Das Haus am See

Im Rückblick wird immer deutlicher, dass die beiden es von Anfang an darauf angelegt hatten, uns auszuhorchen, uns zu taxieren, abzuschätzen, wie weit sie mit uns würden gehen können. Wir hatten Eric und Claudia auf einer After-Work-Party eines Freundes kennengelernt und waren uns spontan sympathisch gewesen. Es hatte nicht lange gedauert, bis wir es uns abseits des Gewimmels in der weitläufigen Büroetage, weit genug weg von der viel zu lauten Musik, auf einer Couchgarnitur bei schummrigem Kerzenlicht bequem gemacht hatten. Wir waren uns schnell einig über unsere Skepsis, was die Statusspiele betraf, zu denen die Party nicht bloß Anlass bot. Es war ihr unmissverständlicher Zweck. Wer auch nur ansatzweise eine einflussreiche Position in unserer kleinen Stadt besaß, wer eine hinlänglich wichtige Rolle im gesellschaftlichen oder kulturellen Leben im Umfeld des Gastgebers einnahm oder noch zu gewinnen versprach, war eingeladen. Die Gespräche waren oberflächlich, weil sie von Vorsicht bestimmt waren, von der Angst, in den Augen der anderen etwas von der eigenen Bedeutung einzubüßen. Keine heiklen Themen, keine Extravaganzen beim Tanzen und Flirten, mit einem Wort: langweilig. Eric und insbesondere Claudia waren offenbar mit dem Entschluss hergekommen, gegen die unausgesprochenen Normen, den selbstauferlegten Small-Talk der meisten Gäste aufzubegehren. Es war Zufall, dass wir schon früh am Abend ins Gespräch kamen. Vielleicht hatten sie uns aber auch unsere Zurückhaltung angesehen, mit der wir das Treiben mehr beobachteten als daran teilzunehmen. Mehrmals hatte Claudia uns angelächelt, beim opulenten Buffet, auf der Tanzfläche, an der auf dem Empfangstresen improvisierten Cocktail-Bar. Eric und Claudia waren bereits seit vielen Jahren verheiratet und hatten zwei fast erwachsene Kinder. Eric hatte eine mäandernde Berufslaufbahn hinter sich. Als gebürtiger Schwede war er als Jugendlicher mit seiner Mutter nach Deutschland gezogen, hatte kurz vorm Abitur die Schule abgebrochen, sich eine Zeitlang als Leiharbeiter verdingt, dann das Abitur nachgeholt, Psychologie studiert, das Studium abgebrochen, als Barmann gearbeitet und sich im Laufe einiger Jahre zum Coach und Yogalehrer ausbilden lassen. Claudia hatte von Anfang an auf die Laufbahn als Psychotherapeutin gesetzt und betrieb nun mit Eric gemeinsam eine Praxis mit unterschiedlichen Angeboten. Und seit drei Jahren böten sie auch eine Sexualtherapie für Singles und Paare und Tantra-Massage an, sagte Claudia und lächelte spitzbübisch zu Eric hinüber, der keine Miene verzog und beinahe wie ein grätiger Yogi im Sessel saß, als sei das Polster ein Nagelbett.

„Die Entscheidung, unser Angebot zu erweitern, war ein echtes Risiko. Das war uns bewusst. In einer Kleinstadt wie dieser ist das leicht ein No-Go. Anfangs ist uns tatsächlich ein Teil der Klienten weggebrochen, als wir mit einer neuen Website die Sache klargemacht haben. Aber mittlerweile läuft’s ganz gut. Wir sind angekommen und einigermaßen akzeptiert. Deshalb sind wir hier wohl auch eingeladen.“

„Weil Rainer das Angebot wahrgenommen hat?“, fragte Sina ironisch.

„Rainer nicht, aber seine Frau.“

„Beate? Beate geht zur Sex-Therapie?“

„Nein, aber zu den Tantra-Massagen. Oh, dass hätte ich jetzt vielleicht nicht sagen sollen. Die meisten Menschen sind in dieser Hinsicht ja immer noch sehr heikel. Sobald es um Sex geht, erstarren sie. Das ist zu persönlich, das ist immer noch was Verbotenes, Peinliches. Dabei ist Sex das Natürlichste auf der Welt. Außerdem geht es bei den Massagen ja nicht im Kern um Sex. Das ist ja das Problem, dass alle glauben, das sei auch nur eine besondere Form der Prostitution. Gegen diese Vorstellung anzukämpfen, ist nicht leicht. Es gibt einfach zu viele Vorurteile. Bei unseren Tantra-Massagen geht es um tiefe Entspannung, um die Rückbesinnung auf den Körper, das Eins-Sein von Körper und Seele. Ich habe wirklich viele Jahre damit zugebracht, meine Klienten in der Gesprächstherapie von ihren Ängsten und Neurosen zu befreien. Ich muss zugeben mit sehr wechselndem Erfolg. Erst viel zu spät habe ich bemerkt, dass es bei den meisten Problemen um die fehlende Vertrautheit mit dem eigenen Körper geht, um Scham. Die Menschen haben Probleme mit sich und der Welt, weil sie irgendwann aufgehört haben, auf ihren Körper zu hören. Das Reden über die Probleme, das Verhaltenstraining, die wöchentlichen Hausaufgaben – das geht alles über den Kopf. Aber der Körper wird da meistens nicht mitgenommen. Du kannst in der Therapie fragen: Was können Sie sich in der nächsten Woche Gutes tun? Was lässt Sie die Angst eine kurze Zeit vergessen? Wie können Sie sich regelmäßig gute Gefühle verschaffen? Da fällt denen alles Mögliche ein: Kaffeetrinken, Shoppen, Musik hören, mal Essen gehen, statt kochen zu müssen. Wellness spielt zwar schon eine Rolle, von Meditationstechniken, die ich gut und wichtig finde, bis hin zu Sport, Tanzen und einem Wochenende in einer kommerziellen Wellness-Oase. Aber auf Sex und – ich sag’s jetzt mal ganz frei heraus – Masturbation kommt da natürlich keiner. Was sag ich: natürlich? Es ist eben nicht natürlich, den Sex bei so einer Frage außen vor zu lassen. Oder nicht?“

Wir nickten. „Und das ist jetzt so etwas wie ein Verkaufs- oder Werbegespräch“, sagte ich scherzhaft.

Eric erwachte unvermittelt aus meditativen Tiefen. „Nein, das nicht gerade. Es ist uns nur ein Anliegen, zunehmend Transparenz zu schaffen, die Akzeptanz zu erhöhen, weil wir die Sache einfach wichtig finden.“

Claudia fiel ihm beinahe ins Wort: „Gar nicht! Überhaupt nicht! Im Gegenteil! Ihr wart uns auf Anhieb sympathisch, weil ihr den Eindruck erweckt, total eins mit eurem Körper zu sein. Da ist eine sehr starke Vertrautheit zwischen euch zu spüren, die ja – finde ich jedenfalls – irgendwo herkommen muss. Das sieht man bei vielen anderen eben nicht. Was meinst du, Eric?“

Eric schmunzelte. „Wenn ich das in diesem Rahmen hier so sagen darf: Man sieht den Menschen an, ob sie von innen heraus entspannt sind, man sieht ihnen den guten und vor allem auch den schlechten Sex an.“

„Weißt du, Sina“, setzte Claudia fort, „wieviel Prozent der Frauen beim partnerschaftlichen Geschlechtsverkehr einen Orgasmus haben?“

„Das habe ich in den Zeitschriften beim Zahnarzt schon mehrfach gelesen“, antwortete Sina prompt.

„Nicht wie viele Frauen in Prozent,“ wandte Eric ein, „das sind ja nur Statistiken. Aber im Mittel, also, wenn man auf alle Frauen blickt und den Durchschnitt berechnet, dann haben Frauen beim Geschlechtsakt nur jedes dritte Mal einen Orgasmus. Also nicht dreißig Prozent der Frauen haben überhaupt keinen.“

„Aber die gibt es eben auch, muss man dazu sagen. Und ich habe festgestellt, dass die meisten davon dann irgendwann bei mir in der Gesprächstherapie landen.“ Claudia breitete mit beiden Händen eine Ebene vor sich aus. „Und um damit jetzt einen Strich unter dieses Thema zu ziehen: Die Massagen haben eine viel tiefere und nachhaltigere Wirkung als all das Gerede. Und deshalb ist das zu meinem, ich meine zu unserem, Erics und meinem therapeutischen Credo geworden: dem sexuellen Elend ein Ende zu bereiten.“ Claudia lachte. „Genug davon! Ich neige dazu, bei diesem Thema immer etwas zu euphorisch zu werden. Ich finde es viel interessanter, etwas mehr über euch zu erfahren.“

Mir lag auf der Zunge, provokativ nach den Details der Tantra-Massagen zu fragen, aber ich sah Sina an, dass sie ganz dankbar war, das Thema endlich wechseln zu können. Wäre es bei diesem Monolog von Claudia geblieben, wäre sicher nicht so etwas wie eine Freundschaft zwischen uns entstanden, oder was immer es ist oder sein wird. Erst in den darauffolgenden Stunden, bis tief in die Nacht hinein, entstanden die Vertrautheit und Zuneigung, die darüber entschieden, dass wir uns in anderer Umgebung wiedersehen und unsere Gespräche fortsetzen wollten. Wir redeten über Kinder, die Erziehung im Allgemeinen, wir teilten unsere eher liberalen Überzeugungen, mit denen wir unsere Kinder begleiteten, Autonomie von frühester Kindheit an, Grenzen, wo sie wirklich nötig sind, Geborgenheit und Freiheit im Wechselspiel. Wir sprachen über Religion und wie sich unsere religiösen Vorstellungen und Bedürfnisse mit zunehmendem Alter gewandelt hatten und sich eher einer universelleren Spiritualität angenähert haben, über die Prüderie der Siebzigerjahre, in denen wir heranwuchsen, die unangemessene Bedeutung, die dem Beruf in Fragen von Selbstverwirklichung und Lebenssinn heute zugemessen wird, wobei Eric in dieser Hinsicht einiges zu erzählen hatte. Lebensweisheit hatte er vielleicht in seinen wechselnden Berufen gewonnen, aber ohne dass der Beruf selbst das Zentrum dargestellt hätte. Wir teilten unsere Lust am Kochen, am Tanzen und auch was die Filme betraf, die wir uns im Kino angeschaut hatten, fanden wir viele Übereinstimmungen. Musik war ein Thema, von Klassik bis Post-Rock spielten wir einander kenntnisreich Namen und Titel zu, vor allem waren wir uns einig, dass die Musik eine der segensreichsten Erfindungen der Menschheit sei. Am Ende des Abends tauschten wir Telefonnummern und Email-Adressen aus. Erst auf dem Heimweg kamen Sina und ich wieder auf den Anfang des Gesprächs zurück und fragten uns, ob es nicht ein komisches Gefühl sei, den ja wahrscheinlich meist eher beleibten, unansehnlichen und vollkommen nackten Klienten die Schmerbäuche mit Öl einzureiben, erigierte Penisse zu massieren und – das hatte ich mal gesehen – die Finger in fleischige Mösen zu schieben und den sagenumwobenen G-Punkt zu stimulieren. Letzteres konnte ich mir sogar noch irgendwie vorstellen, aber gehemmten, haarigen Männern reihenweise nach fünfunddreißig oder siebzig Sekunden beim Ejakulieren zusehen zu müssen, nachdem man ihren Schwanz in die Hand genommen hat, stellten wir uns mehr als gewöhnungsbedürftig vor. Ob das wirklich so heilsam war?

Am Ende der folgenden Woche rief Claudia unerwartet an. Wir hatten unsere Begegnung am Wochenende fast vergessen. In der Regel bleibt es ja bei der bloßen Verabredung, sich einmal wiederzutreffen und bei der nächsten zufälligen Begegnung wird das Versprechen bar jeder Konsequenz wiederholt. Wir jedenfalls waren nicht auf den Gedanken gekommen Claudia und Eric wegen einer Einladung anzurufen. Es war ein gelungener Abend gewesen, der sich so nicht würde wiederholen lassen. Sina nahm den Anruf entgegen, während wir vor dem Fernseher saßen und wie jeden Abend die Tagesschau ansahen. Zunächst begriff Sina gar nicht, mit wem sie sprach. Claudia? Welche Claudia? Natürlich, die Claudia vom letzten Wochenende! Ein Haus am See? Wie wunderbar! An Mittsommer. Und die Kinder?

Claudia und Eric luden uns zu einem Wochenende in einem idyllisch gelegenen Wochenendhaus ein, das ihnen fast jedes Jahr an Mittsommer ein Freund gegen ein kleines Entgelt überließ. In diesem Jahr wollten sie gemeinsam mit uns hinfahren, sie würden sich sehr freuen, wenn wir zusagen würden. Ihre Kinder seien längst nicht mehr dabei, die Mittsommernacht gehöre allein ihnen als Paar. Es spräche zwar nichts dagegen, wenn wir unsere Jungs mit dorthin nähmen, aber die könnten genauso gut auch bei ihren Jungs übernachten, die zwar etwas älter seien, aber ziemlich gute Babysitter. Sie könnten Filme gucken und Pizza bestellen. Sina blickte mich an. Nächstes Wochenende mit Eric und Claudia am See? Mit Übernachtung? Ich zuckte die Schultern. Meinetwegen. Ja, sagte Sina, das klappt!

„Wusstest du eigentlich, dass das schon immer mein Traum war? Ein Haus am See. Ich freue mich wahnsinnig, wir freuen uns. Und wenn das Wetter gut wird…“

…dann würden wir selbstverständlich baden gehen, sagte Claudia. Das Wasser werde bestimmt nicht mehr so kalt sein. Eine Sauna sei auch da. Ein kleines Problem gebe es allerdings: Zwar seien sechs Betten im Haus, allerdings nur ein großes und ansonsten Etagenbetten. Kein Problem, meinte Sina, wir nehmen auch ein Etagenbett. Ich verzog mein Gesicht. Sina lachte und horchte, was Claudia in ihrer Euphorie noch über den Ausflugsort zu berichten hatte.

Die ganze Woche über schien die Sonne und die Luft erwärmte sich ungewöhnlich auf hochsommerliche Temperaturen. Jeden Morgen, der uns mit Sonne begrüßte, wurde Sina aufgedrehter. Wenn das Wetter doch nur bis zum Wochenende hält! Das wäre wunderbar! Jeden Abend sprach Sina davon, wie sehr sie sich auf das Wochenende freue, auf das Baden vor allem. Wir liebten uns häufiger als in den vorausgegangenen Wochen. Was genau war es eigentlich, worauf wir uns so sehr freuten, fragte ich mich. Ein Wochenende nur für uns, würde Sina sagen, und mit netten Leuten. Mehr als einmal stellte ich mir vor, wie Eric und Claudia sehr bald nach unserer Ankunft die Katze aus dem Sack ließen und versuchten uns zum gemeinsamen Sex zu überreden. Das war es, was ich insgeheim erwartete und, um ehrlich zu sein, irgendwie vielleicht auch erhoffte. Und was ging in Sinas Kopf vor? Ich wagte nicht, danach zu fragen. Würde ich meine vage Vermutung offenbaren, würde Sina vielleicht einen Rückzieher machen, oder zumindest ihre ausgelassene Vorfreude verlieren und später reserviert auf jede kleinste Andeutung von Claudia oder Eric reagieren, die meine Vermutung bestätigen konnte. Was wäre denn, wenn das Ganze tatsächlich ganz harmlos blieb und gemeint war? Sina würde sich trotzdem nicht wohlfühlen. Ich würde ihr das Wochenende versaut haben.

Am Freitagabend war Sina schon feucht, als sie zu mir ins Bett stieg. Sie kniete sich mit gespreizten Beinen über mir hin, führte meine Hand zu ihrer Möse, ließ sie an ihren Lippen entlanggleiten und grinste mich herausfordernd an. Warum war sie derart aufgegeilt? Was nur ging in ihrem Kopf vor? Hatte sie ähnliche Phantasien, was den kommenden Tag und in der Nacht passieren könnte? Stellte sie sich vor, wie Eric seinen Schwanz in sie hineinstoßen würde? Hatte sie sich das auch schon die ganze Woche vorgestellt, wenn wir zusammen waren? Ich wurde diese Gedanken einfach nicht los und musste mir eingestehen, dass ich durchaus eifersüchtig war, eifersüchtig auf Sinas Phantasien, die mich auszuschließen schienen? Und welche Rolle hatte sie dabei mir zugewiesen? Die des Beobachters? Stellte sie sich vor, wie ich Claudia ficken würde? Mein Herz schlug immer schneller. Auch, als Sina nervös begann, an meinem Schwanz zu lutschen, bekam ich keinen hoch. Es gehe nicht, sagte ich, heute gehe es einfach nicht. Was mit mir los sei, wollte sie wissen und klang dabei bemüht verständnisvoll.

„Ich bin mit meinen Gedanken einfach noch zu sehr bei der Arbeit, glaube ich.“

Und ich erfand ein paar Probleme, die sich an dem Tag im Büro ereignet hatten, oder zumindest hätten ereignen können. Wir nahmen unsere Bücher, lasen noch ein wenig und schalteten bald das Licht aus. Eine ganze Weile noch ging mir nicht aus dem Kopf, wie Eric Sina seinen prallen, aufgereckten Schwanz entgegenhielt und Sina ihn mit vor Ekstase verdrehten Augen in den Mund nahm und mit ihrem Speichel benetzte. Dann wechselte das Bild, angetrieben von Rachegelüsten. Da war auf einmal Claudia, die mir ihre behaarte Muschi entgegenstreckte. Ich presste meinen Mund fest dagegen, leckte sie, züngelte in ihre nasse Vagina hinein, griff ihre Brüste und knetete sie, während ich ihre rot geschwollene Perle mit Zunge und Oberlippe bearbeitete. Ich bekam unvermeidlich einen Ständer. Aber jetzt konnte ich Sina nicht mehr stören, sie schien bereits eingeschlafen zu sein. Ich versuchte mit tiefen Atemzügen, diese Zwangsvorstellung loszuwerden, aber da erhob sich Claudia aus dem weißen Laken, wies mich an, mich auf den Rücken zu legen und hockte sich dann auf mich, indem sie mir ihren Hintern entgegenstreckte, damit ich sie weiter lecken konnte. Ihr Saft troff mir entgegen. Ich konnte nicht anders, als meine Zunge tief in sie hineinzustecken, ihre Klitoris mit einem Finger zu massieren und mit der anderen Hand eine der festen, weißen Pobacken wegzuspreizen, damit ich mehr von ihr sehen konnte. Unterdessen ließ Claudia ihren Mund auf meiner harten Eichel langsam vor- und zurückgleiten. Jetzt war ich zu weit gegangen. Es gab kein Zurück mehr. Ich schnappte mir ein Taschentuch, befeuchtete Daumen und Zeigefinger mit so viel Spucke, wie ich gerade zur Verfügung hatte, und formte sie zu Claudias Mundöffnung, die auf meiner Eichel vor- und zurückglitt. Nur wenige Augenblicke später füllte sich das Taschentuch mit dem Saft von zwei, drei Stößen. Und mit diesen Stößen quoll auch das schlechte Gewissen hervor, das dumpfe und beschämende Gefühl, Sina betrogen und ihr meine Lust vorenthalten zu haben.

In diesem Moment spürte ich, dass Sinas entgeisterter Blick auf mich gerichtet war.

„Was machst du da? Holst du dir einen runter?“

„Ich? Nein.“

„Doch, hast du, ich kann es doch sogar riechen.“

„Ich dachte, du schläfst schon.“

Sina ließ an ihrer Enttäuschung und ihrem Missfallen keinen Zweifel und drehte sich wieder zur Seite.

„Entschuldigung“, sagte ich.

„Was hast du dir denn vorgestellt? Claudia etwa? Bist du deshalb schon die ganze Woche über so euphorisch? Weil du dir vorstellst, dass du Claudia ficken wirst? Weil sie eine offenherzige Sex-Therapeutin ist?“

„Wie kommst du darauf?“

„Irgendetwas musst du dir ja vorgestellt haben. Irgendwas, wo ich nicht vorkomme.“

„Ich habe an dich gedacht. Aber ich dachte eben, du schläfst schon.“

„Hättest ja mal vorsichtig fragen können.“

„Tut mir leid. Die Wahrheit ist, dass ich gedacht habe, du denkst die ganze Zeit an Eric, wenn wir miteinander schlafen. Das stimmt ja vielleicht gar nicht. Aber ich war eifersüchtig. Warum warst du denn schon feucht, als du ins Bett kamst? Und außerdem bin nicht ich derjenige, der schon die ganze Woche über euphorisch ist.“

Sina wandte sich wieder zu mir um.

