihn Al nenne. „Nee, Al, nicht diese Nachahmungsscheiße, sondern: Der Roman geht im Internet weiter, er hört einfach nicht auf, oder er verändert sich. Das Buch ist fertig, aber dann findet so eine Art Zellteilung im Internet statt, und Mutationen. Die Figuren und die Geschichte verwandeln sich weiter, obwohl das Buch schon fertig ist. Der liquide Roman – ist das nicht die logische Konsequenz für die Literatur in der liquiden Moderne? Dass sich nicht nur die Menschen und die Identitäten verflüssigen, sondern auch die Romane? So wie die Serien? Die Leute wollen ohnehin kaum noch was Ausgedachtes lesen, die wollen was aus dem Leben der Autorinnen lesen und es soll möglichst authentisch sein. Und so ein Leben geht ja auch immer weiter. Ich glaube, Serie ist das richtige Stichwort.“ So von Staffel zu Staffel, sagt Pjotr, da steckt aber auch Kontinuität drin, das entwickelt sich vielleicht immer weiter, aber das Ganze hat Konsistenz. Bei einer guten Serie jedenfalls. „Eben. Da muss eine andere Art von Konsistenz her. Stell dir einen Roman vor, der sich permanent verändert, der nach und nach seine eigenen Varianten ausspuckt, bis er sich einerseits nicht mehr ähnlichsieht, aber andererseits sich immer mehr seinem Kern annähert, wenn’s den überhaupt gibt. Eine Phänomenologie der Fiktionen, wenn du so willst, oder eine fiktionale Hermeneutik.“ Du meinst, sagt Pjotr, du schreibst einen Roman wie „Liquid Love“ einfach weiter? „Wir beide?“ Oder du, ich, Uta und André? Hermeneutik – ganz schön hochgestochen. Schreibst du da nicht besser einen Aufsatz für eine literaturwissenschaftliche Zeitschrift?

„Nee, gerade nicht. Es müsste schon Literatur sein. Wir schreiben an unserem Lebensroman doch auch immer weiter, wir hören nie auf damit. Und wir erzählen unsere Geschichte immer wieder neu, interpretieren sie neu, vergessen, konstruieren. Und deshalb wissen wir in keinem Moment, ob wir unser Leben endlich verstanden haben, uns selbst verstanden haben. Wir müssen uns immer wieder selbst auf die Probe und unsere Überzeugungen in Frage stellen. Klar muss ein Roman irgendwann zu Ende sein, wenn er gedruckt werden soll. Aber de facto ist er dann immer noch als ein anderer möglich. So wie mein Leben auch mit einem anderen Mann möglich wäre, oder mit einer Frau. Oder wenn du dich zum Beispiel entscheiden würdest, eine Frau zu werden.“

Willst du das? Ist das eine deiner Fantasien? Dass ich mir den Schwanz aboperieren lasse?

„Wieso das? Wäre das deiner Meinung nach nötig, um eine Frau zu werden?“ Aleksander zieht sich verzweifelt die Decke über den Kopf. „Ich mag deinen Schwanz, wie du weißt, du sollst ihn ja gar nicht abschneiden. Aber wenn du es wollen würdest und es tun würdest, dann würde sich ja zweifellos etwas ändern zwischen uns. Es war auch nur ein Beispiel. Aber wenn du es wirklich tun würdest, dann wäre es doch selbstverständlich, dass ich anfange, meine Geschichte mit dir noch einmal aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Das Ereignis würde meine und deine Geschichte nachhaltig verändern. Hast du dir immer schon gewünscht eine Frau zu sein? War der Sex, den wir hatten, irgendwie immer schon lesbischer Sex? Aber mir geht es im Moment gar nicht um unser Leben, sondern um Literatur. Wer sagt, dass ein Roman ein Ende haben muss? Und dass ein Roman sich nicht verändern darf? Dass eine Autorin nicht sagen darf, Leute, es ist 2020 und am 21. Januar hat ich endlich das erste Kapitel des Romans mit dem Titel soundso verändert. Es ist nicht nur besser geworden, sondern es ist eine weitere interessante Figur dazugekommen. Seit gespannt, denn diese neue Figur wird sich möglicherweise in unseren Protagonisten verlieben, was eine ganze Menge infragestellt, das wir für unumstößlich gehalten haben. Undsoweiter. Dieser Werkgedanke – der löst sich immer mehr auf. Das Werk löst sich auf. Das ist das Schicksal der Moderne: In dem Moment, wo etwas fertig zu sein scheint, hat sich die Welt, in die dieses Etwas gestellt wird, schon wieder so sehr verändert, dass sich dieses Etwas diesem Wandel sofort anpassen möchte und seine Gestalt verändert. Denk einfach an den Berliner Flughafen! Neue Bauvorschriften, neue Baustelle, Eröffnung zum siebten Mal verschoben. Der Online-Roman der Zukunft verändert sich laufend, ist unfassbar und formlos wie eine Amöbe im Heuaufguss. Oder so.“

Und wird nie fertig. So wie der Berliner Flughafen. Aber dein Geld musst du dann immer noch mit dem Buch, ich meine, mit dem gedruckten, fertigen Buch, verdienen, sagt Aleksander. Aber das ist ja jetzt schon fast unmöglich. Internet ist noch kein Merchandising. Wenn klar ist, dass dein Buch noch gar nicht fertig ist, wenn es erscheint – aus welchem Grund sollte es dann jemand kaufen? Die Leute leben ein unfertiges und oft genug unbefriedigendes Leben – warum sollten sie sich dann auch noch ein unfertiges Buch kaufen? Wenigstens der Roman sollte ein Ende haben, am besten ein Happy End, ein Ende, das sein Licht auf die zurückliegende Geschichte wirft und ihr Sinn verleiht. Also: warum ein unfertiges Buch?

