It’s religion, stupid

Al hat einen Geistesblitz gehabt. Wieder einmal! Er meint, Sex sei seine Religion.

Der Gedanke ist ihm bei einem Gespräch über die katholische Kirche gekommen und die Besonderheiten – oder wie er sagte: Sonderbarkeiten – katholisch geprägter Gemüter, womit er wohl vor allem mich meinte. Ich tue ihm Unrecht. Aleksander ist ein einfühlsamer Mensch und ich kann ihm nicht absprechen, über die Jahre unseres Zusammenlebens recht fundierte Einsichten in das komplexe Konstrukt des katholischen Glaubens aus Theorie, Psychologie und Praxis gewonnen zu haben. Praxis ist das Stichwort – und der Aphorismus „Fake it till you make it“, den ich ins Spiel brachte. Es gibt einen bedeutsamen Unterschied zwischen dem outrierten Gelaber, der auf Sprache fixierten Selbsthypnose gläubiger Protestanten und den Ritualen in der katholischen Kirche. Während der Protestant sich permanent eines festen und unverbrüchlichen Glaubens zu vergegenwärtigen hat, erledigt die Katholikin ihre religiöse Hygiene mit ritualisierten Handlungen, die – selbst was den sprachlichen Anteil betrifft, bei dem die Sprechwerkzeuge trancehaft mit allen übrigen Muskelbewegungen synchronisiert werden – auf der körperlichen Schiene laufen und von da aus gewissermaßen auf den Geist überspringen und – ja, auch! – erst dadurch eine sprachlich-geistige, wenn auch vorbewusste Dimension erlangen. Die Katholikin kommt im Prinzip ohne Predigt aus, kann sich auf die Wirkung der heiligen Handlungen der Liturgie verlassen: hinknien, aufstehen, die immer gleichen Gebete meditativ mitsprechen, die TATSÄCHLICH stattfindende Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut durch den allein befugten Priester, die physische Aufnahme des Leibes Christi, realer Ablass, die faktische Befreiung von aller Schuld, sofern man sich was hat zu Schulden kommen lassen. Demgegenüber hat der Protestant trotz der Beschwörungsformeln und didaktisch überformten Predigten, deren Redundanz beinahe an weißes Rauschen heranreicht, sein Seelenheil doch ganz allein mit seinem Herrgott auszumachen, dessen beharrliches Schweigen ihn, den Protestanten, dazu veranlasst – oder verführt –, in jedes noch so kümmerliche und unbedeutende Ereignis stumme göttliche Impulse hineinzuinterpretieren.

Fake also auf beiden Seiten, entweder die vergleichsweise bequeme und geradezu verantwortungslose Hingabe ans Ritual, das idealerweise geradewegs in die religiöse Ekstase führt, oder die hermeneutisch verschnurpselte Einbildungstätigkeit, bei der – umgekehrt – die autonom zu erzeugende religiöse Ekstase die Bedingung für die erhoffte Erlösung ist, was deutlich mehr psychische Energie erfordert als die durch den katholischen Priester hervorgerufene Hypnose. Das ist durchaus vergleichbar mit der Psychotherapie: Die Autorität des durch Examina zur Ausübung heilender Handlungen befugten Therapeuten aus Fleisch und Blut repräsentiert das katholische Prinzip des Rituals, die Selbsttherapie mit Hilfe von Beratungsliteratur ist das Mittel der Wahl für protestantisch sozialisierte Beschädigte. Und irgendwie beschädigt sind wir doch alle. Offensichtlich auch mein lieber Pjotr, der seinen therapeutischen Königsweg meint in Sex und erotischen Fantasien gefunden zu haben. Das sage ich. Aleksander bestreitet, das habe etwas mit Therapie zu tun. Denn Auslöser seiner unverhofften Begeisterung ist seine Eingebung gewesen, die Fixierung auf Sex und Erotik sei im Hegel’schen Sinne ein übergeordnetes synthetisierendes Drittes zwischen Katholizismus und Protestantismus. Es fällt mir nicht leicht, seine Argumentation zu rekonstruieren. Sie beginnt mit der Frage danach, was Religion überhaupt ist und ob sie ein natürliches menschliches Bedürfnis sei.