„Soll das heißen, dass du ein Problem damit hast, wenn ich feucht werde, weil ich mich auf Sex mit dir freue? Das ist doch krank.“

„Nein. Das hatte nur damit zu tun, dass ich mir vorgestellt habe, was du dir vielleicht gerade vorgestellt hast. Aber das hat allein mit mir zu tun. Mit meiner Eifersucht.“

„Und was, bitte, soll ich mir vorgestellt haben?“

„Das willst du nicht wissen.“

„Doch, sag es mir!“

„Dass du seinen Schwanz lutschst.“

„Dass ich Erics Schwanz lutsche? Da käme ich im Traum nicht drauf.“

„Was hast du dir denn vorgestellt?“

„Gar nichts, ich habe mir gar nichts vorgestellt. Ich hatte einfach Lust.“

„Aber wo kam diese besonders große Lust her?“

Sina schüttelte den Kopf.

„Ach, ich habe keine Lust mehr, mich für irgendwas verteidigen zu müssen, das nur in deinem Kopf passiert. Gute Nacht!“

 

Am nächsten Morgen packten wir wortkarg und mit erstarrten Mienen unsere Sachen und trieben die Kinder mit harschen Worten zur Eile an. Wir vermieden es, uns in die Augen zu sehen, als wollten wir uns gegenseitig bestrafen. Sina mich, weil sie glaubte, ich hätte sie verschmäht, weil ich an Claudia gedacht hätte, ich sie, weil ich fest davon überzeugt war, dass sie mir die Wahrheit über ihre Phantasien verschwieg und mich auf diese Weise bloßstellte.  Auf der gut einstündigen Fahrt in Erics und Claudias Wagen änderte sich an unserer bitteren Erstarrung wenig. Claudia versuchte immer wieder, ein Gespräch zu beginnen, aber ich konnte nicht anders, als zu schweigen, und auch Sina blieb kurz angebunden. Am Himmel zogen sich dunkle Wolken zusammen. Wir schwitzten, weil es immer noch schwül-warm war.

Als wir bei dem Wochenendhaus ankamen, das tatsächlich idyllisch an einem See gelegen war, ein einsames, geräumiges Holzhaus mit einer kleinen Wiese davor, einem schmalen Sandstrand und einem Steg, der ins Wasser führte, der See eingehegt von hochgewachsenen Kiefern, wandelte sich Sinas Stimmung schlagartig. Wie zum Trotz, dachte ich mir. Sie will sich von mir das Wochenende, auf das sie sich so gefreut hat, einfach nicht vermiesen lassen. Sina lief begeistert den Steg hinunter, blickte auf die fast regungslose Wasserfläche, folgte links und rechts der Horizontlinie und hob dann den Blick zum Himmel. Claudia schlenderte ihr hinterher und legte einen Arm um Sinas Schulter, während Eric begann, einige Taschen aus dem Kofferraum zu heben. Die ersten Tropfen fielen aus den immer dunkler werdenden Gewitterwolken. Da wandte sich Claudia zu uns Männern und rief, wir sollten die Zeit nutzen und gleich sofort baden gehen, bevor das Gewitter losbrechen würde. Eric trug zwei Taschen ins Haus und Sina lief aufgeregt zum Auto, um ihren Badeanzug aus dem kleinen Koffer zu wühlen, der noch im Auto lag. Da hatte Claudia sich bereits ausgezogen und sprang nackt ins Wasser. Als Sina das sah, hielt sie kurz inne, blickte mir einen Moment in die Augen, die nicht verrieten, was sie mir damit sagen wollten, begann sich auszuziehen und ihre Kleider in den Kofferraum zu werfen. Dann lief sie hinunter zum Steg und ließ sich ebenfalls ins Wasser gleiten. Sie machte einige große Züge, johlte leicht auf und erreichte lachend Claudia, die sich ihr zuwandte und ebenfalls lachte. Ich konnte nicht hören, worüber sie sprachen. Ich stand da und fühlte mich auf seltsame Weise ausgeschlossen. Ich nahm Sinas Kleider und den Koffer und trug sie ins Haus. Da kam mir auch Eric, bereits nackt, entgegen und machte einige fröhliche Zischlaute, mit denen er den Moment vorwegnahm, in dem er seinen Körper in das frühsommerlich kühle, dunkle Wasser eintauchen lassen würde. Am Ende des Steges blieb er eine Weile stehen und beobachtete vergnügt die beiden Frauen, die näher zu ihm hinschwammen. Ich konnte nicht verstehen, worüber sie redeten, als ich in der Tür stand, immer noch mit Sinas Kleidern im Arm. Jedenfalls schien das Gespräch einen Moment lang etwas ernster zu werden. Sina gestikulierte im Wasser. Dann wandte sich Eric zu mir um und rief, ich solle doch auch kommen. Ich nickte und hielt Sinas Kleider hoch, die wolle ich noch irgendwo ablegen. Eric machte einen Hechtsprung ins Wasser, genau in die Mitte zwischen den beiden Frauen, die wie kleine Mädchen quietschten und lachten. Zu dritt schwammen sie mit ruhigen Zügen zur Mitte des Sees, während immer mehr dicke Regentropfen auf die Wasseroberfläche fielen. Im Haus fand ich zuerst das Zimmer mit dem großen Ehebett, gleich daneben befand sich das erste Kinderzimmer mit einem Etagenbett. Am Ende eines dunklen Ganges befand sich das zweite Kinder- oder Gästezimmer. Dorthin trug ich unser Gepäck, weit genug weg von Claudias und Erics Schlafzimmer. Ich würde nicht zuhören wollen, wie sie möglicherweise in der Nacht miteinander schliefen. Ein Wochenende nur für uns, dachte ich, als ich Sinas Kleider auf der unteren Matratze des Etagenbettes ablegte. In einem Etagenbett! Das passt! Der Raum war karg, das Fenster ging zur Seite des düster erscheinenden Kiefernwaldes hinaus. Es gab zwei Bäder, ein kleines mit einem winzigen Waschbecken und einer Toilette, das andere war groß und wirkte mediterran, mit weißen Fliesen, ochsenblutroten Wänden und einem alten Schrank aus dunklem Holz. Die Badewanne war üppig groß, neben der freistehenden Dusche befand sich der Eingang zur Sauna, in der gut und gerne sechs Personen Platz fanden.

Als ich wieder vor das Haus trat, grollten in der Ferne bereits Donner, am Horizont erhellte sich die Wolkenmasse zuckend von Blitzen und der Regen hatte zugenommen. Die beiden Frauen stiegen gerade vergnügt lachend aus dem Wasser, Claudia sammelte ihre Kleider vom Steg auf und trug sie vor der Brust zum Haus. Sie lächelte mich an und fragte, wo ich denn geblieben sei. Sina blieb noch einen Moment auf dem Steg stehen und blickte mit vor der Brust verschränkten Armen in den Himmel, während Eric noch im Wasser blieb, beide Hände am Steg, direkt unter Sina, und lächelnd zu ihr aufblickte. Sie sog noch einmal tief atmend die Landschaft in sich auf. Sie musste wissen, dass Eric gerade alles von ihr sehen konnte. Es schien ihr nichts auszumachen. Genoss sie sogar seine Blicke?

„Wolltest du nicht schwimmen?“, fragte Claudia, als sie an mir vorbei ins Haus huschte. „Es war wunderbar, und gar nicht so kalt. Aber jetzt kommt das Gewitter immer näher.“

Warum nur wollte ich so in Trübsinn versinken? Warum war ich innerlich so fest entschlossen, dieses Wochenende einfach nur grauenhaft und enttäuschend zu finden? Kurzentschlossen zog ich mich in der Tür aus, warf meine Kleider in den Flur und marschierte zum Steg hinunter. Sina kam mir entgegen und musterte mich von oben bis unten.

„Gehst du jetzt doch noch schwimmen?“

„Dafür sind wir doch hergekommen, oder?“

Das Wasser hatte sich wirklich in den letzten Tagen so sehr aufgewärmt, dass ich beim Schwimmen, wenn ich mit den Beinen die tieferen, kühleren Schichten aufwirbelte, spüren konnte, wie warm die Wasseroberfläche geworden war. Und doch war es erfrischend, es reinigte den Kopf. Jetzt konnte auch ich den Blick zum Horizont genießen, das Gewittergrollen, die näher kommenden Blitze. Eric war nicht aus dem Wasser gestiegen und folgte mir. Eine Weile schwammen wir stumm nebeneinander her.

„Es ist wunderbar“, sagte ich irgendwann und wandte mich um. Im Haus gingen die Lichter an. Claudia trug, anscheinend immer noch nackt, Jutetaschen in die Küche und lugte dann, die flache Hand über den Augen, damit sie besser sehen konnte, aus dem Fenster hinaus. Es war kaum Mittag, aber beinahe dunkel wie in der Nacht.

„Das verzieht sich hoffentlich noch wieder“, sagte Eric.

„Ja, hoffentlich.“

In diesem Moment zuckte ein heller Blitz hinter dem Kiefernwald zur Erde. Das sekundenschnell folgende laute Krachen machte deutlich, wie nah der Blitz eingeschlagen war.

„Jetzt aber nichts wie raus“, meinte Eric und kraulte aufs Ufer zu. Ich folgte ihm langsamer mit kräftigen Zügen. Vom Wald her rauschte ein mächtiger Schauer heran. Der plötzlich stark auflebende Wind wirbelte die Baumkronen wirr durcheinander. Als schüttelten sie sich vor Abscheu. Als schüttelten sie sich vor wilder Lust.

Als wir ins Haus zurückkehrten, verschwand Eric eilig ins Bad, um sich abzutrocknen und hinterließ eine Spur von nassen Fußabdrücken auf dem Parkett. Claudia hatte sich ein helles Sommerkleid übergezogen und befüllte den Kühlschrank in der Küche.

„Willst du dich nicht abtrocknen?“, fragte sie, als sie mich neben der Tür stehen sah. „Ich habe Sina Handtücher gegeben.“

In unserem Zimmer packte Sina gerade den Koffer aus und sortierte die Sachen überflüssigerweise in den schmalen Schrank. Wir würden doch nur eine Nacht bleiben. Wozu da den Koffer auspacken? Sina warf mir ein Handtuch zu.

„Das war aber ganz schön riskant, noch ins Wasser zu gehen. Der Blitz war verdammt nahe. Hier haben die Gläser im Schrank geklirrt von dem Donner.“

„Ja, aber Eric war auch noch draußen.“

Ich trocknete mich ab und sah Sina bei ihrer Arbeit zu. Ich spürte auf einmal das große Verlangen, sie zu umarmen und an mich zu drücken. Aber ich blieb stehen und starrte auf ihre eiligen Handbewegungen.

„Es tut mir leid“, sagte ich endlich, „wegen gestern. Ich wollte dir nicht den Spaß verderben.“

„Ist schon gut“, sagte sie, ohne mich anzublicken.

Zu Mittag aßen wir Brötchen, Aufschnitt und etwas rohes Gemüse, das wir mitgebracht hatten. Am Abend wollten Eric und Claudia gemeinsam mit uns kochen. Immer wieder sprachen sie ihr Bedauern darüber aus, dass das Wetter nicht so mitspielen wollte, wie erhofft. Aber wir würden uns sicher auch so ganz gut vergnügen können. Am Nachmittag wollten sie die Sauna anschalten. Und wenn das Gewitter vorübergezogen sei, würden wir dann auch wieder in den See hüpfen können, um uns abzukühlen. Im Verlaufe des Nachmittags konnten wir leicht an unsere Gespräche bei Rainer und Beate anknüpfen. Manches wiederholten wir, kauten es noch einmal durch, mit kleinen Variationen. Ein wenig schien es, als sei uns bereits bei unserer zweiten Begegnung der Gesprächsstoff ausgegangen. Wir spielten Karten, gingen paarweise in die Sauna, erst die Frauen, dann wir Männer. Eric und ich sprachen kaum ein Wort in der Sauna. Ich tat so, als versinke ich in tiefe meditative Entspannung und Eric tat es mir gleich. Wie anstrengend es sein kann, nicht zu sprechen! Nach den Saunagängen sprangen wir johlend und brüllend in den See, während Sina und Claudia schon wieder, in große Handtücher geschlagen, auf dem Sofa saßen und sich unterhielten. Nichts, was an dem gesamten Abend geschah oder gesprochen wurde, deutete auf irgendwelche Absichten hin, die ich Eric und Claudia die Woche über insgeheim unterstellt hatte. Wir kochten gemeinsam eine Gemüsepfanne mit Steaks, aßen, unterhielten uns, tranken Wein, lachten. Es würde einfach nur ein nettes Wochenende gewesen sein, ein wenig abenteuerlich vielleicht, auf angenehme Weise auch dezent erotisch aufgeladen. Immerhin hatten wir gemeinsam nackt gebadet und hatten kaum Scham voreinander verspürt. Vielleicht war das ja doch der Beginn einer wunderbaren, langen und engen Freundschaft. In der Nacht klarte der Himmel wieder auf. Lange standen wir mit unseren Weingläsern draußen auf der kleinen Wiese und blickten in den hellen Mittsommerhimmel, an dem nur der Abendstern zu sehen war. Die Luft war kühl und klar.

Als wir wieder ins Wohnzimmer traten, wollte sich nicht mehr das Gefühl einstellen, dass die Nacht noch mit weiteren Gesprächen und mit noch mehr Wein gefüllt werden konnte. Wir verabschiedeten uns bald zum Schlafen, bedankten uns gegenseitig mehrfach für den schönen Abend und nahmen uns vor, gleich morgen früh noch einmal schwimmen zu gehen.

„Wann ungefähr steht ihr so auf?“, fragte Claudia.

Sina und ich blickten uns an.

„Ist neun Uhr zu früh?“

„Kein Problem, neun Uhr passt. Schlaft gut!“

 

In unserem Zimmer zogen wir noch einmal kurz Bilanz. Ja, es sei ein sehr schöner Tag gewesen und Eric und Claudia furchtbar nett, gescheit und locker. Wir bestätigten einander, dass wir uns sehr wohl gefühlt hätten mit den beiden. Dann umarmten und küssten wir uns kurz und Sina meinte, sie sei jetzt auch ziemlich müde geworden. Sie schlüpfte schnell unter ihre Bettdecke und ich stieg zur oberen Etage hinauf.

„Liest du noch etwas?“, fragte Sina.

„Kurz“, sagte ich, schaltete das Lämpchen über der Kopfseite des Bettes an, stieg noch einmal hinunter und zog das Buch aus meinem Rucksack.

„Ich lese auch nur noch ein paar Zeilen“, sagte Sina und zog ihr Buch unter dem Kopfkissen hervor. „Gute Nacht!“

„Gute Nacht.“

Wenige Minuten später schaltete Sina ihre Lampe aus und nestelte geräuschvoll ihre Bettdecke zurecht. Ich blätterte in meinem Buch weiter und stellte fest, dass ich kein Wort von dem, was ich in den letzten Minuten gelesen hatte, behalten hatte. Ich fing noch einmal am Anfang des Kapitels an.

Plötzlich klopfte es leise an der Tür. Claudia öffnete sie leise und fragte: „Schlaft ihr schon?“ Sie trug ein langes Nachthemd aus T-Shirt-Stoff, durch das sich ihre Nippel deutlich abzeichneten.

Sina drehte sich im Bett um und antwortete prompt: „Nein, noch nicht.“

„Wir können einfach noch nicht schlafen“, sagte Claudia. Wir haben noch eine Flasche Sekt aufgemacht und wollen uns einen Film ansehen. Wollt ihr noch einen Moment zu uns rüberkommen?“

Ich beugte mich über die Bettkante zu Sina hinunter, um ihre Reaktion zu sehen. Sie blickte zu mir herauf, zog die Lippen zusammen und zuckte zustimmend mit einer Schulter. „Ein bisschen noch?“

„Dann bringt eure Bettdecken mit. Wir kuscheln uns in unserem Bett einfach zusammen. Wir haben ein sehr, sehr großes Bett und einen sehr, sehr großen Fernseher im Zimmer“, sagte sie verschmitzt lächelnd.

Das war wie auf einer Klassenfahrt, bei der die Jungs in der Nacht verbotenerweise noch einmal das Mädchenzimmer aufsuchen, um heimlich Flaschendrehen zu spielen. Sina und Claudia kicherten, als wir zu Eric ins Bett krochen und uns in die Bettdecken einmümmelten. Ich ging noch einmal zurück ins Zimmer, um auch noch die Kopfkissen zu holen. Als ich zurückkam, stand Eric in Unterhose vor dem DVD-Player und legte eine Scheibe ein. Sina blickte mich leicht entsetzt an und wirkte wie erstarrt. Was war in meiner kurzen Abwesenheit geschehen?

Claudia verteilte Sektgläser und goss Sina ein, die das Glas regungslos vor sich in die Höhe hielt.

„Ich hoffe, es macht euch nichts aus, wenn der Film zu so später Stunde etwas wenig Spielhandlung enthält“, sagte Claudia und kicherte. „Das machen wir jedes Jahr so. Ich weiß nicht mehr, wann genau wir damit angefangen haben. Aber es gehört jetzt irgendwie dazu, wenn wir Mittsommer feiern. Für die Auswahl des Films ist immer Eric zuständig. Ihr habt hoffentlich keine Probleme damit. Wir schauen uns sowas sonst auch nur eher selten an. Die Berührungsängste sind allerdings von Jahr zu Jahr gesunken. Und seit wir auch beruflich jede Woche mehrmals mit nackten Menschen zu tun haben und letztlich auch sehr vertraut geworden sind mit der unmittelbaren sexuellen Erregung dieser Menschen, sind unsere Vorbehalte dagegen, anderen Menschen beim Sex zuzusehen, mehr oder weniger verblasst.“

Ich reichte Sina ihr Kopfkissen, das sie sich hinter den Nacken stopfte, wobei sie etwas Sekt auf der Bettdecke verschüttete, schlüpfte schnell neben ihr unter meine Bettdecke und drückte mich fest an ihre Seite. Claudia reichte mir ebenfalls ein Glas und schenkte sich selbst zuletzt ein, während sie weitersprach und breitbeinig in der Mitte des Bettes kniete.

„Es ist ja nun auch nicht so, dass wir bei unserer Arbeit völlig empfindungslos bleiben, auch wenn wir dabei immer professionelle Distanz wahren. Alles andere wäre Missbrauch. Ich hasse das Wort Pornographie, jedenfalls wenn es sich um Filme wie die handelt, die Eric sehr zielsicher aussucht. Also keine widerwärtigen Rammelfilme, sondern sehr viel humane Zärtlichkeit. Aber eben auch das, was man in handelsüblichen Filmen nicht zu sehen bekommt. Keine Angst! Entspannt euch und genießt es, solange es euch gefällt.“

Unter unseren Bettdecken fassten Sina und ich unsere verschwitzten Hände wie Hänsel und Gretel im dunklen Wald.

„Prost und Film ab!“

Sina stieß mit entgeisterter Miene mit Claudia an. Ich richtete mich auf und stieß mit Claudia und Eric an, der auf die Starttaste der Fernbedienung drückte.

„Es ist einfach so“, sagte Eric mit Blick auf den Fernseher, „dass wir gedacht haben, dass ihr am ehesten die Menschen seid, mit denen wir das hier wagen können.“

Dann blickte er mich an. „Wir haben noch nie mit einem anderen Paar einen Pornofilm geguckt oder zusammen in einem Bett gelegen, obwohl wir es mittlerweile eigentlich selbstverständlich finden würden, wenn man solche Filme gucken würde, so, als wenn es ganz normale Filme wären, Krimis, Thriller, Komödien. Warum wird der Sex immer ausgespart? Ich meine, der richtige Sex. Wir begehen ja auch keinen Mord, wenn wir in einem Film einen Mord sehen.“

Ich stutzte. Die Logik seines letzten Satzes wollte mir nicht spontan einleuchten.

„Und manchmal können wir sogar noch was lernen, beruflich und privat“, fügte Claudia hinzu und lächelte Eric an, der es sich jetzt ebenfalls unter der Bettdecke gemütlich gemacht hatte und sich das Kopfkissen hinter den Schultern zurechtknetete .

Sina nippte vorsichtig an ihrem Sektglas und starrte auf den Fernseher, der auf einer großen Anrichte vor dem Bett stand.