„Einfach weil es eine geile Idee ist und es nicht mehr diesen Moment gibt, wo du dir sagst: Ich habe nur noch drei Seiten zu lesen, dann ist der Roman zu Ende, aber ich möchte weiterlesen, weiter, immer weiter. Die Leute wollen vielleicht ein richtiges Ende haben, aber im nächsten Moment wollen sie, dass es sofort weitergeht, also eben noch nicht zu Ende ist. Und ja, geil ist auch, wenn die Figuren nicht dieselben bleiben. Denn ich möchte auch nicht immer dieselbe bleiben.“

André Kertész

Du möchtest vielleicht auch noch irgendwann mal ein Mann sein. Und einen Gummipenis in der Hose tragen.

„Oder unterm Rock.“

Woher weißt du, dass du damit nicht einer fatalen Ideologie aufsitzt, die dich langfristig total aushöhlt? Mit dieser Idee der liquiden Persönlichkeit und dem liquiden Roman, das ist ja bloß die Fortsetzung oder Steigerung dessen, was bislang die Moderne war. Der Begriff der Moderne kommt, wie du weißt, von Mode. Als die Menschen im Neunzehnten Jahrhundert bemerkten, dass sich ihre Lebensverhältnisse spürbar veränderten, Moden einander abwechselten, in den Großstädten die Kanalisation eingeführt wurde, Gaslampen, Elektrifizierung, Maschinen, neue Anschauungen usw., als die Menschen nicht mehr umhin konnten zu sehen, dass alles das, was Jahrhunderte zuvor gegolten hatte, nun innerhalb weniger Jahrzehnte oder Jahre stürzen konnte, durch Neues ersetzt wurde, entstand die Moderne, das Zeitalter der Innovationen. Es hält bis heute an. Postmoderne? Zweite Moderne? Papperlapapp! Wir sind innovationssüchtig wie keine Generation vor uns. Und jetzt wird es nur immer schneller, so schnell, dass es zu fließen scheint. Keine Statik mehr, alles fließt.

„Stimmt, und weil sich alles immer schneller verändert, wollen wir uns nicht bloß an die Veränderungen anpassen, sondern immer schon am Ziel sein, bevor das Neue wirklich da ist, wie bei der Fabel vom Hasen und dem Igel. Ich bin jetzt die eine, aber in Zukunft werde ich schon immer die andere gewesen sein. Ich will ja gar nicht sagen, dass ich das gut finde. Aber ich gehöre bereits zu dieser Generation. Ich kann gar nicht anders. Das hat nämlich alles einen langen Vorlauf gehabt. Als Sechzehnjährige habe ich Sartre gelesen und bin fasziniert von der Vorstellung gewesen, dass ich mein Sein durch meine Entscheidungen, also durch mein Handeln erst erschaffe. Und heute ist diese Idee ins kollektive Unbewusste herabgesunken. Es ist absolut selbstverständlich geworden, das eigene Sein, die eigene Persönlichkeit, die eigene Geschichte zu erschaffen, jedenfalls davon überzeugt zu sein, dass man es kann und in begrenztem Rahmen auch tut. Mit einem wesentlichen Unterschied zu Sartres Theorie: dass ich meine Geschichte nicht mehr zu sein habe. Ich kann jederzeit eine andere sein und meine Geschichte hinter mir lassen. Und sagen: Diese Geschichte, das war ich mal, aber die bin ich nicht mehr, die hat mit mir nicht mehr viel zu tun. Ist natürlich Quatsch. Ich kann meine Geschichte nicht verändern. Ich kann sie vielleicht neu interpretieren, aber ich kann sie nicht ändern. Genauso wenig kann ich sie selbst erschaffen, es sind wahrscheinlich nur Spurenelemente von Selbsterschaffenem in meinem Ich. Aber es gibt diese neue Idee vom Menschen, der sich selbst erschafft, sich optimiert und sich vollständig verwandeln kann. Vom Fettkloß zum super tiny Model, vom Alkoholiker zum Abstinenzler, vom Anwalt zum Schriftsteller, vom Museumsdirektor zum Busfahrer. Mir fallen gerade nicht so geile Beispiele ein. Aber du verstehst schon. Du kannst durch Ratgeberliteratur, Therapie, Bildung, Tutorials auf Youtube, durch implantierte Chips in deinem Gehirn, durch Crispr oder was auch immer ein anderer Mensch werden. Scheiße! Das will ich gar nicht. Ich will das gar nicht für mich. Ich kann das auch gar nicht. Aber ein Roman, mein lieber Al, der kann das. Der Roman unserer Zeit muss das vielleicht sogar.“

Das ökonomische Problem hast du damit aber noch nicht gelöst.

„Warum sollte das ein Problem sein? Der Roman wird wie ein E-Book vertrieben, aber du kaufst auch die Updates dazu, jedenfalls für eine gewisse Dauer. Du kannst auch nur das fertige Buch kaufen. Aber es ist doch viel spannender ein Buch durchzulesen, um dann wieder vorne anzufangen und festzustellen, dass der Anfang jetzt ganz anders aussieht, oder ein wenig anders. Und! Ganz wichtig! Damit das wirklich schnell genug funktioniert, brauchst du Autorenkollektive, die das permanent neu schreiben, so wie bei den Computerspielen oder den Netflix-Serien. Da sind auch meistens mehrere Autoren am Werk. Oder Drehbuchschreiber, Regisseurinnen, Kameraleute, Dramaturgen usw. Das kann keiner mehr allein.“

Und das richtige Geld mit den Merchandising-Produkten verdienen.