„Du erinnerst dich an dieses Experiment“, sagt Aleksander, „bei dem Säuglinge ohne jede sprachliche Zuwendung aufwachsen mussten, um herauszufinden, ob sie aus sich heraus eine Sprache entwickeln, vielleicht sogar die Ursprache, auf die alle Sprachen zurückzuführen wären?“

„Ja“, sage ich, „das Experiment soll Kaiser Friedrich der Zweite im 13. Jahrhundert veranlasst haben. Keines der Kinder hat das überlebt.“

„Warum weißt du sowas? Also, wäre es möglich, ein Kind ohne jede Berührung mit Religion oder auch nur religiöse Fragestellungen aufwachsen zu lassen…?“

„Die Überlebenschancen wären ungleich höher.“

„Vermutlich. Die Frage ist, ob so ein Kind im Laufe seines Erwachsenwerdens das Bedürfnis nach religiösen Gefühlen entwickeln und möglicherweise sogar eine eigene Religion konstruieren würde. Oder eben nicht.“

„Deine Forschungsfrage ist deutlich unterkomplex. Zunächst einmal lässt du dabei die von Leibniz formulierte Grundfrage der Metaphysik außer Acht. Der nämlich fragte schon im frühen 18. Jahrhundert danach, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Jedem halbwegs vernünftigen Menschen muss irgendwann diese Frage im Kopf herumschwirren. Und die ist weitaus bedeutender als die egozentrische Frage: Woher komme ich, wohin gehe ich? Die Frage nach dem Woher des Universums, die Leibniz stellte und die zum Beispiel auch Heidegger wieder aufgegriffen hat, ist die Frage nach dem Ursprung von allem und damit die Frage nach einem Schöpfer. Und diese Frage ist notwendig angesichts der Kategorien von Raum und Zeit, denen unser Denken laut Kant unentrinnbar unterworfen ist, selbst wenn es möglicherweise jenseits unserer menschlichen Hirne eine andere Realität geben sollte, die nicht den Gesetzen von Raum und Zeit gehorcht.“

„Du machst meine Fragestellung unnötig kompliziert.“

„Ich habe doch erst angefangen. Es wird noch ungleich komplizierter. Dein areligiös erzogenes Kind wächst in einer Gesellschaft auf, die lange vor seiner Geburt zahlreiche Ersatzreligionen erschaffen hat, die wahrscheinlich vorwiegend im Kapitalismus wurzeln, oder in irgendwelchen Ideologien, Nationalismen, patriarchalen Familienstrukturen, Normen des Zusammenlebens und des Krieges. Das Wort Religion hat seine Herkunft möglicherweise im Lateinischen und bedeutet so etwas wie Verbindung oder Rückbindung. Ein Nazi zu sein, hat durchaus auch gewisse religiöse Aspekte, jedenfalls dem Wortsinn nach.“

„Gar nicht kompliziert. Das heißt doch nur, dass Religion auch ohne Gott geht. Du spielst mir unabsichtlich in die Hände. Worum es mir geht: Sex kann an die Stelle von Religion treten. Das ist mir während unseres Gesprächs über euch Katholiken aufgegangen.“

Wahrscheinlich habe ich bei dieser Bemerkung die Augen verdreht. Aber Al zieht sich nicht beleidigt in sein Schneckenhaus zurück, sondern setzt auf einen unfairen Konter.

„Ich sage ja nicht, dass Sex für dich jemals in die Liste der 100 wichtigsten Dinge des Lebens aufsteigen könnte. Ich rede von mir.“