„Der Film ist von Jennifer Lyon Bell“, sagte Eric, „einer amerikanischen Regisseurin, die in Amsterdam ihren Abschluss in Psychologie gemacht hat. Damit hat sie den Feminist Porn Award gewonnen.“

Wir sahen zwei junge Frauen vor einem Bücherregal in einer lichtdurchfluteten Privatwohnung. Die eine Frau war anscheinend gekommen, um irgendwelche Schuhe, silberne Schuhe, nach denen der Film benannt war, abzuholen. Sie kamen sehr schnell ins Gespräch über die Unterwäsche, die die Frau, der die Wohnung offenbar gehörte, trug. Sie trage sehr gerne Männerunterwäsche, das gebe ihr ein Gefühl der Überlegenheit, einer irgendwie männlichen Überlegenheit. Die kleinere Frau mit einem etwas rundlichen Gesicht wirkte zunächst verstört, ließ sich jedoch nur wenige Augenblicke später bereits von der größeren berühren. Dann küssten sie sich und die Frau mit der Herrenunterwäsche zog der Besucherin den BH aus. Dann machten sie es sich im Schlafzimmer auf dem Bett bequem. Die Kleinere ließ sich rücklings auf das Bett fallen, die andere kniete sich lächelnd zwischen ihren Beinen hin und ließ eine Hand über ihren Slip gleiten. Sie stimulierte die Kleinere ganz sanft, zog ihr dann den Slip aus, wobei die Kleinere ihr dabei bereitwillig half, und begann sie langsam zu lecken, während sie mit großen Augen vergnügt beobachtete, wie die Reaktionen ausfielen: Stöhnen, sich winden.

„Das ist schon ziemlich unglaubwürdig“, sagte Claudia mit einem Anflug von Missbilligung in der Stimme. „Die lässt sich viel zu schnell darauf ein, das geht alles viel zu schnell. Ziemlich unrealistisch. Findet ihr nicht auch?“

Wir nickten einträchtig und ich spürte, wie sich mein Penis zu regen begann. Wir hielten weiter unsere Hände unter der Bettdecke. Konnten wir jetzt einfach aufstehen, unsere Bettdecken und Kissen nehmen und uns ins Bett verabschieden? Zu diesem Zeitpunkt hätte ich noch problemlos hinausgehen können. Aber schon wenige Minuten später hatte die Kameraposition gewechselt und wir konnten sehen, wie die Größere der Kleinen einen Finger in die Vagina steckte und mit der anderen Hand weiter ihre Klitoris massierte. Ich konnte nichts dagegen ausrichten, dass sich mein Schwanz immer weiter aufrichtete und zu pochen begann – im Gleichtakt mit meinem wild schlagenden Herz. So wäre es schon nicht mehr so einfach, das Zimmer zu verlassen. Ich würde die Bettdecke vor meinen Körper halten müssen, um meine offenkundige Erektion zu verbergen. Ich blickte Sina an und wartete auf ein Zeichen von ihr, das „Aufbruch“ bedeutete. Und dann? Abreisen? Ohne eigenes Auto? Am nächsten Morgen einfach so tun, als ob nichts geschehen sei? Sina hielt immer noch, genau wie ich, das Glas krampfhaft in der Hand. Sie presste die Lippen zusammen und nickte mir zu. Wir setzten die Gläser an die Lippen, tranken sie mit einem Schluck aus und setzten sie auf dem Nachttischchen ab. Ich hatte bereits einen Fuß auf dem Boden abgestellt und holte Schwung, um mich mitsamt der Bettdecke von der Matratze zu katapultieren, da fragte Claudia umsichtig, ob sie noch nachschenken solle. Nein, danke. Der Impuls, schnell und ohne viel Aufhebens das Zimmer zu verlassen, war irgendwie verpufft. Ich zog mein Bein wieder unter die Bettdecke und sah zu, wie die Größere das Schlafzimmer verließ und nach wenigen Augenblicken mit einer Art Doppeldildo zurückkehrte, der am unteren Drittel im Neunzig-Grad-Winkel umgebogen war. Die Größere steckte sich das kürzere Ende in die Vagina und begann, die Kleinere, die sich auf alle Viere begeben hatte, mit dem längeren Ende zu penetrieren, erst in dieser Stellung, danach in weiteren, bei denen die Größere, an die Rückenlehne des Bettes gepresst, die Brüste der Kleineren massieren konnte, während diese sich rhythmisch auf und ab bewegte, sich immer mehr ekstatisch dem zweiten oder dritten Orgasmus näherte, dabei die ganze Zeit „fuck“ sagte und sich dabei mit den Schneidezähnen auf die Unterlippe biss. Jetzt erst bemerkte ich, dass sich unter Claudias Bettdecke etwas gleichmäßig auf und ab bewegte. Sie hatte offenbar angefangen, vorsichtig zu masturbieren. Zwischendurch schloss sie immer wieder für längere Zeit die Augen und irgendwann lagen ihre Lippen nicht mehr aufeinander, ihr Unterkiefer sank immer entspannter herab und ich konnte ihre weißen Zähne sehen. Eric blickte sie immer wieder an und lächelte. Er war anscheinend mehr als einverstanden, mit dem, was Claudia da tat. Ich stupste Sina an und deutete mit dem Kopf auf die Beiden. Sina begriff zunächst nicht, nahm dann aber ebenfalls die Bewegungen unter der Bettdecke wahr. Jetzt begann Eric, seine rechte Hand über ihre rechte Brust gleiten zu lassen, zwischendurch fasste er sie auch mit einem festen Griff. Das hatten sie also auch von Anfang an geplant. Sie wollten Sex miteinander haben, während wir neben ihnen im Bett lagen. Das mindestens. Und was noch? Sina fasste sich ein Herz.

„Wisst ihr was, wir sind jetzt, glaube ich, müde genug“, sagte Sina und erhob sich.

Claudia fasste ihre Hand und blickte sie mit einem milden Lächeln an.

„Bleibt noch! Es ist Mittsommer und alles ist gut. Alles ist so, wie Gott es erschaffen hat. Warum könnt ihr es nicht zulassen? Eric schaltet die DVD ab. Ist es dann gut?

Sina schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt in unser Bett gehen. Ihr könnt den Film gerne weiterlaufen lassen. Nichts dagegen. Es war trotzdem ein schöner Tag mit euch. Ganz bestimmt. Aber ich glaube, das hier ist nichts für uns.“

Eric richtete sich ebenfalls im Bett auf und machte ein betroffenes Gesicht. Er griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

„Warte noch“, sagte Claudia, „tu mir einen Gefallen noch, bitte. Sina. Lars hat zweifellos einen Ständer. Fass ihn bitte einmal an. Du wirst es sehen.“

„Und wenn er einen Ständer hat, wir werden trotzdem jetzt gehen.“

„Und du, liebe Sina, bist zwischen den Beinen ganz feucht geworden. Eure Körper sagen euch, was jetzt zu tun ist, aber ihr wollt nicht darauf hören. Warum nicht? Was ist so verwerflich daran, wenn wir hier gemeinsam im Bett liegen? Wenn ich mit Eric schlafe und du mit deinem Lars? Was ist daran, wenn wir uns dabei zusehen, wie wir uns liebhaben und zärtlich zueinander sind? Wir haben gemeinsam gebadet, wir haben gemeinsam gegessen, getrunken, geschwitzt und gelacht. Wir haben uns in die Augen gesehen, wir haben uns nackt gesehen. Was ist so Besonderes am Sex, dass er allein im Dunkeln bleiben muss?“

Dabei ließ Claudia langsam ihre Hand an Sinas Oberschenkel hinaufgleiten. Sie schob, wie mir schien, ihre Hand in Sinas Schlafanzughose und berührte ihre Scham. Sinas Augenlider zitterten, ihre Hände bebten.

„Keine Angst“, sagte Claudia, „ich habe Übung darin, Frauen da zu berühren.“

Langsam zog Claudia ihre Hand zurück und hielt mir ihre schlanke Hand entgegen. Ihr Mittelfinger glänzte von Sinas glasklarem Saft, der ihre Schamlippen schon fast völlig benetzt haben musste. Claudia führte ihre Hand zum Mund, steckte den Mittelfinger in den Mund und leckte Sinas Saft genüsslich ab.

„Ihr könnt auch unter der Decke bleiben, wenn ihr euch dann wohler fühlt“, sagte sie weiter lächelnd. „Nicht böse sein! Nachher werdet ihr euch einfach nur noch wohl fühlen. Und irgendwann vielleicht auch dankbar.“

Claudia streifte sich das Nachthemd mit einer schnellen Bewegung über den Kopf, ließ sich breitbeinig auf dem Bett zurückfallen, stützte sich mit einem Ellenbogen auf Erics Bein auf, ließ den Finger, mit dem sie zuvor Sina berührt hatte, zwischen ihren Schamlippen von unten herauf bis zur Klitoris gleiten, indem sie den Saft, der aus ihrem Loch quoll, aufsammelte und auf ihrer Klitoris in sanft kreisenden Bewegungen verteilte. Dann schob sie den Finger tief in ihre Vagina hinein, fingerte darin ein wenig nach weiteren Lusttropfen, sog den nassen Finger wieder heraus und bot ihn Eric hin, der ihn seinerseits genussvoll mit seinen Lippen umschloss. Jetzt wandte sie sich Eric zu, schlug die Bettdecke zur Seite und zog ihm die Unterhose herunter, die sich mit seiner Erektion weit aufgespannt hatte. Sein Penis wippte auf und nieder, nachdem er aus der engen Unterhose befreit worden war. Claudia hockte sich auf Eric, ganz genau so, wie ich es mir in der Nacht zuvor vorgestellt hatte. Sie nahm seinen Penis zwischen ihre Lippen und Erics Nase und Mund verschwanden in ihrem üppigen Busch zwischen den Pobacken. Unvermittelt packte Sina unter der Bettdecke meinen harten Schwanz. Sie hatte einen Ausdruck von Panik im Gesicht, oder was immer es auch war. Sie fasste mit der anderen Hand meine Hand und führte sie in ihre Schalfanzughose. Im Schritt war sie ganz nass und klebrig geworden. Als ich ihre warme, feuchte Möse berührte, glitten ihre Schenkel weit auseinander und sie ließ sich in ihr Kopfkissen zurückfallen. Wenige Augenblicke später zog sie sich unter der Bettdecke ihre Hose aus und zog mich an meinem Schwanz an ihren Körper heran. Sie rupfte ungeduldig meine Hose ein Stück runter und schob meinen Schwanz in ihre warme, weite, beinahe triefende Höhle. Ich kam fast augenblicklich und sie nur wenige Momente später. Als wir kurze Zeit später die Augen wieder öffneten und uns in unsere erröteten Gesichter blickten, bemerkten wir, dass Eric und Claudia aufgehört hatten, sich zu lieben. Sie hockten nebeneinander auf dem Bett, die Hände in den Schößen und blickten uns liebevoll an.

„Es ist so schön, euch zu sehen“, sagte Claudia, „wie ihr euch liebt. Das war ein wunderbarer Anfang. Findet ihr nicht?“

Wir wussten es nicht. Wir wussten es beide nicht, ob das ein „wunderbarer Anfang“ war. Irgendwie entspannt waren wir schon. Ermattet lagen wir in unseren Schlafanzügen auf unseren Bettdecken und schauten nun – verwundert über uns selbst – dabei zu, wie Eric sich über Claudia beugte, die mit locker gespreizten Beinen vor ihm lag, und langsam seinen harten, schlanken Penis in sie hineinschob, sich behutsam vor- und zurückbewegte, sich dabei mit einer Hand aufstützte und mit der anderen ihre Brüste abwechselnd streichelte und knetete. Immer wieder machte er eine kurze Pause, wenn Claudia fast vorm Höhepunkt zu sein schien. Er zog seinen Penis aus ihrer Scheide heraus und führte stattdessen zwei Finger in sie ein, massierte kurz mit der anderen Hand ihre Klitoris, wie wir es eben noch in dem Film gesehen hatten und verteilte den Saft, den er nun an den Fingern hatte, auf ihren Brustwarzen. Er drang wieder in sie ein und leckte ihren Saft von den aufgerichteten Brustwarzen ab. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis Claudia kam. Erst nachdem sie gekommen war, erhöhte Erik das Tempo seiner Stöße. Er knetete ihre Brüste nun heftiger und packte mit einer Hand zwischen ihre Pobacken. Wie in Trance sagte Claudia mit steigender Tonhöhe immer nur ja, ja, ja, ja, im Rhythmus seiner Stöße, bis sie ein weiteres Mal kam und dabei heftig aufschrie und Eric seinerseits unter Zuckungen einen Orgasmus hatte. Ermattet blieben sie eine Weile schwer atmend aufeinander liegen. Dann wandte Claudia ihren Kopf uns zu und lächelte.

„War es schön?“

Wir wussten es nicht. Es fühlte sich alles an, als seien wir auf einem anderen Planeten gelandet, auf dem wir weder Flora noch Fauna kannten, geschweige denn die Gepflogenheiten des hiesigen gesellschaftlichen Lebens. Welche Spielregeln galten hier? Gab es überhaupt irgendwelche Regeln? Sina legte sich auf den Rücken und starrte ausdruckslos an die Decke. Ich schob ihr das Schlafanzugoberteil nach oben und begann, ihre Brüste zu streicheln. Wie schön Sina war, wie wunderbar diese weichen Brüste! Sina ließ meine Berührungen geschehen. Ich zog ihr die Hose aus und entkleidete mich selbst ganz. Während ich sie mit einer Hand weiter streichelte, versank mein Mittelfinger in ihrer Vagina. Es klebte von meinem Sperma. Aber das störte mich nicht, ekelte mich nicht. Mein Daumen kreiste auf ihrer Klitoris. Sina warf den Kopf hin und her, ihr Becken bäumte sich auf in ihrer Lust. Ihre Vagina verschlang drei Finger meiner Hand, die in sie hineinstießen. Sina schien einen fast endlosen Orgasmus zu haben, sie schrie lauf auf, krampfte sich zusammen und schob meine Hände von sich weg. Mein Penis stand aufrecht. Ich wollte unbedingt noch einmal in sie eindringen. Aber Sina winkte mit hochrotem Kopf ab, legte sich in sich zusammengekrümmt auf die Seite und atmete weiter schwer.

„Nein, nein, noch nicht,“ seufzte sie.

Ich kniete aufrecht vor ihr, mein Penis zielte gespannt hinauf zur Decke. Erst jetzt wurde mir wieder bewusst, dass Eric und Claudia am anderen Rand des Bettes lagen und uns zugesehen hatten. Sie sahen mich mit meiner Erektion und lächelten zufrieden. Ein lächerliches Bild, stellte ich mir vor. Sollten diese beiden seltsamen Menschen von jetzt an unsere Freunde sein? Unsere allerengsten Freunde? Die, mit denen wir ab jetzt jedes Jahr gemeinsam Mittsommer feiern würden? Wie weit würde das noch gehen? Wie oft würden wir dies hier noch gemeinsam tun? Wozu würden wir uns irgendwann auch noch hinreißen lassen? War nicht ein Damm gebrochen? Hätten wir nicht gehen müssen, als alles noch gut hatte ausgehen können? Sina blickte mich an. Dann schaute sie zu Eric und Claudia hinüber und lächelte. Sie begann zu kichern, hielt dann plötzlich inne und legte in stillem Entsetzen die Hand vor den Mund und schaute mich an. In meine Augen, auf meinen aufgereckten Penis, der langsam zu erschlaffen begann.

 

Etwas von diesem Gesichtsausdruck nahm ich auch noch am nächsten Morgen bei ihr wahr. Sina stand in der Morgensonne lange auf dem Steg und schaute ernst in die Ferne. Nach Schwimmen war ihr nicht mehr gewesen. Nach einem späten, wortkargen Frühstück warteten wir noch, bis Waschmaschine und Trockner durchgelaufen waren und machten uns dann auf den Heimweg. In Erics und Claudias Wohnung erfuhren wir, was die Kinder gesehen und gegessen und wie gut sie sich verstanden hatten. Zum Abschied umarmten wir uns lang und eng. Wir wussten nicht wann und ob wir uns überhaupt jemals wiedersehen würden.

Der Kult der Coolness – und eine hitzige Entdeckung: The Raindance Kid

 

Vor ein paar Jahren schon sind wir durch einen Tipp von einem wirklich „coolen“ Typen auf unserem alten Blog auf eine junge Band aufmerksam gemacht geworden, die uns seitdem nicht mehr losgelassen hat. Irgendwo aus dem Nirwana des Internet tauchte ein faszinierendes, aufwendig und aus mehreren Kameraperspektiven gedrehtes Video eines Live-Auftritts einer unbekannten Band auf. Lauter nette, sympathische Musiker, darunter eine bildhübsche Violinistin. Aber das war’s eben nicht. Da war dieser Sänger, der mit der einen Hand einer etwas altertümlich anmutenden Orgel Luft in ihre gefächerte Lunge pumpte (wie bei der Erstversorgung eines Verunglückten mit Sauerstoff) und mit der anderen ein paar Tasten drückte. „Two Hearts Black“, die Musik atmete schwer und konvulsivisch, „I want you to be happy, when I’m gone.“ Entrückt, wie in Trance sang er seinen Text. Dieser Gesang, das war’s. Ansonsten eine Art wundersamer, ekstatischer Post-Rock, nichts vollkommen Neues. Trotzdem erschien uns, was wir sahen und hörten, als etwas Ereignishaftes und unerhört Neues. Die zunächst unerklärliche Faszination, die der Clip erzeugte, veranlasste uns spontan dazu, nach weiteren Clips der Band zu suchen und dem Sänger und offenbar auch Autor und Bandleader Nikolas Benedikt Kuhl auf die Spur zu kommen. Es gab aber nur ein paar wenige Aufnahmen, die anscheinend in einem dunklen Proberaum gemacht worden waren. Sollte das wirklich Country-Musik sein? Weil da einer auf dem Banjo spielte (das bevorzugte Instrument von Nikolas Kuhl)? Post-Country? Post-Rock? Egal, denn das war nicht die Frage. Das Genre spielt doch nur dann eine Rolle, wenn man eine Sache, die letztlich mittelmäßig ist, einsortieren und abhaken möchte. Diesem Affekt verfällt man selbst dann, wenn einem etwas recht gut gefallen hat und es den (in diesem Falle musikalischen) Geschmacksnerven ausgesprochen schmeichelt.

Wir haben gelernt, auf der Hut zu sein, wenn uns etwas gar zu spontan gefällt. In den seltensten Fällen sind wir dann noch bei uns selbst, sondern nur Teil einer Bewegung, einer Mode oder Ideologie, von der wir noch gar nicht gemerkt haben, dass wir ihr angehören. Gefällig sind Raindance Kid aber auf keinen Fall. Stattdessen einigermaßen sperrig und düster. Woher also kam das Interesse? Erst ein paar Tage später die plötzliche Eingebung: „Brel“, sagte Nina, „Jacques Brel“. „Was willst du damit sagen? Wie kommst du plötzlich auf Jacques Brel?“ „Der Sänger von dieser Band. Ist zwar irgendwie abwegig, weil der was ganz anderes macht als Brel, keine Chansons und so, außerdem hat er nicht so hässliche Zähne. Aber diese Emotionalität, das ist es.“

Aber was heißt schon Emotionalität? Wir alle haben Emotionen. Und Musik transportiert doch eigentlich immer Emotionen. Fragt sich nur, welche Emotionen das sind, wodurch sie ausgelöst werden und welche Normen und Diskurse sie in uns verankern sollen. Wir haben uns einmal der wenig vergnüglichen Mühe unterzogen, die Single-Charts und die Charts für Alternative-Rock und Country-Rock auf Youtube durchzuhören. Wir konnten nichts finden, was auch nur ansatzweise der Musik und den Inhalten ähnelte, die wir bei Raindance Kid hörten. Die Charts scheinen einem Kult der absoluten Coolness zu gehorchen. Selbst in Liebesdingen, die immer noch zu den bevorzugten Inhalten der meisten Songs gehören, scheint die Jugend, die sich in den Chartstürmern widerspiegelt, abgeklärt und pragmatisch zu sein. Die neue Generation ist eine der Monaden, für die Autonomie in der Wertehierarchie einen sehr hohen, wenn nicht den höchsten Stellenwert hat. Aber diese gesellschaftlich verordnete Autonomie ist symbiotisch mit der kapitalistischen Marktlogik verbunden. Beziehungen, in besonderer Weise auch Liebesbeziehungen und Partnerschaften werden vorwiegend als Handelsbeziehungen aufgefasst, in denen es für jede Leistung immer auch eine Gegenleistung geben muss. Sie sind verinnerlicht als etwas, das den Gesetzen von Warenbeziehungen gehorcht. In ihnen wird die eigene Individualität wie auch die des Partners entlang ideologischer Wertehierarchien atomisiert – nach Eigenschaften, Kompetenzen, Vorzügen. Die Körper werden ebenso wie die Persönlichkeiten vermessen, fragmentiert und begrifflich kategorisiert. Wie ein Produkt, das wir bei Amazon bestellen können, sehen wir uns selbst und die anderen aus bewertbaren und verwertbaren Segmenten und Eigenschaften zusammengesetzt, aus denen sich Gesamtwert und auch das Preis-Leistungsverhältnis ermitteln lässt. Wie präsentierst du dich auf dem Beziehungsmarkt, wie hoch setzt du deinen Preis an? Wieviel bekommst du zurück, wenn du dich zum Tausch anbietest? Die Verhaltensregeln, die sich angesichts dessen herausbilden, sind sehr schlicht: Versuche, dich nicht unter Wert zu verkaufen, sieh zu, dass du möglichst mehr bekommst, als du gibst, und: Bewahre dir deine Autonomie! (Typische Textzeile: „I don’t need your love anymore!“) Wenn du in irgendeine Abhängigkeit gerätst, hast du schon verloren.

Hinter der Fassade einer coolen, selbstsicheren und spaßorientierten Jugend verbirgt sich Angst vor Statusverlust und Wertlosigkeit, Unsicherheit und der Stress der differenzierten Selbstwahrnehmung und der dazu komplementären Selbstoptimierung aus dem Blickwinkel der Anderen. Bei allem nach außen hin inszenierten Spaß, der zelebrierten Lockerheit, der Offenheit für eine von Bindungen abgekoppelte Sexualität werden die starken und irrationalen Gefühle der Liebe und des Verliebtseins systematisch gedrosselt, weil sonst der Kontrollverlust droht. Coolness ist Verkaufsstrategie und moderne Seinsweise in einem geworden. Und genau das spiegeln die Chart-Singles ohne Ausnahme wider. Noch die triefendsten Schnulzen, von denen es immer noch einige gibt, sind outriert und in den Ausdrucksmitteln konventionalisiert. Sie feiern nur scheinbar die Liebe und das vorgeblich ersehnte und angebetete Gegenüber, sie aalen sich in selbstbezüglichen, schablonenhaft zum Ausdruck gebrachten Emotionen, in einem Narzissmus, der nur auf seine vorhersehbare Wirkung in der Außenwelt schielt. Nirgendwo wagt noch jemand, der es im Musikbusiness zu etwas bringen möchte oder gebracht hat, den irrationalen Ausbruch, den einer ungezügelten, keinen artifiziellen Ausdruckskonventionen unterworfenen Emotionalität. Die unterliegt längst einem Tabu. Emotionalität, sich als ein Ganzes den eigenen überwältigenden Emotionen im performativen Akt zu überantworten und damit den vollständigen Kontrollverlust zu riskieren, gilt geradezu als unanständig und obszön. Es fragt sich nur, ob diese neuen Verhaltens- und Beziehungsnormen, die sich in den Rock- und Pop-Charts widerspiegeln und diese diskursiv verstärken, noch den menschlichen Sehnsüchten und wichtigsten Bedürfnissen gerecht werden können und ob in den fragmentierten Individuen noch echte und tiefe Gefühle brodeln.

Musik ist wie keine andere Kulturtechnik in der Lage, unmittelbar Emotionen auszulösen. Das kann mit einfachsten Mitteln gelingen, in der ernsten Musik ebenso wie in der Unterhaltungsmusik. Anschaulich wird das am besten in der Demonstration von Axis Of Awesome, die mit den immer gleichen vier Akkorden die Refrains von 38 Chart-Songs ironisch herunternudeln. Hier gleicht ein Ei dem anderen, und doch können wir uns den Gefühlen kaum entziehen, die Akkorde und Gesang beim Hören sofort auszulösen vermögen. Diese Klaviatur lässt sich leicht bedienen. Auch Jacques Brels „Amsterdam“ kommt mit nur sechs Akkorden aus. Auf Youtube findet sich eine beeindruckende Vielzahl von Coverversionen dieses Chansons, von Laien ebenso wie von einigen Größen des Musikbusiness. Es ist eine einzige Revue des Scheiterns. Allein die große Edith Piaf kann mit ihrer Version überzeugen. In allen anderen Fällen bleibt ein schales Gefühl zurück. Es ist mithin nicht der Song selbst, nicht die musikalische Struktur und auch nicht der Inhalt, der ihn so einzigartig und legendär gemacht hat. Nicht einmal Jacques Brel mochte ihn, weshalb es keine einzige Studioaufnahme davon gibt. Das Geheimnis liegt in Jacques Brel selbst. In seiner – wenn man es einmal so neutral ausdrücken möchte – Performance. Performance kann man heute getrost mit „Masche“ oder „Stil“ gleichsetzen, mit der Interpreten sich auf der Grundlage der vier oder sechs Akkorde von den anderen zu unterscheiden versuchen. Was bis heute an Brels Chansons fasziniert, lässt sich allerdings nicht im mindesten als kalkulierter Stil oder als Selbstvermarktungsmasche bezeichnen. Getragen vom tonalen Arrangement brechen aus Brel mit scheinbar größter Unmittelbarkeit die Gefühle hervor, die er mit seiner Musik verbindet. Gefühl, Leidenschaft und Gesang verschmelzen zu einer authentischen Einheit, als spreche durch ihn als Medium eine Art Gottheit – oder weniger religiös aufgeladen – das Mensch-Sein selbst. So wie wir von der aufrichtigen Freude, dem Lachen oder dem Weinen eines Menschen unmittelbar gefangen genommen werden. Während das Meiste, was uns an gesanglicher Performance heute dargeboten wird, sich darin erschöpft, Emotionen zitathaft nur zu indizieren, also auf die Emotionen zeichen- und formelhaft lediglich zu verweisen, um sie der geschulten und nicht minder genormten Einbildungskraft der Hörer zu überantworten, scheint Brel die natürliche, materiale Trennung der Menschen mit suggestiver Unmittelbarkeit zu überwinden. Da macht es nicht einmal etwas, wenn man die Texte gar nicht versteht. Mein Französisch jedenfalls ist dafür viel zu rudimentär.

Die poetischen und oft düsteren Texte bei Raindance Kid machen es einem aus anderen Gründen nicht gerade leicht. Vielleicht muss man sie auch gar nicht verstehen, denn – wie bei Brel – werden wir von den authentischen Gefühlen in Bann gezogen, die uns der Gesang von Bandleader Nikolas Kuhl geradewegs ins Herz verpflanzt. Die Texte selbst könnten auch aus lauter Kauderwelsch bestehen und dennoch würden uns die Songs gefangen nehmen. Dabei sind weder die Texte noch das musikalische Arrangement banal.

Wir haben in den letzten Jahren aufmerksam die Entwicklung der Band beobachtet, die irgendwo in Hamburg und in unbeachteten Nischen des Internet eher zögerlich voranschritt. Gegründet von einer kleinen Gruppe von Filmstudenten, traten Raindance Kid zunächst in kleinen Kaschemmen auf, veröffentlichten hin und wieder Video-Ausschnitte von Auftritten, posteten auf Soundcloud und veröffentlichten dort auch eine erste EP. Zum Beeindruckendsten gehören die auf Youtube veröffentlichten Songs, die 2017 auf der Hebebühne in Hamburg aufgenommen wurden. Interessanterweise findet sich bei intensiverer Recherche weit Älteres aus der Werkstatt des heute schätzungsweise 30-jährigen Komponisten, das auf eine beeindruckend lange musikalische Entwicklung verweist. Noch unter dem Künstlernamen Simp reichen seine Veröffentlichungen im Internet bis ins Jahr 2007 zurück, wo er wahrscheinlich gerade erst der Schule entsprossen ist. Und die Bandbreite reicht von Rap über Electro bis hin zu teils sinfonisch anmutendem Alternative-Rock. Mit dem Banjo als Leitinstrument hat sich dann in den letzten Jahren das musikalische Profil verfestigt, das aber immer noch Elemente des Alternative Rock, des Sinfonischen enthält – neben Einflüssen aus der psychedelischen Musik und anscheinend auch des Bluegrass.

Jetzt ist endlich das Debut-Album von Raindance Kid erschienen, „Swayer“, ein durchgefeiltes Konzeptalbum, das man – mit großer Vorsicht gesprochen – als die Wiedergeburt des Existenzialismus in „einer Art Country-Musik“ bezeichnen könnte, die gerade das eigentlich am allerwenigsten ist: Country. Die Weiten des amerikanischen Westens oder eher noch der Südstaaten als symbolschwere Welt der Innerlichkeit. Denn es geht in allen Tracks um die Innerlichkeit des im zweiten Track, dem „Anthem“ vorgestellten „Raindance Kid“, einem aus dem „lyrischen Ich“ hervorgehenden dämonischen zweiten Ich, seinem alter ego: „I mute my own voice, let him do, let him do the talking” und „My guard became my fiend, as we cannot agree, I’m gonna loose myself, I am more him than me.” Dieses Bild eines gespaltenen, ebenso verlorenen wie befreiten Selbst zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Album. Es geht um ominöse Bedrohungen, die sich wie gewaltige Gebirge vor dem inneren Auge aufbauen und in nicht minder gewaltigen Bildern oder Metaphern personalisiert werden und ein eigenes Leben entwickeln („Wintersland“); um ein kleines Universum von Sehnsüchten, Besessenheiten, Versprechen von Freiheit, die auf schwerwiegende Hindernisse stoßen.

Für die Hörer ein ständiges Wechselbad der Gefühle, denen sie sich kaum entziehen können, schon wegen des drängenden, mitreißenden Gesangs, der nuanciert bis in feinste Regungen beinahe jedes nur erdenkliche Gefühl stimmlich-musikalisch ausformuliert, dramaturgisch-kompositorisch so geschickt ins musikalisch immer wieder überraschende Arrangement verwoben, dass die Hörer nur mit großer Mühe auf Distanz gehen können, wo sie sich vielleicht wundern könnten, wie maßlos hier Betroffenheit zum Ausdruck gebracht wird. Aber so weit kommt es eben nicht, und das unterscheidet das Album vom heute gängigen gekünstelten und hemmungslos narzisstischen Betroffenheitskitsch, der die Charts geflutet hat und die menschliche Stimme immer häufiger den technischen Ausdrucksmitteln des Autotune überantwortet. Diese Musik berührt vom ersten Moment an, weil sie – allein schon auf der musikalischen Ebene – den verwundeten Seelen ihrer Hörer aus dem Herzen spricht, die alle gern dazu befreit wären, in dieser Weise selbst von Sehnsucht, Freiheit, existentieller Bedrohung, Verlassenheit und Angst zu singen und geradezu ungehemmt zu klagen („Letter to David“). Wir modernen Menschen sind längst unter der neuen Kultur der Kälte erstarrt, die überbordende Emotionalität als Schwäche beargwöhnt und immer stärker tabuisiert.

Dieses Tabu wird hier überzeugend gebrochen. Wer mit prüfendem Ohr die auf dem Album versammelten Tracks bloß kurz anspielt, wird kaum eine Entdeckung machen, die sofort bis ins Kleinhirn funkt, kein Hit, kein Ohrwurm, der eine zunächst große, aber falsche Versprechung macht. Es bedarf eines geschulten Ohres, um die musikalischen Schätze, etwa von „Dead Heart Choire“ zu heben, was nicht nur zu einem musikalischen, sondern auch durchaus intellektuellen Genuss führt, besonders wo die geradezu sinfonischen Schichtungen mit ihren ausgeklügelten, zarten Dissonanzen hörbar werden. Die Texte aber bleiben schwierig und oft undurchdringlich. Sie sperren sich dagegen, gar zu schnell verstanden zu werden. Da ist einer, der sich in einer winterlichen, jedenfalls wenig heimeligen Landschaft bewegt; und im Subtext vermeint man noch das berühmte Gedicht „Vereinsamt“ von Friedrich Nietzsche zu vernehmen, in dem die Krähen „schwirren Flugs zur Stadt“ eilen und das einsame lyrische Ich heimatlos in der Kälte zurückbleibt. (Nina assoziiert damit sogar Schuberts „Winterreise“, im romantischen Sinne als Metapher einer Lebensreise. Überhaupt, sie höre in den Songs, Texten wie Musik, sehr viel Romantisches.) Es ist einer, der auf dem Weg ist, „between two shores“ („Wintersland“), einer, der gespalten ist, von einem dunklen, bedrohlichen zweiten Ich bedrängt und unterworfen wird, das aber mehr und mehr zu seinem eigentlichen Ich wird, das an seiner Statt zu sprechen und zu singen beginnt, wo sonst nur Sprachlosigkeit bliebe („Anthem“).

Auch im Arrangement übereinander gelagerter Vocals wird das unmittelbar anschaulich: Nur selten bleibt die Stimme von Nikolas Kuhl roh und singulär, sie spaltet sich auf in einen Bass von intensiver, mal bedrohlich, mal warm und beschützend wirkender Untergründigkeit und einen wendigen, spielerisch alternierenden, unruhigen Tenor, der bis ins hohe, zarte Falsett zu reichen vermag, weich in den mittleren Lagen, selten schroff und hart.

Neben den Gefühlen der Einsamkeit und Verlorenheit geht es immer wieder auch um brüchige, jedenfalls unklare Liebesbeziehungen. Anders als im Durchschnitt der in den Charts laufenden Liebeslieder geht es hier aber nicht um den Liebesschmerz der Begehrenden, Verschmähten und Verlassenen, oder um die Aufkündigung einer Beziehung, die keinen persönlichen Gewinn mehr abwirft. Bei Raindance Kid geht es um bestehende Beziehungen, die sich zwischen Sehnsucht, Selbstbetrug und bis zu selbstzerstörerischer Aufopferung aufspannen: „Forgive me, girl, for I have sinned. Scatter our ashes in the wind. The breath of air will take us both away” („Last Song“). Die Beziehungen spiegeln nichts von ihrem gegenwärtig verbreiteten Warencharakter wider, sondern bewegen sich stattdessen in den Sphären von Schuld und Sühne: „Here I am, and my eyes became cold, for I know somehow, I’m still on that road”. In „The Road“, mit dem das Album endet, ist von Dankbarkeit die Rede, dem Wunsch nach Hause zurückzukehren, etwas wie Heimat zu finden, aber auch von dem mit Bedauern geäußerten Wunsch fortzugehen, frei und unabhängig zu sein, oder einfach ganz zu verschwinden, sich lieber aufzulösen, als den Partner oder die Partnerin zu verlassen – ein Drama, das sich nur in moralisch-ideellen Dimensionen abspielen kann.

Dem stellt sich antithetisch Nikolas Kuhl, dieser Raindance Kid mit seiner trancehaften, ekstatischen Musik entgegen, wie ein Heiler, ein Schamane, der in hypnotischer Entrückung die aufgefächerten Widersprüche auf höherer Ebene versöhnt. Ein „Swayer“, einer, der über andere herrscht, weil er, anziehend und fortstoßend, einen zermürbenden Widerspruch lebt. Ein trotzig-optimistischer Regentänzer in verdorrter Gefühlslandschaft. Kein einsamer, gesetzloser Cowboy. Für uns eher indianischer Medizinmann – eben Schamane. Geht zur Not auch mit Cowboyhut.

 

Von Häusern an Seen

Aleksander hat jetzt wieder angefangen kurze Erzählungen zu schreiben. Eine davon heißt „Das Haus am See“. Es sei nur ein erster Versuch. Was für ein Versuch? Ein Versuch in pornografischer Literatur. Er wolle einmal für sich persönlich erkunden, ob in einem durchaus verklärten Sinne so etwas wie „schöne“ Pornografie möglich sei, feministische Pornografie. Oder ob am Ende doch nur wieder eine klassische, misogyne Männerphantasie dabei herauskomme. Das würde ich dann zu entscheiden haben. Kein Problem, mache ich gern. Aber es ist doch ein großer Unterschied, ob jemand einen pornografischen Text schreibt oder pornografische Videos produziert, in denen Darsteller_innen in entfremdeten Produktionsprozessen zu bloßen Objekten gerinnen und mit den zur Schau gestellten Pseudo-Intimitäten ihre Subjektivität, ihre Einzigartigkeit zum Verschwinden bringen. Darum nämlich drehte sich unsere Diskussion der vergangenen Tage. Der Kurzschluss zwischen dem literarisch gestalteten erotischen Reiz und dem individuellen Phantasie-Getriebe im Hirn der Leser­_in ist immer ein mittelbarer, humaner, frei von Gewalt, wie sehr der Text möglicherweise auch Gewalt zur Darstellung bringen mag. Sinnt der Autor zwar unmittelbar auf die sexuelle Erregung seiner Leser_in, muss der fiktionale Inhalt doch den Umweg über die individuelle Anreicherungsmaschinerie der Leser_innen-Fiktionalität gehen. Der Kurzschluss zwischen dem fotografischen oder filmischen Abbild einer physischen Realität mit pornografischer Intention und dem Assoziations- und Erregungsapparat des Betrachters dagegen ist ein unmittelbarer und darum weitgehend unreflektierter. Er erzeugt die Illusion unmittelbarer Verfügbarkeit über die ins Bild gesetzten Körper, die einer Enteignung der vor der Kamera agierenden Individuen gleichkommt. So subjektiv und lustvoll der abgelichtete Geschlechtsakt während des Vollzugs auch gewesen sein mag, das Produkt ist am Ende doch nur ein ausgehöhltes Surrogat, das die Darsteller_innen ihrer Würde beraubt und dem Zuschauer als bloßes Mittel, Hilfsmittel zur eigenen sexuellen Erregung und Befriedigung dient. Es ist ein ausbeuterisches Verhältnis zwischen den – einen fragwürdigen Mehrwert produzierenden – Sexarbeiter_innen und dem Konsumenten, das vor allem dem am Profit interessierten Produzenten in die Hände spielt, der in seinen Darsteller_innen wie in den entstandenen Abbildern nur „Material“ sieht. Die blutig durchschossene Lunge des Helden in einem Actionfilm bleibt immer noch Spiel in einem Spielfilm, weil ihm die Wunde doch nicht wirklich zugefügt wurde und sich nur illusionärer kinematografischer Techniken verdankt. Wenn eine Frau aus einer möglichst alles sichtbar machenden Kameraperspektive von einem erigierten Penis penetriert wird, ist das dagegen längst kein Spiel mehr. Der – nicht selten aggressive – filmisch oder fotografisch festgehaltene Akt geschieht in Wirklichkeit und steht damit auf einer Stufe mit den von Schaulustigen aufgenommenen Handy-Videos versehrter oder verstorbener Unfallopfer. Mögen die unveröffentlichten Videos, die etwa Paare von sich selbst beim Sex aufnehmen, noch legitimer Teil ihres (auch schon irgendwie entfremdeten) Liebesspiels sein – sobald derlei private Videos aber der kapitalistischen Verwertungskette zugeführt werden, selbst in scheinbar dem monetären Markt enthobenen privaten Foren, verwandeln sie sich in Snuff-Videos, die die in ihnen handelnden Individuen auslöschen.

Wenn Aleksander sich also in pornografischer Literatur versucht, mag sich das Ergebnis unter Umständen zwar als misogyn, antifeministisch oder grundsätzlich inhuman und barbarisch erweisen, was ich allerdings nicht erwarte. Aber der Blowjob und das Spermaschlucken bleiben doch so virtuell und spielerisch wie der Lungendurchschuss im Actionfilm. Aleksander hatte wohl die Absicht, mich mit seinem literarischen Vorhaben ein wenig zu provozieren. Die Herausforderung nehme ich gerne an, vielleicht sogar mit einer kurzen eigenen Erzählung.

Unscheinbar und jenseits aller provokativen Absichten wirkt dagegen auf den ersten Blick der Arbeitstitel der pornografischen Übung: „Das Haus am See“. Ich muss gestehen, selbst immer mal wieder von einem eigenen kleinen Haus am See geträumt und davon während unserer Spaziergänge an Frühlingstagen hemmungslos geschwärmt zu haben. Mein lieber Pjotr pflichtet mir zwar immer wieder gerne bei, wie schön das einsame Leben in so einem Haus am See sein könne, aber ins Schwärmen gerät er eher nicht, denn er bevorzugt dann doch das Leben in der Großstadt mit all seinen Möglichkeiten und kleinen wie größeren Verführungen. Aber hin und wieder dem Großstadttrubel entfliehen können? Das wäre schon sehr angenehm. Abgesehen davon, dass wir uns ein eigenes Haus finanziell ohnehin niemals werden leisten können, es wäre dann doch auch eine Last, wie jede Form von Eigentum. Wie oft würden wir uns wohl auf den vermutlich viel zu weiten Weg zu unserem Auszeit-Refugium machen? Und kämen wir wirklich zur Ruhe, wenn Rasen, Sträucher und Bäume in unserer Abwesenheit wucherten und uns jedes Mal in flehentlichem Ton empfingen, wir möchten sie doch schneiden, stutzen kürzen und kompostieren? Und im Winter müssten wir gegen Muff und Schimmel anheizen, selbst während unserer Abwesenheit, im Sommer die Klärgrube leeren lassen und auf Strom, fließend Wasser und Internet möglicherweise ganz verzichten. Der Traum, den ich und anscheinend viele andere träumen und sich in unzähligen Romanen, Erzählungen und Filmen eingenistet hat, geht so: Das Haus am See liegt einsam und verlassen in einem Sommerland jenseits der Zivilisation. Seine Bewohner haben mit der Welt da draußen weitgehend abgeschlossen, sind ihr – jedenfalls zeitweise – entflohen. In ihm befinden sich nur die allernötigsten Gegenstände. Ein alter Holztisch, zwei Stühle, eine kleine Küchenzeile, ein paar einfache Teller, Becher, Gläser Küchenutensilien, ein Sofa, zwei kleine Schreibtische, ein großes Bett für das Paar, zwei schmale Betten für Gäste. Die benötigte geringe Menge Strom liefert eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach, für warmes Wasser und die Heizung gibt es einen Holzofen oder eine Erdwärme-Anlage. Das Wasser wird aus dreißig Metern Tiefe heraufgepumpt und im Garten wachsen Gemüse und Früchte. Mit einem Wort: Im Haus am See lebt man autark. Aber woher kommt diese Sehnsucht nach dem autarken Leben in einem Haus am See? Warum träumen wir von diesem reduzierten, auf die elementarsten Bedürfnisse zurückgekürzten Leben, abgeschnitten von Medien, Konsum und Kommunikation?