„Dann rede von dir.“

„Sehr undifferenziert betrachtet, bin ich in einer waschechten protestantischen Familie aufgewachsen, mein Vater ist evangelisch gewesen und meine Mutter hat sich sogar erst im jugendlichen Alter taufen lassen, um gleich darauf konfirmiert zu werden, was ein viel bewussterer, willentlicher Akt gewesen ist als bei uns nativen Protestanten. Evangelisch sein bedeutete: Gute-Nacht-Gebete vorm Schlafengehen, manchmal Tischgebete, sonntags Kindergottesdienst und bei Familientreffen ausgedehnte Gespräche über Gott und Glauben. Ich bin da voll drin gewesen. Und – hab‘ ich ja alles schon erzählt – als Jugendlicher habe ich mich zeitweise da hineingesteigert. Tut jetzt nichts zur Sache. Also grenzwertig religiöser Wahn. Aber da ist mir dann die Pubertät in die Quere gekommen, dieses geheime Wunder meines erregten, steifen Penis‘, der seinen eigenen Willen hatte und gestreichelt und gerieben werden wollte. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Orgasmus – vollkommen unaufgeklärt –, bei dem zu meiner größten Überraschung ein glasklares Fluidum bis an die gegenüberliegende Toilettenwand spritzte. Glasklar, wohlgemerkt! Also noch kurz vor meiner Geschlechtsreife. Die Erfahrung war atemberaubend und musste so oft wie möglich wiederholt werden. Allerdings in dem Bewusstsein, dass ich etwas Verbotenes tat. Das war irgendwie klar. Sex war in unserer Familie tabu, darüber wurde weder geredet, noch gingen meine Eltern mit Nacktheit offen um. Und von hier und da flogen mir Urteile zu, in denen es zum Beispiel hieß, Onanie ruiniere die Nerven oder sei vor Gott eine schwere Sünde. Glücklicherweise begleitete mich Gott nie auf meine häufigen und langdauernden Toilettengänge. Gott und meine heilige Toilettenbeschäftigung liefen seither parallel in strikt getrennten Sphären. Bis – um das abzukürzen – Nietzsche seine Hand aus dem Grab streckte und Gottes Tod erklärte. Ich muss einen Schritt zurückgehen. Vor dem Ableben Gottes entdeckte ich mein Interesse für die weibliche Scham. Und ich hatte, so scheint es mir im Rückblick, von Anfang an eine Vorstellung von der Scheide – oje, böses Wort! – als einem Lustorgan, das meinem eigenen in nichts nachstand und das irgendwann erforschen zu dürfen, mich nachhaltig faszinierte. Die anfangs fast aussichtslose Suche nach pornografischen Abbildungen wurde über die Jahre mit mäßigem und mit der Ankunft des Internetzeitalters endlich überwältigendem Erfolg belohnt. Naja, und der großartige Sex mit dir.“

„Also eine mehr oder weniger normale Entwicklung für einen männlichen Jugendlichen. Aber ich sehe da noch keinen Zusammenhang mit der Religion.“

„Kannst du auch noch nicht. Ich muss das genau erklären.“

Al muss es genau erklären – und ich muss es aus guten Gründen abkürzen. Aleksander braucht mehrere Anläufe, der Arme errötet für mindestens eine halbe Stunde, seine Hände zittern, so schamerfüllt legt er mir seine Sex-Religion auseinander. Wahrscheinlich glaubt er, ich würde ihn missverstehen, verurteilte seine männliche Sexualität oder verachtete ihn gar nach seinen ausführlichen Geständnissen, die wirklich etwas von einer Beichte haben. Und beichten muss man doch nur, was man selbst für sündhaft hält. Immer noch der schuldbewusste Protestant, noch dazu einer, der sich bei seiner katholischen Priesterin des Rituals der Beichte bedient, um Ablass für seine sündhafte Sexualität zu erhalten. Ihm sei vergeben. Möge er fortan nicht mehr sündigen. Oder sich regelmäßig zur Beichte einfinden. Statt des Bußrituals der Selbstgeißelung sechsmal hintereinander ein ‚Ave Maria‘ – oder Ave Babsy, Kitty, Lorena, Maxime und so weiter; wie die freizügigen Damen sich in den einschlägigen Clips eben nennen. Ich glaube, Aleksander hat nur meine verständige Zustimmung zu seinem ausgedehnten Pornokonsum zum Ziel gehabt, oder mich sogar auf seine Seite ziehen wollen. Mit einer protestantisch gewitzt-verschnurpselten Argumentation. Und die geht so:

Während der Protestant, der er einmal gewesen ist, sich genötigt sah, drei- bis siebenmal am Tag ein Gebet gen Himmel zu schicken, oder auch nur die Erinnerung daran aufzufrischen, dass Gott ihn mit einem Auftrag betraut hat, dessen Inhalt ihm freilich unbekannt blieb, Gott also im Verborgenen zu weilen pflegte, waren Sex, Lust und Erotik unmittelbar gegenwärtig und real. An die Stelle des täglichen Gebets und des Kirchgangs tritt das gepflegte Betrachten ausgesuchter Pornos, die ihm jene angenehme und sinnstiftende Erregung verschaffen, die ihn frohgemut durch den Tag trägt. Der Gott des Sexes begegnet ihm täglich und stündlich physisch auf der Straße und im Supermarkt, inkarniert in Frauen, die auf die unterschiedlichste Art schön, begehrenswert, erotisch sind. An sie heftet er in- und auswendig ausgestaltete, äußerst altruistische erotische Fantasien, in denen es um die Lust und Befriedigung dieser Frauen geht, nicht um die eigene, oder nur um die eigene Lust an der Lust. Es sind Gebete, die zur Stärkung des Glaubens gerade dadurch führen, dass die sich darin manifestierenden Fantasien und Sehnsüchte zunächst unerfüllt bleiben, vergleichbar mit dem Betrachten der Pornos, das lediglich das Ziel der erotischen Spannungssteigerung zum Ziel hat, ohne dass diese Spannung dann auch physisch abgebaut wird.

„Also nicht abspritzen?“, frage ich unverblümt.

„Nein, dann wäre die schöne Spannung ja perdu. Der Gott des Sexes ist die Sehnsucht.“

„Sehnsucht wonach genau?“

„Offen gesagt, in der Lust der Frauen das Spiegelbild der eigenen Lust zu erblicken. Und darin eine Heimat zu finden.“

Und das heilige Hochamt sei schließlich der Sex mit mir, für den die rituellen Handlungen (Pornos) und Gebete (erotische Fantasien) die erbauliche Vorbereitung darstellten. Die Tage, ja, die ganze Welt sei so in Sinn und süße Sehnsucht getaucht, sagt er, die immer wieder neu – in mir, mit mir – an ihr Ziel gelange.

Ich sollte das vielleicht romantisch finden und meine aufkeimende Eifersucht auf die vergötterten Heiligen und Engel des Internets oder die freilaufenden weiblichen Projektionsflächen beiseiteschieben. Immerhin herrscht Religionsfreiheit.

Ich muss gestehen, ich bin immer davon ausgegangen, dass für Männer der Höhepunkt beim Pornogucken naturgemäß die erlösende Ejakulation ist. Für meinen lieben Pjotr anscheinend nicht. Deshalb ist er auch so begeistert von sich selbst. Es unterscheidet ihn von seinen Mitmännern und soll ihn wohl auch von seinen Schuldgefühlen befreien. Den ganzen Tag an Sex zu denken, muss auch ihm nach wie vor moralisch zweifelhaft erscheinen. Gibt es nicht wichtigere Dinge, an die zu denken wäre? Aber nun verstehe ich auch, warum er so erpicht darauf ist, dass ich meinerseits beginne, meine erotischen Fantasien zu kultivieren, und er es am liebsten sähe, ich würde es ihm mit dem Pornokonsum gleichtun. Es scheint, niemand ist zufrieden mit seiner Religion, wenn er sich nicht einer Gemeinschaft der Rechtgläubigen sicher ist. Das Missionieren gehört zur Pflege der Religion notwendig dazu. Ich stelle mir vor, wie Aleksander bei Wind und Wetter stundenlang geduldig in der Fußgängerzone steht und Traktate seiner Sex-Religion feilbietet. Ich fürchte, die Restkatholikin in mir ist noch nicht bereit, zur Konvertitin zu werden. Dafür bedürfte es eines religiösen Erweckungserlebnisses. Missionare an der Haustüre – ob Mormonen oder Zeugen Jehovas – haben mich meist nur mit Fremdscham erfüllt. Gleichwohl: „Fake it, till you make it“?