In Häusern an Seen findet das wahre und richtige Leben statt. Da ist immer Sommer, das Wasser warm und klar. Wir lassen unsere nackten Körper ins Wasser gleiten, wir liegen in den Armen des geliebten Menschen, wir baden und lieben am Morgen und am Abend. Nur die geliebten und begehrten Menschen kommen uns besuchen. Sie kommen als Wanderer mit ihren leichten Rucksäcken. Wir essen frisches Brot und trinken roten Wein. Die Mücken stechen nicht, sie summen nur. Das Lagerfeuer wärmt Gesicht, Brust und Füße. Am Schreibtisch lädt die Stille zu tiefen Gedanken ein. Bücher entstehen, Romane und Welterklärungen, tröstende und lustvolle Gedichte. Das Glas Wasser ist kühl und erfrischend, ein bunter Schmetterling setzt sich auf seinen Rand. Die Blicke der Liebenden sind klar und verstehend. Kein Wort tut Not, nur ein zufriedener Seufzer. Noch die Sitzung auf dem Plumpsklo ist reine Meditation. Wir sind bei uns, bei uns selbst und beieinander, der Beischlaf tantrisch im Moos, der Waldboden warm und weich, wenn wir nackt zur Felsenquelle schleichen. Wir sehen das Gras wachsen und hören den Elch rufen. Die Nacht ist so still wie der Himmel schwarz und von der Milchstraße umschlungen. Nichts drängt, nichts muss, nichts will. Ein lauer Wind umhaucht die Haut. Fast ein Nichts, diese Häuser an Seen.

Wenn man „Haus am See“ googelt, findet man fast ausschließlich Hotels, Restaurants und Ferienwohnungen, lauter falsche Versprechen. Wir kommen nie bei ihnen an, nie bei uns selbst. Wir bleiben für immer unbehaust. Deshalb muss auch Aleksanders „schöne Pornografie“ ein falsches Versprechen bleiben, eine schöne Illusion, die ihre Entsprechung in der Wirklichkeit vergeblich sucht.

Männer, Frauen, Logik, Pornografie und Feminismus

Seit einiger Zeit beschäftigt sich Nina mit der Frage, ob Pornografie sich eigentlich mit Feminismus verträgt. Sie meint, nein. In einer Vielzahl von Online-Magazinen, die Nina in den letzten Wochen durchstöbert hat, wird Frauen eine neue, oder nicht mehr ganz so neue Form eines sogenannten „sex-positiven Feminismus“ und einer damit korrespondierenden „feministischen Pornografie“ angepriesen. Frauen, so scheint es, leben in einem Zeitalter der letzten Stufe sexueller Befreiung. Sogar halbwegs seriöse Frauenzeitschriften bringen Artikel darüber, wie und wie oft Frauen sich am besten selbst zu befriedigen haben. Das sei gesund und frische den Teint auf. Statistiken fluten die Medien, in denen zu erfahren ist, dass bereits mehr als dreißig Prozent der Frauen Pornos im Internet schauen. Rückständig wäre, wer sich jetzt nicht in die einschlägigen Seiten einklickte, die frauenfreundliche Pornografie versprechen, in der es vorrangig um die Lust der Frauen und ihre sexuellen Phantasien geht. Pornografie von Frauen für Frauen. Aber die Frauen in diesen sogenannten frauenfreundlichen Pornos würden sich doch auch nur zu Objekten männlichen Begehrens machen, meinte Nina neulich. Ja, sagte ich, aber die genießen das vielleicht trotzdem. Das sei kein Argument, fand Nina, über Jahrhunderte hinweg hätten Frauen gelernt, ihre Wünsche an denen der Männer auszurichten. Das immer noch herrschende Patriarchat habe die Frauen derart umfassend unterworfen, dass sie nicht einmal mehr den Funken einer Ahnung hätten, welche Bedürfnisse ihre eigenen und welche ihnen einfach nur eingetrichtert worden seien. Jahrtausende, sagte Nina, haben Frauen nicht das geringste Bedürfnis verspürt, anderen beim Sex zuzusehen, und auf einmal würden Frauen geradezu pathologisiert, wenn sie sich nicht dafür interessieren und sich nicht wie ihre Männer vor den Bildschirm setzen und zu scheinbar aufgeilenden Szenen masturbieren. Anders als Nina fand ich die Sache nicht so eindeutig. Die ist doch viel komplizierter, sagte ich. Erstens werden die Frauen ja von anderen Frauen dazu ermuntert, und zweitens wäre es ja möglich, dass Frauen sich gerade deshalb nicht oder sehr viel weniger für Pornografie interessierten, weil ihre Sexualität eigentlich immer unterdrückt oder jedenfalls in Schach gehalten wurde. Und gewiss, da habe sie Recht, Frauen hätten im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende gelernt, die von Männern aufgestellten Normen als ihre eigenen zu verinnerlichen: Eine anständige Frau sollte möglichst keine sexuellen Gelüste haben, sollte beim Sex niemals die Initiative ergreifen, hat möglichst eine passive, erduldende Rolle zu spielen und die Arbeit dem Mann zu überlassen, der ja als einziger mit einem ernstzunehmenden Sex-Werkzeug ausgestattet ist. Es sei doch vielleicht ganz gut, wenn Frauen so nach und nach eine eigene Vorstellung von ihrer Sexualität entwickelten, ihren Wünschen und Phantasien. Woher willst du denn wissen, dass die anderen Frauen, für die du ja nicht sprechen kannst, nicht vielleicht doch ein größeres Interesse an Sex und Pornografie entwickeln, wenn sie sich nur erst einmal darauf einlassen. Und warum sollten sie, fragte Nina. Sollen sie ja gar nicht. Aber dürfen sie nicht? Nina ließ nicht locker: Niemand sagt, dass Frauen kein Interesse an Sex haben, aber warum sollen sich Frauen Pornos anschauen, aus denen sie doch auch nur wieder lernen, dass sich Frauen Männern unterzuordnen haben, sich zu Objekten der männlichen Begierde machen müssen, um ihre wahre Bestimmung zu finden. Sieht doch ganz so aus, als würde den Frauen mit wachsender Vehemenz nahegelegt, den Sinn ihres Lebens im Sex zu suchen. Mag ja sein, sagte ich zu Nina, aber sei doch mal ehrlich: Fändest du ein Leben ohne Sex nicht auch ziemlich sinnlos?

Nach einem Kurzvortrag über notwendige und hinreichende Bedingungen musste ich leider eingestehen, dass Sex für ein sinnvolles Leben lediglich eine hinreichende Bedingung ist und ich, sollte ich bei einem Unfall mein „Sex-Werkzeug“ einbüßen, immer noch ein sinnvolles und sogar glückliches Leben haben könnte. Rein logisch betrachtet. Aber es gibt Tage, an denen habe ich es nicht so mit der Logik. Da setze ich mehr auf Empirie. Und die Behauptung, Frauen hätten jahrtausendelang kein Interesse daran gehabt, anderen beim Sex zuzusehen, lässt sich empirisch leider gar nicht beweisen.

„Wie viele dieser feministischen Pornos hast du dir denn schon angesehen“, wollte ich wissen.

„Keine.“

„Und wie viele klassische Pornos?“

„Keine. Was meinst du überhaupt mit klassisch?“

„Aber wie kannst du da zu einem gültigen Urteil gelangen, wenn du gar keine empirischen Studien betrieben hast?“

„Ich soll mir Pornos anschauen? Dann tue ich doch genau das, was gerade von mir verlangt wird. Dass ich als Frau wie meine Geschlechtsgenossinnen mit dem Pornokonsum anfange. So wie die Männer schon lange.“

Ninas Rechnung ging so: Pornografie ist so ein Männerding. Du kannst Frauen als reine Sex-Objekte konsumieren, ohne dich auch nur ansatzweise mit ihrer Persönlichkeit beschäftigen zu müssen. Umgekehrt gibt es wohl kaum eine Frau, die Männerkörper zum Zwecke des persönlichen Lustgewinns von deren Persönlichkeit abspaltet. Die Reduktion von Frauen auf ihre Körper und ihre erotischen Reize in der von Männern dominierten Pornografie wurde im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zu Recht skandalisiert. Weil in kaum einem anderen Lebensbereich das nach wie vor herrschende Patriarchat bildlich evident wird. Und weil es illusionär wäre, Pornografie einfach zu verbieten, haben einige Frauen genau das gemacht, was viele andere vor ihnen auch gemacht haben: Statt sich wirklich zu emanzipieren, haben sie versucht, männliches Verhalten zu kopieren, weil sie glaubten, auf diese Weise den Männern ebenbürtig werden zu können. Deshalb halten es heutzutage viele, wenn nicht die meisten Menschen für emanzipiert, wenn sich Frauen in bestimmten gesellschaftlichen Handlungsfeldern männliche Verhaltensweisen zulegen, wo sie sich unterrepräsentiert und unterlegen fühlen. Deshalb werden Frauen Soldaten, beschließen als Politikerinnen Kriege und ziehen als Unternehmerinnen ihre Arbeitskräfte über den Tisch. Sie spielen die Machtspiele der Männer, lügen, betrügen – und machen nun neuerdings auch noch Pornos. Das ist weder eine sexuelle noch irgendeine Befreiung. Das ist immer noch das alte Schema der Anpassung. Und die Männer lassen es sich natürlich gerne gefallen, denn es bestätigt nur ihre Anschauungen. Sie haben halt schon immer Recht gehabt, auch was den Sex betrifft. Alles dreht sich nur um Sex, Sex ist gesund, Sex ist natürlich und – am allerwichtigsten – Sex hat nichts mit Liebe und Bindung zu tun. Wenn bald alle Frauen Pornos schauen –  und sie möglicherweise für Papas Privatkino selber drehen – , dann werden sie sich bald auch keinerlei Gedanken mehr darüber machen, warum sie sich als Objekte männlicher Begierde nicht dauerhaft verfügbar halten sollten.

„Aber das könnte doch auch schön sein, wenn alle, Männer wie Frauen, in gleicher Weise Spaß am Sex haben – und eben auch Spaß an Pornografie. Wäre das so schlimm?“

„Das ist wie mit der Prostitution. Wenn Frauen genug Geld zum Leben haben, wenn sie unabhängig und wenigstens in bescheidenem Wohlstand leben können, wenn ihnen alle Berufe und beruflichen Positionen wirklich offenstehen, kommt keine einzige Frau auf die Idee, ihren Körper zu verkaufen, sich erniedrigen zu lassen und für ihre Freier Lust zu heucheln. Mit anderen Worten: Frauen, die in Pornos auftreten sind Frauen, die unterdrückt werden. Oder weniger plakativ ausgedrückt: Solange Frauen in Pornos als Objekte sexueller Begierde auftreten, ist das Ausdruck fortdauernder patriarchaler Strukturen, Beweis der anhaltenden Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen. Sollen die Männer in ihren Pornos doch unter sich bleiben. Das fände ich okay.“

„Schwulenpornos? Lässt du da nicht die komplette Gender-Debatte der letzten Jahrzehnte außer Acht? Ich finde deine Überlegungen ziemlich inkonsequent. Mal angenommen, Frauen haben früher keine Pornos geguckt, weil das eben als so ein Männerding galt, heißt das ja noch lange nicht, dass nicht auch Frauen Pornos gut finden, wenn es dann mal eine andere Art Pornos gibt, die mehr so ein Frauending wäre. Du gehst aus irgendeinem Grund davon aus, dass es diesen Naturzustand gibt, bei dem Männer gern Pornos sehen und Frauen nicht. Dass Frauen meinen, sie würden nicht gern Pornos sehen, könnte ja auch eine Folge der Unterdrückung sein. Und überhaupt: Die Männer in den Pornos prostituieren sich doch auch. Sind das dann auch unterdrückte Männer?“

„Klar, das Patriarchat unterdrückt auch die Männer. Die sind genauso deformiert wie wir Frauen.“

Schwer zu sagen, warum ich mich von Ninas Argumentation angegriffen fühlte, aber es war so. Vielleicht weil ich im Unterschied zu ihr schon hin und wieder Pornos schaue und mich deshalb vielleicht schuldig fühlen sollte. So wie ich eigentlich weniger oder gar kein Fleisch mehr essen, nicht mehr mit dem Auto fahren, auf das Fliegen verzichten und nur noch fair trade einkaufen, keinen Raubbau an der Natur und keine Kinderarbeit unterstützen sollte usw., sollte ich wahrscheinlich auch aufhören Pornos zu schauen. Den Frauen zuliebe, für eine bessere Welt. Dummerweise hatte ich das dringende Gefühl, dass bei mir der Spaß beim Sex aufhört. Hatte der Feminismus für mich eine empfindliche Grenze erreicht, wenn es darum ging, mir meine Lust zu verbieten? Die Lust an schönen Frauen. Die Lust an Frauennasen, Frauenohren, Frauenaugen, Frauenhaaren, Frauenhüften, Frauenhintern – aber auch an Brüsten und Vulven. Was sollte schlecht an diesen Gelüsten sein?

„Niemand will dir deine Lust an den Frauen austreiben. Auch wenn ich es ein wenig verletzend finde, dass dir die eine anzuschauen anscheinend nicht ausreicht.“

Ich hatte da so meine Zweifel und zog mich erstmal zum Nachdenken in mein Zimmer zurück.

Es gibt eine ganze Menge guter Argumente, die gegen Pornografie sprechen: Ist das nicht eine sehr entfremdete Form von Sexualität? Eine ohne Anfassen, ohne Beziehung, ohne echtes Begehren? Werden die Darstellerinnen und Darsteller nicht wirklich ausgebeutet? Haben die Spaß bei ihren stilisierten und manchmal höchst absurden Darbietungen und Verrenkungen? Sind das glückliche Menschen? Muss man nicht einen psychischen Defekt haben, um sich derart zu exhibitionieren? Wie hoch ist die Selbstmordrate unter Pornodarstellerinnen? Wie verbreitet der Drogenkonsum? Was haben Pornos überhaupt mit echter, erfüllender Sexualität zu tun? Sind das nicht falsche Vorbilder? In der Mehrzahl frauenfeindliche Akte? Darstellungen erniedrigter Frauen, die abwechselnd in Arsch und Mund gefickt, gefesselt, deren Gesichter mit Sperma und Pisse bespritzt werden? Alles das schaue ich mir auch nicht gerne an. Was aber wären dann schön anzusehende Pornos? Und wer sollte sie machen? Am ehesten noch authentische Sexfilme mit echter Zärtlichkeit und echten Orgasmen. Pornos von Frauen. Mal abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen kann, selber in einem Pornofilm zu spielen, den dann Freunde, Kollegen und Bekannte anschauen können, ließe sich vielleicht dennoch eine zukünftige Gesellschaft denken, in der es normal ist, sich  – unter Freunden? – gegenseitig privat produzierte Filmchen zu zeigen oder nach dem gemütlichen Abendessen gegenseitig dem vergnüglichen Beischlaf beizuwohnen. Warum sollte die schönste Sache der Welt nicht auch die öffentlichste sein? Woher kommt dieses Tabu eigentlich? Ist das nicht auch ein zutiefst patriarchalisches? Der Mann sagt: Das ist meine Frau, die gehört mir. Niemand soll sie ansehen können. Die ist nur zu meinem eigenen Vergnügen da. „Ja, soll denn etwas so Schönes nur einem gefallen? Die Sonne, die Sterne gehör’n doch auch allen.“ So jedenfalls heißt es in einem berühmten alten Schlager. Ich fand zunehmend Gefallen an dem Potenzial an Toleranz und Liberalität, das in Sachen Sex in mir zu schlummern schien. Dann jedoch kam mir wieder Ninas Vortrag zu notwendigen und hinreichenden Bedingungen in den Sinn. Private Pornofilme tauschen und sich gegenseitig beim Live-Sex zu beäugen, sind ja nur hinreichende Bedingungen für sexuelle Liberalität. Wo das bloße Zuschauen hinreichend sein mag, reichen Mitmachen, Partnertausch und zügellose Promiskuität am Ende nicht weniger hin. Das wäre dann eine bedingungslos hin- und herreichende Bedingung. Nina würde ich ganz bestimmt nicht hin- und herreichen wollen. Weil ich eben immer noch ein waschechter Patriarch mit unumstößlichen Besitzansprüchen bin? Wenn ich als guter (männlicher) Feminist gelten wollte – müsste ich da nicht einerseits auf Pornos verzichten, aber andererseits auch jeglichen Besitzanspruch gegenüber Nina fallen lassen und ihr also vollkommene sexuelle Freiheit gewähren? Weil ich wusste, dass Nina diese Form sexueller Libertinage noch viel grauenhafter finden würde, als mit einem Halb-Feministen zusammenzuleben, der potenziell frauenverachtende Pornos guckt, trug ich ihr am nächsten Tag meine streng logischen Überlegungen vor, in der stillen Hoffnung, sie am Ende doch noch dazu zu bewegen, endlich mit dem empirischen Teil ihrer Forschungen zu beginnen.

„Meinst du das ernst?“

„Es ist nur eine rein theoretische Überlegung. Genauso, wie du rein theoretisch über Pornos nachdenkst, ohne sie dir anzusehen.“

„Natürlich könnte ich mit anderen Männern Sex haben, wenn ich das wollte. Wie solltest du mir das verbieten können? Aber würdest du es wollen, nur damit du dich nicht als Patriarch fühlen musst und du dir so deine Liberalität beweisen kannst?“

„Nein, natürlich nicht. Aber wäre das nicht die logische Konsequenz aus deiner Forderung, Pornos zu verbieten? Jedenfalls unter der Voraussetzung, dass kein Weg daran vorbeiführt, dass Männer nun mal gerne Frauen ansehen? Frauen, überhaupt Menschen beim Sex zusehen wollen? Sex-Fantasien haben?“

Wie erbärmlich, notleidend, meiner eigenen Sexualität ohnmächtig ausgeliefert ich mich bei diesen Sätzen fühlte! Was sollen wir armen Männer denn machen? Ohne Sex sind wir doch nur halbe Menschen. Viertel-Menschen. Minder-Menschen. Soll es denn bald gar kein Erbarmen für uns, das schwache Geschlecht, mehr geben? Nina schaute mich mit einem schwer zu deutenden Blick an. Irgendwas in dem breiten Spektrum zwischen echtem Bedauern und triumphierender, vernichtender Ironie. In meiner aufwallenden existentiellen Verzweiflung gelang es mir nur noch halb- oder viertelwegs Ninas nun folgenden Ausführungen zu folgen. Ich erinnere mich nur noch an einen Satz, der ungefähr folgendermaßen lautete: Es gebe eine besondere Form des logischen Denkens, das vor allem Männern eigne, eine Logik der Sachzwänge, eine Wenn-Dann-Logik der Konsequenz in einer hypothetischen, unterkomplex konstruierten Immanenz, eine Vergeltungslogik, mit der im schlimmsten Fall sogar Kriege gerechtfertigt werden. Wenn ich besser verstehen würde, was sie damit gemeint hat, würde ich es wahrscheinlich überzogen finden.

Letzte Nacht ist Nina sehr spät zu mir ins Bett gekrochen. Und heute Morgen sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln, sie habe sich gestern dann doch entschieden, die eine und andere Sache mal genauer in Augenschein zu nehmen. Leider weiß ich jetzt nicht mehr, wie ich das finden soll. Ich möchte das einfach nicht konsequent zu Ende denken.

Longue durée

Es ist ein von der Neugierde angetriebenes, mithin natürliches Bedürfnis, Entdeckungen zu machen, im Unbekannten oder Unverstandenen das Neue als Ereignishaftes zu erkennen. Das Ereignis sticht als Besonderes aus dem scheinbar Stillstehenden bzw. Undifferenzierten, Wabernden heraus. In seiner Unterschiedenheit von dem Zusammenhängenden, aus dem es für den Erkennenden aufgrund seines Interesses, seiner zielgerichteten Neugierde herausstach, beansprucht das Erkannte schon in seiner Benennung als ein bestimmtes Faktum Sinn als Singuläres aus dem Ganzen für das Ganze.

Das Ereignis setzt als Beobachtetes eine Marke in der Zeit und damit in der untersuchten Sache.

Der wissenschaftliche Blick auf die Ereignisse, die vor allem anderen den Geist erregen und zu wertvollen Erkenntnissen bringen, ist notwendig und legitim, weil er immer auch zu fruchtbaren Fortschritten führte.

Der wissenschaftliche Positivismus heute macht aus der menschlichen Neugierde, der Begierde auf das isolierbare Ereignis ein wissenschaftstheoretisches Gesetz, das ausschließt, was sich nicht unter das Ereignishafte, eben die Menge des isoliert Beobachtbaren subsumieren lässt. Die naive Prämisse, die hinter der Forderung nach Falsifizierbarkeit in der strengen Wissenschaft steckt, schließt ganz unbegründet von vornherein aus, dass die untersuchten Dinge oder Sachverhalte als komplexe Zusammenhänge ihre Ursachen rekursiv aus ihrer Komplexität beziehen können. Die begriffliche Verbindung von „Ursachen“ und „rekursiv“ verdeutlicht, dass damit der Begriff der Ursache aufgelöst wird, jedenfalls aus der Perspektive des naiven Denkens, wonach ein Ereignis gemeinhin nur eine oder eine überschaubare Anzahl von Ursachen haben kann, demnach komplexe Zusammenhänge nicht ihre eigenen Ursachen sein können. Diese dem wissenschaftlichen Denken zugrunde gelegte Überzeugung rührt aber von der besonderen Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins her, das seine Welt mit den Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität betrachten muss. Das Bedürfnis, immer zunächst das Komplexe verstehen zu wollen, wäre als Anlage für den Menschen evolutionär ja auch nicht erfolgversprechend gewesen.

Der Umkehrschluss, es gebe keine wahre Erkenntnis, die sich nicht vorweg dem Diktat der Kausalität unterwirft, ist damit jedoch keinesfalls gerechtfertigt, schließt ohne jede Begründung alles das aus, was gerne mit dem Begriff der Emergenz versehen wird, einem Synonym für das noch Unerklärte, für Phänomene ohne klare Ursachen.

Unter Laborbedingungen werden in der Hirnforschung nur bestimmte, isolierbare Ereignisse beobachtbar und quantifizierbar. Die Untersuchungen werden jeweils so angelegt, dass sie Ereignisse, Marken in der Zeit, hervorbringen. Die beobachtete Veränderung zuvor isolierter Parameter wird als Lernen oder Vergessen des neurologischen Systems wohl unleugbar beschrieben. Kaum zu leugnen sind auch die mess- und visualisierbaren Zusammenhänge in der Kollektion der beobachteten Parameter. Auch über die Motiviertheit dieser Kollektion sind Zweifel wohl nicht angebracht. Schon aber diese Motiviertheit des wissenschaftlichen Beobachtungsrasters gehört nicht mehr allein ins Reich der Falsifizierbarkeit, sondern speist sich aus Erwartungen, die von lange dauernden, komplexen Gedächtnisprozessen der Forscher und der Forschungsgemeinschaft herrühren.

Die Naivität des wissenschaftlichen Positivismus bzw. derjenigen, die diesen verblendet als ausschließliche Methode betreiben, offenbart sich vor allem dann, wenn die Ereignisse der Erkenntnis, die gewonnenen Daten kurzum zu Hebeln der Einwirkung auf die komplexen Systeme umgemünzt werden, aus denen sie gewonnen wurden. „Unter der Voraussetzung X lernt das System Y nachhaltiger als unter der Voraussetzung Z“: Diese Erkenntnis verleitet die Wissenschaftler zu banalen Hochrechnungen, nach denen alle Systeme Yn unter der Voraussetzung X zu quantitativ (nur im Hinblick auf ihre Nachhaltigkeit auch qualitativ) besseren Lernergebnissen gelangen.

Gemessen an der Komplexität und Kapazität lernender Systeme dürfte die Voraussetzung X im wirklichen, d.h. gesellschaftlichen und natürlichen Lebensvollzug immer in ein Medium oder System von Voraussetzungen eingebettet sein, das eine beinahe endlose Kombination an Voraussetzungen aus der Menge des Alphabets darstellt.

Wenn und während X den Inhalt Y lernt, lernt X zugleich eine nicht beobachtete Unzahl anderer Inhalte. Zugleich muss davon ausgegangen werden, dass X im beobachteten Zeitraum sich in ein anderes, mindestens X1 verwandelt. Während das eine beobachtete Ereignis zu einer bestimmten beobachteten Veränderung im System führt, verändert sich das Komplexe mit seinen kosmischen Dimensionen als Unbeobachtetes aufgrund unbeobachteter oder sogar unbeobachtbarer Vorgänge, die für das menschliche Bewusstsein gar nicht den Status von Ereignissen erlangen können.

Mittelbar – vermittelt nämlich durch die bis in feinste Verzweigungen ausdifferenzierte Sprache – haben sich die Geisteswissenschaften diesen Vorgängen zugewandt, in der Hermeneutik vermutlich angemessener als in der strengen Wissenschaft, als die Husserl die Philosophie, Paradedisziplin der Geisteswissenschaften, gerne gesehen hätte.

Gehirne werden aufgrund der Beobachtung ungemein schneller kognitiver Prozesse fast ausschließlich im Hinblick auf Ereignisse in kurzen Intervallen untersucht. Geht es um Erkrankungen, werden auch länger dauernde Prozesse interessant, dann aber vor allem die gut beobachtbaren physiologischen.

Was jedoch ist mit den lange dauernden Prozessen im Hirn eines Menschen, der im Alter von vielleicht fünf Jahren in einem Moment des Erfolgs und des Glücks von der Mutter einen wie auch immer zu erklärenden hasserfüllten Blick erntete? Wie lange und bis in welche Synapsen hinein wirkt dieses Erlebnis? Wie wird es psychisch und physiologisch überhaupt zum Erlebnis? In welchem Maße bestimmt es die „Bildung“ dieses besonderen Menschen? Welches Gewicht haben die Millionen Wahrnehmungen und Denkprozesse, die langfristig unbewusst bleiben und weder die Kraft hatten, in den Status von ERLEBNISSEN zu gelangen noch je zu wissenschaftlich isolierbaren EREIGNISSEN zu werden, aber als wirksam betrachtet werden müssen? Was ist – mit einem Wort – Bildung im Verhältnis zum überprüfbaren Lernen? Welche Ziele und Methoden sollte demgegenüber die Lehre haben, die Bildung bewirken will?

Alle diese Fragen zielen auf die lang andauernden Prozesse, bei denen das einzelne Datum als künstlich Isoliertes zerfließt in den mit anderem verwobenen rekursiven Prozessen, in denen das Hirn sich strukturiert und den Input, mit dem es einmal umgegangen ist, nach und nach verwandelt. Diesen Prozessen verwandt ist das Verstehen als kontrollierter Bewusstseinsprozess in der Hermeneutik. Im übertragenen Sinne parallel verlaufen so vermutlich die psychischen Vorgänge – unbewusste, vorbewusste wie bewusste – zu den hirnphysiologischen.

Urteile – auch moralische – über die Wirklichkeit entspringen den lang andauernden komplexen Wahrnehmungen, den damit verbundenen Reflexionen, der unbewussten Verarbeitung (Denken im Sinne einer Gesamtheit psychisch-biologischer Prozesse), den gesellschaftlich und sprachlich vermittelten Sinnkonstruktionen der psychischen Systeme, in denen kaum ein Datum oder ein Bit eine berechenbare Ursache für einen Sinn, ein Urteil oder eine Überzeugung darstellen. Die Leistungsfähigkeit und die Resultate des Denkens sind strikt zu unterscheiden von den wissenschaftlichen Einsichten in die Gebundenheit des Denkens an physiologische Vorgänge. Aus der fragmentarischen Beobachtung isolierter bzw. begrenzt komplexer Vorgänge im Hirn erwächst kaum eine Erkenntnis für den Lebensvollzug, die nicht schon ohne sie und lange vor ihr gefunden worden wäre, und ohnehin in beiden Fällen in Sprache gefasst und in den unberechenbaren Diskurs geworfen werden muss. Die Schlüsse, die Hirnforscher aus ihren Erkenntnissen für Lernen, Erziehung und Bildung ziehen, sind daher fast durchweg banal, selbstverständlich und in die Geisteswissenschaften längst integriert, viel schlimmer: Sie sind fast alle haarsträubend naiv in ihrer Unkenntnis dessen, was in den Geisteswissenschaften bereits geleistet wurde – nur neue naturwissenschaftliche Nano-Schläuche für den alten Wein der nicht-falsifizierbaren Geisteswissenschaften.

Vater des Gedankens

Die Erfolgsgeschichte des wissenschaftlichen und technologischen, überhaupt des zivilisatorischen Fortschritts scheint zugleich eine der institutionalisierten Bildung zu sein. Ob als Korrektiv oder als Beschleuniger hatte die schulische Bildung von Anfang an die Aufgabe, die im Zuge der bahnbrechenden Erfindungen und Entdeckungen von Dampfmaschine bis Verbrennungsmotor, von Elektrizität bis Elektronik, von Chirurgie bis Virologie, vom Atommodell bis zu Kernspaltung (usw.) explodierende Dynamik technologischer Ausdifferenzierung zu kontrollieren, sie gezielt zu hemmen oder zu befeuern, je nachdem ob sie als beängstigend oder berauschend empfunden wurde. Den großen Erfindern sollte eine kenntnisreiche Armee an kleinen Erfindern zur Seite gestellt werden, diesen gegenüber die Bewahrer überlieferter Kultur und mit ihnen folgsame Wachmannschaften. In der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft wiederholt sich das Verhältnis von zügellosem technologischen Fortschritt einerseits und bremsender Metakognition (die, als Reflex der nach wie vor geltenden Überzeugung, bei allem Fortschritt gehe es doch immer um „den Menschen“, den Anspruch erhebt, dem schnell wachsenden Geschwür Grenzen und legitime Expansionsgebiete zuweisen zu können) bis ins kleinste Element hinein, wie bei der im grafischen Fraktal visualisierten Mandelbrot-Menge, dem Apfelmännchen.

Parallel zur sozialen und technologischen Differenzierung differenzierte sich auch das Bildungssystem aus, nicht als vages Abbild des Ganzen, sondern als Fabrikationsstelle zur Bereitung der für den Fortschritt für unabdingbar gehaltenen Kompetenzträger: energetische Quellen für’s Antreiben und Zügeln des sichtbar gewordenen Fortschritts, der wie ein lebendiges Wesen zu züchten, zu trainieren und zu bändigen erscheint, seit sein Organismus, sein Herz-Kreislauf-System seiner gestiegenen Geschwindigkeit wegen – spätestens im 19. Jahrhundert – wahrnehmbar geworden ist. Aus der parallelen Entwicklung von sozialer, wissenschaftlicher und technologischer Differenzierung mit einem immer weiter veränderten, nämlich stetig reformierten Bildungssystem beziehen Schule und Universität ihr Selbstbewusstsein, eigentlich ihre Selbstsicherheit, weil sie ein Bedingungsverhältnis unterstellen: Ohne sie müsste der Fortschritt ins Stocken geraten oder sogar ganz zum Erliegen kommen. Mit welchen Ängsten und wie misstrauisch das Bildungssystem als konstitutives Element des Fortschritts beäugt wird, lässt sich daran ermessen, mit welcher Gewalt – trotz Abschaffung der Prügelstrafe – noch immer den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen beizubiegen versucht wird, was als Wissen und Kompetenz im funktionalen Ganzen für unentbehrlich gehalten wird. Interessant ist demgegenüber, dass die Unternehmen und Forschungsinstitute fortgesetzt die Dysfunktionalität des ihnen überlassenen Humanmaterials beklagen und sich genötigt sehen, bei der Ausbildung sogar vieler Grundlagen selbst Hand anzulegen.

Den Lehrern und Ausbildern, die sich noch der humanistischen Tradition Humboldts halbherzig verpflichtet fühlen, ist das ganz recht, denn sie gehören zu den Bewahrern und Zügelnden, die ihre Zöglinge ja gerade nicht als Rädchen einem sich blindwütig selbst herstellenden Räderwerk überlassen wollen, das den Wert des Einzelnen nur in seiner Funktionalität für das Ganze sieht, mithin den Menschen seiner Würde, seiner Freiheit beraubt. Angesichts der funktionellen Minderwertigkeit vieler Absolventen kann sich der Humanist immerhin einbilden, er habe, abseits des Funktionalismus, seine Zöglinge noch halbwegs zu einem aufgeklärten Selbstbewusstsein verholfen, sie zu sich selbst befreit.

Die anderen, die – allerdings auf dem anderen Auge blind – den ideologischen Selbstbetrug der Humanisten ahnungshaft durchschaut haben, ziehen in der Schule und in den Universitäten die Daumenschrauben nur umso fester an, als ließe sich die Effizienz der Ausbildung im Verhältnis zu der sich weiter beschleunigenden gesellschaftlich-technologischen Entwicklung immer weiter steigern. Die darin sich ausdrückende – durchaus ehrliche – Sorge hat in der Hauptsache eine ideologisierende Wirkung, die nämlich, in die jungen Hirne nachhaltig die Überzeugung zu verankern, es gehe in ihrem individuellen Leben darum, nur sich fortgesetzt selbst optimierende Funktion im undurchschaubar komplexen funktionalen Ganzen zu sein. Noch das diese Überzeugung begleitende Unbehagen der Beschulten, das von einem instinkthaften Wissen um die eigene Kreatürlichkeit und wesensmäßige Freiheit herrührt, wird (Hegels unglücklichem Bewusstsein ähnlich) als Ungenügen an den für legitim gehaltenen Forderungen an ihr Funktionieren gedeutet. Wo diese Ideologie total geworden ist, weil die Deutungshoheit des sich seiner selbst unbewussten Systems bis in die Individuen hineinreicht, die die äußeren Zwänge über das Gefühl der Sorge – empathisch, imitierend – zu den eigenen gemacht haben, ist das zentrale Ziel des Bildungssystems erreicht: Selbst wer in der Schule oder im Studium an den in „Aufgaben“ verwandelten Inhalten scheitert, weil der letzte und immer noch beste Selbstschutz das Vergessen des Zugemuteten ist, hat doch als fortdauerndes schlechtes Gewissen über die eigenen Unzulänglichkeiten die unbezweifelbare Notwendigkeit verinnerlicht, seine Bestimmung nicht in der Teilhabe als Subjekt am objektiven Ganzen, sondern allein in der fügsamen Verschmelzung mit dem Ganzen zu finden, indem er die eigene Autonomie an dieses abtritt. Und wo sich im Subjekt noch Widerwille oder gar Verzweiflung regt, werden diese Gefühle als persönliche Schwäche, als charakterliche Unvollkommenheit, Krankheit, als rätselhafte Fehlfunktion gedeutet. Das Rückzugsgebiet, das reflektierte Subjektivität immer noch darstellt, bietet in seinem ohnehin schon kleinen Reich Raum nur noch für Überlegungen, wie die individuelle Autonomie bis zur völligen Reibungslosigkeit, bis zur Bewusstlosigkeit optimiert werden kann. Selbstbewusstsein ist zum Störfaktor geworden – nicht mehr nur für das gesellschaftliche System, auch für die Subjekte selbst. Es muss in Trance versetzt werden – mit Wellness, Meditation, Sport, Unterhaltung.

Gelänge es tatsächlich, die Reibflächen zwischen Subjekt und objektiver gesellschaftlicher Wirklichkeit optimal zu schmieren oder die Einzelnen wie zum Beispiel kleine Metallkugeln in ein vieldimensionales Kugellager einer großen Fortschrittsmaschinerie einzubinden, könnte auch alles gut sein: In einer zukünftigen schönen neuen Welt wird es – nicht nur medizinische und mediale – Technologien geben, die das widerständige Subjekt beruhigen können ohne es ganz und gar auszulöschen. Vielleicht sogar für alle Menschen auf dieser Erde? Ein Wettlauf mit der Zeit und den irdischen Ressourcen, der möglicherweise zu gewinnen ist? Der gegenwärtige, sich immer weiter beschleunigende technologische Fortschritt ist wie ein riesiges Versprechen. Auf welchen anderen Gott könnten wir sonst noch hoffen, als auf das, fortschreitend in der Zeit, zur Allmacht hin sich selbst verwirklichende, überindividuelle System, das Materie und Geist in ferner Zukunft ganz zu versöhnen verspricht?

Dermaßen hat sich das Schulehalten mittlerweile zum Gottesdienst zurückgebildet, als das es – in gewisser Weise – als klösterliche Lateinschule einmal begonnen hat. Das Credo ist der sich selbst verwirklichende technologische Fortschritt, dem alles in Subsystemen (bis hinunter zu den psychischen Systemen) untergeordnet ist, die Geißeln, die die religiösen Gesetze spürbar werden lassen, der Unterricht selbst – für Schüler wie für Lehrer.

Dieser neue Gott duldet keinen Gott neben sich. Und so arbeiten die Geistes- und Sozialwissenschaften ihm längst nur noch zu, statt ihn kritisch zu kontrollieren. Ohnehin war die Hoffnung, ihn unter die Herrschaft der Vernunft zwingen zu können naiv, berechtigt darum schon die Befürchtungen, die zur Gründung der humboldtschen Lehranstalten führten.

Wie wenig Vernunft die Schulen und Universitäten noch hervorbringen oder je hervorgebracht haben, ließe sich experimentell erkunden: Gäbe der Staat seine Hoheit über die Schulen und Universitäten auf und striche auch die Schulpflicht aus dem Gesetz, würde die Gesellschaft, dieses ausdifferenzierte System aus Subsystemen, das Subsystem Bildung in kurzer Zeit rekonstruieren und mit großer Sicherheit weitaus effektiver gestalten, weil der auf Funktionalität schielende Zugriff auf bereits vorgeprägte Kompetenzen sehr viel früher und zielgerichteter geschehen könnte, dem Anschein nach sogar humaner, denn es würde darum gehen, die Stärken der Individuen zu fördern und die Schwächen da zu ignorieren, wo sie sich für die funktionale Zuordnung, und das Funktionieren überhaupt, nicht hinderlich auswirken. Lesen, Rechnen, Schreiben blieben die zentralen Grundlagen, darüber hinaus aber müsste nicht mehr jeder alles in der Schule lernen, was derzeit nur noch fadenscheinig als für die Allgemeinbildung unverzichtbar postuliert wird. Die auf bloßes Allgemeinwissen heruntergekommene Allgemeinbildung besorgt auch heute schon ein weit gefächertes, medial organisiertes Edutainment weitaus zuverlässiger als der Schulunterricht. Die Zurichtung der Individuen für die ihnen fremden Zwecke gelänge – und gelingt schon längst – ganz ohne die Schulen, wie wir sie kennen und für nötig halten. Was an Resten emanzipatorischer Bildung in den Schulen noch zu vermitteln versucht wird, hat schon immer nur die Form des Appells gehabt, der den Inhalten nur angeheftet wurde, ohne dass sich aus den Inhalten selbst und aus der Reflexion darüber vernünftige Urteile und Moral ergeben hätten. Das, woraus sich aufgeklärte Subjektivität, kritischer Verstand, Vernunft und Moral bilden könnten, die Individualität, die frische, überbordende Kreativität bei der Welterkundung, die Selbstentdeckung in der mußevollen und oft scheinbar ziellosen Reflexion, die Lust an Spiel, Experiment und am eigenen Körper, die übermütigen Grenzerkundungen wurden in der Schule immer schon der Disziplin, der Ruhe, dem Stillsitzen, der Systematik des Lehrens und den Lernkontrollen geopfert.

Dabei sind die Bemühungen der Lehrerinnen und Lehrer ja durchaus ernst- und gewissenhaft. Sie haben den Kindern und Jugendlichen etwas beizubringen. Und dass dies wirklich gelingt, soll messbar sein. Mit den mindestens befriedigenden Ergebnissen der ihnen Anvertrauten liefern sie den Nachweis dafür, dass das immer umfassender werdende Bildungssystem den Fortschritt der ganzen Gesellschaft sichert. Gelingende Bildung ist die Wurzel unseres Wohlstandes, heißt es. Misslingt die Bildung, ist der Wohlstand (qua Fortschritt durch Technologie, Wissenschaft und Wirtschaftswachstum) im Kern bedroht. Mindestens entsteht ein sogenannter Wettbewerbsnachteil.

Darum stehen Unterricht und Schule immer mehr unter der Fuchtel von (Unterrichts-) Technologie und wissenschaftlicher Transparenz, die Lehrerinnen und Lehrer glauben unter dem Druck und der Verantwortung ihrer Aufgabe sich die Erfolgsrezepte des technologischen Fortschritts zu eigen machen zu müssen und vermehren dadurch doch nur die Quälerei – für sie selbst wie für die Schülerinnen und Schüler, die sich immer früher danach sehnen, sich endlich (wo auch immer) als Rädchen im großen Getriebe einrichten zu dürfen, wo sie sich mehr Ruhe und weniger Gängelung erhoffen.

So ausgeklügelt und überzeugend die wissenschaftlich ausgearbeiteten Stundenentwürfe für den Unterricht, als Beispiele für die allgemeingültige Technik des Lehrens, auch wirken mögen, die sich die auszubildenden Lehramtsanwärter zum Vorbild nehmen, so resistent erweisen sich die hölzernen Werkstücke, denen lange Nasen wachsen, weil sie die Gelehrsamkeit nur heucheln – und heucheln müssen. Bald ist das mühsam Gelernte wieder vergessen, Pinocchio neugierig vom Weg abgekommen. Was dagegen mühelos hängenblieb, hätte der methodisch versierten Lehre kaum bedurft. Und diejenigen, die im emphatischen Sinne als „Gebildete“ die Schule oder die Universität verlassen, haben meist trotz und nicht wegen der Schule früh genug zu fruchtbarer Autonomie gefunden. Ihnen reichten allenfalls einige der Inhalte, die ihr Interesse wecken konnten. Schon die Methoden der Vermittlung waren kaum von Belang. Dass die Mittelmäßigkeit der Vielen immer schon am meisten über die Qualität der Schule verrät, die gelungene Bildung der Besten jedoch gar nichts, war schon immer bekannt. Dennoch misst die Schule ihren Erfolg ungern an den Mittelmäßigen und den Versagern und viel lieber an den Erfolgreichsten. Zugleich zielen die Unterrichtstechnologien auf die Mittelmäßigen, ohne dabei überzeugende Ergebnisse zu zeitigen, die Fortschritt indizierten. Das Versagen wird den Versagern selbst zugeschrieben, ihrer Dummheit oder ihrem bösen Willen. Wie seltsam, dass sich dennoch die Mär von der Essentialität des Bildungssystems für den Fortschritt so hartnäckig hält und alle Welt mit Sorge auf die Bildung der nachwachsenden Generationen blickt. Immer schon war nur der Wunsch Vater des Gedankens, die Phantasie nämlich, man habe an entscheidender Stelle alles unter Kontrolle. Noch nie aber war – das ist vielleicht etwas holzschnittartig gesprochen – das Bildungssystem der Motor des technologischen und wirtschaftlichen Fortschritts, nie das Instrument vernünftiger Steuerung künftiger Entwicklungen, als das es immer noch gern ausgegeben wird („Unsere Zukunft ist die Bildung unserer Kinder!“)

Das Bildungssystem hatte immer nur marginal etwas mit Fortschritt und Wirtschaftswachstum zu tun, nachdem es im 19. Jahrhundert tatsächlich mit großer Wirkung die Zahl der Hochschulabsolventen vervielfacht und damit die Wirtschaftskraft in Deutschland ganz enorm befeuert hatte. Mit der gymnasialen Ausbildung und dem daran anschließenden Studium waren neue Kanäle geöffnet worden, Zugänge zu den Instrumenten der Technologisierung und Rationalisierung. Damals wie heute hat das Bildungssystem jedoch kaum etwas mit wahrer Bildung zu tun, wenn man mit Bildung reife, kritische Subjektivität, Vernunft und Moral verbindet. Verdienstvoll zeigen sich Schule und Universität heute vor allem darin, dass sie absichtslos die Nachwachsenden erfolgreich für ihre Selbstaufgabe trainieren und ihren Glauben an den neuen Gott festigen.

Unterdessen überspült der technologische Fortschritt, eigentlich das autonom gewordene und darum von keiner zivilen Macht zu bändigende globale Gesellschaftssystem, der sich selbst erzeugende und selbst erhaltende, sich von menschlichem Bewusstsein – und mehr noch: dem Unbewussten – ernährende Golem, die Grenzen der Subjektivität, im Begriff, als Sintflut alles Leben, allen Geist zu ertränken.

Ameisen mit dem Strom

Der Spruch, man solle nicht mit dem Strom schwimmen, oder auch nur das im Ton zarten Protestes geäußerte Bekenntnis, man schwimme nicht mit dem Strom, hat ausgedient, seit jedem halbwegs gescheiten Menschen klargeworden ist, dass gegen den Strom zu schwimmen längst nicht mehr mit irgendeiner Anstrengung verbunden ist: Schwimmt man nicht mit diesem Strom, schwimmt man eben mit einem anderen. Es liegt auch gar keine Anfechtung mehr darin, sondern ist ein Reflex der sogenannten Meinungsfreiheit, die kaum noch mehr meint als eben diejenige Freiheit, die dem einen diese und dem anderen eine beliebig andere Meinung gewährt – keine saure Übung in Toleranz ist damit verbunden, nur Isolation der zum geistigen Stillstand tendierenden Individuen. Dabei ist die Melange aus Desinteresse an der Meinung anderer und ängstlicher Einhegung der eigenen Meinung die beste Voraussetzung dafür, wie ein Korken auf dem breiten Strom hinabzutreiben, der dann endlich doch nur eine Richtung kennt.

Der heimliche Totalitarismus, der in den unbewussten Köpfen nistet, weil in falscher Toleranz niemand mehr ernsthaft noch die dümmste Ansicht eines anderen zu zerpflücken wagt und die eigene Identität zu schützen sucht, indem er seine Meinungen nicht einmal mehr dem eigenen Verstand zur Prüfung vorlegt, hat – als ideologischer Bastard aus Golem und Leviathan – im flüchtigen Vergleich Ähnlichkeit mit dem, den wir gerne den Ameisenvölkern unterstellen. Der Ehrfurcht, die der gewaltige Ameisenbau einfordert, weil kein Herrscher einen Befehl erteilt und kein Architekt den Plan dafür erdacht hat, und doch alle emsig und scheinbar zielstrebig an seiner Vollendung und seiner funktionellen Instandhaltung arbeiten, folgt die bemitleidende Überheblichkeit derer, die sich im Besitz von Verstand und Bewusstheit wähnen, weil sie nicht bloß ein unbewusstes und genetisch vorgeprägtes Programm abspulen, wie die kleinen Krabbeltiere, sondern denkend über ihr eigenes Ich, als Gegenwärtige über Vergangenes und Zukünftiges stolpern – darum Pläne schmieden, Allianzen bilden, gegen Ströme schwimmen können.

Wer als Kind oder auch als neugierig gebliebener Erwachsener sich einmal für die Wege vereinzelter Ameisen interessiert hat (und die, die vom Wege abkamen, sind immer die sympathischsten gewesen), weiß um die anscheinend unsinnigsten Abwege, die sie nehmen können. Wie orientierungslos laufen sie abseits der Straße, wo die Masse wandert, wenn man sie als Masse betrachtet. Sie laufen quer, ein Stück vor, ein Stück des Weges zurück, irren umher, als suchten sie etwas, finden zuweilen sogar etwas, das sie mühsam ein kleines Stück zu tragen beginnen, bald wieder verlieren und sofort vergessen oder ignorieren, bis zufällig eine andere die Arbeit fortsetzt. Manch eine Ameise unternimmt eine weite, sinnlose Reise, die zu verfolgen dem Betrachter die Geduld fehlt, ahnend, dass sie von der Art sei, die sie an einem nahen oder fernen Sommertag durch seltsame Geheimwege quer durchs Wohnzimmer führt, von wo aus sie zielstrebig die Küche mit ihren süßen Vorräten erobert. Ob nun Unbewusstheit, göttliches oder natürlich komplexes Programm oder ein der menschlichen Wissenschaft unzugängliches Bewusstsein das soziale Kunstwerk hervorbringt – Ehrfurcht gebietet die Unschuld der Ameisenvölker; noch dann, wenn sie sich bekriegen und neben Sammlern auch Jäger sind, vergleichbar mit dem „paradiesischen“ Menschentum vor dem Sündenfall.

Die Religionen haben einiges ersonnen, um die Menschen, nachdem sie vom „Baum der Erkenntnis“ gegessen hatten, zu erretten, nämlich die „Trennung von Gott“ aufzuheben. Dass Ich und Welt, Ich und die Anderen, Ich und Gott auseinanderfielen, ist aber schon deshalb kaum zu revidieren, weil das Ich seiner geistigen Natur nach von jeglichem anderen unterschieden bleiben möchte – und muss. Der Mensch wird nicht mehr zur Ameise – wenn er auch zugleich, umherirrend wie sein irdischer Lebensgenosse, Großes miterschafft, das extraterrestrische Beobachter gönnerhaft anerkennen mögen. Er irrt, reflexiv, auf höherem Niveau. Und plant, und koaliert, und widersteht – das sind jedenfalls einige seiner wichtigsten Fähigkeiten.

Und er schwimmt in einem breiten Fluss: Lethe.

Was, wenn es auf höherer Stufe, wie in einer dialektischen Versöhnung von Natur und Bewusstsein, ein neues Ameisenleben geben könnte, in dem die aufgeklärten Ameisenmenschen sich mutig und ungeschützt auf Abwege begäben, Meinungen und Überzeugungen nicht mehr gegen Argumente abschotteten und sich nicht mehr höflich von der peinlichen Blöße fremder Ansichten abwendeten? Würde nicht auch dann eine Straße, ein großer Staat erkennbar werden? Würden nicht alle in einem großen Strom schwimmen, in dem zu schwimmen sich lohnte? In dem die Schuld des Menschengeschlechts sich verringerte?

Über Kapitalismus und eheliche Zugewinngemeinschaft

Eine interessante wissenschaftliche Frage wäre, ob die Ehe, dieses als lebenslanges Bündnis gedachte Verhältnis zweier Menschen nun Henne oder Ei des Kapitalismus sind. Folgte das oberste gesellschaftliche Prinzip der Kapitalanhäufung der Notwendigkeit, dem ehelichen Bund und vor allem der Versorgung der daraus hervorgehenden Kinder eine verlässliche ökonomische Basis zu verschaffen, oder folgte das bis heute anhaltende goldene Zeitalter des Kapitalismus auf die sich nach und nach etablierende Formation der genetisch definierten Groß- und später zum Standard gewordenen Kleinfamilie? Das ist keine triviale Frage, weil von ihrer Beantwortung auch abhängt, ob die immer noch vorherrschenden in den Familienbund eingeschriebenen patriarchalen Strukturen eher eine Frucht der gesellschaftlichen Differenzierung in Familien sind, oder die eines Kapitalismus, der emergent aus den Beziehungen der wirtschaftenden, Tauschhandel treibenden und Werte anhäufenden Einzelnen hervorgegangen ist.

Für uns Heutige ist es nachgerade unhinterfragbar, dass zur Einrichtung des eigenen, selbstständigen Lebens die Sorge um die ökonomische Basis gehört, denn ein moderner „Jäger und Sammler“, der sich einfach bei allem Vorhandenen, spontan Vorfindlichen bediente, gälte in den Augen der Mehrheit als Dieb, Parasit, Aus- oder Freibeuter. Noch der ewige Single glaubt, er bedürfe langfristig eines gewissen Konvoluts an Eigentümern, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Und das geht weit über Dach, Koch- und Schlafstelle hinaus. Im Kleinen rekonstruiert er für sich allein, was einmal vor allem für den bürgerlichen Familienhaushalt konstitutiv und davor dem Adel vorbehalten war. Beinahe alle Produkte, die das kapitalistische Wirtschaftssystem hervorbringt, sind eingeflochten in das Gewebe, aus dem es besteht. Weder lassen sie sich wieder aus ihm herauslösen, um sie in das Sortiment eines neuen und ganz anderen gesellschaftlichen Gefüges in neuer Funktion und Wertung einzubinden, noch ließe sich ganz auf sie verzichten, weil ihre Abbilder zu ideellen Bausteinen der Subjekte geworden sind, weit mehr als nur Statusobjekte. Eigenheim, Auto, Einbauküche, Elektrizität, Wasserspülung, Heizsysteme, Computer, Musikanlage und Couchgarnitur stehen pars pro toto für das Ensemble von Einrichtungsgegenständen und Funktionen, mit denen wir die Puppenstübchen unserer begrenzten Lebenszeit auszustatten wünschen. Über sie, ihren Besitz und ihre private Verfügbarkeit definieren wir uns als Subjekte und verlinken sie kausal mit erhofftem Glück und Lebenserfolg. Das gelungene Leben ist eines, das nahezu Vollausstattung mit den verfügbaren Produkten suggeriert. Diesem Ziel sind alle Absichten und Tätigkeiten innerhalb der Familie untergeordnet, sogar das anfängliche Ehe- und Treue-Versprechen, nämlich als gegenseitige Absicherung für die gelingende kapitalistisch organisierte Zugewinngemeinschaft. Der Ehevertrag, der Einkommen und Besitztümer notariell differenziert und den jeweiligen Parteien im Vorhinein zuschlägt, ist demgegenüber kein Fortschritt. Vielmehr zeigt er die Fratze des Kapitalismus nur weniger verschleiert. Im Falle der Scheidung wird dann ja auch in der Zugewinngemeinschaft doch wieder aufgeteilt. Der Ehevertrag offenbart den berechtigten Zweifel an der romantischen Idee eines lebenslangen Liebesbundes, die immer noch als mystischer Grund der Eheschließung unterstellt wird. Deshalb bleibt der Ehevertrag auch weiterhin eine allgemein mit Argwohn betrachtete Seltenheit. Vergeht über die Jahre die Liebe zwischen den Partnern, unmerklich, weil sie der Gewöhnung und Verwöhntheit weicht, heißt es dann, die Paare müssten nun an ihrer Beziehung arbeiten, im besten Falle ihre Liebe wieder auffrischen, kennzeichnet gerade das Verb „arbeiten“ das kapitalistische Schema der Ehe: Es geht nur vordergründig um die Prolongation der Liebesgefühle, im Kern aber um die Sicherung von gemeinsam erworbenem Besitz, dem an Immobilien, Fahrzeugen, Möbeln, Ersparnissen, Versicherungen und Renten. Meist dienen die eigenen Kinder als Rechtfertigung für den Erhalt der familiären ökonomischen Basis. Für sie scheinen fast alle Objekte des Puppenhauses angeschafft worden zu sein, denn die Kinder brauchen ein Heim, in dem sie sich wohlfühlen und gedeihen können, das alle Widerstände für die gelungene Erziehung der Heranwachsenden buchstäblich aus dem Weg räumt. Das fängt beim warmen Bad an, in dem die Säuglinge nicht frieren müssen, und hört bei Smartphone und Playstation noch nicht auf. Sie wachsen auf in einem Umfeld, das ihnen zu verstehen gibt, es komme bei allem, was Familie, überhaupt Leben in der Gesellschaft ausmacht, auf die materiellen Bedingungen und die Verfügbarkeit so vieler Produkte wie möglich an, auf Luxus und scheinbare Befreiung von Arbeit. Das ist die Sicherheit, die ihnen als individuelle Vermögen emotionale Stabilität, Bildungsbereitschaft, schulische wie berufliche Zielstrebigkeit und Produktivität verschaffen soll. Das sind die Bedingungen zukünftigen Glücks. Sind die Kinder einmal aus dem Haus, wird das kapitalistische Familiensystem weder aufgekündigt noch neu strukturiert, obwohl es doch durch Liebe und insbesondere durch die Notwendigkeiten der Erziehung der Kinder legitimiert wurde. Gehen die Kinder ihre eigenen Wege und sind die herzlichen Liebesgefühle verflogen, setzt sich der Alltag in der ehelichen Gemeinschaft doch einfach und nicht wesentlich verändert fort. Gelingt es nicht, die einstige romantische Liebe wenigstens durch innovative und abwechslungsreiche Sexualpraktiken zu ersetzen und entstehen Missgunst, Verachtung und Hass aufgrund des ausbleibenden Glücks, kommt es vielleicht zur Trennung, wenn nicht Mattig- und Gleichgültigkeit die Oberhand gewonnen haben und allabendlich der Fernseher zum angenehmen Verweilen aufruft, oder welche medialen Angebote auch immer. Und jede Trennung, jede Scheidung wird vor allem als schmerzlicher materieller Verlust wahrgenommen, nicht als Trauer über die verlorene Liebe. Scheidungen sind in der Regel erbitterte Verteilungskämpfe, bei denen es gilt, möglichst vieler Anteile der ehelichen Objekte und Gewinne habhaft zu werden, weil sie als je eigener Verdienst rekonstruiert werden. Die Erniedrigung, die zumeist beide Seiten dabei empfinden, verdankt sich der vagen und beschämenden Erkenntnis, dass nicht Liebe, sondern Ökonomie das eigentliche Band gewesen ist, das alles zusammenhielt. Diese einfache, immer schon in den Hinterköpfen schwelende Erkenntnis wird nur deswegen selten zu einer klaren, weil wir gelernt haben, sie mit einer Schicht von Emotion zu überdecken, die ihre Anlässe aus den Idealen bezieht, die ihrerseits schon das Ökonomische und Objekthafte der ehelichen Beziehung verschleiern sollen. Emotionen erfüllen wichtige gesellschaftliche Funktionen, sie stabilisieren noch den absurdesten zivilisatorischen oder kulturellen Standard, weil sie im Unterschied zum Gedanken, zu der aus geistigem Bemühen erlangten Erkenntnis, die sich immer auch als falsch erweisen kann, grundsätzlich Wahrheit zu verbürgen verspricht. Sie ist unmittelbar und nicht weiter in einander begründende oder sich widersprechende Teile zerlegbar, nur feststellbar, als mentales Phänomen nicht analysierbar, jeder Kritik enthoben. Sie zeigt sich positiv in der Euphorie, auch in Wut und Hass, negativ im schlechten Gewissen, das nur dem Wortlaut nach etwas mit Reflexion gemein hat. Mit dem schlechten Gewissen hat – in einem kruden Beispiel – etwa die Mutter zu kämpfen, die selbst in einem Akt der Barbarei genital beschnitten wurde und nun meint, bei ihrer Tochter diese Tradition fortsetzen zu müssen. Möglicherweise wird sie mit Inbrunst dafür kämpfen und die größten Hindernisse überwinden. Sie glaubt, ihr Gefühl gebe ihr das Recht dazu. Mit vergleichbar großer Inbrunst werden in unserer Kultur die Allermeisten die Institution der Ehe, vor allem aber die eigene Ehe verteidigen, weil sie als Norm mit starken Emotionen getränkt ist, selbst dann noch, wenn die Enttäuschung bereits groß ist.

In einer lieblos gewordenen Ehe schlagen doch die Emotionen hohe Wellen, wenn einer der Partner des Fremdgehens überführt wird, oder auch nur der Verdacht entsteht. Die Eifersucht gibt sich als Kehrseite der Liebe. Oft ist aber die Eifersucht eher Wut und Enttäuschung über den Vertragsbruch, den die Untreue darstellt, nicht aber enttäuschte Liebe. In ihr scheint auch der Reflex auf, der Partner selbst sei etwas wie Besitz, also weniger Subjekt und mehr Objekt. Dennoch lautet der Vorwurf gegen den Treulosen, seine Liebe sei erloschen und habe das schon längere Zeit verschwiegen, habe nicht rechtzeitig über seine schwindenden Gefühle offen gesprochen, während die eigene Eifersucht als Beweis der eigenen immer noch lodernden Liebesflamme hinlänglich ausreicht, um den anderen verurteilen zu können. Wo beim Betrogenen zuvor alle Liebe erloschen schien, scheint sie im Gewand der Eifersucht mit voller Wucht zurückzukehren. Tatsächlich sind jedoch nicht Liebe und Partnerschaft bedroht, vielmehr drohen ökonomische Verluste, immer noch vor allem für die Frauen, die sich seltener aus einer Ehe verabschieden – trotz des Treuebruchs des Partners-, wo noch Kinder zu versorgen sind, dafür resoluter und ehrlicher die Partnerschaft beenden, wenn sie für ihre ökonomischen Bedürfnisse alleine sorgen können. Eifersucht, Hass und Verachtung, die in einer lieblos gewordenen Beziehung dem Treuebruch folgen und der den drohenden Wechsel des Partners in eine neue Lebensgemeinschaft indiziert, substituieren die bloße Sorge um Verluste und verlorenen Komfort, weil unsere Kultur die Idee, die Ehe sei vor allem eine ökonomische Versorgungsgemeinschaft, ächtet, heute weit mehr als zu früheren Zeiten, wo das Ökonomische noch im Vordergrund stand, aber allerdings auch Ehefrau und Kinder als Eigentum des Mannes begriffen wurden. Darum folgt auch so oft dem Fremdgehen die Trennung. Die ökonomischen Nachteile werden in Kauf genommen, damit die Ehe nicht als ein im Kern ökonomisches Verhältnis enthüllt wird. Kälte unterstellen wir der Frau, die in gelassenem Ton berichtet, ihr Mann schlafe mit anderen Frauen, aber es sei für beide Seiten von Vorteil, wenn die Ehe als Versorgungs- und Zugewinngemeinschaft erhalten bleibe. In der durchökonomisierten, kapitalistischen Welt möchte sich kaum jemand als bloße Funktion in diesem inhumanen Getriebe begreifen. Das ist eines der stabilsten Tabus unserer Zeit. Darum muss das Ideal der romantischen Liebesgemeinschaft so gut es geht aufrechterhalten werden, für sich selbst und für alle anderen.

Ein Irrtum wäre zu meinen, man könne diesen vom Kapitalismus durchwirkten Sphären entkommen und ein richtigeres Leben ohne diese Substitution von Emotionen und Werten führen. Aber es ließe sich doch eine andere ökonomische Gewichtung denken, bei der Absicherung und moderater Wohlstand von staatlicher Seite unabhängig von ehelicher oder familiärer Bindung gewährleistet wären. Wenn etwa Mutterschaft mit einem Einkommen verbunden wäre und auch schon jedes Neugeborene nicht bloß mit Brosamen bedacht würde, die beinahe nur für die Monatsration an Windeln reichen; wenn der Gedanke, durch die Weitergabe der eigenen Gene an neue Menschen entstünde eine Art Eigentumsrecht an diesen, weil sie eben als Produkte, ökonomische Objekte begriffen werden, ersetzt würde durch die Anerkennung der Tatsache, dass der neue Mensch auch eine neue und einzigartige DNA besitzt, die sich nur unerheblich von der aller anderen Menschen unterscheidet und nur einen Funken weniger von der ihrer Spender.

Die wahrhaften Tragödien spielen sich dort ab, wo die Partner sich lieben und doch die tradierte Norm der ehelichen sexuellen Treue – um die Seitensprünge geht es ja in den meisten Fällen – im betrogenen Subjekt mit Übermacht die gebotene Trennung einfordert, obwohl die Partnerschaft in beinahe allem dem hochgehaltenen Ideal entspricht und damit dem ökonomischen Bund zwar nicht Hohn spricht, aber ihn doch übertrumpft: Vertrauen, Vertrautheit, Zuneigung, Begehren, Kennerschaft, Achtung, Anerkennung, Verehrung, Wertschätzung – Liebe. Niemand wäre befugt irgendeinem Menschen dies abzusprechen, wie deformiert er von den gesellschaftlichen Verhältnissen auch sein mag. Schuldlos schuldig scheinen die Partner zu werden, wo Liebe in Hass und Verachtung umschlägt, weil es das internalisierte, vom kapitalistischen Logos geformte, mindestens aber überformte Logos des Ehe- und Familiensystems gebietet und das fest Gefügte (mehr als „Marmor, Stein und Eisen“) zu spalten und zu zerreißen vermag, so dass die irren Kräfte walten können, die die verbliebenen Besitztümer zusammenscharren, mit scharfem Blick um den je eigenen Vorteil bedacht. Dabei müsste, trotz des verständlichen Schmerzes, der starke und liebende Bund doch eigentlich jeder Anfechtung genügend Widerstand entgegensetzen können. Mehr noch: Müsste – wenn es um lebenslange oder auch nur langdauernde Partnerschaft geht – nicht gerade dieses urtümlich Menschliche, das nach immer neuen Reizen und neuer Befriedigung suchende sexuelle Begehren, das doch im Widerspruch zu Treue und lebenslanger Partnerschaft zu stehen scheint, aus dem Kanon dessen entlassen werden, was als konstitutiv für Ehe und Familie gilt? Oder sind für diese Befreiung die emotionalen und normativen Gravitationskräfte einfach zu groß?

Am Ende steht wieder der zum „Single“ Vereinzelte. Er lebt in Beziehung zu den leblosen oder auch nur „animierten“, „virtuellen“ Objekten, er identifiziert sich mit ihnen. Das scheint ihm größtmögliche Freiheit zu bieten, ungebunden an Menschen, die zu lieben und von ihnen geliebt zu werden doch ein Stück vom menschenmöglichen Glück bedeuten würde. Er versteht sie, selbst zum Objekt unter Objekten geworden, die Anderen, nurmehr als Objekte einer unerkannten und ungestillten Begierde, Objekte, die retour geschickt oder gegen neue, bessere, passendere, im weitesten Sinne ergonomischere einfach ausgetauscht werden können. Nach Ehe und Familie folgt nur noch das Beziehungsgeschäft als Tauschhandel im Einverständnis mit dem Übermächtigen, das ohnehin schon total geworden ist.

Geschichten

Immer wieder kommen wir auf Kants Erkenntnis zurück, der menschliche Verstand sei an die Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität gebunden. Dem Verstand gilt als Erkenntnis allein, was sich in kausalen Ketten verknüpfen lässt und als Verknüpftes unmittelbar oder in der mühsameren Analyse erscheint, Kausalitätsketten, deren jedes Glied sich im Raum verorten und in der Zeit – schon hier eine Metapher der Raumkategorie – lokalisieren lässt. Vorher-nachher, hier und dort. So schmieden die Erkenntniskräfte in einem fort Geschichten. Wenn ich meine Hand auf eine heiße Herdplatte lege, verbrenne ich mich und der Schmerz und die Verletzung rühren zweifellos von der heißen Herdplatte her. Schon die Funktionsweise meines alten Transistorradios verstehe ich nicht mehr. Ich begnüge mich mit den einfachen Kausalitätsketten des Bedienens: Ich kann das Radio einschalten und ausschalten. Mit einem Drehrad kann ich nach Sendern suchen und mit dem Lautstärkeregler die Lautstärke regeln. Als ich ein kleiner Junge war, genügten mir diese einfachen Kausalketten irgendwann nicht mehr. Ich trug alte Radios vom Sperrmüll mit nach Hause, öffnete sie und suchte, fasziniert von den komplex verbundenen Transistoren, Widerständen, Dioden und Kondensatoren, nach den kausalen Zusammenhängen, die in dem kleinen Lautsprecher die wunderbar aus dem Äther empfangenen Signale hörbar machten. Aber die Funktionsweise blieb unbeobachtbar, ich konnte das System der auf der Platine verknüpften Teile nicht verstehen, weil ich schon nicht den blassesten Schimmer davon hatte, was es mit den Transistoren, Kondensatoren und Widerständen auf sich hatte. Ich experimentierte mit einem Stück Draht und stellte bei laufendem Betrieb Kurzschlüsse auf der Platine her und hatte immerhin schon so viel Verständnis für die Zusammenhänge, dass ich bewusst vermied, Kurzschlüsse direkt von der Spannungsversorgung des Transformators aus herzustellen. Einige der Kurzschlüsse, die ich herstellte, ließen den Lautsprecher verstummen oder drückten die Spule des Lautsprechers aufgrund einer hohen Spannung mit einem kurzen Geräusch weit heraus. Andere erzeugten Töne unterschiedlicher Frequenz, manchmal sogar rhythmische Sequenzen mit gleitend ansteigenden Frequenzen. Soviel wusste ich: Es hatte mit den über die Transistoren gesteuerten Entladungszyklen irgendwelcher Kondensatoren zu tun. Dennoch: Das System, das die Platine mit all seinen Elementen darstellte, verstand ich nicht. Der Elektro-Ingenieur dagegen liest den Bauplan einer Platine wie ein Buch, denn sie ist endlich und ein determiniertes System, das bestimmte, festgelegte Zustände realisiert, Spannungszustände, Stromflüsse, die sich untereinander steuern. Zustände und Bewegungen lassen sich noch passabel in einem System kausaler Beziehungen beschreiben. Die Komplexität ist noch überschau- und berechenbar.

Selbst ein Computer-Betriebssystem – um ein Vielfaches komplexer – ist im Prinzip noch überschaubar. Aber schon die Notwendigkeit, fortlaufend daran Verbesserungen vornehmen zu müssen, verdeutlicht, dass bei der Entwicklung und Programmierung der Software nicht mehr alle möglichen Folgen bestimmter Kombinationen im Vorhinein absehbar sind. Die Bugs sind ein untrügliches Zeichen einer enorm hohen Komplexität. Als menschliche Konstrukte sind die Programme bzw. Computersysteme aber vollständig der Kausalität unterworfen, weil sie aus kausalen Verknüpfungen gedanklich hervorgingen. Die auf dem Weg kausaler Verknüpfungen herstellbare Komplexität dürfte im Prinzip infinit sein und mit ihr prinzipiell auch rational bis ins kleinste Element analysierbar. Die vielfach rekursiven kybernetischen Konstrukte sehen in allem grundsätzliche Beherrschbarkeit vor, verhüten das Zufällige. Der Zufall selbst wird noch als nur vorläufig nicht analysierte Kausalkette gedeutet. Aus der Sicht der Konstrukteure gibt es schlechterdings keine Zufälle. Noch der Klassiker unter den Zufallsgeneratoren, das Würfelspiel, müsste kausalen Kräften unterworfen sein. Könnte man alle Parameter des Würfelns, von der Beschaffenheit der würfelnden Hand, des Würfels, des Untergrundes, der Muskel- und Luftbewegungen, der Anziehungskräfte, der Erdrehung usw. kontrollieren bzw. steuern, wäre jeder Wurf voraussagbar. Das jedenfalls ist die Geschichte, die wir uns als Konstrukteure von Komplexität erzählen müssen – das transzendentale Erfolgsrezept moderner Technologie.

Ein möglicherweise unzulässiger Schluss wäre dagegen, aufgrund dieser Apriori-Logik auch allen natürlichen, nicht von Menschenhand bzw. von Menschengeist konstruierten komplexen Systemen durchgängig kausale Prinzipien zu unterstellen. Denn zunächst einmal ist das System Natur als komplexes Miteinander namentlich unterscheidbarer Teilsysteme wie Wetter, Gravitation, biologische Prozesse, Hirnphysiologie usw. als Komplexität transzendent und das heißt jenseits transzendentaler Logik, die mit den Kategorien Raum, Zeit und Kausalität operieren muss. Die nur schwer – wenn überhaupt – denkbare Frage ist die, ob die (der Denkmöglichkeit nach) prinzipielle Unendlichkeit der Komplexität konstruierbarer Systeme deckungsgleich ist mit der Unendlichkeit natürlicher Systeme bzw. des „Natur“- oder „Materie“-Systems, das sich selbst konstruiert und organisiert, also jenseits von menschlichem Geist, der darin allenfalls etwas wie ein Subsystem ist.

Die Frage klingt akademisch und wissenschaftlich (sogar philosophisch) rückwärtsgewandt. Als Wissenschaftler kann ich nicht angesichts der Erhabenheit und unfassbaren Komplexität der Welt erstarren. Das Forschen, die Suche nach neuen kausalen Zusammenhängen ist, was die Menschen in besonderer Weise auszeichnet. Wann jedoch wird die Überzeugung, alles verstehen und analysieren zu können zur gefährlichen Hybris?

Der Schaltplan meines Personalcomputers ist – wenn auch nicht für mich – analysierbar, in finite kausale Verknüpfungen zerlegbar. Diese Analyse ist kein Modell, sondern lückenlose Beschreibung einer Wirklichkeit – jedenfalls solange ich die zu Grunde liegenden quantenphysikalischen Zusammenhänge außer Acht lasse. Ich kann sie außer Acht lassen, weil die Platine im erwarteten Sinne funktioniert und auch nur im Hinblick auf diese beabsichtigten Funktionen konstruiert wurde.

Die Analyse menschlicher Beziehungen, die Analyse von Hirn- bzw. Denkprozessen, von Leben im umfassenden Sinne bleibt demgegenüber immer Modell. Wir betrachten natürliche Systeme aus dem Blickwinkel ihres vermeintlichen Konstrukteurs, nämlich so, als ob sie nach rationalen Kriterien transzendentaler Logik geformt wären. Mit Hilfe eines fröhlichen Nominalismus unterscheiden wir (ob grob oder immer feiner) Funktionseinheiten, wir schreiben immerfort neue Kurzgeschichten der Dinge, der Sachverhalte, Phänomene. Wir unterscheiden Körper und Geist, Fauna und Flora, Himmel und Erde, Männer und Frauen, Schizophrenie und Neurose, Hirn, Hormon- und Nervensystem. Wir müssen die tatsächliche Komplexität reduzieren, um erkennen und verstehen zu können. Erkannt und verstanden werden kann aber schließlich nur das Reduzierte als ein Konstrukt der Beobachtenden. Wir können uns der Wirklichkeit nur nähern, indem wir sie reduzieren und zerlegen. Wir beobachten, was wir uns in Geschichten selbst konstruiert haben. Es sind Modelle – und dann bald auch Module konstruierter Wirklichkeit, die wir als verstandene und vollständig analysierte wieder wie ein Puzzle zusammenfügen: Hypermodelle.

Nicht diese forschende Tätigkeit, nicht dieses einzig so mögliche Verstehen-Wollen ist das Problem. Das Problem ist die fahrlässige oder auch hochmütige Verwechslung der Wirklichkeitsmodelle mit der transzendenten Wirklichkeit, dem „Ding an sich“, wobei dieses „Ding an sich“ im engeren Sinne kein „Ding“ ist, sondern das – metaphorisch gesprochen – sich selbst herstellende und organisierende System jenseits unserer Denknotwendigkeiten. Diesem unerreichbaren Jenseits stehen unsere „Geschichten“ gegenüber. Demütig vor dem Unerkennbaren müssten wir uns fragen, welche „Geschichten“ wir uns warum erzählen und warum nicht auch andere? Warum wir zum Beispiel Körper und Geist wie getrennte Module unterscheiden, Krankheit und Gesundheit vor der Folie der Diskontinuität betrachten. Warum zum Beispiel wollen wir das Lernen unserer Kinder „in den Griff“ bekommen? Warum konstruieren wir ein Bild prototypischer Menschen parallel zum Konstrukt Schule? Warum interessieren uns bestimmte Funktionen des menschlichen Zusammenlebens, andere aber nicht? Wir müssen „unsere“ Wirklichkeit(en) erforschen – aber warum sparen wir bestimmte Bereiche aus? Warum nehmen wir bestimmte Erkenntnisse nicht ernst? Warum hängen wir so verzweifelt an den Geschichten, die wir uns einmal geschrieben haben oder die uns erzählt wurden, und ignorieren die anderen möglichen Geschichten? Weil die soziale Konstruktion von Wirklichkeit so wirkmächtig ist wie die Natur, die Welt, das Universum. Und weil diese soziale Wirklichkeit evolutionär ebenso langsam ist wie die Evolution insgesamt. Sie wird angetrieben durch die „Geschichten“, die – komplex – sich immer widersprechen, schon weil nicht klar ist, wo sie anfangen und wo sie enden und ob sie Haupt- oder Nebenhandlung darstellen sollen.

Nina und Aleksaner P. Nekrasov – Blog

Hallo, wir sind mit unserem Blog umgezogen. Deshalb stellen wir hier einige ältere Texte erneut ein.  N. und A.P. Nekrasov

 

Spracherwerb als Modell

Kinder erlernen ihre Sprache mühelos, weil mit ihnen gesprochen wird und kontrafaktisch von den Eltern unterstellt wird, sie verstünden, was man zu ihnen spricht. So entfaltet sich die Sprache in ihnen in ihrer ganzen Systematik, ohne dass sie von den Regeln, die in ihr gelten, etwas wissen müssen. Je differenzierter und reicher an Wortschatz das „sprachliche Umfeld“, in dem sie aufwachsen, ist, desto differenzierter und analytischer ist die damit einhergehende Wirklichkeitswahrnehmung. Kein Wunder, dass die Kinder aus bildungsbürgerlichen Schichten so große Vorteile gegenüber anderen haben, die in sprachlich ärmeren Umwelten aufwachsen.

Die überaus große geistige Leistung, die der Spracherwerb darstellt, wird mit einiger Berechtigung auch auf die parallel dazu ablaufende hirnphysiologische Entwicklung bezogen, die das Lernen in dieser Zeit so einfach macht. Mit Beginn der Schulzeit wird ein grundsätzlicher Wandel der Lernprozesse unterstellt, die nun anscheinend auf Lehre angewiesen zu sein scheinen. Die Forderung einiger Didaktiker, in der Schule müssten statt der nach wie vor herrschenden Lehrmethoden „Lernumwelten“, „Lernumgebungen“ geschaffen werden, bringt den Zweifel an einem solchen Umbruch sehr direkt zum Ausdruck: Auch wenn die rasanten hirnphysiologischen Entwicklungen in einem bestimmten Lebensalter weitgehend abgeschlossen sind, das Hirnwachstum weitgehend zum Stillstand gekommen zu sein scheint, synaptische Verbindungen zu einer schier unüberschaubaren Komplexität gelangt sind, bleibt das Hirn als beobachtbares, materiales System, das mit dem der Beobachtung entgleitenden Geist eine Einheit bildet, doch auch weiterhin plastisch. Fortgesetzt gelingt das Lernen intuitiv in autonomen Reaktions- und Aktionsrastern mit der Folge beobachtbarer synaptischer Veränderungen. Nur: Die Resultate dieses Lernens werden in gesellschaftlich erwünschte und unerwünschte unterschieden. Aus dieser Unterscheidung gehen die Direktiven der Lehre hervor, die systematisch die jungen Lerner dazu bringen sollen, möglichst nur noch das gesellschaftlich erwünschte Verhalten zu produzieren.

Direktiven, Vorgaben, Befehle und Verbote gehören freilich als wesentliche Elemente auch zur familiären Erziehung. In ihnen spiegelt sich das Wertesystem der jeweiligen Familie. Sie beschränken den Freiraum der Kinder, ziehen Grenzen für das Verhalten. Aber sie beschränken das Lernen nicht, geben nicht vor, wie und was genau zu lernen ist.

Der Bruch findet – spätestens – in der Schule statt: Hier begegnen die Direktiven radikal dem Wie und dem Was des Lernens und erklären die natürlichen Lernprozesse und das Glück der autonomen Welterschließung für nichtig – vor allem, weil sie sich nicht kontrollieren und aufgrund zunehmender Komplexität nicht mehr lenken lassen.

Die Schulkinder reagieren gleichwohl auf diesen Zwang, den die dem natürlichen Lernen entfremdeten Lehrgänge darstellen, mit einer bestimmten Form des Lernens: Sie lernen in dieser für sie neuen Umwelt, dass sie nicht umhinkönnen, sich an die Systematik der Lehre anzupassen, weil sie mit Strafen und Erniedrigungen operiert. Sie lernen, was sie müssen. Immer weniger hat das jedoch mit autonomer Welt- und Wirklichkeitserschließung zu tun.

Neben anderem hat die didaktisch-methodische Systematik der Lehre mit einem fatalen Missverständnis zu tun, dem nämlich, dass das in den Wissenschaftssystemen konstruierte, hierarchisch strukturierte Wissen zugleich den Hinweis darauf enthalte, wie es von den Unkundigen, Unwissenden zu erwerben wäre, nämlich in einer Abfolge der Belehrung über die hierarchischen Stufen des jeweiligen Wissensgebietes vom Elementaren, Grundlegenden zum Komplexen und Schwierigen. Dem Denken erscheint das isolierte Elementare jedoch nutzlos und überflüssig, langweilig, weil es mit Welt und Wirklichkeit nur abstrakt und aus der Perspektive des Wissenden und Erfahrenen zu tun hat.

Im Vergleich dazu hat das Kind seine Sprache nur deshalb erworben, weil es sofort mit der ganzen Komplexität des sprachlichen Handelns konfrontiert wurde und niemand auf die Idee käme, es von Geburt an einer wissenschaftlich fundierten Sprachlehre zu unterziehen, die den heranwachsenden Geist mit derlei Zumutungen, Strafen und drohendem Liebesentzug schon im Keim ersticken würde.

Moderner Schulunterricht hat sich in mancherlei Hinsicht geändert und damit formal auf das Inhumane früheren Schulehaltens reagiert. Es gibt den schülerorientierten Unterricht, den handlungsorientierten, den nach Leistung und Interessen differenzierten Unterricht, die Freiarbeit, den Projektunterricht. Dabei geht es der Absicht nach darum, Freiräume für die autonome Welt- und Wirklichkeitserschließung zu schaffen. Der Kontrollwahn und die auf die Alters- bzw. Klassenstufen bezogenen Curricula drohen aber nach wie vor, ein jedes Kind möge sich hüten, die gewährten Freiräume anders zu nutzen als nach der scheinbar altbewährten Lehrgangssystematik. Die neuen Freiheiten in den Schulen sind bloß potemkinsche Dörfer, perfide, weil sie das Falsche der Schule übertünchen und so für die Gegängelten noch in den Vorwurf verkehrt werden können, sie nutzten die ihnen gewährte Freiheit nicht. Wie den Angestellten eines Wirtschaftsbetriebes oder einer Kultureinrichtung, deren Bedürfnisse, Ideen und Kreativität weder anerkannt noch berücksichtigt werden, bleibt ihnen nur die „innere Kündigung“.